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Markus Wild (Universität Basel) Februar 2014 1 Das Tier als ein Anderer? Zu Jacques Derridas Tierphilosophie In Das Tier, das ich also bin variiert Jacques Derrida wiederholt die Worte „Un animal me regarde“. Dieses Motiv entsteht aus einem Erlebnis Derridas mit einer Katze. Sie schaut ihn im Bad an; er ist nackt. Es handelt sich, wie Derrida betont, nicht um eine Katze als solche, nicht um die Katze als Motiv, nicht um eine Stellvertreterin ihrer Art, sondern um eine reale Katze, die ihm morgens ins Bad folgt – „wahrhaftig, glauben Sie mir, eine kleine Katze.“ 1 „Ein Tier schaut mich an.“ So kann man „Un animal me regarde“ übersetzen. Doch es bedeutet auch: „Ein Tier geht mich etwas an.“ Was bedeutet soll diese Doppelbedeutung? Warum spricht Derrida von einer kleinen Katze? Dazu auch noch von einer Katze, die ihn morgens nackt im Badezimmer betrachtet, vor der er sich schämt, weil er nackt ist? Was sollen wir mit diesen Intimitäten? Nicht wenigen, insbesondere Philosophinnen und Philosophen, die sich in der analytischen Tradition verorten, zu denen auch ich mich zähle, ist ein solcher Text unangenehm, er geniert sie, er regt sie auf. Eine Kollegin meinte mir gegenüber einst sinngemäß: „Dieser Text sei irgendwie, ich weiß nicht, also ...“ und hier stieß sie einen lächelnden Seufzer aus. Das erinnerte mich an eine andere Szene, eine literarische. In J.M. Coetzees Roman „Das Leben der Tiere“ besucht die Schriftstellerin Elisabeth Costello ein amerikanisches College, an dem ihr Sohn Physik lehrt. Sie und ihre Schwiegertochter Norma, eine Philosophin mit dem Spezialgebiet Philosophie des Geistes, haben ein schlechtes Verhältnis. Costello wird an dem College einen Vortrag „Die Philosophen und die Tiere“ halten. Sie ist erfüllt vom Leid der Tiere und daher Vegetarierin geworden. 2 Eigentlich spricht sie über Franz Kafkas Erzählung „Bericht an die Akademie“ bzw. über den Verfasser dieses Berichts, den Affen Rotpeter, doch sie schweift ab, nimmt Umwege, macht Sprünge, hüpft von einem zum anderen, fliegt weg, taucht ab, galoppiert davon. 1 J. Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 23. 2 Sie scheut sich nicht vor dem Vergleich zwischen dem Leid in den Schlachthöfen mit Treblinka, der aus Isaac B. Singers erzählerischem Werk stammt: „In relation to them, all people are Nazis; for the animals it is an eternal Treblinka“. Nach dem Vortrag bleibt ein Mitglied des Colleges, der Dichter Abraham Stern, dem Dinner aus Protest fern. Der Vergleich beleidige das Gedächtnis der Toten. Vgl. zu Derridas Gebrauch des Ausdrucks „Genozid“

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Markus Wild (Universität Basel) Februar 2014

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Das Tier als ein Anderer? Zu Jacques Derridas Tierphilosophie

In Das Tier, das ich also bin variiert Jacques Derrida wiederholt die Worte „Un

animal me regarde“. Dieses Motiv entsteht aus einem Erlebnis Derridas mit einer

Katze. Sie schaut ihn im Bad an; er ist nackt. Es handelt sich, wie Derrida betont,

nicht um eine Katze als solche, nicht um die Katze als Motiv, nicht um eine

Stellvertreterin ihrer Art, sondern um eine reale Katze, die ihm morgens ins Bad folgt

– „wahrhaftig, glauben Sie mir, eine kleine Katze.“1 „Ein Tier schaut mich an.“ So

kann man „Un animal me regarde“ übersetzen. Doch es bedeutet auch: „Ein Tier geht

mich etwas an.“ Was bedeutet soll diese Doppelbedeutung? Warum spricht Derrida

von einer kleinen Katze? Dazu auch noch von einer Katze, die ihn morgens nackt im

Badezimmer betrachtet, vor der er sich schämt, weil er nackt ist? Was sollen wir mit

diesen Intimitäten?

Nicht wenigen, insbesondere Philosophinnen und Philosophen, die sich in der

analytischen Tradition verorten, zu denen auch ich mich zähle, ist ein solcher Text

unangenehm, er geniert sie, er regt sie auf. Eine Kollegin meinte mir gegenüber einst

sinngemäß: „Dieser Text sei irgendwie, ich weiß nicht, also ...“ und hier stieß sie

einen lächelnden Seufzer aus. Das erinnerte mich an eine andere Szene, eine

literarische. In J.M. Coetzees Roman „Das Leben der Tiere“ besucht die

Schriftstellerin Elisabeth Costello ein amerikanisches College, an dem ihr Sohn

Physik lehrt. Sie und ihre Schwiegertochter Norma, eine Philosophin mit dem

Spezialgebiet Philosophie des Geistes, haben ein schlechtes Verhältnis. Costello wird

an dem College einen Vortrag „Die Philosophen und die Tiere“ halten. Sie ist erfüllt

vom Leid der Tiere und daher Vegetarierin geworden.2 Eigentlich spricht sie über

Franz Kafkas Erzählung „Bericht an die Akademie“ bzw. über den Verfasser dieses

Berichts, den Affen Rotpeter, doch sie schweift ab, nimmt Umwege, macht Sprünge,

hüpft von einem zum anderen, fliegt weg, taucht ab, galoppiert davon.

                                                        1 J. Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 23. 2 Sie scheut sich nicht vor dem Vergleich zwischen dem Leid in den Schlachthöfen mit Treblinka, der aus Isaac B. Singers erzählerischem Werk stammt: „In relation to them, all people are Nazis; for the animals it is an eternal Treblinka“. Nach dem Vortrag bleibt ein Mitglied des Colleges, der Dichter Abraham Stern, dem Dinner aus Protest fern. Der Vergleich beleidige das Gedächtnis der Toten. Vgl. zu Derridas Gebrauch des Ausdrucks „Genozid“

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An einer Stelle nimmt Elisabeth Costello auf den Aufsatz „Wie ist es eine Fledermaus

zu sein?“ des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel Bezug. Nagel argumentiert,

dass wir nicht wissen können, wie es sich anfühlt eine Fledermaus zu sein, denn dazu

müsste man die subjektive Perspektive einer Fledermaus haben, was für uns

unmöglich ist. Diese Überlegung ist für Nagel nur ein Anlass um zu zeigen, dass das

Bewusstsein an eine subjektive Perspektive gebunden ist und folglich nicht auf

objektive neurologische Prozesse reduziert werden könne. Das weiß Costello, doch es

interessiert sie nicht:

„When Kafka writes about an ape, I take him to be talking in the first place about an

ape; when Nagel writes about a bat, I take him to be writing, in the first place, about a

bat.“3

Norma, die Philosophin, reagiert umgehend und „gives a sigh of exasperation“ (ibid.)

Costello hält Nagel vor, dass er den falschen Weg gehe. Nagel argumentiert, dass man

ja zunächst die Sinnesorgane einer Fledermaus haben müsste, um zu wissen, wie es

ist, ein solches Wesen zu sein. Sie widerspricht ihm indem sie sagt:

„To be a living bat is to be full of being; being fully a bat is like being fully human,

which is to be full of being. [...] To be full of being is to live as a body-soul. One

name for the experience of full being is joy.“ (ibid., 78)

Später wird Norma Elisabeths Vortrag als Ausdruck von „French irrationalism“

bezeichnen (93). Die Quelle von Costellos Gedanke hat sie sicher richtig erkannt. Der

Verweis auf die Freude (joy) als der Erfahrung des vollen Daseins (experience of full

being), das Menschen und andere Tiere teilen könnten, dürfte eine Anspielung auf

Henri Bergson sein. Für Bergson manifestiert sich die intuitive Erfahrung der Dauer

nämlich in einer besonderen Art von Freude. Da die Dauer das Wesen aller

Lebewesen ist, könnte man hier mit einigem Recht von Lebens- oder Existenzfreude

sprechen. Was dabei übrigens auch zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, dass

Costello gerne eine andere Empfindung in den Vordergrund rücken würde, wenn es

                                                        3 J.M. Coetzee, Elisabeth Costello, London: Vintage 1999, 76.

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um die Vergleichbarkeit von Empfindungen bei Mensch und Tier geht.

Normalerweise ist dies nämlich der Schmerz, nicht die Freude. Die Gründe für den

Vorrang des Schmerzes auf diesem Gebiet sind aber m.E. einfach offensichtlich:

Erstens hat der Schmerz ein viel deutlicheres Verhaltensprofil als die Freude und

zweitens erscheint der Schmerz ethisch direkt relevant.

War Bergson in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für analytisch gesinnte

Philosophen der Inbegriff von „French irrationalism“, so hat in der zweiten Hälfte des

20. Jahrhunderts Derrida dessen Platz eingenommen. Derrida galt und gilt in der

angloamerikanischen und deutschen Philosophie für lange Zeit als Inbegriff des

französischen Irrationalismus.

Derrida wurde häufig ausserhalb der Philosophie als sehr viel einflussreicher als

innerhalb der Philosophie angesehen. Ein wichtiger Einflussbereich sind die

sogenannten Human Animal Studies, die sich in angloamerikanischen Ländern schon

längst etabliert haben, im deutschsprachigen Gebiet aber gerade erst vor ihrem

Anfang stehen (von Frankreich etwa wollen wir diesbezüglich lieber schweigen). Hier

gilt Derrida zu Recht als wichtiger Stichwortgeber. Das lesenswerte Buch mit dem

zweideutigen Titel Thinking Animals. Why Animal Studies Now? von Kari Weil

beginnt mit den folgenden Worten:

„‚Ein Tier blickt uns an und wir sind nackt vor ihm. Vielleicht beginnt das Denken

dort.’ Diese beiden Zeilen aus Jacque Derridas Das Tier, das ich also bin sind oft

zitiert worden, obwohl sie unbestimmt (elusive) und verführerisch (haunting) sind.

Was hat es zu bedeuten, dass das Denken in der Konfrontation zwischen dem

menschlichen und dem nichtmenschlichen Tier beginnt? Worin besteht dieses

Denken, das zuvor nicht gedacht worden ist, oder das zuvor nicht vom Philosophen

gedacht worden ist? Und worin besteht diese Nacktheit auf die uns die Begegnung mit

einem Tier (mit einem individuellen Tier, nicht mit ‚dem Tier’ oder dem Begriff der

Tierheit) zurückführt?“4

                                                        4 Kari Weil, Thinking Animals. Why Animal Studies Now?, New York: Columbia University Press 2012, S. xv.

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Die Human-Animal-Studies befassen sich mithilfe der Werkzeuge der Geschichts-

und Kulturwissenschaften mit der Beziehung zwischen Mensch und Tier. Im

Vordergrund stehen dabei Fragen der Abgrenzung, des Einschlusses, des

Ausschlusses, der Vereinnahmung von Tieren in Kunst, Literatur, Gesellschaft,

Wissenschaft, Politik und Philosophie. Derrida ist eine der theoretischen Prägefiguren

der Human-Animal-Studies. In Derridas umfangreichem und vielgestaltigem Werk

finden sich von Anfang an Spuren von Tieren.5 Diese Spuren sind immer häufiger

und dichter geworden. Sie haben sich schließlich in dem Vortrag L’animal que donc

je suis (Das Tier, dass ich also bin / dem ich also folge) aus dem Jahr 1997 verdichtet.

Dieser Vortrag bildet das erste Kapitel des letzten von Derrida selbst zur

Veröffentlichung gebrachten Buches L’animal que donc je suis (2006). Aus diesem

Grund beginnt Weils Buch mit einem Verweis auf Derrida.

Ich möchte Derridas Auffassung vom Tier nun aber aus einer mehr philosophischen

Perspektive untersuchen. In seinem Buch fordert er eine „Tierphilosophie“. Diese

muss man aber nicht erst fordern, denn sie existiert schon und es gibt reichlich

Literatur zur Tierphilosophie, sowohl aus dem Bereich der kontinentalen als auch aus

dem Bereich der analytischen Philosophie.

An dieser Stelle müssen wir freilich Obacht geben, weil sich zu dieser Unterteilung in

analytische und kontinentale Philosophie bisweilen eine unglückliche und falsche

Unterteilung hinsichtlich der philosophischen Fragen an das Tier hinzu gesellt. Ich

möchte das Gemeinte an einem Beispiel verdeutlichen. Am Ende Ihres Buches

Nietzsches Philosophie des Tiers (2009/2012) schreibt die Philosophin Vanessa

Lemm Folgendes:

„In der gegenwärtigen Debatte zum Problem des Tiers kann man zwischen zwei

verschiedenen Verständnissen dessen unterscheiden, was dieses Problem beinhaltet.

In der anglo-amerikanischen Tradition kreist das Problem des Tiers in erster Linie um

                                                        5 In Derridas erstem großen Werk, De la Grammatologie (1967), heißt es: „Der Mensch kann sich Mensch nur nennen, indem er Grenzen zieht, die sein Anderes: die Reinheit der Natur, der Animalität, der Ursprünglichkeit, der Kindheit, des Wahnsinns, der Göttlichkeit aus dem Spiel der Supplementarität ausschließen. Die Annäherung an diese Grenzen wird als einen tödliche Bedrohung gefürchtet und zugleich als Zugang zum Leben ohne Aufschub begehrt. Die Geschichte des sich Mensch nennenden Menschen ist die Verknüpfung aller dieser Grenzen untereinander.“ (Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 420)

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den ethischen Status nichtmenschlicher Tiere, um die Frage, ob die Interessen von

Tieren die gleiche Berücksichtigung verdienen wie diejenigen von Menschen und ob

Tiere daher über Rechte verfügen... Im Gegensatz hierzu betrifft in er europäischen

kontinentalen Philosophie das Problem des Tieres, des Status der Animalität des

Menschen, die Frage, ob Kontinuität zwischen menschlichen und tierischem Leben

nach einer Neubetrachtung unseres ‚humanistischen’ Verständnisses des Lebens, der

Kultur und der Politik verlangt. Meine Annäherung an das Problem des Tieres gehört

der zweiten Tradition an.“ (Lemm 2012, 235)

Hier werden nicht nur Gründe durch Traditionen ersetzt, sondern es werden auch

Unterscheidungen vorgenommen, die so nicht zutreffen. Denn erstens finden sich

ethische Fragen zum Tier auch in der ’kontinentalen’ Tradition, wie etwa Arbeiten

von Elisabeth de Fontenay und Florence Burgat zeigen. Zweitens finden sich auch in

der ’analytischen’ Tradition zahlreiche Arbeiten zur Frage nach dem evolutionären,

ontologischen, historischen, politischen Verhältnis des Menschen zu seiner Animalität

(dazu etwa: Kim Sterelny, Eric Olson, Richard Sorabji, Alasdair McIntyre oder Will

Kymlicka). Drittens erschöpft sich die Philosophie des Tiers natürlich nicht in der

Frage unserer politischen oder ethischen Beziehung zum Tier. Das wäre eine gar

anthropozentrische Auffassung. Uns interessiert ja auch das Tier selbst, nicht nur

unsere Beziehung zu ihm.

In der Tierphilosophie (die Derrida, wie wir gesehen haben, fordert und die bereits

seit einiger Zeit existiert) lassen sich drei Themen unterscheiden:

(1) Anthropologische Differenz: Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen

Mensch und Tier?

(2) Geist der Tiere: Kann man Tieren zu Recht geistige Fähigkeiten wie

Bewusstsein, Absicht und Denken zuschreiben?

(3) Tierethik: Hat der Mensch Tieren gegenüber direkte moralische Pflichten?6

Für den Geist der Tiere interessiert sich Derrida nicht, weil ihn die entsprechende

empirische Forschung nur am Rande berührt. Doch seine Tierphilosophie handelt

                                                        6 Vgl. M. Wild, Tierphilosophie, Hamburg 2008.

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sowohl vom Unterschied zwischen Mensch und Tier als auch von ethischen

Beziehungen zu Tieren. Der Satz „Ein Tier schaut mich an“ verweist auf die

anthropologische Differenz, der Satz „Ein Tier geht mich an“ hingegen auf die

Tierethik. Das ist der Sinn der Doppelbedeutung. Im Folgenden wende ich mich

Derridas Behandlung der anthropologischen Differenz und anschließend der Tierethik

zu. Die beiden Stränge, die Vanessa Lemm so grosszügig unterscheidet, gehören also

zusammen: Man sollte weder Derridas Tierphilosophie noch die Tierphilosophie

überhaupt auf die von Lemm und Anderen vorgeschlagene Weise trennen. Im

Folgenden geht es mir also darum zu zeigen, inwiefern beide Stränge bei Derrida ein

Rolle spielen.

1. Die Dekonstruktion der anthropologischen Differenz

Derrida ist der Philosoph der Dekonstruktion. Für ihn ist Philosophie kritische Arbeit

an der metaphysischen Überlieferung. Diese Arbeit besteht in intensiven Lektüren

philosophischer Texte, wobei in solchen Lektüren gerade das scheinbar Marginale im

Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Philosophischen Texten haften Momente der

Unentscheidbarkeit an, sie enthalten Viel- und Undeutlichkeiten, Lücken und

Sprünge, Bilder und Metaphern. Diese vermeintliche Schwäche macht die

Dekonstruktion stark und destruiert so die philosophische Überlieferung. Doch was

dabei zum Vorschein kommt, ist nicht etwas Ursprüngliches, das durch diese

Überlieferung verdeckt worden wäre, sondern vielmehr kommen Konstruktionen zum

Vorschein. In Derridas Augen versucht die Metaphysik auf einen Ursprung, etwas

Erstes zu stoßen, das einfach, ganz, rein, selbst-identisch, selbst-genügsam,

übersinnlich, wahr, gut usw. wäre. Das klassische Beispiel ist Gott. Anderes existiert

als Abhängiges, als Abfall, Zufall, Unfall. So ist Gott ursprünglicher als die

Schöpfung, das Gute substantiell, das Böse ein Mangel, das Reine höher als das

Unreine, das Einfache fundamentaler als das Zusammengesetzte, das Notwendige

wichtiger als das Zufällige usw. Die Metaphysik konstruiert Unterscheidungen,

vergisst aber diese Konstruktion und nimmt sie als naturgegeben an. Die Metaphysik,

so Derrida, privilegiert stets ein Element einer solchen Opposition. Sie ist dadurch mit

einem Anspruch auf Vorrang und Herrschaft verbunden. Hierarchische

Gegensatzpaare beherrschen laut Derrida die gesamte Metaphysik. Als Folge davon

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beherrschen sie auch unser ethisches, wissenschaftliches, politisches und alltägliches

Denken.

Zu solchen Konstruktionen gehört auch das Gegensatzpaar Mensch und Tier. In der

anthropologischen Differenz finden wir eine Opposition, die binär (Mensch versus

Tier) und hierarchisch (Mensch über Tier) ist. Für Derrida ist diese Differenz der

Inbegriff aller binären, hierarchischen Oppositionen. Denn wer nach der

anthropologischen Differenz fragt, der fragt nach dem einen Unterschied zwischen

Menschen und Tier, der alle anderen Unterschiede erklärt. Der Mensch wird geradezu

definiert durch das, was ihn vom Tier unterscheidet. Das Ausfüllen der Formel „Der

Mensch ist ein Tier plus X“ ist deshalb seit dem Beginn der Philosophie ihr

anthropologisches Hauptgeschäft. Das Tier hingegen wird verstanden als etwas, dem

dieses X fehlt. So ist der Mensch das vernünftige, sprechende, moralische, bewusste

Tier, das Tier hingegen das Unvernünftige, Sprachlose, Unmoralische, Unbewusste.

In diesen Bestimmungen bleibt der Mensch jedoch stets auf das Tier verwiesen. Das

Tier hilft, den Menschen zu dem zu machen, wofür er sich nimmt.

Darum schreibt Derrida: „Das Tier schaut/geht uns an, und wir stehen nackt vor ihm.

Denken beginnt vielleicht da.“7 Das bedeutet nicht, dass der Mensch zuvor nicht

denkt, sondern dass er sich selbst im Gegensatz zum Tier als Denker versteht. Er

nimmt sein Denken als den wesentlichen Unterschied zum Tier. Die Metaphysik

zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie den Logos (Denken, Sprache) privilegiert.

Diese Privilegierung nennt Derrida „Logozentrismus“. Sie hat darüber hinaus den

Mann vor der Frau privilegiert. Diese Privilegierung nennt Derrida

„Phallogozentrismus“. Das Tier schließlich ist dasjenige, welches sich der Mann

unterwirft (Natur, Frau), was er opfert (Frau, Tier) und was er sich einverleibt (Tier).

Dies nennt Derrida „Karnophallogozentrismus“. So wird die anthropologische

Differenz zum Inbegriff aller Oppositionen und Konstruktionen der Metaphysik.

Das Argument, welches Derrida gegen die anthropologische Differenz anführt, lautet,

dass keines der Merkmale, das den Menschen im Unterschied zum Tier auszeichnen

soll, einer Prüfung standhält und nur dem Menschen zukommt: Entweder verfügen

                                                        7 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 54.

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auch nichtmenschliche Tiere über dieses Merkmal oder es verfügen nicht alle

Menschen darüber bzw. nicht mit der Deutlichkeit, die man sich wünschen würde. In

einem 2001/2002 gehaltenen Seminar führt Derrida dieses Argument exemplarisch in

der Analyse der Hobbes’schen These vor, dass Tiere nicht vertragsfähig seien, weil

sie nicht sprechen.8 Dagegen führt Derrida an, dass Tiere sehr wohl über Formen der

Kommunikation verfügen, die Überschneidungen mit der Sprache zulassen, dass es

zwischen Menschen und Tiere durch Erfahrung, Abrichtung, Haus- und

Interessegemeinschaft eine Reihe von konventionellen oder faktischen Formen der

Übereinkunft gibt. Das Kriterium der Differenz findet sich also auch bei Tieren.

Andererseits kann niemand behaupten, dass alle menschlichen Formen von

verbindlichen Übereinkünften ausdrücklich, diskursiv oder schriftlich und im

gegenseitigen Einvernehmen erfolgen würden. Das Kriterium der Differenz findet

sich also beim Menschen nicht immer oder nicht in reiner Form.

Allerdings, und das ist von Bedeutung, leugnet Derrida nicht die Unterschiede. Er

weist die Ansicht zurück, dass zwischen Mensch und Tier eine Kontinuität oder

Homogenität bestehe. Er insistiert vielmehr auf den Unterschieden und

Ungleichheiten zwischen allen Lebewesen. Er hält sogar an einer radikalen

Diskontinuität zwischen Menschen und Menschenaffen fest. Allerdings handelt es

sich um eine Diskontinuität, die auch zwischen anderen Lebewesen existiert. Was

Derrida zurückweist, ist die Idee eines Unterschieds, der den Menschen essentiell

vom Tier trennt. In minutiösen Analysen zeigt Derrida, dass nicht nur klassische

Denker wie Descartes, Hobbes, Rousseau oder Kant von der anthropologischen

Differenz zehren, sondern dass sich auch das Denken von Heidegger, Lacan oder

Lévinas vom Gegensatz zwischen Mensch und Tier nährt. Ihr Denken ist

logozentrisch und karnivor, keine Gegenbewegung zur metaphysischen Tradition,

sondern deren Fortsetzung.

2. Tierethik zwischen Similarität und Alterität

Wie wir gesehen haben, ist Derrida ein scharfer Kritiker der Metaphysik. Er behauptet

aber, dass es zwischen Menschen und Tieren einen Bruch gebe und dass er nicht an

                                                        8 J. Derrida, La bête et le souverain, vol 1, Paris 2008, S. 90f.

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eine Kontinuität zwischen ihnen glaube.9 Weiter hat Derrida mehrfach betont, dass es

ein Widerspruch sei, Tieren Rechte zuzuschreiben, um sie vor dem

„Karnophallogozentrismus“ zu schützen. Drittens vertritt er die Ansicht, dass der

Vegetarismus unmöglich sei. Diese drei Thesen haben Freunde und Gegner Derridas

irritiert.10 Um zu verstehen, was Derrida meint, können wir uns wieder den Katzen

zuwenden.

Wie viele Namen haben Katzen? Es sind drei, wie T.S. Eliot in „The Naming of Cats“

(1939) erklärt. Als erstes ganz gewöhnliche Namen, die wir ihnen geben, Susi oder

Moritz. Doch Katzen haben einen zweiten Namen, der zu ihrem individuellen

Charakter passt:

„Zu solchen Namen zählt beispielsweise

Schnurroaster, Tatzitus, Katzastrophal,

Kralline, Nick Kater und Kratzeleise

Und jeden der Namen gibt’s nur einmal.“11

Endlich der dritte Name, den man weder erraten noch erforschen kann. Nur die Katze

kennt ihn und gibt ihn niemals Preis. Wann immer man eine Katze in tiefer

Meditation antrifft, so Eliot, widmet sich ihr Geist der Betrachtung des Gedankens an

ihren Namen. Was könnte dieser dritte Name sein? Offenbar möchte Eliot betonen,

dass die Katze über etwas ihr Eigenes verfügt, über eine subjektive Perspektive, ein

Bewusstsein. Es mag überraschen, dass dies ein dritter Personenname sein soll. Nun,

Namen geben wir in der Regel Wesen, die Personen sind oder, in einem weiteren

Sinne, Wesen, die eine eigene Perspektive haben. Eliot betont, dass die Katze gerade

dann, wenn sie scheinbar nichts tut, sondern nur da ist, in tiefer Meditation einen

inneren Zustand aufweist, zu dem wir keinen Zugang haben und den die Katze uns

nicht mitteilen kann.

                                                        9 Derrida, L’animal que donc je suis, S. 52. 10 Sowohl David Wood, ein Kenner und Anhänger der Dekonstruktion, als auch Gary Steiner, ein Gegner Derridas, betrachten Derridas drei Thesen und seine ambivalente Haltung der Tierethik gegenüber entweder als inkonsequent bzw. als Ausdruck für ein normatives Defizit der Dekonstruktion, vgl. David Wood, „Thinking with Cats“, in: Animal Philosophy: Ethics and Identity, hrsg. von P. Atterton und M. Calarco, London 2004; G. Steiner, „Tierrechte und die Grenzen des Postmodernismus. Der Fall Derrida“, ALTEXethik 27 (2010). 11 T.S. Eliot, Gesammelte Gedicht, Frankfurt/M. 1988, S. 345.

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Die folgende Tabelle veranschaulicht die Funktion der drei Katzennamen bei T.S.

Eliot:

the sensible everyday

name

Peter, James, Victor,

Demeter etc.

Namen, die wir Katzen gemeinhin geben

Artverhalten

particular, perculiar

name

Munkstrap, Quaxo,

Jellylorum etc.

Namen, die der Individualität einer Katze

entsprechen Individualverhalten

The deep, ineffable,

inscrutable, singular

name

??? Never guess, never discover, never confess, except

in meditation, contemplation

Subjektives Erleben

In einem berühmten Artikel hat sich der Philosoph Thomas Nagel die Frage gestellt,

ob wir wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, ob wir die subjektive

Perspektive, das bewusste Erleben einer Fledermaus nacherleben können.12 Er hat

diese Frage verneint. Sein Argument ist einfach: Wenn ich kein fledermausartiges

Wesen bin, dann verfüge ich auch nicht über die subjektive Perspektive einer

Fledermaus. Also kann ich nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Selbst

Batman oder Dracula erleben das Fledermaussein nicht als Fledermäuse. Nagel hat

das Beispiel der Fledermaus gewählt, weil ihr Wahrnehmungsapparat und ihre

Lebensweise uns sehr fremd sind. Er hätte natürlich auch eine Katze nehmen können.

Interessant an diesem Argument ist Folgendes: Nagel bezweifelt nicht, dass

Fledermäuse oder Katzen Bewusstsein haben, sein Argument setzt ja voraus, dass es

so etwas gibt, das “wie-es-sich-anfühlt-eine –Katze-zu-sein“. Er bezweifelt aber, dass

wir wissen können, wie es sich anfühlt, als Fledermaus im Dunkeln zu jagen oder als

Katze neben einem Laptop zu schnurren. Wir müssen hier zwei Fragen unterscheiden:

(1) Verteilungsfrage: Können wir wissen, ob ein Tier bestimmte bewusste

Erfahrungen hat, z.B. Schmerz? Diese Frage zielt auf die Verbreitung von

Schmerz im Tierreich. Finden wir ihn bei Fledermäusen oder Forellen?

                                                        12 Th. Nagel, „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?”, Analytische Philosophie des Geistes, hrsg. von P. Bieri, Weinheim 1993, S. 261-275.

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(2) Anfühlfrage: Können wir wissen, wie es sich für ein Tier anfühlt, bestimmte

bewusste Erfahrungen zu haben, z.B. Schmerzen? Diese Frage zielt auf die

private Qualität bewusster Erlebnisse.

Nagels Argument wendet sich gegen eine positive Antwort auf die Anfühlfrage, setzt

aber eine positive Antwort auf die Verteilungsfrage voraus. Nagel hat darin sicher

nicht Unrecht. Auf etwas Ähnliches weist Eliot mit dem geheimen Namen der Katze

hin. Wir können eine Katze beobachten, ihr Verhalten beschreiben, auf sie reagieren,

erleben, wie sie auf uns reagiert usw. und auf dieser Grundlage kommen wir zu der

Ansicht, dass sie ein Wesen mit einem subjektiven Erleben ist. Dies entspricht dem

zweiten Namen der Katze. Doch wie können wir wissen, dass sie Schmerz oder

Vergnügen empfindet? Durch Analogieüberlegungen. In unseren Fall empfinden wir

Schmerz oder Vergnügen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind; und wenn diese

auch bei der Katze vorliegen, dürfen wir schließen, dass auch sie Schmerz oder

Vergnügen empfindet. Die Antwort auf die Verteilungsfrage geben wir also durch die

Ähnlichkeit zu uns, aufgrund der Similarität der Katze. Wenn wir zur Anfühlfrage

übergehen und fragen, wie es sich anfühlt, diese Katze zu sein, müssen wir

zugestehen, dass wir es nicht wissen. Die Katze kann es uns nicht mitteilen, denn alle

Mittel der Mitteilung haben wir beim zweiten Namen, bei der Beantwortung der

Verteilungsfrage, ausgeschöpft. Der Grund dafür, dass wir keine Antwort auf die

Anfühlfrage geben können, liegt an der Verschiedenheit der Katze von uns, an ihrer

Alterität.

3. Derrida als Kritiker und Verfechter von Tierrechten

In der Tierethik dient die Similarität häufig als Grundlage für Argumente, Tiere

moralisch um ihrer selbst Willen zu berücksichtigen oder ihnen Rechte zuzugestehen.

Tiere sind wie wir empfindungsfähig oder intelligent oder sozial; wir berücksichtigen

andere Menschen moralisch um ihrer selbst Willen oder gestehen ihnen Rechte zu,

weil sie empfindungsfähig, intelligent, sozial sind; also sollten wir dies auch bei

Tieren tun. Nun lautet Derridas Frage, ob nicht auch die Alterität Grundlage der Ethik

sein kann. Derrida ist nicht nur der Ansicht, dass Alterität eine solche Grundlage sein

kann, sondern sein muss. Er ist zweitens der Ansicht, dass die Similarität die Gewalt

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gegen Tiere fortschreibt, dass wir aber in der gegenwärtigen historischen Situation

nichts Besseres als Similarität haben.

Derrida hat Argumente dafür, dass die Similarität eine problematische Grundlage für

ethische Beziehungen ist. Ein Argument besagt, dass man auf der Grundlage der

Similarität nur Verpflichtungen gegenüber Gleichen habe.13 Dies führe zu einer

Abstufung der Verpflichtungen: Wir haben stärkere Verpflichtungen gegenüber der

Familie als gegenüber der Nation, mehr gegenüber der Nation als der Rasse, der

Rasse als der Kultur, der Kultur als der Religion gegenüber usw. Im Konfliktfall

würden diejenigen Relationen obsiegen, welche wir mir Nahestehenden und Gleichen

unterhalten. Es handelt sich um eine Grundlegung ethischer Beziehungen im

Egoismus oder Ethnozentrismus. Gegen den Einwand, dass es sich bei diesen

Similaritäten und den mit ihnen korrespondierenden Loyalitäten doch einfach um eine

Tatsache handle, wendet Derrida ein, dass Fakten keine Normen begründen. In der

analytischen Philosophie ist dies als „naturalistischer Fehlschluss“ bekannt. Nun

könnte man entgegnen, dass ein abstraktes Prinzip der Similarität oder der

Gerechtigkeit, das Gruppenegoismen meidet, diesem Einwand entgeht. Versteht man

Gerechtigkeit als erweiterte Loyalität, bleibt der Einwand bestehen. Versucht man

hingegen Gerechtigkeit abstrakt zu begründen, so ergibt sich ein Problem, dass

Derrida in Gesetzeskraft 14 herausgearbeitet hat: Zwischen der Gerechtigkeit als

abstraktes Prinzip der Gleichheit aller und Gerechtigkeit als Angemessenheit für den

Einzelfall besteht eine grundlegende Spannung.

Ein weiteres Argument Derridas gegen die Auffassung, dass wir Tieren aufgrund

ihrer Similarität mit uns auch Rechte zugestehen sollten, lautet wie folgt: Das

abstrakte Prinzip der Gerechtigkeit und unser Rechtsbegriff beruhen auf einer

bestimmten Auffassung von Subjektivität, Autonomie, Rationalität und Freiheit.

Diese Auffassung wiederum beruht auf der anthropologischen Differenz. Wenn dies

zutrifft, dann beruhen unsere abstrakten Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit auf

der für unsere Tradition grundlegenden Abgrenzung des Menschen vom Tier. Die

Ausdehnung solcher abstrakten Prinzipien auf Tiere kann deshalb nicht konsequent

sein, unterminiert sie doch ihre eigene Grundlage. Mehr noch, die Grundlage für die

                                                        13 Vgl. Derrida, La bête et le souverain, S. 155f. 14 Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt/M. 1991.

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Zuschreibung von Rechten gegenüber Tieren ist in Derridas Augen derselbe Grund,

der die Gewalt gegenüber Tieren bislang stillschweigend oder ausdrücklich legitimiert

hat.15 Zur Stützung dieser Argumentation verweist Derrida auf die Tatsache, dass die

bereits existierenden Gesetze zum Schutz von Tieren weder Schlachtungen und

Keulungen noch den technisch-wissenschaftlich Irrsinn des Marktes und der

Massenhaltung verhindern.

Ich hoffe, es wird deutlich, warum Derrida einer Tierethik, die auf Similarität beruht

und Rechte einfordert, mit Skepsis begegnet. Mir geht es hier nicht um die Prüfung

oder Verteidigung der Argumente von Derrida, sondern darum, sie zu verdeutlichen.

In diesem Sinne fahre ich mit meiner Rekonstruktion von Derridas Tierphilosophie

fort.

Seine Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit eines reinen Vegetarismus beruhen auf

derselben Skepsis. Die ethische Vegetarierin, welche die Haltung und Tötung von

Tieren für den Fleischverzehr ablehnt, wird tierische Produkte (z.B. Milchprodukte)

konsumieren, die unweigerlich mit der Tötung von Tieren verbunden sind. Sie kann

ihre ethische Haltung also nicht konsequent halten. Dagegen könnte man einwenden,

dass der Veganismus – der ethisch motivierte vollständige Verzicht auf die Nutzung

tierischer Produkte – dieser Inkonsequenz entgeht. Allerdings fordern einige

Verfechterinnen und Verfechter dieser Position, dass wir unsere Beziehungen

insbesondere zu domestizierten Tieren ganz abbrechen sollten, weil sie unweigerlich

ausbeuterisch sind. Die bloße Existenz domestizierter Tiere – man denke an

Milchkühe, Englische Bulldoggen, Masthühner oder putzige Kaninchen – ist das

Ergebnis massiver Züchtung und gewaltsamer Eingriffe. Diese Position führt zur

Forderung, dass wir die Reproduktion domestizierter Tiere unterbinden und diese

Rassen aussterben lassen sollten.16 Dies bedeutet natürlich einen Eingriff in die

Rechte dieser Tiere. Es ist ihnen gegenüber unangemessen, erscheint aber vor dem

Hintergrund des abstrakten Prinzips der Gerechtigkeit gerechtfertigt. Wir haben es

hier mit einem Beispiel des Konflikts zwischen der Gerechtigkeit als abstraktem

Prinzip und Gerechtigkeit als Angemessenheit für den Einzelfall zu tun. Auch hier

                                                        15 J. Derrida, E. Roudinesco, De quoi … Dialogue, Paris, 2001, Kap. 9; Derrida, La bête et le souverain, S. 158. 16 Diese Position im Spektrum der Tierrechte nennt sich Abolitionismus, vgl. G.L. Francione, The Animal Rights Debate: Abolition or Regulation?, New York 2010.

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scheint Derrida Recht zu haben, dass der reine Veganismus nicht zu haben ist.

Schließlich argumentiert Derrida, dass unsere Kultur auch auf symbolische Tieropfer

zurückgreift, besonders in religiösen Kontexten. Selbst wenn wir die physische

Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere verhindern könnten, bliebe immer noch die

konstitutive symbolische Gewalt.17

Ich hoffe, dass damit Derridas Thesen der Inkonsequenz von Tierrechten und der

Unmöglichkeit des reinen Vegetarismus bzw. Veganismus verständlich geworden

sind. Es geht mir nicht darum, Derridas Argumente zu prüfen, zu kritisieren oder zu

verteidigen, sondern in erster Linie will ich darlegen, dass sich bei Derrida – entgegen

einem verbreiteten Vorurteil sowohl seiner Freunde als auch seiner Feinde – (diese)

Argumente finden!

Wie steht es nun mit der ersten These, der Kluft zwischen Menschen und Tieren? Mit

dieser These möchte Derrida die Alterität des Tiers hervorheben. Seine Kritik der

Similarität als Grundlage ethischer Relationen führt ihn zu einer Ethik der Alterität:

„Ein Prinzip der Ethik oder radikaler noch der Gerechtigkeit [...] ist vielleicht die

Verpflichtung die meine Verantwortlichkeit für das ganz Unähnliche fordert, das ganz

Andere, genauer das monströs Andere, das Unkenntliche.“18 Eine Ethik der Alterität

beruht darauf, dass wir einen Anderen als Anderen wahrnehmen. Im Fall der Tiere, so

könnte man Derrida hier verstehen, beruht sie auf der Unbeantwortbarkeit der

Anfühlfrage.

Derrida schließt an Emmanuel Lévinas an. Vereinfacht gesagt, ist für Lévinas der

uneinholbare Andere Grundlage der Ethik und die ethische Beziehung ist die

fundamentale Beziehung schlechthin. Sie kann nicht aus Eigenschaften des Anderen

abgeleitet werden, sondern beruht in der Andersheit des Anderen. Wenn ich

beispielsweise am Anderen Eigenschaften wahrnehme und daraus Merkmale ableiten

möchte, die ihn zu einem Objekt meiner ethischen Sorge machen, habe ich den

Anderen bereits verdinglicht und assimiliert. Der entscheidende Punkt besteht darin,

                                                        17 Vgl. Derridas Gespräch mit J. L. Nancy, „„Man muss wohl essen“ oder die Berechnung des Subjekts“, in: J. Derrida, Auslassungspunkte. Gespräche, Wien 1998, S. 290-294. 18 Derrida, La bête et le souverain, S. 155.

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dass der Andere nicht ein Objekt oder ein Gleicher ist, sondern etwas, das mir

ausgeliefert ist, sich mir aber als Anderer zugleich entzieht. Lévinas illustriert diesen

Bezug durch das Bild des Gesichts des Anderen. In einem Interview formuliert er den

Punkt, um den es mir geht, mit den folgenden Worten:

„Ich denke, dass der Zugang zum Gesicht von Anfang an ein ethischer ist. Wenn Sie

Nase, Augen, Stirn, Kinn sehen und diese beschreiben können, dann wenden Sie sich

dem Anderen als einem Objekt zu. Die beste Weise dem Anderen zu begegnen würde

darin bestehen, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken! Achtet man auf die

Augenfarbe, geht man mit dem Anderen keine soziale Beziehung ein.“19

Die Augenfarbe ist eine Eigenschaft. Nehme ich die Augenfarbe des Anderen wahr,

fasse ich ihn bereits als etwas mit Eigenschaften auf, die für mich erkennbar sind.

Damit verdingliche ich den Anderen und assimiliere ihn.

Derrida hält Lévinas vor, dass er die ethische Beziehung auf das menschliche Antlitz

beschränke, und so die anthropologische Differenz wiederkehre. Warum sollte nicht

auch das Tier ein Antlitz haben, dass einen ethischen Anspruch an uns erhebt? Ich

meine, dass solche Fragen vom entscheidenden Punkt wegführen. Das Problem sehen

viele nämlich darin, dass Derridas Alteritätsansatz vage und folgenlos bleibt. Was

würde es konkret bedeuten, dem Tier als Alterität zu begegnen? Wenn Derrida von

der Gewalt gegen Tiere spricht, was folgt daraus?

Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass wir Derridas Alteritätsansatz verwerfen sollten,

weil er normativ unverbindlich bleibt. Die Ethik der Alterität ist etwas, das Derrida

vorausdenkt. Er ist nicht der Meinung, dass diese Möglichkeit bereits klar erfasst und

umrissen ist. Deshalb muss der Ansatz noch vage und folgenlos bleiben. Doch wo es

einen Möglichkeitssinn gibt, muss es auch einen Wirklichkeitssinn geben. Und

Derridas Wirklichkeitssinn besagt: Solange wir das Denken der Alterität noch nicht

fassen können, müssen wir das Zweitbeste tun, nämlich uns vom Denken der

Similarität leiten lassen und die Gewalt gegen Tiere mindern, wo immer es geht.

Derrida ist darin unmissverständlich:

                                                        19 E. Lévinas, Éthique et infini, Paris 1982, S. 79f. (Übersetzung M.W.).

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„Die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren müssen sich ändern. Sie müssen es

im doppelten Sinne dieses Wortes, nämlich im Sinn einer ontologischen

Notwendigkeit und einer ethischen Pflicht. [...] Auch wenn mir ihre Argumentation

oft fehlgeleitet oder philosophisch nicht schlüssig erscheint, hege ich doch eine

grundsätzliche Sympathie für jene, die sich meiner Meinung nach mit Recht und mit

guten Gründen über die Behandlung der Tiere empören, die diese in der

Massentierhaltung, in den Schlachthöfen, im Konsum und in der Forschung erfahren.

[...] Im Moment müssen wir uns damit zufrieden geben, die bestehenden rechtlichen

Regelungen zu verbessern.“20

Derrida plädiert für eine Verbesserung der Bedingungen, unter denen Tiere leben im

real existierenden rechtlichen Rahmen. Aber das ist sozusagen nur eine

Notmaßnahme. Seine Kritik des rechtlichen Rahmens, die wir oben kennen gelernt

haben, besagt, dass wir den Rahmen selbst ändern müssen. Damit befindet sich

Derrida auf einer Linie mit Verfechterinnen und Verfechtern der Tierrechte, die das

Problem darin sehen, dass Tiere unser Eigentum sein können. Eigentum kann man

(beinahe) beliebig für seine Zwecke nutzen. Solange der rechtliche Rahmen zulässt,

dass Lebewesen das Eigentum von Rechtsubjekten sein können, wird die Gewalt

gegen Tiere nicht aufhören. Also muss man den rechtlichen Rahmen ändern. Wie

Derrida betont: „Die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren müssen sich

ändern.“ Derrida ist also sehr radikal, sein Denken verläuft parallel zum äußeren

linken Flügel des Tierrechtsdenkens.21

Ich habe Derridas Position zur Tierethik in den von ihm selbst aufgespannten

Gegensatz zwischen Alterität und Similarität gestellt. Aber ist dieser Gegensatz

wirklich so groß wie Derrida glauben machen möchte? Denken wir an Nagels

Fledermaus zurück. Ich habe zwischen der Anfühlfrage und der Verteilungsfrage

unterschieden. Die zweite Frage beantworten wir mithilfe von Ähnlichkeiten zu uns

(Similarität), die erste hingegen können wir nicht beantworten (Alterität). Es ist aber

offensichtlich, dass wir die Fledermaus deshalb als Form der Alterität wahrnehmen,

weil wir davon ausgehen, dass sie ein subjektives Erleben hat. Würden wir die

                                                        20 Derrida, Roudinesco, De quoi … Dialogue, S. 108f.; 123 (Übersetzung M.W.). 21 Vgl. G.L. Francione, Animals, property, and the law, Philadephia 1995; S. Donaldson, W. Kymlicka, Zoopolis. Eine poliitische Theorie der Tierrechte, Berlin 2013.

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Verteilungsfrage nicht positiv beantworten, hätten wir keine Alterität. Die Frage, wie

es sich anfühlt, ein Ziegelstein zu sein, ergibt keinen Sinn, weil wir nicht den

geringsten Anlass haben, die Verteilungsfrage im Fall des Ziegelsteins zu stellen

geschweige denn positiv zu beantworten. So gesehen ist Similarität für Alterität

unverzichtbar. Wir können einem Anderen nur als Anderem begegnen, wenn wir ihn

als etwas auffassen können, dem wir begegnen können und der uns begegnen kann.

Derrida begegnet morgens im Bad der kleinen Katze, doch er begegnet nicht den

Ziegelsteinen, aus denen die Wände bestehen. Es ist, meine ich, ein Fehler, Similarität

und Alterität einander gegenüber zu stellen, ein Hang-over des alten metaphysischen

Denkens in binären Gegensatzpaaren. Wenn wir auf diesen Gegensatz verzichten,

wird Derridas tierphilosophische Position kohärenter. Wir beginnen mit dem

Einbezug des Tiers in den Kreis derjenigen, die wir in einem starken Sinne moralisch

zu berücksichtigen haben, und zwar innerhalb des rechtlichen Rahmens, den wir nun

einmal haben. Das basiert auf dem Denken der Similarität. Wenn wir Tiere auf diese

Weise in den „Kreis der Sympathie“ (Ian McEwan) einlassen, verändert sich der

rechtliche Rahmen selbst und es entsteht Raum für die Alterität des Tiers. Das wäre

der Beginn des Denkens der Alterität.

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ANHANG T.S. Eliot (1939), The Naming of Cats The Naming of Cats is a difficult matter, It isn’t just one of your holiday games; You may think at first I’m as mad as a hatter When I tell you, a cat must have THREE DIFFERENT NAMES. First of all, there’s the name that the family use daily, Such as Peter, Augustus, Alonzo, or James, Such as Victor or Jonathan, George or Bill Bailey — All of them sensible everyday names. There are fancier names if you think they sound sweeter, Some for the gentlemen, some for the dames: Such as Plato, Admetus, Electra, Demeter — But all of them sensible everyday names. But I tell you, a cat needs a name that’s particular, A name that’s peculiar, and more dignified, Else how can he keep up his tail perpendicular, Or spread out his whiskers, or cherish his pride? Of names of this kind, I can give you a quorum, Such as Munkstrap, Quaxo, or Coricopat, Such as Bombalurina, or else Jellylorum — Names that never belong to more than one cat. But above and beyond there’s still one name left over, And that is the name that you never will guess; The name that no human research can discover — But THE CAT HIMSELF KNOWS, and will never confess. When you notice a cat in profound meditation, The reason, I tell you, is always the same: His mind is engaged in a rapt contemplation Of the thought, of the thought, of the thought of his name: His ineffable effable Effanineffable Deep and inscrutable singular Name. Wie heissen die Katzen? (Übersetzung von Erich Kästner) Wie heißen die Katzen? gehört zu den kniffligsten Fragen Und nicht in die Rätselecke für jumperstrickende Damen. Ich darf Ihnen, ganz im Vertrauen, sagen: Eine jede Katze hat drei verschiedene Namen. Zunächst den Namen für Hausgebrauch und Familie, Wie Paul oder Moritz (in ungefähr diesem Rahmen), Oder Max oder Peter oder auch Petersilie - Kurz, lauter vernünft‘ge, alltägliche Namen. Oder, hübscher noch, Murr oder Fangemaus Oder auch, nach den Mustern aus klassischen Dramen: Iphigenie, Orest oder Menelaus - Also immer noch ziemlich vernünft‘ge, alltägliche Namen.

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Doch nun zu dem nächsten Namen, dem zweiten: Den muß man besonders und anders entwickeln. Sonst könnten die Katzen nicht königlich schreiten, Noch gar mit erhobenem Schwanz perpendikeln. Zu solchen Namen zählt beispielsweise Schnurroaster, Tatzitus, Katzastrophal, Kralline, Nick Kater und Kratzeleise - Und jeden der Namen gibt‘s nur einmal. Doch schließlich hat jede noch einen dritten! Ihn kennt nur die Katze und gibt ihn nicht preis. Da nützt kein Scharfsinn, da hilft kein Bitten. Sie bleibt die einzige, die ihn weiß. Sooft sie versunken, versonnen und Verträumt vor sich hin starrt, ihr Herren und Damen, Hat‘s immer und immer den gleichen Grund: Dann denkt sie und denkt sie an diesen Namen - Den unaussprechlichen, unausgesprochenen, Den ausgesprochenen unaussprechlichen, Geheimnisvoll dritten Namen.