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Wissenschaftliche Untersuchungen - ciando.com · gemeinsamen Initiative von Bischof Irinej Bulović und Prof. Dr. Ulrich Luz, Bern, zu verdanken, welcher dem neuen Institut einen

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe

Herausgeber / EditorJörg Frey (Zürich)

Mitherausgeber / Associate EditorsMarkus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala)

Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Christ of the Sacred Stories

edited by

Predrag Dragutinović, Tobias Nicklas, Kelsie Rodenbiker and Vladan Tatalović

Mohr Siebeck

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Predrag Dragutinović, born 1972; since 2008 Lecturer for the New Testament at the Faculty of Orthodox Theology, University of Belgrade; since 2014 Associate Professor for New Testament and head of the Biblical Institute in Belgrade, and Research Associate in New Testa-ment, Faculty of Theology, Stellenbosch University, South Africa.

Tobias Nicklas, born 1967; 2005–2007 Professor of New Testament at Radboud University of Nijmegen, Netherlands; since 2007 Professor of New Testament at University of Regensburg, Germany; Research Associate at the Department of New Testament, University of the Free State, Bloemfontein, South Africa.

Kelsie G. Rodenbiker, born 1987; postgraduate studies in Theology and Christian Scripture at Seattle Pacific University; since 2015 PhD candidate in New Testament at Durham University.

Vladan Tatalović, born 1977; postgraduate studies at the Faculty of Orthodox Theology, University of Belgrade; 2005–2015 Assistant at the Department for New Testament Studies, since 2015 Assistant Professor of New Testament at the Faculty of Orthodox Theology, Univer-sity of Belgrade.

ISBN 978-3-16-154510-8 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe)

Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie; detailed bibliographic data is available on the Internet at http: / /dnb.dnb.de.

© 2017 by Mohr Siebeck, Tübingen, Germany. www.mohr.de

This book may not be reproduced, in whole or in part, in any form (beyond that permitted by copyright law) without the publisher’s written permission. This applies particularly to repro-ductions, translations, microfilms and storage and processing in electronic systems.

The book was typeset by Martin Fischer in Tübingen, printed by Laupp & Göbel in Gomaringen on non-aging paper and bound by Buchbinderei Nädele in Nehren.

Printed in Germany.

e-ISBN PDF 978-3-16-155602-9

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Vorwort

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die von 10.–13. September des Jahres 2015 an der Fakultät für Orthodoxe Theologie an der Universität Belgrad stattfand. Die Tagung selbst verdankt sich zwei Anlässen: Sie ehrte das Lebenswerk von Prof. Dr. Irinej Bulović, des emeritierten Chefs des Departments für Biblische Studien der Fakultät und gleichzeitigen Bischofs von Novi Sad und Bačka und sie feierte zugleich die Eröffnung des neuen Instituts für Biblische Studien an der Universität Belgrad. Dass dies möglich wurde, ist besonders der gemeinsamen Initiative von Bischof Irinej Bulović und Prof. Dr. Ulrich Luz, Bern, zu verdanken, welcher dem neuen Institut einen großen Teil seiner pri-vaten Bibliothek verschenkte und so einer jungen Generation serbischer Bibel-wissenschaftler die Grundlage für ihre wissenschaftliche Arbeit ermöglichte.

Der nun entstandene Band, dessen Herausgeberteam nach der Konferenz noch um Kelsie Rodenbiker, Durham, erweitert wurde, bringt Vorträge der Kon-ferenz und im Nachhinein erbetene Beiträge internationaler Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler zusammen. Diese wiederum sind durch die folgenden Gedanken und Thesen miteinander verbunden:

(1) Der vorliegende Band ist an Christologie interessiert, möchte jedoch keine klassische Christologie des Neuen Testaments oder seiner einzelnen Schriften bieten. Auch die Rückfrage nach dem historischen Jesus tritt zurück. Stattdessen soll ernst genommen werden, dass (zunächst) die Evangelien des Neuen Tes-taments Erzählungen bieten wollen, in denen Jesus von Nazaret, der Christus, als Protagonist beschrieben wird, und als solche Christusbilder beschreiben. Solche Erzählungen nachzuvollziehen bedeutet aber gegenüber systematischen Definitionen immer ein „Mehr“, Erzählungen sprechen Leserinnen und Leser aller Zeiten mehr und anders an als formelhafte Bekenntnisse und systematische Traktate allein; als offene Texte eröffnen sie Denkmöglichkeiten und erlauben so gerade als lebendiges Gotteswort im Menschenwort, in neue Kontexte hinein zu wachsen. In diesem „Mehr“, das immer im Dialog mit systematischen Theo-logien bleiben muss, zeigt sich auch ein gewichtiger eigener Beitrag einer theo-logisch interessierten und engagierten Exegese im Dialog mit Systematischer Theologie: Exegese ist, so verstanden, nicht nur eine Art Hilfswissenschaft, die erste Etappen der Entstehung des Dogmas zu beschreiben weiß, vielmehr dient sie der Kraft des erzählten Gottesworts, dem sich alle Theologie verpflichtet weiß.

(2) Dies bedeutet natürlich auf verschiedenen Ebenen eine hermeneutische Herausforderung, der sich die hier gesammelten Beiträge auf unterschiedlicher Weise stellen. Dass dabei – zwischen Exegetinnen und Exegeten aus unterschied-

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lichen Kirchen – nicht immer Einklang herrschen kann, sondern die z. T. glei-chen Probleme aus verschiedenen Richtungen angegangen werden, wird als Teil eines lebendigen Dialogs wahrgenommen, der sich aus den Schriften selbst, aber auch aus den Traditionen heraus versteht, in denen die verschiedenen Ausleger stehen. Eine Reihe von Punkten wurde als besonders innovativ und weiterfüh-rend wahrgenommen, gleichzeitig jedoch auch kontrovers diskutiert:

(2.1) Auch in der Briefliteratur des Neuen Testaments, neben den allgemein als authentisch anerkannten Briefen des Corpus Paulinum im folgenden Band auch durch die Pastoralbriefe, den 2. Thessalonicherbrief und den Jakobusbrief vertreten, lassen sich Elemente z. T. explizit begegnender, z. T. implizit voraus-gesetzter Christuserzählungen entdecken, deren Rekonstruktion uns helfen kann, Tiefenstrukturen frühchristlichen Denkens besser als bisher zu verstehen. „Narrativität“ muss hier natürlich in einem weiten Sinne verstanden werden; gleichzeitig zeigt sich eine grundsätzlich narrative Struktur christlichen theo-logischen Denkens.

(2.2) Bewusst verlassen einige Beiträge  – zum Thomasevangelium und zu späten Apostelakten – den Rahmen des neutestamentlichen Kanons. Sie zeigen auf, dass ein Text wie das Thomasevangelium, normalerweise als „Spruchevan-gelium“ beschrieben, deutlich mehr an narrativen Elementen aufweist, als üb-licherweise angenommen, und dass selbst Schriften wie außerkanonische Apos-telerzählungen, in denen die Figur Jesu auf den ersten Blick hinter den Aposteln zurückzutreten scheint, hoch spannende „Christuserzählungen“ spiegeln, deren Einfluss auf antike (in vielen Fällen durchaus im weiten Sinne „orthodoxe“) christliche Kreise nicht zu unterschätzen ist.

(2.3) Andere Beiträge legen Wert auf Aspekte von Christusbildern und Chris-tuserzählungen, die im späteren Verlauf der Kirchengeschichte eher in den Hin-tergrund getreten sind. In diesem Zusammenhang sei in besonderem Maße die Bedeutung des jüdischen Jesus, des Davidssohns, des Lehrers der Tora, des Propheten u. a. erwähnt, die noch intensiver als bisher zu entdecken zu den viel-leicht wichtigsten Herausforderungen der Theologie auch des 21. Jahrhunderts gehören dürfte.

(2.4) Einen bewusst unüblichen Weg gehen schließlich einige Beiträge, in denen alttestamentliche Schriften (bzw. Passagen alttestamentlicher Schriften) wie Jesaja oder der Psalter als „Christuserzählungen“ gedeutet werden. Dabei ist den Autoren ganz bewusst, dass diese Schriften nicht von von vornherein auf Christus hin konzipiert wurden, ja dass es zunächst vollkommen angemessene Weise gibt, sie als Teil der Schriften Israels in ihrem ursprünglichen Entstehungs-kontext zu lesen. Mit einer (für das spätere jüdisch-christliche Verhältnis nicht unproblematischen!) christlichen Perspektive, die diese Texte nun auch als auf Christus hin verweisend und von ihm erzählend versteht, können diese Texte – aus christlicher Sicht! – nun auch als Christuserzählungen gelesen werden. Da die Wurzeln solcher Auslegungen bis in die frühesten Zeugnisse christlichen

VI Vorwort

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Glaubens verfolgt werden können, dürfen solche Deutungen (aus christlicher Sicht) alttestamentlicher Schriften nicht einfach ignoriert werden. Vielmehr ist es notwendig, sie als eine Form der Lektüre, die bis hinein in die Feier der Liturgien verschiedenster Kirchen bis heute präsent und aus christlicher Theologie nicht wegzudenken ist, exegetisch zu reflektieren. Dass damit anderen – jüdischen! – Leseweisen der gleichen Texte nicht (wie etwa im Sinne antiker „Dialoge“) der Boden entzogen werden darf, war und ist den meisten Autoren des vorliegenden Bandes bewusst und ein Anliegen. Wenn in einem Falle eine andere Perspektive aufgenommen wurde, soll dies auch zeigen, dass Dialog, Diskussion und auch kontroverse Auseinandersetzung keineswegs beendet sind.

Ein Buch herauszugeben bedeutet auf die Mitarbeit einer Vielzahl von Helfern und Unterstützern angewiesen zu sein. Besonders zu danken ist den Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern des biblischen Instituts an der Orthodox-Theologi-schen Fakultät der Universität Belgrad für ihre Organisation der Konferenz, die u. a. durch die großzügige finanzielle Unterstützung von Seiten der katho-lischen Diözese Regensburg, namentlich Bischof Dr. Rudolf Voderholzer, sowie des Direktorats zur Kooperation mit Kirchen und religiösen Gemeinschaften der Republik Serbien und der Diözese Bačka ermöglicht wurde. Für die eigentliche redaktionelle Arbeit leisteten Frau Dr. Veronika Niederhofer und Frau Verena Federl, beide am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg tätig, unschätzbare Hilfe. Die Indices wurden erstellt von Luigi Walt und Milan KostreŠevic. Dem Verlag Mohr Siebeck, allen voran Dr. Henning Ziebritzki, sind wir für die Aufnahme in die 2. Reihe der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament wie auch die immer kompetente verlegerische Betreuung zu großem Dank verpflichtet.

Wir widmen diesen Band zwei bedeutenden Exegeten und Wegbereitern öku-menischen Dialogs, Bischof Dr. Irinej Bulović und Prof. Dr. Ulrich Luz.

Regensburg im Mai 2017 Für die Herausgeber Tobias Nicklas

VIIVorwort

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Table of Contents

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

I. New Testament Books

Ulrich LuzDer „Christus“ der Matthäusgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Franz TóthDie inklusive Jesusgeschichte des Matthäusevangeliums zwischen Judentum und orthodoxer Kirche. Eine Response auf Ulrich Luz . . . . . . . . 13

David S. du Toit„Es ist nichts Geheimes, das nicht ans Licht kommen soll.“ Verhüllung und Enthüllung als Erzählmotiv und als narrative Strategie im Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Jens SchröterThe Story of Jesus Christ According to Luke-Acts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Wolfgang GrünstäudlCompanions, Hairs, and Swords. Preliminary Remarks on Dys/ functional Variation in Luke’s Story of Christ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Armand Puig i TàrrechTheological Parallels in the Infancy Narratives (Mt 1–2; Lk 1–2) . . . . . . . . . 101

Christos KarakolisIs Jesus a Prophet according to the Witness of the Fourth Gospel? A Narrative-Critical Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Karl-Wilhelm NiebuhrChrist of Paul’s Story. Jesus Christ – Son of David and Son of God . . . . . . . 141

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Fr. Theodor StojtchevJesus – Mensch von oben. Eine Diskussion mit Karl-Wilhelm Niebuhr . . . 155

Tobias NicklasGibt es eine Christuserzählung des 2. Thessalonicherbriefes? . . . . . . . . . . . . 161

Predrag DragutinovićΜνημόνευε Ἰησοῦν Χριστόν (2 Tim 2,8). Jesusgeschichte und Pauluserzählung in den Pastoralbriefen . . . . . . . . . . . . 177

Susanne LutherThe Christ of James’ Story . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Michael SommerDie Jesusgeschichte und die Identitätsgeschichte der Offenbarung . . . . . . . . 201

II. Other Early Christian Writings

Konrad SchwarzDer „lebendige Jesus“ im Thomasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Julia A. SnyderChrist of the Acts of Andrew and Matthias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Paul FosterThe Story of Christ in the Writings of Ignatius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

III. Old Testament Perspectives

Tobias NicklasIsaiah’s Story about Christ? Trying to Understand Early Christian Perspectives on Isaiah 7:14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Erik EynikelResponse to: Tobias Nicklas, “Isaiah’s Story about Christ? Trying to Understand Early Christian Perspectives on Isa 7:14” . . . . . . . . . . 297

X Table of Contents

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M. G. SeleznevChrist of the Psalms’ Story . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Nenad BožovićPs 2,7–8 im Narrativ des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

List of Contributors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Index of Sources . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349Index of Modern Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366Index of Names, Places, and Subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

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I. New Testament Books

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Der „Christus“ der Matthäusgeschichte

Ulrich Luz

Vor vielen Jahren habe ich ein Büchlein mit dem Titel „Die Jesusgeschichte des Matthäus“ geschrieben.1 Im Rückblick darauf meine ich heute: Der Titel war falsch. Matthäus hat keine Jesusgeschichte geschrieben. Er hat eine „Jesus-Christus-Geschichte“ geschrieben, wobei „Geschichte“ im Sinne des englischen „story“, nicht im Sinne von „history“ zu verstehen ist. Mit diesem reumütigen Rückblick will ich einsetzen und in einem ersten Abschnitt fragen, was im Sinne des Matthäus unter „Christus“ zu verstehen ist (I). In einem zweiten Abschnitt will ich dann fragen, was im Sinne des Matthäus unter „Geschichte“ zu verstehen ist (II). Erst danach – im dritten und letzten Abschnitt – will ich diese Geschichte nacherzählen (III). In allen drei Teilen will ich ein paar Hinweise geben, welche mir für Orthodoxe Hermeneutik und Theologie wichtig zu sein scheinen.

1. Was heißt „Christus“ im Matthäusevangelium?

Matthäus kennt keine Christologie, die an christologischen Hoheitstiteln mit einer festen Bedeutung orientiert ist. Vielmehr erzählt er eine Christo-„Logie“, wobei sich die Bedeutung der Titel, die er aus der Tradition übernommen hat, im Laufe seiner Erzählung verändert. Es ist primär seine Geschichte und nicht die Tradition, welche den Sinn dieser Titel bestimmt. Matthäus erzählt seine Christusgeschichte als Geschichte des Immanuel, d. h. in biblischem Sinn als Geschichte Gottes mit Jesus und mit den Menschen. Im ersten Erfüllungszitat 1,22 f. führt er Jesus als „Immanuel“ nach Jes 7,14 ein und übersetzt Immanuel für seine Leser/ innen, die kein Hebräisch verstehen, durch „mit uns ist Gott“, weil das so wichtig ist. Jesus ist der, in dem der biblische Gott seine Gemeinde begleitet, so, wie er Israel immer begleitet hat. Das Immanuelmotiv zieht sich wie ein cantus firmus durch seine ganze Jesus-Christus-Geschichte. Höhepunkte sind Mt 18,20 („wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen“) und dann natürlich der allerletzte Vers des Evangeliums „siehe, ich bin mit euch alle Tage bis ans Ende der Weltzeit“ (Mt 28,20). Aber auch der eschatologische Ausblick des Herrenmahls (Mt 26,29) gehört hierher: „ich werde von diesem Gewächs des Weinstocks von jetzt an nicht mehr trinken,

1 U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993.

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bis zu jenem Tage, wann ich es wieder trinken werde, von neuem, mit euch“. Die matthäische Jesus-Christus-Geschichte ist also eine Gottes-Geschichte. Das erinnert sehr an die spätere Zwei-Naturen-Lehre: Das Matthäusevangelium hat eine ähnlich „hohe“ Christologie wie sie. Umso mehr ist darauf zu achten, worin sich beide voneinander unterscheiden.

Als Nächstes ist nach der Bedeutung des Titels „Gottessohn“ zu fragen. Dieser Ausdruck hat eine vertikale und eine horizontale Dimension. Die vertikale Di-mension hat Matthäus aus dem Markusevangelium übernommen, dessen Chris-tusgeschichte er neu erzählt. Indirekt verdankt er sie – durch das Markusevan-gelium, welches in 1,11 auf Ps 2,7 oder auf Jes 42,1 anspielt – der Bibel. Mit der Taufgeschichte, der Verklärungsgeschichte und dem Bekenntnis vor dem Hohen Rat hatte schon Markus drei entscheidende Akzente gesetzt, welche Matthäus übernimmt. „Gottessohn“ heißt für Matthäus, dass für Jesus der Himmel offen-steht (Mt 3,16). „Gottessohn“ heißt, dass Gott selbst ihm eine einzigartige Hoheit zuspricht (z. B. Mt 3,17; 11,27, 17,5). Darum wird „Gottessohn“ zum Bekennt-nistitel (z. B. Mt 14,33; 16,16). Zugleich aber hat Matthäus dieser vertikalen Di-mension eine horizontale, nämlich eine ethische hinzugefügt. Er verdankt auch sie der Bibel, insbesondere dem Denkmodell des leidenden Gerechten aus Ps 22 und Sap Sal 2. Jesu Gottessohnschaft zeigt sich darin, dass er die Versuchung des Satans abweist und auf satanische Macht verzichtet (Kap. 4). Sie bewährt sich da-rin, dass er, der Sohn, den Mühseligen und Belasteten Ruhe gibt (Mt 11,28–30). Sie bewährt sich schließlich darin, dass er nicht vom Kreuz herabsteigt, sondern auf Gott vertraut (Mt 27,43). Auch so wird „Gottessohn“ ein Bekenntnistitel, wie der römische Hauptmann angesichts des Kreuzestodes Jesu zeigt (Mt 27,54). Das Matthäusevangelium wird also durch zwei Inklusionen gerahmt: Zur äußeren Inklusion, mit der Matthäus durch das Immanuelmotiv sein ganzes Evangelium rahmt (Mt 1,22 f.; 28,20), tritt eine zweite, innere Inklusion durch die von der Bibel inspirierten Aussagen vom gerechten, leidenden Gottessohn (Mt 3,13–4,11; 27,43–54). Auf diese Weise hat also Matthäus die markinischen Gottessohn-aussagen von der Bibel her vertieft und neu interpretiert.

Mit dem Davidssohntitel hält Matthäus Jesus in Israel fest. Die jüdischen Leser und Leserinnen des Matthäusevangeliums bringen hier ihre eigenen Messias-erwartungen mit, vielleicht die Hoffnung auf eine davidischen Messias, wie sie etwa in Ps Sal 17 f. formuliert ist. Auch Jesus ist Davidide, nämlich durch Josef (Mt 1,16.18–21). Von Markus inspiriert, nämlich von der Geschichte des blinden Bartimäus, der den Messias Israels um Erbarmen bittet (Mk 10,47), unterläuft aber Matthäus in seiner Geschichte dieses kriegerische Messiasbild. Jesus wird gewaltlos, auf Eseln und nicht auf einem Pferd, in Jerusalem einziehen. Er heilt die Kranken seines Volkes, insbesondere die Blinden (z. B. 9,27; 21,14–16). Aber zugleich bleibt Jesus der Messias des Gottesvolkes Israel. Er ist der Messias Is-raels, der die Hoffnungen der einfachen Leute und der Leidenden seines Volkes erfüllt und den Erwartungen der jüdischen Führer widerspricht. Er hört m. E. nie

4 Ulrich Luz

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auf, Davidssohn zu sein, auch wenn er, wie 22,41–46 andeutet, die Erwartungen Israels bei weitem überhöht. Früher hatte ich von einer „begrenzten Reichweite“ des Davidssohntitels gesprochen – diese These möchte ich hier ausdrücklich zu-rücknehmen.2 Wir stoßen bei den Davidssohnaussagen auf eine Dimension, die in der Zwei-Naturen-Lehre fehlt. Bekanntlich ist in der Alten Kirche eine andere, negative Sicht Israels herrschend geworden, die vor allem, aber nicht nur von Johannes inspiriert ist.

Vom Ausdruck „Menschensohn“ brauche ich nur kurz zu reden. Er ist bei Matthäus kein Titel, sondern eine Redeweise Jesu, mit der er seinen ganzen Weg von seinem irdischen Wirken über sein Leiden und Sterben, seine Erhöhung bis zu seiner endgültigen Parusie umschreibt. Wenn Jesus von sich als „Menschen-sohn“ spricht, lässt er in biblischer Sprache das Ganze seines Weges anklingen. Jesus weiß also um diesen Weg und um seine Zukunft und offenbart ihn suk-zessive seinen Jüngern. „Menschensohn“ ist also – wenn man in den Kategorien der Zwei-Naturen-Lehre denkt – ein Ausdruck, der eher zur göttlichen Seite Jesu gehört, als dass er seine Menschheit umschriebe.

Ich fasse zusammen und frage: Vertritt Matthäus eine neutestamentliche Vor-Form der Zweinaturenlehre? Ja und Nein. Er hat gewiss eine ganz „hohe“ Chris-tologie, hierin nur Johannes vergleichbar. Er erzählt seine Christusgeschichte als Geschichte Gottes mit Jesus und „mit uns“ Menschen. Aber – und hier liegt m. E. der entscheidende Unterschied – er hält Jesus in Israel fest.

2. Was heißt „Geschichte“ im Matthäusevangelium?

Von Matthäus her verstehe ich unter Geschichte „story“, nicht „history“ – im Deutschen ist das Wort „Geschichte“ doppeldeutig. Dass Matthäus eine Christus-Story erzählt und nicht etwa Geschichte im historischen Sinn schreibt, kann man sich an Mt 8–9 am besten klarmachen: Hier benutzt der Evangelist zwei Erzähl-stränge aus dem Markusevangelium (Mk 1,29–2,28 und 4,35–5,43 und drei Texte aus Q (Q 8,5–13; Q 9,57–60; Q 9,32–34). Dazu benutzt er ein erstes Mal die Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus aus Mk 10,46–52 und erzählt in Anlehnung an sie von der Heilung von zwei Blinden; er wird später nochmals von der Heilung von zwei anderen Blinden erzählen (Mt 20,29–34). Er tut dies, weil die Heilung von Blindheit für ihn am deutlichsten das umschreibt, was Jesus jederzeit für alle Menschen tut. Alle diese Quellen setzt er zu einer neuen „story“ zusammen. Eigentlich ist dieser neue Text eine bloße Collage, aber der Evangelist erzählt diese neue „story“ als eine Ereignisfolge: Er erzählt einen fortlaufenden

2 U. Luz, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: C. Breytenbach/H. Paulsen (Hg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 226 (These 2.5); abgedruckt in: Ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 271 f.

5Der „Christus“ der Matthäusgeschichte

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Handlungsablauf, in dem Schlag auf Schlag eine Begebenheit auf die andere folgt. Matthäus muss gewusst haben, dass diese neue „story“ nicht eine „Geschichte“ im Sinn einer Historie ist, sondern seine eigene Fiktion.

Wie ist diese merkwürdige „story“ zu verstehen? Ich habe dafür den Aus-druck „inklusive Geschichte“ geprägt. Was „schließt“ diese Geschichte ein? Weil Matthäus die Geschichte des „Immanuel“ Jesus erzählt, schließt sie Gott und die Menschen ein. Unter „Menschen“ verstehe ich im Sinne des „Immanuel“ (Plural!) zunächst die Gemeinde, die in die Fußstapfen des Gottesvolkes Israel tritt. Die Mt-Geschichte ist also eine Geschichte mit doppeltem Boden, oder – um einen anderen Ausdruck zu wählen, den ich oft brauchte – eine transparente Geschichte. Die mt Jesus-Christus-Geschichte ist transparent für die Geschichte seiner Gemeinde nach Ostern, welche ihr entspricht. Die Jünger, deren Berufung Matthäus zunächst erzählt (4,18–22), sind die wichtigsten Identifikationsfiguren der Leser/ innen des Matthäusevangeliums. Sie hören Jesu Verkündigung auf dem Berg, gleichsam als der innere Kreis des Volkes Israel (5,1). Mit dem Volk erschre-cken sie über Jesu Lehre in Vollmacht (7,28). In den Kapiteln 8 und 9 werden sie Zeugen der in dichter Folge sich ereignenden Heilungen des Davidssohns, also des Messias Israels, in seinem Volke. Sie werden auch Zeugen der ablehnenden Haltung der Führer Israels. Sie steigen dann mit Jesus ins Boot und fahren ans andere Ufer, in die damals heidnische Gadarene (8,18–27). Am Ende der beiden Kapitel stehen sie mit dem Volk auf der Seite Jesu. Sie sagen: „Noch nie ist so etwas in Israel geschehen“. Die Pharisäer aber – als wichtigste Repräsentanten der jesusfeindlichen Führer Israels – lehnen Jesus ab. Sie sagen: „Im Namen des Herr-schers der Dämonen treibt er die Dämonen aus“ (9,33 f.). Die Kapitel 8 und 9 sind, wie Christoph Burger mit Recht einmal sagte, die Gründungsgeschichte der Ge-meinde.3 Matthäus wird dann in den folgenden Kapiteln 12–16 erzählen, wie Je-sus und die Seinen sich immer wieder vor den feindlichen Führern zurückziehen müssen, einmal sogar in das von Heiden besiedelte Gebiet von Tyrus und Sidon (15,21). Die fünf Kapitel nehmen in gewisser Weise die späteren Erfahrungen der jüdischen Jesusgemeinde im Land Israel vorweg. In den Kapiteln 16–20 geht es dann um die Lebenspraxis der in Israel entstandenen Gemeinde und in der zu diesen Kapiteln gehörenden „Gemeinderede“ Kap. 18 um ihre Lebensordnung. In Kap. 21–23 folgt dann Jesu große Abrechnung mit den Führern des Volkes in Jerusalem. Jesus zieht mit seinen Jüngern am Ende dieser Kapitel aus dem Tem-pel aus (24,1 f.) und spricht fortan nur noch zu den Jüngern, d. h. der Gemeinde (Kap. 24 f.). Es folgt dann die Passionsgeschichte. Sie endet mit der Aufforderung an die Jünger, dem Auferstandenen nach Galiläa zu folgen, wo sie ihn auf dem Berge sehen werden (Mt 28,9 f.). Galiläa ist – so kündete es schon das Erfüllungs-zitat Mt 4,15 an – das „Galiläa der Völker“. Von dort wird der Auferstandene seine Jünger zu allen Völkern schicken (Mt 28,19). Diese Geschichte entspricht

3 C. Burger, Jesu Taten nach Mt 8 und 9, ZThK 70 (1973), 285.

6 Ulrich Luz

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der Geschichte der nachösterlichen Gemeinde, die im Land Israel entstand, dort lebte, aber – vermutlich während der Ereignisse des jüdischen Krieges – aus Israel fliehen musste und sich nun unter den Völkern, in Syrien, vielleicht in Antiochia am Orontes, niedergelassen hat. In diesem Sinn ist die matthäische Christus-geschichte „transparent“ für die Geschichte der nachösterlichen Gemeinde.

Ich nenne das „indirekte Transparenz“, im Unterschied zu einer „direkten Transparenz“ einzelner Jesusgeschichten für Erfahrungen der Gemeindeglie-der mit ihrem „Immanuel“, dem erhöhten Herrn Christus.4 Am deutlichsten wird das in den Blindenheilungen, die Matthäus in großer Zahl in seiner Jesus-Christus-Geschichte erzählt. Sie sind transparent für die Erfahrungen der Ge-meindeglieder mit ihrem Immanuel: Durch ihn sind sie „sehend“ geworden. Sie haben ihre Blindheit abgelegt und sind zu Glaubenden geworden. In den Blindenheilungen spiegeln sich ihre eigenen Erfahrungen. – Ähnlich ist es in anderen Wundererzählungen: Die Sturmstillungen werden transparent für den Schutz in den Stürmen des Lebens, welchen die nachösterliche Jesusgemeinde von ihrem Herrn erfährt, die Speisungsgeschichten für die Erfahrungen des Herrenmahls, die Lahmenheilungen für das Geschenk des Aufrecht-Gehens. Eine direkte Transparenz gibt es in allen Wundergeschichten, aber auch in allego-risierten Parabeln und in anderer Weise in den Geboten Jesu. Vor allem aber gibt es sie in den fünf großen Reden. In ihnen spricht Jesus direkt zu den Menschen in der Gegenwart. Deshalb kommen hier auch Erfahrungen der Gemeinde in den Worten des Immanuel-Jesus zur Sprache, z. B. in Mt 5,10.11 f.; 5,31 f. Alle diese Texte spiegeln also gegenwärtige Erfahrungen mit dem Immanuel, der bei seiner Gemeinde ist bis ans Ende der Zeit.

Die Christusgeschichte des Matthäus ist also eine merkwürdige, ganz be-sondere „story“. Sie hat wenig gemeinsam mit antiken Biographien, auch wenn sie von vielen hellenistisch gebildeten Leserinnen und Lesern zunächst als solche rezipiert worden ist. Mehr Gemeinsamkeiten hat sie mit den grundlegenden Mythen, welche „Bestand und Verfassung einer Gesellschaft“ sichern.5 Auch Mythen haben einen „doppelten Boden“ – sie sind transparent für die Gegen-wart, die sie legitimieren oder erklären. Vor allem aber erinnert die matthäische Jesus-Christus-Geschichte an die biblischen Grundgeschichten. Den alttesta-mentlichen Geschichtsentwürfen, die in verschiedener Weise eine Identifikation der Hörer/ innen mit Israels Grundgeschichte am Sinai voraussetzen, kommt die Matthäusgeschichte besonders nahe. Man kann sich das am ganzen fünfteiligen Pentateuch oder am geschichtlichen Rahmen des Deuteronomiums klarmachen. Wenn das gegenwärtige Israel seine Grundgeschichte hört, steht es selbst am Sinai und damit vor seinem Gott.

4 Die beiden Ausdrücke sind etwas ungeschickt, aber ich fand keine besseren. „Indirekt“ meint, dass eine einzelne Jesuserzählung nur als Teil der ganzen mt Jesus-Christus-Geschichte transparent wird.

5 A. und J. Assmann, Mythos, HRWG IV, Stuttgart 1998, 185.

7Der „Christus“ der Matthäusgeschichte

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Wie ist diese matthäische Christusgeschichte zu deuten? Nicht von außen, sondern von innen, so, dass die gegenwärtigen Leser/ innen, nämlich die hörende Gemeinde, selbst daran beteiligt sind und sie mit ihren Erfahrungen einschließt. Macht man sich das klar, so springt die Nähe dieses Deutungsmodells zum altkirchlichen Modell vom mehrfachen Schriftsinn in die Augen. Die „indirekte Transparenz“ und die „direkte Transparenz“ entsprechen der mystischen bzw. allegorischen Deutung eines Textes auf die Heilsgeschichte oder die Erfahrungen der einzelnen Gläubigen. Für die „ethische“ Deutung gilt, dass sie – wenigstens bei Origenes, den ich am besten kenne – entgegen seiner Theorie nicht so sehr die Vorstufe der mystischen Auslegung ist, sondern ihr folgt, ebenso wie bei Matthäus die ethische Unterweisung Jesu eingebettet ist in Gottes Geschichte mit dem Immanuel Jesus.6 Für die wörtliche Auslegung gilt für Matthäus wie für Origenes, dass „gewisse Schrifttexte … das ‚Leibliche‘ überhaupt nicht ent-halten“;7 sie sind nur „Symbole … der … geistlichen Geschehnisse“.8 Das gilt z. B. für die mt Geschichte vom Seewandel, besonders für die in die mk Tradition eingefügte Episode vom sinkenden Petrus (14,28–32). Natürlich ist im Einzel-nen sehr vieles verschieden. Der wichtigste Unterschied zwischen Mt und dem altkirchlichen hermeneutischen Modell ist, dass die Geschichte des Immanuel in Israel verwurzelt bleibt. Ihre Transparenzen lassen sich davon nicht lösen. Indem Matthäus vom Israeliten Jesus erzählt, hält er seine besondere Weise der Mensch-heit fest. Dazu gehört vor allem seine Davidssohnschaft. Gott ist nach Mt nicht einfach „Mensch“ geworden. Er ist Jude geworden.

Trotz diesem Unterschied ist im Ganzen die Nähe zwischen der altkirchlichen Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns und dem hermeneutischen Modell des Matthäus frappant: Beide gehen von einer Mehrdimensionalität der Texte aus. Beide erfordern eine Deutung „von innen“. Verstehen können beide Male nur die Beteiligten, die Nachfolgenden, die Glaubenden.

Ich komme zum dritten Abschnitt und kann nun die Jesus-Christus-geschich-te des Matthäus kurz nacherzählen. Das kann sehr kurz geschehen, denn Wesent-liches habe ich im Vorangehenden bereits vorweggenommen.

3. Die Jesus-Christus-Geschichte des Matthäus

Matthäus schreibt die markinische Geschichte des Gottessohns Jesus neu. Um die ihm wichtigen neuen Lesegesichtspunkte zu markieren, schreibt er einen

6 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Düsseldorf 52002, 542; vgl. H. de Lubac, Geist aus der Geschichte: Das Schriftverständnis des Origenes, Einsiedeln 1968, 172–174, 179–181, 215–232.

7 Origenes, Peri archon IV 2,5.8 Origenes, In Mt 16,20 = GCS X 545,11 ff.

8 Ulrich Luz

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Prolog, den er seinem Buch voranstellt (1,2–4,16).9 Dieser Prolog ist in der antiken Literaturgeschichte m.W. einzigartig, weil auch er zwei Sinnebenen hat. Vordergründig erzählt er den Anfang der Geschichte Jesu, seine Abstammung und seine früheste Kindheit und dann – mit einem großen Sprung über viele Jahre  – den Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit bei Johannes und seine Bewährung in der Versuchung durch den Teufel. Zugleich ist der Prolog eine Prolepse der ganzen Jesusgeschichte: Das lässt sich am besten an den Erfüllungs-zitaten, die den geographischen Weg Jesu kommentieren, ablesen: Der Weg Jesu beginnt in der Davidsstadt Betlehem im Land Juda (Mt 2,6), führt in das heidnische Zufluchtsland Ägypten (Mt 2,15), von dort nach Nazaret (2,23) und endet im letzten Text des Prologs im „Galiläa der „Völker“ (Mt 4,15 f.), also dort, wo auch das ganze Matthäusevangelium enden wird. Dieser im Prolog vorweg-genommene Weg Jesu entspricht wiederum dem Weg der Jesusgemeinde nach Ostern, der sie hinaus aus dem Land Israel ins heidnische Syrien führen wird. Sie werden dort, wie Jesus selbst, Nazoräer“ genannt werden (Mt 2,23). Wie das ganze Evangelium, so blickt also auch der Prolog nicht nur auf die damaligen Erfahrungen Jesu in Israel, sondern er öffnet den Blick auch für die Erfahrungen der nachösterlichen Gemeinde. Jesus, der „Immanuel“, ist nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit, sondern er verkörpert zugleich die Gegenwart Gottes „mit“ seiner Gemeinde. Noch mehr deutet der Prolog an: Er erzählt in Mt 2 von den heidnischen Magiern, die von Osten kommen, um das Königskind zu verehren, und – als Gegenpol – vom Judenkönig Herodes, der vor diesem Jesuskind er-schrickt und es vernichten will. Dann heißt es in Mt 2,3 ominös: Nicht nur er erschrickt, sondern „ganz Jerusalem mit ihm“. Auf der Oberflächenebene der erzählten Geschichte ist diese Bemerkung absurd: Warum sollte ganz Jerusa-lem in Eintracht mit dem verhassten Halb-Edomiten Herodes über die Geburt des Messiaskindes erschrecken? Bei den Lesern entsteht eine Leerstelle. Später werden sie merken: Ähnlich war es am Ende, bei Jesu Passion. Den Lesern des Evangeliums wird diese Tiefe vielleicht erst aufgehen, wenn sie das Evangelium zum zweiten Mal lesen.

Es folgt der erste Hauptteil des Evangeliums, der von 4,17 bis 16,20 reicht. 4,17 werden die Leser/ innen als Titel verstehen: „Von dann an fing Jesus an zu verkünden und zu sagen: Kehrt um, denn das Himmelreich ist genaht“. Er schildert das Wirken des Messias Israels in seinem Volke, seine programma-tische Verkündigung (Kap. 5–7), seine Heilungen und die ersten Auseinander-setzungen mit den Führern des Volkes (Kap. 8–9), die sich in Kap. 11 und 12 zu-spitzen werden. Von ihrer Transparenz für die Geschichte und die Erfahrungen der nachösterlichen Gemeinden habe ich schon gesprochen: Die Erfahrungen

9 Im Gegensatz zum Kommentar [Luz, Matthäus (Anm. 6)] nehme ich heute an, dass mit Mt 4,16 das Ende des Prologs erreicht ist. Mt 4,17 muss als titelartige Inhaltsangabe des ersten Hauptteils verstanden werden, ebenso wie Mt 16,21 als titelartige Inhaltsangabe des zweiten.

9Der „Christus“ der Matthäusgeschichte

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des Volkes und der Jünger in Jesu Erdentagen sind zugleich die Erfahrungen seiner Gemeinde in Israel nach Ostern. Dazu gehören Heilungen, insbesondere Blindenheilungen, Konflikte mit Israels Führern, die wiederholt geschilderten „Rückzüge“ vor ihren Anfeindungen. Dazu gehören auch die Erfahrungen von Verfolgung und Leiden – den Jüngern soll es nicht besser gehen als ihrem Meister (Mt 10,24 f.). Solche Erfahrungen, welche die Aussendungsrede Mt 10 ankündigt, werden sich später, wenn die Gemeinden in Syrien unter den Völkern leben, wiederholen (Mt 24,9–14). Die dritte Rede Jesu, die Gleichnisrede, enthält selbst einen „Rückzug“ Jesu vom Volk Israel (Mt 13,36 f.). Jesus belehrt nach diesem Rückzug die Jünger allein über die ihre gegenwärtige Situation in der Welt: Ihr Auftrag ist es, als Weizen zu leben in einer Welt voller Unkraut. Ob sie das wirk-lich waren, wird sich erst am Ende, beim Weltgericht des Menschensohns, zeigen (13,36–43).

Der zweite Hauptteil des Evangeliums erzählt, wie der Titel Mt 16,21 zeigt, die Geschichte des Weges Jesu nach Jerusalem, sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung. Auch hier ist die Transparenz für die nachösterliche Ge-meinde mit Händen zu greifen. Das gilt nicht nur für die Gemeinderede Kap. 18, sondern auch für die in Mt 16,21–20,34 konzentrierten Jüngerunterweisungen. Die Anweisungen Jesu sind den Gegebenheiten der Gegenwart angepasst (z. B. das Scheidungsverbot Mt 19,8 f.). Die Erfahrungen mit Jesus, welche die Jünger damals machten, macht die Gemeinde auch heute. Darum feierten die ortho-doxen Christen vor kurzem die Verklärung Jesu als Fest, das Fest der Meta-morphosis;10 es ist sehr schade, dass wir Westler das nicht mehr tun. Die zweite Gleichnisrede Mt  21,28–22,13, eine der sogenannten „kleineren Reden Jesu“, fasst die Geschichte Jesu und der Gemeinde zusammen, von Johannes dem Täufer im Gleichnis von den beiden Söhnen bis zum Beginn der Völkermission nach der Zerstörung Jerusalems im Gleichnis vom Hochzeitsmahl des Königs-sohns (Mt 22,8–10). Auf diesen Teil der Matthäuserzählung folgt dann die große Gerichtsrede Mt 24,4–25,46, die zu den Jüngern allein gesprochen ist. Sie handelt vom kommenden Weltgericht des Menschensohns, welches der Welt und Israel noch bevorsteht, und ebenso der Gemeinde, die nichts anderes ist als derjenige Teil der Welt, der um Jesu Auftrag weiß, Weizen zu sein, d. h. Liebe und Barm-herzigkeit gegenüber den geringsten Geschwistern zu üben.

In seinen Schlusskapiteln Mt 26–28 erzählt der Evangelist von der Passion Jesu, der Passion des leidenden gerechten Gottessohns. Seine Passion ist vor-bildlich: Jesus handelt, betet und leidet selbst so, wie er es in seinen Geboten in der Bergpredigt angeordnet hat. Der leidende Jesus wird so zum Lebensmodell für seine nachösterlichen Jünger. Seine Passion ist die Passion des „Immanuel“: Gott selbst wird seinen Sohn aus dem Dunkel des Todes auferwecken. Sie erzählt damit auch von der Perspektive der großen Hoffnung, die auch über dem Leiden

10 Der Vortrag wurde am 11. September gehalten.

10 Ulrich Luz

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und Sterben seiner Jünger steht. Im Sinne der indirekten Transparenz erzählt sie vom Fiasko von Israels Führern, die das „ganze Volk“ (Mt 27,25) auf ihre Seite ziehen können und die sich am Schluss in ihren eigenen Lügen verstricken und die Wahrheit nur mit Bestechungsgeld niederschlagen können. Bei „Juden“ – nicht bei „allen Juden“ – wird sich das falsche Gerücht vom Leichendiebstahl der Jünger „bis zum heutigen Tag“ halten (Mt 28,15). Der Auferstandene aber geht seinen Jüngern voran und begegnet ihnen auf dem Berg im „Galiläa der Völker“. Von dort schickt er seine Jünger zu allen Völkern, damit sie sie alles halten lehren, was er geboten hat. Der „Immanuel“ wird auf diesem Weg „mit ihnen“ sein bis ans Ende der Welt. Das ist der bleibende Auftrag der matthäischen Gemeinde und die Verheißung, die über diesem Auftrag steht (Mt 28,16–20).

Ich versuche wieder, die matthäische Jesus-Christusgeschichte der Zwei-Na-turen-Lehre gegenüberzustellen. In den vorangehenden Abschnitten, habe ich eher von Gemeinsamkeiten gesprochen. Jetzt aber muss ich von einem fun-damentalen Gegensatz sprechen. Gegenüber der Zwei-Naturen-Lehre vertritt Matthäus ein grundsätzlich anderes Denkmodell. An die Stelle einer Erzählung trat in der Alten Kirche eine Lehre. Matthäus erzählte vom Weg, den Jesus und die Seinen gingen. Eine Lehre arbeitet aber mit Begriffen, die man definierte und um die man sich stritt.11 Begriffe sind statisch; Lehren schließen aus. Mat-thäus aber kennt keine Christologie, sondern er erzählt eine Christus-Geschichte. Die inklusive matthäische Jesus-Christusgeschichte erzählt von einem Weg. Auf einem Weg begegnet man sich und man tauscht Erfahrungen aus. Die matthäi-sche Jesus-Christusgeschichte gleicht einem Video von Jesus: Bei einem Video wechselt die Perspektive, je nach Standort der Kamera. Der Standort der Kamera spiegelt den jeweiligen Standort des Photographierenden. Der Photograph oder die Photographin ist immer am Video beteiligt. Kein Video gleicht dem anderen, auch wenn in ihnen dasselbe Ereignis gefilmt ist. Genauso ist es im Matthäus-evangelium: Mt erzählt Jesus-Christusgeschichte als Beteiligter, dessen Standort wie der eines Kameramanns die Geschichte mitprägt. Ebenso taten dies Markus

11 Ich bin mir bewusst, dass ich mit dieser Gegenüberstellung den Sachverhalt simplifiziere. Natürlich war die Alte Kirche nicht nur eine Lehrkirche, sondern viel mehr als dies. Zu ihrer Lebenswirklichkeit gehört auch die Liturgie, das Zeugnis des Lebens und Leidens und vieles andere. Und natürlich spricht auch das Matthäusevangelium in seiner Weise von „Lehre“, ja, es versteht Jesus als „einzigen Lehrer“ (23,8). Und natürlich sind Begriffe nicht nur exklusiv und statisch, sondern sie können polyvalent sein. Sie können auch im Dienste der Selbstklärung, des Dialogs und der Verständigung stehen. Das alles ist in diesem Vortrag holzschnittartig ausgeblendet. Franz Tóth weist in seinem „Response“ mit vollem Recht auf die Liturgie hin, die für die östlichen Kirchen wichtiger ist als die Lehre. Für die liturgische Rezeption des Mt-Ev gilt dieser Gegensatz nicht. In ihr sind die Gläubigen betend an der Lesung der evangelischen Erzählungen beteiligt. Vgl. den Beitrag von Franz Tóth im vorliegenden Band. Aber dennoch sind auch die Orthodoxen Kirchen nicht minder als die westlichen Kirchen zu Lehrkirchen geworden, die andere Kirchen ausschließen, insbesondere Gläubige aus anderen Kirchen von der Gemeinschaft der Eucharistie.

11Der „Christus“ der Matthäusgeschichte

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vor ihm und Lukas und Johannes neben und nach ihm. Ein „richtiges“ oder ein endgültiges Video von Jesus gibt es nicht.

Ähnliches gilt für die Kirche. Matthäus kennt keine Ekklesiologie, im Unter-schied zu den späteren christlichen Lehr-Kirchen, die sich in ihrer Geschichte wechselseitig das Kirche-Sein abgesprochen, ja, die sich sogar mit Waffen be-kämpft haben. Matthäus kennt keine fixierte Ekklesiologie, sondern er erzählt, wie die Kirche entstand. Die wahre Kirche gibt es nicht, sondern sie entsteht auf dem Weg mit Jesus. Sie ist unterwegs in der Welt und mit der Welt, unterwegs zum Gericht des Menschensohns. Auch ihr Gehorsam, ihr Kirche-Sein wird im Gericht des Menschensohns-Jesus geprüft. Für Exkommunikationen vor dem Weltgericht des Menschensohns gibt es da keinen Platz.

Und schließlich verändert sich von Matthäus her auch der Blick auf Israel. In der Kirchengeschichte wurde Israel – als Prototyp der Ungläubigen – verteufelt, mit verheerenden Folgen. Heutige Versuche eines jüdisch-christlichen Dialogs sind Versuche, diese Schreckensgeschichte aufzuarbeiten und dafür Busse zu tun. Im Matthäusevangelium gibt es keine definitive Verteufelung Israels oder der Juden, auch nicht – und das möchte ich deutlich sagen – in Mt 27,24 f. und in Mt 28,15.12 Israel bezeichnet vielmehr vor allem die bleibende Herkunft des Davidssohns Jesus und die konkrete Gestalt seiner Menschheit. Israel bezeichnet deshalb im Rahmen der „inklusiven“ Jesus-Christusgeschichte des Mt auch die bleibende Herkunft der Kirche, für die sie danken sollte und die sie nur schon deshalb nicht verteufeln kann.

Fazit: In allen diesen Punkten sehe ich einen grundsätzlichen Gegensatz zwi-schen der Christologie der Alten Kirche und der matthäischen Erzählung von Jesus Christus, ja, zwischen jeder Lehrkirche und der matthäischen Gemeinde. Ich betone: Jeder Lehrkirche, eingeschlossen die westlichen katholischen und protestantischen Lehrkirchen. Allen Lehrkirchen gegenüber ist m. E. das Mat-thäusevangelium und seine Jesus-Christus-Geschichte eine unglaublich aktuelle theologische und praktische Herausforderung.

12 Mt 27,24 f. blickt zurück auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70, welche als Strafe Gottes für die Ablehnung der Propheten, Jesu und der Jesusboten verstanden wird (vgl. Mt 22,2–7; 23,34–38). Mt spricht nicht von einem ewigen Fluch, der auf Israel liegt, das sich einst genauso wie die Jesusgemeinde vor dem Weltgericht des Menschensohns wird verantworten müssen. Schwieriger ist Mt 28,15: Mt braucht hier – zum ersten und einzigen Mal in seiner Geschichte für Israel, soweit es Jesus abgelehnt hat, das distanzierende Wort Ἰουδαῖοι. Er braucht es aber ohne den bestimmten Artikel und sagt gerade nicht, dass aus Israel „die“ Juden werden. Schwarz gemalt werden in Mt 28,11–15 lediglich die Führer Israels, die sich in ihre eigene Strategie der Lüge verstrickt haben und die Wahrheit nur noch mit Schmiergeld vertuschen können. Am Schluss der Erzählung stellt der Jude Mt bedauernd fest, dass ihre Strategie „bei Juden“ (d. h. bei vielen Juden) „bis heute“ Erfolg hatte. Eine Hoffnung auf ihre Umkehr verbindet Mt, der damit rechnet, dass die Parusie nahe bevorsteht, m. E. aber damit ebensowenig wie in Mt 23,39.

12 Ulrich Luz

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Die inklusive Jesusgeschichte des Matthäusevangeliums zwischen Judentum und orthodoxer Kirche

Eine Response auf Ulrich Luz

Franz Tóth

Es ist eine besondere Ehre, eine Response auf den Nestor der matthäischen For-schung und langjährigen Förderer der orthodoxen Bibelwissenschaft, Ulrich Luz, geben zu können. Bei meinen Studien zum Matthäusevangelium standen die voluminösen Kommentarbände von Luz immer griffbereit auf meinem Schreib-tisch – wohl kaum ein Text aus dem Matthäusevangelium wurde exegetisiert, ohne nachzusehen, wie der „Luz“ diesen Vers kommentiert hat.

Neben seinem opus magnum in vier Bänden ist das kleine Büchlein „Die Jesusgeschichte des Matthäus“ (Neukirchen-Vluyn 1993), das u. a. ins Englische, Ungarische, Koreanische und Japanische übersetzt wurde, wohl das bekann-teste Werk aus seinem Œuvre. Luz präsentiert hier eine knappe, aber informativ reichhaltige theologische Nachzeichnung der matthäischen Jesusgeschichte. Mit anderen Worten: Das Werk bietet, mehr noch als der abschließende „Rückblick“ des vierten Kommentarbandes, gebündelt einen Überblick über die matthäische Theologie.

Umso erstaunlicher ist es, dass Luz nun in seinem jetzigen Vortrag, einem Paukenschlag gleich, gerade dieses Büchlein kritisch in den Blick nimmt und einer grundlegenden Revision unterzieht: Der Titel „Die Jesusgeschichte des Matthäus“ sei „grundfalsch“, denn Matthäus habe keine Jesusgeschichte ge-schrieben, vielmehr eine „Jesus-Christus-Geschichte“, wobei unter „Geschichte“ eine „story“, nicht die „history“ gemeint sei. Der weitere Entwurf kreist daher im Wesentlichen um die Klärung der beiden Leitideen „Christus“ und „Geschichte“ bzw. „Erzählung“ im MtEv.

In beiden Themenkomplexen stellt Luz Bezüge zu altkirchlichen Diskurs-feldern her. In Zusammenhang mit der matthäischen „Christologie“, deren Kennzeichen die Geschichte des Immanuel sei, also eine Christus-Geschichte als Gottes-Geschichte, erkennt Luz Bezüge zur späteren Zwei-Naturenlehre und zur damit verbundenen hohen Christologie.

Beim Themenfeld „Geschichte“ bzw. „story“ betont Luz den Faktor der In-klusivität und Transparenz, so dass die Christusgeschichte transparent für die Geschichte der Leser/ innen wird, ein hermeneutisches Konstrukt, das nach Luz

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das altkirchliche Modell vom mehrfachen Schriftsinn vorwegnimmt, insofern auch hier die Erfahrungen der Kirche oder einzelner Gläubiger in das Aus-legungsmodell integriert werden.

Zugleich aber hebt Luz in beiden Themenfeldern markante Unterschiede zur Alten Kirche hervor. So zunächst der elementare Bezug zu Israel. Jesus ist nach Matthäus, im Gegensatz zu den altkirchlichen Diskursen, fest in Israel verwur-zelt, das gilt sowohl für das mt Christusbild als auch für die mt Hermeneutik bzw. das mt Erzählkonzept. Ein zweiter entscheidender Unterschied zwischen der mt Jesus-Christusgeschichte und der altkirchlichen Lehre ist sodann: Im Gegensatz zum MtEv, das eine dynamische Erzählung bietet, fußt die Alte Kirche auf einer statischen, an definierten Begriffen orientierten Lehre. Hier erkennt Luz den signifikantesten Gegensatz zwischen der Christologie der Alten Kirche und der mt Erzählung von Jesus Christus.

Ulrich Luz sucht also die von ihm neu bedachte mt Jesus-Christus-Geschichte mit der Christologie und Schrifthermeneutik der Alten Kirche ins Gespräch zu bringen. Dabei hebt Luz besonders den erzählenden, nicht zuletzt fiktiven Cha-rakter der Jesus-Christus-Geschichte hervor. Gerade in der Verschränkung von Christologie und Erzählung liegt ja das Proprium des mt Entwurfes.

An diese Beobachtungen und Gedankenimpulse gilt es kritisch anzuknüpfen. Im Folgenden werden zunächst (1) die mt Christologie in den Blick genommen und dabei die Luz’schen Beobachtungen erweitert: Neben dem Immanuelkon-zept muss für Mt das Miteinander von David- und Gottessohnschaft in den Blick kommen. Von deren frühjüdischer Verwurzelung her erscheint dann die spätere Zweinaturenlehre weniger „israelvergessen“, als es auf den ersten Blick scheint. Eine zweite, überraschende Kontinuität kann sodann (2) zwischen dem mt Konzept einer inklusiven Erzählung und dem orthodoxen Schriftverständnis aufgedeckt werden. Der von Luz behauptete Gegensatz zwischen Erzählung und kirchlicher Lehre muss mit Blick auf gottesdienstliche Lesungen im orthodoxen Verständnis differenzierter betrachtet werden. Nicht zuletzt zeigt sich auch hier eine implizite Kontinuität zu jüdischen Wurzeln.

1. Christologie: Davidsohn und Gottessohn

Während Luz mit Recht den Immanuelbegriff ins Zentrum der mt Christolo-gie stellt, soll hier gleichwohl der Blick erweitert werden. Mindestens ebenso relevant wie das Immanuelkonzept ist für Mt die Verbindung von David- und Gottessohnschaft. Diese Verbindung ist narrativ umgesetzt und führt zum inklu-siven Charakter des Mt: Auf die strukturell und theologisch enge Verschränkung dieser Titel und der Zuwendung zu den Völkern in der mt Erzählkonzeption hat Matthias Konradt in seinem jüngst erschienenen Kommentar zum MtEv (2015)

14 Franz Tóth

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und in zahlreichen weiteren Publikationen dezidiert hingewiesen.1 Nach Kon-radt führt die Frage, „wie der Übergang von der auf Israel beschränkten Aus-sendung der Jünger in 10,5 f. … zur universalen Sendung in 28,19 zu erklären ist“, „in das Zentrum der theologischen Agenda des Evangelisten.“2

Diese Schlüsselfrage ist nun aber nach Konradt eng mit der zweigliedrigen Messianität Jesu durch das Neben- und Miteinander von David- und Gottes-sohnschaft verschränkt: Während die davidische Messianität Jesu, ein Leitmotiv der mt Jesusgeschichte, mit der Konzentration seines Wirkens auf Israel einher-geht, erweist sich in „Tod, Auferweckung und Erhöhung des Gottessohnes das soteriologische Grunddatum für das allen Völkern geltende Heil.“3

Theologiegeschichtlich ist hierbei von Bedeutung, dass das mt Konzept der zweigliedrigen Messianität von David- und Gottessohn, so Konradt weiter, als eine Variante bzw. Weiterentwicklung der in Röm 1,3 f. aufgenommenen juden-christlichen Tradition („nach dem Fleisch geboren aus dem Geschlecht Davids“ und „nach dem Geist … eingesetzt als Sohn Gottes … durch die Auferstehung von den Toten“) zu begreifen ist. Die in Röm 1,3 f. anvisierte Zweistufenchris-tologie wird im MtEv dahingehend weitergedacht, dass Jesus Matthäus zufolge schon von Geburt an Gottes Sohn ist.4 Als Gottessohn hat Jesus Teil an der gött-lichen Vollmacht; zugleich erinnert der Gehorsam des Gottessohnes an Grund-sätze frühjüdischer Weisheitstraditionen:

„Die Vorstellung der Gottessohnschaft Jesu ist bei Matthäus neben dem Aspekt der ein-zigartigen Nähe zu Gott (s. v. a. 11,27) zentral durch die Motive der Teilhabe an göttlicher

1 M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015; vgl. ferner: Ders., Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, A. Euler (Hg.), WUNT 358, Tübingen 2016, 115–145; Ders., Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, A. Euler (Hg.), WUNT 358, Tübingen 2016, 146–170; Ders., Israel. Kirche und die Völker im Matthäusevan-gelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 17–52.307–334.

2 Konradt, Matthäus (Anm. 1), 5.3 Konradt, Matthäus (Anm. 1), 9. Und weiter: „Führt man die dargelegten Aspekte zusam-

men, lässt sich folgern, dass der Schlüssel für das Verständnis der Abfolge von exklusiver Zuwendung zu Israel und nachösterlicher Einbeziehung der (übrigen) Völker in Matthäus’ christologischer Konzeption liegt, in deren Zentrum die skizzierte zweigliedrige Entfaltung der Messianität Jesu als Gottes- und Davidsohn führt. Korreliert die Konzentration der irdischen Wirksamkeit Jesu auf Israel mit der Hervorhebung seiner davidischen Messianität, so steht die Ausweitung des Heils auf die Völker im Zusammenhang von Heilstod, Auferstehung und Erhöhung des Gottessohnes.“ (9 f.)

4 Vgl. Konradt, Sendung (Anm. 1), 143: „Sucht man diese [matthäische] Konzeption theo-logiegeschichtlich einzubetten, kann man sie cum grano salis als eine Variante der judenchrist-lichen Tradition ansehen, die in Röm 1,3 f. verarbeitet ist: Jesus Christus ist ‚geboren aus dem Geschlecht Davids, eingesetzt als Sohn Gottes‘. Hier wie dort erscheint die irdische Existenz Jesu unter dem Vorzeichen seiner Davidsohnschaft. Hier wie dort bezeichnet die Erhöhung des Auferstandenen eine zweite Phase. Hier wie dort kann man von einer Art Zweistufenchristologie reden, nur ist Jesus Matthäus zufolge, wie ausgeführt, ein adoptierter Sohn Davids, schon von Geburt an aber Gottes Sohn.“

15Die inklusive Jesusgeschichte des Matthäusevangeliums

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Vollmacht und des Verzichts auf die Ausübung dieser Vollmacht im Gehorsam gegenüber dem Heilswillen des Vaters geprägt, wobei das Gehorsamsmotiv in der frühjüdischen Weisheitstradition (Sir 4,10; Weish 2,18; 5,5; vgl. zu Mt 5,9.45) anknüpft.“5

Im MtEv wird der Gottessohn Jesus dadurch, dass Joseph ihn als Sohn akzeptiert und damit in seine eigene davidische Abstammungslinie integriert, in die Ver-heißungsgeschichte Gottes mit Israel hineingenommen.6 Im Laufe der mt Er-zählung soll das übergreifende Konzept „Gottessohn“ vom Leser immer mehr in seiner Bedeutung erkannt werden. Diese Bedeutung erschließt sich vor allem im Passions- und Osterkomplex, denn in seiner Passion verzichtet der Gottes-sohn Jesus auf die ihm zukommende Macht, erhält sie nach der Auferweckung zurück und kann schließlich von dieser Position aus die Jünger zur universalen Mission aussenden. Die Ausweitung der Zuwendung von Israel auf alle Völker erfolgt bei Matthäus durch eine narrative Christologie! Die Verschiebung des christologischen Schwerpunktes vom Davidsohn zum Gottessohn hat also un-mittelbar mit der Ausweitung der Mission von Israel zu den Völkern zu tun.7 Mt verwebt Christologie mit Heilsgeschichte.

An das schon in Röm 1,3 f. zu findende doppelte „Beurteilungsschema“ Jesu, das in Mt ausgebaut wird, hat Christian Danz zufolge „die weitere Ausgestaltung der altkirchlichen Christologie (…) angeknüpft“.8 Kann man also daraus schluss-folgern, dass die spätere dogmengeschichtliche Entfaltung der altkirchlichen Christologie in der Zwei-Naturen-Lehre und der Betonung einer hohen Chris-tologie in judenchristlichen Diskursen ihre Wurzeln hat, freilich noch ohne den späteren Einfluss philosophisch-ontologischer Ideen? So sehr die Beobachtun-gen bei Luz zur Rolle des Immanuelkonzeptes zu würdigen sind, legen Relevanz und Hintergrund des Davidsohn-/Gottessohn-Zusammenhangs bei Mt eine Erweiterung in diese Richtung nahe.9

5 Konradt, Matthäus (Anm. 1), 8.6 Vgl. Konradt, Davids Sohn und Herr (Anm. 1), 149 f.; Ders., Matthäus (Anm. 1), 8.7 Vgl. Konradt, Sendung (Anm. 1): „Das Gottessohnprädikat ist damit übergreifendes Kenn-

zeichen der Identität Jesu und entsprechend in der dargestellten Weise bereits in die Präsentati-on des irdischen Weges Jesu eingewoben. Zugleich aber gilt, dass die Identität Jesu narrativ eben in verschiedenen Phasen enthüllt wird. Zweistufenchristologie meint im Blick auf Matthäus also nicht zwei Phasen der Identität Jesu selbst, sondern zwei Phasen ihrer Enthüllung. Die genuine Leistung des ersten Evangelisten besteht dabei darin, das Stufenkonzept konsequent mit der für ihn zentralen heilsgeschichtlichen Frage vernetzt zu haben, die Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Christus mit der Einbeziehung der übrigen Völker zu vermitteln. Eben darin liegt das zentrale Anliegen der matthäischen Neuerzählung der Jesusgeschichte.“ Vgl. auch Ders., Mat-thäus, 8–10.

8 C. Danz, Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 57.9 Tatsächlich notiert auch Luz im dritten Kommentarband (Das Evangelium nach Matthäus

[Mt 18–25], EKK 1/3, Neukirchen-Vluyn 22012, 289 f.) die Bedeutung der christologischen Dop-pelstruktur des Mt für die spätere Christologie der Alten Kirche. Danach hat die altkirchliche Auslegung „das matthäische Nebeneinander von Davidssohnchristologie und übergeordneter Gottessohnchristologie im Lichte der Zweinaturenlehre neu interpretiert. […] Natürlich sind die Denkvoraussetzungen der matthäischen Christologie mit ihrem Ineinander von horizontaler

16 Franz Tóth

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2. Die Inklusivität der mt Erzählung

Mit Luz ist die mt Erzählung als inklusive bzw. transparente Geschichte zu verste-hen: die Jesus-Christus-Geschichte ist zugleich die Geschichte der mt Gemein-de – gerade darin zeigt sich der Charakter dieser Erzählung als „Gründungs-geschichte“. Diese erzählstrategische Dimension des MtEv hat Luz immer wieder hervorgehoben,10 so auch in einem Beitrag zur Frage nach der historischen Validität des MtEv, wo er darauf hinweist, dass das MtEv mit seinem Erzähl- und Geschichtskonzept eine weit größere Nähe zu den biblischen und frühjüdischen Schriften als zu den bekannten antik-paganen Historiographien aufweist.11 Kenn-zeichen dieser biblisch-jüdischen Gründungsgeschichte ist ihre Transparenz auf die mt Gemeinde hin, ihr Charakter als inklusive Geschichte. Solche Geschichten kann man letztlich nicht „von außen“, sondern nur „von innen“ her verstehen und deuten, also unter Einschluss gegenwärtiger Gemeindeerfahrungen.12 Die Bezeichnung „Immanuel“ für Jesus Christus im MtEv drückt diesen Gedanken in nuce aus: Er ist bei und mit der Gemeinde gegenwärtig, die das Evangelium liest.13

Dimension, nämlich der des Weges des Menschensohns von seiner Existenz als Davidssohn in Israel bis zu seiner Erhöhung und zum Weltgericht, und vertikaler Dimension, nämlich der der Offenbarung des Gottessohns durch Gott, und die Denkvoraussetzungen der altkirchlichen Zweinaturenlehre ganz verschieden. Dennoch besteht zwischen dem matthäischen Immanuel-Jesus, welcher als Irdischer zugleich der Erhöhte ist, der alle Gewalt im Himmel und der Erde hat (1,23; 28,16–20), und der Zweinaturenlehre eine enge Verwandtschaft.“

10 Vgl. beispielsweise Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK 1/4, Neukir-chen-Vluyn 2002, 465; Ders., Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der ‚historische Jesus‘, in: Ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 31–54; Ders., Die Wunder-geschichten von Mt 8–9, in: Ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 225–243; Ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK 1/2, Neukirchen-Vluyn 42007, 64–68; Ders., Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 78 f.

11 U. Luz, Matthew’s Interpretive “Tendencies” and the “Historical” Jesus, in: J. C. Char les-worth/B. Rhea (ed.), Jesus Research: New Methodologies and Perceptions. The Second Princ-eton-Prague Symposium on Jesus Research, Princeton 2007, Grand Rapids 2014, 577–599. Die These lautet: „I conclude that Matthew is rather distant from how historians of antiquity understood ‘historical truth,’ but rather close to biblical ‘historiography,’ at least to the books narrating Israel’s foundational history.“

12 Vgl. Luz, Matthäus 1/4 (Anm. 10), 465, wonach Matthäus sein Evangelium nach dem Vor-bild des Markusevangeliums und ähnlich wie das Johannesevangelium als „inklusive Geschich-te“ entwirft, „d. h. als Geschichte, welche die Erfahrungen der Gemeinde und diejenigen der einzelnen Gemeindeglieder ‚einschließt‘. […] Hermeneutisch bedeutet das, daß die matthäische Jesusgeschichte nicht von außen als fremde Geschichte verstanden werden will, sondern so, daß die Leser/ innen und Hörer/ innen ihre eigenen Erfahrungen mit der vom Evangelisten erzähl-ten Geschichte verschränken. Sie sollen ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Erfahrungen von der Geschichte Jesu her verstehen und deuten bzw. sich selbst durch die Jesusgeschichte ermutigen und anspornen lassen.“

13 Vgl. Luz, Matthäusevangelium 1/2 (Anm. 10), 67, bezogen auf die matthäischen Wunder-geschichten, die Luz zufolge als Zeugnisse für den Immanuel zu sehen sind.

17Die inklusive Jesusgeschichte des Matthäusevangeliums