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Die MZ-Titelgrafik zum Francke-Jubiläum gestaltete der hallesche Grafikdesigner Joachim Dimanski. Die farbigen Quadrate entstanden auf der Basis von Satellitenaufnahmen der Franckeschen Stiftungen. ÜBERPARTEILICH & UNABHÄNGIG

Zum 350. Francke-Jubiläum

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Sonderbeilage zum 350.

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Page 1: Zum 350. Francke-Jubiläum

Die MZ-Titelgrafik zum Francke-Jubiläum gestaltete der hallesche Grafikdesigner Joachim Dimanski.Die farbigen Quadrate entstanden auf der Basis von Satellitenaufnahmen der Franckeschen Stiftungen.

ÜBERPARTEILICH & UNABHÄNGIG

Page 2: Zum 350. Francke-Jubiläum

VON ALEXANDER SCHIERHOLZ

D er Süden beginnt gleich hinter der Au-gust-Hermann-Francke-Grundschule.Im Gewächshaus überwintern Zitro-

nen-, Oliven- und Feigenbäume neben einergroßen Palme. In einem Gehege mümmeln diebeiden Stiftungskaninchen Herbert und Petrafriedlich ihre Salatblätter. „Bei den Kindernkommen die Tiere besonders gut an“, sagt Ma-rio Wekind. Er ist Mitarbeiter im Gewächshausund im angrenzenden Pflanzgarten: Mittenauf dem Gelände der Franckeschen Stiftungenin Halle können Kinder vom Frühjahr bis zumHerbst in Terrassenbeeten nach Herzenslustbuddeln und gärtnern - Umweltbildung par ex-cellence für Schulklassen und Kindergarten-Gruppen.

Den Pflanzgarten gab es bereits zu AugustHermann Franckes Zeiten. Im wörtlichen wieim übertragenen Sinne. Schon Francke er-kannte den Wert der Umweltbildung. Und be-trachtete „seine“ Waisenkinder als Pflanzen,die gehegt und gepflegt werden müssen. Inso-fern war die Schulstadt zur Zeit ihres Gründer-vaters ein einziger großer Pflanzgarten - undAusdruck von Franckes Reformeifer: Ab 1698richtete er vor den damaligen Toren Halles inGlaucha Schritt für Schritt nicht nur ein Wai-senhaus ein, sondern schuf gleich ein ganzesSozial- und Bildungswerk - mit mehrgliedri-gem Schulsystem für Kinder aus allen Schich-ten, wissenschaftlichen Instituten und einerBibliothek. Seine Reformideen in Fürsorge undPädagogik wurden weithin zum Vorbild.

Und heute? Sind die Stiftungen, nachdem siein der DDR zwischenzeitlich aufgelöst waren,wieder ein einzigartiges Bildungszentrum. DerWiederaufbau ist nicht zuletzt dem ersten Di-rektor nach der Wende, Paul Raabe, zu verdan-ken. Die Schulstadt - das ist weit mehr als daslanggestreckte Fachwerk-Gebäude entlang derHochstraße, das viele zumindest vom Vorbei-fahren kennen. Mehr als das traditionelle Lin-denblütenfest. Mehr als die berühmte Wunder-kammer, die mit ihrer einzigartigen Samm-lung von 3 000 Exponaten den Wissenskos-mos der Barockzeit widerspiegelt. Mehr alsStandort von vier Schulen und zahlreichenEinrichtungen der Universität.

Auf dem 16 Hektar großen Gelände habensich mehr als 40 Institutionen angesiedelt, inrund 50 Gebäuden. „Hier ist praktisch in je-dem Jahrhundert gebaut worden“, erklärtClaudia Langosch. Die 31-Jährige zeigt als eh-renamtliche „Herumführerin“ Gästen denKomplex. Der Begriff stammt von Francke: Derverstand es, bei hohem Besuch Eindruck zumachen, indem er ihn über das Gelände führenließ. Wobei auch die eine oder andere Spendeabfiel. Schaute Preußenkönig Friedrich I. nachdem Rechten, soll Francke übrigens selbst den„Herumführer“ gegeben haben.

Den Kohlenkeller dürfte Francke seinen Gäs-ten seinerzeit wohl kaum gezeigt haben. Clau-dia Langosch tut es. Die Räume, um die esgeht, dienen heute freilich anderen Zwecken.Prächtige Teppiche auf dem Fliesenboden, Iko-nen-Malereien an den Wänden: Zum Rund-gang gehört auch ein Blick in die russisch-or-thodoxe Kapelle, die „Orthodoxe Hauskirchezum Heiligen Kreuz“. Ein Zeugnis davon, dassden Stiftungen die Beziehungen, die ihr Grün-dervater nach Russland pflegte, heute nochwichtig sind. Im Jahr 2000 geweiht, sei die Ka-pelle die Heimstatt der russisch-orthodoxenGemeinde in Halle, erzählt Langosch. DerenGläubige hätten mangels Kirche vor Ort bis da-hin immer nach Leipzig ausweichen müssen.

Vom ehemaligen Kohlenkeller sind es nurwenige Schritte bis in ein anderes Gewölbe,das für Veranstaltungen genutzt wird. Nischenin den Wänden erinnern daran, dass der Raumdas Überbleibsel eines einzigartigen Gangsys-tems ist, dass einst die Funktionsräume derSchulstadt miteinander verband - von der Mei-erei über das Brau- und Backhaus, dessen vierMeter tiefer Ofen noch heute bei Festen ange-heizt wird, bis zum Speisesaal. Franckes Wai-sen wollten schließlich versorgt sein. Der Spei-sesaal wird übrigens heute noch als solcher ge-nutzt, wovon stilisiertes Besteck über dem Ein-gang kündet. Doch zum Essen kommen wirspäter.

Erst einmal zeigt Claudia Langosch die wohlkleinste Freiluft-Bibliothek der Welt. Fünf Re-galmeter beherbergen Bücher, die bei ihreneinstigen Eigentümern nicht länger zu Hauseim Schrank verstauben sollten. Von Jack Lon-dons Abenteuerroman „Wolfsblut“ über eineDürer-Biographie bis zum „Reisebuch DDR“, 2.Auflage 1984, VEB-Tourist-Verlag Berlin/Leip-zig, ist alles dabei. Die Bibliothek funktioniertnach dem Tauschprinzip: Wer ein Buch dortlässt, darf ein anderes mitnehmen. Das kommtoffenbar an: Das Regal, an der Fassade einesHauses, werde jedenfalls stetig länger, sagt die„Herumführerin“. Ein genauerer Blick freilichzeigt: Mancher nutzt die Freiluft-Bibliothek,um einfach zerlesene Bücher zu entsorgen.

Wer etwas Glück hat, kann beim Rundgangauf Eckart Warner treffen. Dann kommt der41-Jährige vielleicht gerade aus einer Kita oder

ist unterwegs zum Stadtsingechor - Mittel-deutschlands ältester Knabenchor probt auchin den Stiftungen. Wacher Blick hinter denBrillengläsern, verschmitztes Lächeln: Warnerist - noch so eine Besonderheit - Stiftungspfar-rer. Er gehört zur Evangelischen Kirche Mittel-deutschlands, aber er hat - anders als seine

Amtskollegen - keine eigene Gemeinde. Oder,besser: Die Stiftungen und alle, die dort täglichein- und ausgehen, sind so etwas wie seine Ge-meinde.

Sein Job sei es, sagt Warner, „das geistlicheErbe Franckes im Gespräch zu halten“. Des-halb erzählt der Pastor zum Beispiel in Kitas

oder Schulen über dasKirchenjahr. Oder erklärtden Sängern des Stadt-singechors den geistli-chen Hintergrund desChorals, den sie geradeproben. Oder lädt Konfir-mandengruppen aus dergesamten Landeskircheein. Oder bittet jedenDienstag um 17.30 Uhrzur Bibelstunde. In seine

„Bibelmansarde“, das ausgebaute Dachge-schoss im ehemaligen Wohnhaus Franckesgleich am Eingang der Stiftungen. Ach ja, undGottesdienste hält Eckart Warner natürlichauch ab. Nicht in seiner eigenen Kirche, er hatja keine. Sondern in verschiedenen Gotteshäu-sern der Stadt. Da könne man ihn dann auchbuchen, sagt er.

Bevor er vor drei Jahren auf die Stiftungs-pfarrstelle wechselte, war Warner Gemeinde-pfarrer im Dörfchen Schkeitbar bei Merse-burg. Vermisst er das manchmal, das rege Ge-meindeleben, die Feste, die Familien, das Auf-wachsen der Kinder und das Begleiten der Al-ten, Taufen, Konfirmationen, Beerdigungen?„Ach nein“, sagt er, „hier ist halt ein anderesArbeiten.“ Kirche, das ist seine Überzeugung,solle bei den Menschen sein, dort wo sie lebenund arbeiten. „Das ist meine Aufgabe hier.“

So, nun aber zum Essen. Wer Pfarrer War-ners Bibelmansarde verlässt und schräg hin-über geht zum Hauptgebäude der Stiftungen,der stößt, sofern es Donnerstag ist, auf einenAufsteller. Im Kindermuseum Krokoseum istkultureller Kinderfreitisch. Laut Tafel gibt esheute Gurken-Dinkel-Türmchen, Schötterstroh- das ist Sauerkrautsuppe - und Äpfel mitStreuseln überbacken. Lecker! Aber nicht fürErwachsene. Einmal in der Woche wird imKrokoseum mit Kindern gekocht und geges-sen. Dort, wo sonst regelmäßig eine LesefeeGeschichten vorliest, Spielzeug und Brettspie-le bereitstehen, schwingt Anne-Marleen Mül-ler-Bahlke mit Schülern den Kochlöffel.

Die Rezepte stammen häufig aus FranckesZeiten und sind für heutige Verhältnisse leichtabgewandelt. Wichtig: „Wir müssen immer Ge-richte finden, die möglichst viele helfende

Hände benötigen“, erzählt die 54-Jährige.Schließlich setzen sich pro Durchgang rund 20Kinder an den Freitisch, an dem das Essen kos-tenlos ist. Vorher wird gemeinsam der Tischgedeckt. Zwischen Vorspeise und Hauptganggibt es ein Kulturprogramm, bei dem ein Gastzu einem Thema spricht. An diesem Donners-tag gibt ein Oberkellner Nachhilfe in Tischma-nieren. Seit acht Jahren organisiert Müller-Bahlke ehrenamtlich den Freitisch. Zu Gastseien überwiegend Kinder aus der Nachbar-schaft, erzählt die 54-Jährige. „Alles Kinder,die Hunger haben“, so umschreibt sie, dass beiihrer Klientel ein warmes Mittagessen nichtunbedingt eine Selbstverständlichkeit ist.

Vielleicht lebt im Kinderfreitisch Franckessoziales Erbe deshalb am ehesten fort: Indemin den Stiftungen auch heute noch etwas fürKinder getan wird.

EDITORIAL

heute vor 350 Jahren wurde AugustHermann Francke geboren - einTheologe, Erzieher und Aufklärer.Die Stadt Halle verdankt ihm einweit über die Grenzen Sachsen-An-halts hinaus bekanntes Sozial- undBildungswerk: die FranckeschenStiftungen.

Beeindruckend ist die Vielfalt derInstitutionen und Angebote auf demweitläufigen Gelände. Nach vielenJahren der erfolgreichen und auf-wendigen Sanierung besitzt dieserOrt ein angenehmes historischesFlair.

Der Bundespräsident wird amSonnabend zum Festakt in Halle er-wartet. Die Anwesenheit von Joa-chim Gauck beweist einmal mehr,welche Bedeutung dieser Institutionin der Bundesrepublik Deutschlandzukommt.

Das ganze Wochenende wird aufdem Areal mitten in Halle Geburts-tag gefeiert. Und in den kommen-den Monatengeht es weiter.Die Francke-schen Stiftun-gen haben einumfangreiches,interessantes,populäres undwissenschaftli-ches Programmfür das ganzeJahr zusammen-gestellt. Dazu zählen die am Wo-chenende beginnende Ausstellung„August Hermann Francke - Ein Le-benswerk um 1700“ und natürlichdas sehr schöne Lindenblütenfest.

Mit „vier Talern und sechzehnGroschen“ hat Francke im 17. Jahr-hundert den Grundstock für sein Le-benswerk gelegt. Sicherlich wirddiese Summe deutlich mehr als 4,16Euro wert gewesen sein. Aber auchfür die damalige Zeit war es kein üp-piges Startkapital. Und trotzdemhat er begonnen, seine Ideen umzu-setzen, mit Engagement, Disziplinund Liebe zu den Menschen.

Man muss nicht alles gut finden,was der Weltverbesserer initiierthat. Doch er war im besten Sinnedes Wortes ein Unternehmer. Einer,der etwas unternommen hat unddabei auch vor zahlreichen Wider-ständen nicht zurückgeschreckt ist.Was können wir heute aus der Fran-ckeschen Erfolgsgeschichte lernen?Vor allem Mut schöpfen. Mut für dieUmsetzung eigener Ideen.

Die vier Sonderseiten anlässlichdes Geburtstages von August Her-mann Francke sollen Ihnen einenunterhaltsamen Überblick über dasLeben dieses Mannes geben, des-sen Namen eine kleine Stadt in derStadt Halle trägt.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beimLesen der Texte und danach beimErkunden des Areals.

Ihr Hartmut AugustinChefredakteur

LiebeLeserinnen,liebeLeser,

Weltoffen imGlaubenseifer

VON GÜNTER KOWA

S pät Bekehrte sind sendungs-bewusst. August HermannFranckes Stiftungen zu Halle

entstanden mit einem klar umris-senen Weltbild vor Augen. Dorthingelangte der heute vor 350 Jahrengeborene Gottesmann nicht ohneeinen Reifeprozess.

Das Ereignis einer inneren Er-leuchtung trennt den strebsamen,aber von Glaubenszweifeln zerfres-senen Erfurter Theologie- und Heb-räischstudenten von dem Erbauerdes pietistischen Schul- und Missi-onszentrums in Halle. 1787 zu Be-such in seiner Vaterstadt Lübeck,beugt sich der gerade 24-Jährigeüber die Vorberei-tungen zu einerPredigt, doch erfühlt innerlich„keinen Gott zuhaben“, und dasssein „Christen-tum … garschlecht und lau-nicht“ sei.

Nieder kniendim Gebet, erhebter sich plötzlich„mit unaus-sprechlicher Freu-de und innererGewissheit“. Esist der Moment, in dem seine nochjunge Freundschaft mit Philipp Ja-kob Spener Früchte trägt. Wirkli-cher Glaube, lehrte ihn der Luthe-raner, erfüllt den ganzen Men-schen. „Nun erfuhr ich“, jubeltFrancke, „wahr zu sein, was Luthersaget … Glaube ist ein göttlichWerk in uns, das uns wandelt undneu gebieret.“ Von nun an, sagt derFrancke-Biograf und frühere Direk-tor der Stiftungen, Helmut Obst, istder Glaube Franckes „motivieren-de und prägende Kraft“, die er„möglichst vielen Menschen er-schließen“ will.

Unbeirrbar trägt Francke seineÜberzeugungen vor sich her. InLeipzig gewinnt er Anhänger mitBibelstunden, die zum Erwe-ckungserlebnis werden. Den an-fänglichen Spott auf die „Pietis-ten“, die Frömmler, versteht er baldals Auszeichnung. Die orthodox lu-therischen Theologen erwirken einVerbot von derlei „Ketzerey undSectiererey“, und auch Erfurt jagtFrancke aus der Stadt. Mittlerweilejedoch war Spener Propst in Berlingeworden, fand Fürsprecher ampreußischen Hof. Seinem Freundverschaffte er ein Lehramt an derneu gegründeten preußischen Re-formuniversität in Halle und diePfarrstelle an der Georgenkirche inGlaucha, damals eine unabhängigeKleinstadt vor den Toren Halles.Für die Glaubensoffensive einesvon Gott Erfüllten waren die Bedin-gungen sozusagen ideal. Die Pest

PIETISMUS Franckes Lebenswerkgründet auf innere Bekehrung.

hatte gewütet, elternlose Kinderirrten umher. Viele Unglücklicheergaben sich dem Suff. Glauchazählte 37 Gasthäuser. Gezecht wur-de auch sonn- und feiertags. Fran-cke beschimpfte die Stadtgeistli-chen ob ihrer „Unwissenheit“ undpredigte Zucht und Ordnung.

Die staunenswerte Erfolgsge-schichte von Franckes Waisen-haus, Lehranstalt und Missions-werk, aufgebaut aus einem kleinenAnfangskapital, überblendet denerheblichen Widerstand gegenFranckes Bekehrungseifer beim ge-meinen Volk. Bemerkenswert, wasVeronika Albrecht-Birkner undBritta Schulze-Thulin in einem Bei-trag zur halleschen Stadtgeschich-

te über die Er-nüchterung derGlauchaer Bür-ger berichten.

Hatten sie an-fangs den prin-zipienfestenPfarrer noch miteiner Petitiongegen die auchin Halle drohen-de Ausweisungunterstützt,merkten siebald, dass derselbst ernannteMoral- und Tu-

gendapostel sie umzuerziehen ge-dachte.

Der verfügte als erstes die abso-lute Sonntagsheiligung und verbotalles „ärgerliche Handwerk“. Dastraf beileibe nicht nur die Gastwir-te, auch die Schneider, Stärkema-cher, Branntweinbrenner, Barbie-re, schließlich die „Glückstöpfer,Marktschreyer, Seiltänzer, Ta-schenspieler“. Der Bannstrahl trafferner Musiker, Bader, Fischer,Zolleinnehmer, Komödianten.Francke, schreiben die Historike-rinnen, glaubte, den „rohen Hauf-fen“ vom „vornehmsten Teil derBürgerschaft“ trennen zu können.Die Unbotmäßigen gängelte er mitdem Ausschluss vom Abendmahl.Die so wirkungsmächtige Grün-dung der Stiftungen bezahlte Glau-cha mit dem Verlust jeglicher Ei-genständigkeit, was sich auch imBauplatz zeigte: Dort war kurz zu-vor der Neubau eines Rathausesgeplant gewesen.

Freilich, der missionarische Eiferdes Pietismus bedeutete auchWissbegier: das Erkunden vonfremden Völkern, Sprachen, Kultu-ren, und die Erforschung der Na-tur. Als pädagogische Institutionwar die Schulstadt ein Meilenstein,förderte beide Geschlechter undführte den Unterricht an Realienein. Schulisch war dieser Ansatzentwicklungsfähig, kulturell häuf-ten die Stiftungen Schätze an, dienun Aussicht auf Aufnahme insWeltkulturerbe haben.

MITTELDEUTSCHE ZEITUNG FREITAG, 22. MÄRZ 2013

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10 Waisenhaus-Buchhand- lung / Nachwuchsforum Geschichte11 Kulturstiftung des Bundes12 Francke-Wohnhaus / Informationszentrum / Bibelmansarde13 Freundeskreis der Fran- ckeschen Stiftungen e.V.14 Wohnungen 15 Theologische Fakultät16 Bauhof der Volkssolidari- tät / Spielehaus

1 Historisches Waisenhaus, Krokoseum2 Phil. Fakultät III der MLU, Erziehungswissenschaften3 Freylinghausen-Saal4 Englisches Haus / Englischer Saal5 Evangelisches Konvikt6 Cantstein Bibelzentrum / Interdiszipli- näres Zentrum für Pietismusforschung / Orthodoxe Kirche zum Heiligen Kreuz / St. Georgs-Kapelle 7 Deutsches Jugendinstitut e.V. 8 Stadtsingechor zu Halle9 Familienkompetenzzentrum für Bildung und Gesundheit / Maria Montessori-Grundschule

17 Interdisziplinäres Zentrum für Aufklärungsforschung18 Altenpfl egeheim im Haus der Generationen19 Hans Ahrbeck Haus Institute der Philoso- phischen Fakultät III, Erzie- hungswissenschaften20 Pfl anzgarten21 Grund- und Sekundarschule August Hermann Francke22 Landesgymnasium Latina23 Kindertagesstätte August Hermann Francke24 Montessori-Kinderhaus / Kindertageszentrum

FRANCKE-JAHR

Angebote am laufenden BandEin umfangreiches Pro-gramm begleitet das Jubilä-umsjahr in den FranckeschenStiftungen. Eingeläutet wer-den die Francke-Feiern heute,19 Uhr, mit einem Vortrag deshalleschen Uni-Rektors Prof.Udo Sträter zu „August Her-mann Francke in frühen und inspäten Jahren“.

Die Festveranstaltung imBeisein des Bundespräsiden-ten findet morgen statt. Dabeiwird die Jubiläumsausstellung„Die Welt verändern. AugustHermann Francke - Ein Le-benswerk um 1700“ eröffnet.Sie ist bis 21. Juli zu sehen.

Neben vielen anderen Ver-anstaltungen sind etwa eininternationaler Kongress fürPietismusforschung im Augustund eine Pädagogische Wocheim Oktober geplant. Am 4.September wird es im Histori-schen Waisenhaus einen inter-nationalen Workshop zum The-ma „Auf dem Weg zumUnesco-Welterbe“ geben. Dieneue Dauerausstellung unterdem Titel „Weltveränderungdurch Menschenveränderung.Kulturgeschichtliche Wirkun-gen des Pietismus“ wird am26. November eröffnet.

Alle Termine im Internet:www.francke-halle.de

ZUR PERSON

A.H. FranckeEr wurde am 22. März 1663in Lübeck geboren. Er wirk-te als Theologe und Pädagoge.Im Jahr 1698 gründete er inHalle die nach ihm benanntenStiftungen. Er wirkte als Pro-fessor für Griechisch und Ori-entalische Sprachen an derUniversität Halle. Franckestarb am 8. Juni 1727 in Halle.

Francke-Denkmal auf dem Gelände der Stiftungen

RUNDGANG Mehr als Wunderkammer und Lindenblütenfest: Die Franckeschen Stiftungen in Halle sind eine Stadt in der Stadt - 16 Hektar groß,40 Einrichtungen, 50 Gebäude. Es gibt einen eigenen Pfarrer. Und kostenloses Essen für Kinder - ganz im Sinne des Gründervaters.

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Wo Francke weiterlebt

Als „Herumführerin“ zeigt Claudia Langosch Besuchern die FranckeschenStiftungen in Halle. Hier steht sie vor der wohl kleinsten Freiluft-Bibliothekder Welt. FOTOS: ANDREAS STEDTLER

Viel Pracht hin-ter den Stif-tungsmauern:die historischeKulissenbiblio-thek (links) unddie russisch-orthodoxeKapelle (rechts).

Sobald es wärmer wird, haben im Pflanzgarten wie-der Kinder das Sagen.

Page 3: Zum 350. Francke-Jubiläum

Weltverbessererwillkommen

STEPHAN DORGERLOH Der Kultusminister Sachsen-Anhaltsspricht über Wissen und Bildung - und über Francke.

VON ANDREAS MONTAG

W as wäre, wenn einer wieAugust Hermann Franckeherkäme und tun wollte,

wofür es doch Anlass gibt: Sich umdie Menschen kümmern? Würdedieser Mann freundlich aufgenom-men oder für einen Spinner gehal-ten werden?

Stephan Dorgerloh, der Kultus-minister des Landes Sachsen-An-halt, kennt seinen Francke: Derwürde sich auch heute wieder umBildung kümmern, um Kinder insozialer Notlage. „Francke wollteein Weltverbesserer sein“, sagt derSPD-Politiker. Das war nur logisch,so sehr die Bürger damals auchstaunten, dass er sich der Ärmstenannahm. Dorgerloh erinnert an dieSituation, die Francke in Halle vor-fand: Die Stadt fast pleite, verheertvon den Folgen des Dreißigjähri-gen Krieges, gezeichnet von großerNot.

Der Sinn für das PraktischeDas, sagt Dorgerloh, sei ja das Sym-pathische an Francke: „Ihm geht esnicht um theoretischen, theologi-schen Streit, sondern um das Prak-tische.“ Das brachte den Mann mitden Preußen zusammen, denen angebildeten Menschen ebenso lagwie an ausgebildetem Nachwuchs.Jetzt aber, davon ist der Ministerüberzeugt, würde Francke die Kin-der nicht mehr nach Ständen tren-nen, sondern gemeinsam unter-richten, sozialen Ausgleich schaf-

fen - „genau so, wie die Francke-schen Stiftungen heute ja auchfunktionieren“. Als Bildungsan-stalt eben.

Nun ist Bildung für alle das eine,Wissen das andere, beide Dingesind nicht zu trennen, aber ebenauch nicht identisch.Und manchem ist inzwi-schen der Unterschiedvielleicht gar nicht mehrklar. Dorgerloh zitiertein erhellendes Bonmot:„Bildung ist das, was üb-rig bleibt, wenn man al-les andere vergessenhat.“ Und fügt hinzu:„Bildung ist allerdingsohne Wissen nicht zu ha-ben.“ Und aus dem, wasim sich ständig entwickelnden Bil-dungskanon steht, würde schließ-lich Bildung wachsen - auch Her-zensbildung, ohne die das Gemein-wesen nicht zum Gemeinwohlfunktioniert. Francke, „der frühzei-

tig mit dem Internatsgedankenliebäugelte“, weil er sah, dass dieKinder am Nachmittag vergaßen,was sie am Vormittag gelernt hat-ten, würde deshalb heute wohl einVerfechter der Ganztagsschulesein. Das klingt plausibel. Was

aber ist mit jenen, die aufWissen pfeifen? Oder denZugang nicht finden?Oder zur Generation Goo-gle gehören, die sich mitein paar Klicks das Nö-tigste zu besorgen wissenund bei Wikipedia inschlanken fünf Zeilen fin-den, welchen Inhalt ein di-cker Roman hat, den sienie gelesen haben? Dor-gerloh bleibt gelassen,

auch wenn er das Problem durch-aus ernst nimmt. „Man kann mitdünnen Brettern kein hohes Hausbauen“, sagt er. Deshalb sei es anuns, an der Schule wie an den Fa-milien, den Kindern und Jugendli-

chen nicht nur Wissen, sondernauch ein verlässliches Grundgerüstmitzugeben, bei dem im Übrigen„die Medienkompetenz eine großeRolle spielt“. Und die Herzensbil-dung, wie gesagt. Das Ethische.Hier kommt der Minister auf einThema, das ihm besonders wichtigist, weil es gelingen muss: die In-klusion, das gemeinsame Lernenvon Nicht-Behinderten und Behin-derten. Neu ist das noch, vielen un-gewohnt. Aber im Begriff, immerhäufiger nicht nur als unumgäng-lich, sondern als vernünftig ange-nommen zu werden. Auch da könn-ten wir von Francke lernen: „Derdorthin geht, wo es nicht bequemist, wo Benachteiligte neue Chan-cen brauchen“.

Bei allem Verdienst, in einemPunkt wird man Francke nicht un-bedingt folgen wollen. Der Pietistwar nicht eben ein Verfechter derLebensfreude, dessen also, dasheute Spaß genannt wird. Tanz,

Theater waren damals, so Dorger-loh, in des frommen Menschenbild-ners Augen Dinge, die fort von derTugend und auf die Rutschbahnzur Sünde führten.

Pflichterfüllung dominierte beiFrancke, im strengen Sinne. „DiePflicht zur Verantwortung“, nenntder studierte Theologe Dorgerlohdas Prinzip Francke. Wobei ebendie Gottesfurcht im Mittelpunktstand, nicht die Selbstverwirkli-chung. Die spielt inzwischen eineungleich größere Rolle, freilich bishin zur Tendenz der Entsolidarisie-rung. „Wenn jeder an sich selberdenkt, ist auch an alle gedacht“, be-zeichnet Dorgerloh diese Haltungsarkastisch. Wir seien aber daraufangewiesen, eine solidarische Ge-sellschaft zu sein, hält er dagegen.Gegen die Fliehkräfte also. Auf Ge-deih und Verderb.

Bildung als SozialversicherungUnd beim Thema Bildung kommtes direkt zum Schwur. Für Fran-cke, sagt Dorgerloh, sei Bildung diebeste Sozialversicherung gewesen.„Almosen haben die Pietisten nichtverteilt, sondern jeden gefordert.“Starke, aber auch die Schwachensollten sich für das Gemeinwohleinsetzen. Ein moderner Gedanke,dem die Begriffe Freiheit und Ge-rechtigkeit eingeschrieben sind.Einen beispielhaften Weg nenntDorgerloh das. Für uns, im eigenenLand. Und ein Modell dafür, wiewir in Europa zusammenlebenkönnen.

MITTELDEUTSCHE ZEITUNGFREITAG, 22. MÄRZ 20138

Stephan Dorger-loh FOTO: DPA

Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle beherbergt über 3 000 Exponate. Die 300 Jahre alte Sammlung gilt als Deutschlands ältester Museumsraum. Dasausgestopfte Nil-Krokodil, das in der Bildmitte an der Decke hängt, ist vier Meter lang und gehört seit 1741 zu den Exponaten. FOTO: STEFFI WALTER/GITTE KIEßLING

VON HANS-ULRICH KÖHLER

So viel Schnee, wie gestern vor denFranckeschen Stiftungen in Hallelag, hätte wenigstens den elenden

Zustand des imposanten Hauses grobverhüllt. Vor gut zwanzig Jahren entstanddiese Aufnahme (links) und noch heuterührt sie das Herz des Betrachters oderlässt Wut kochen. So marode war dieDDR, dass sie diese Perle deutscher Bil-dungskultur verfallen lassen musste, weildas Geld nur für den Erhalt ausgewählterarchitektonischer Glanzlichter reichte.

Zwei Jahrzehnte danach reibt sich der Be-trachter vielleicht aber auch verdutzt dieAugen - wie rasch Erinnerung verblassenkann : So schlimm sah es mitten in derSaalestadt aus? Dabei war 1992, als dasFoto entstand, hinter der Fassade bereitsder Aufbruch im Gange. Der Gründungs-direktor Paul Raabe, von Hause aus Bibli-otheksexperte aus Braunschweig, knüpf-te schon im Jahr 1988 Kontakte nach Hal-le und scharrte dann nach dem Mauerfall1989 Enthusiasten und Geldgeber umsich: Wir bauen die Stiftungen wieder auf!

Nun, zu Franckes 350. Geburtstag,schließt sich der Kreis. Franckes Bil-dungsstadt erstrahlt schön wie nie zuvor.Hier ist man ist nun gewappnet, Name undGlanz des Areals aus Halle in die weiteWelt hinaus zu tragen. Die Stiftungen wol-len es jetzt auf die Weltkultur-Erbelisteder Unesco schaffen. Das Ziel ist sehrehrgeizig. Der alte Francke hätte seineFreude daran.

GlanzvolleWiedergeburt

Das Giebelgebäude der Franckeschen Stiftungen in Halle An-fang der 90er Jahre. Rechts das Gebäude im Frühlingsschneedes Jahres 2013. FOTOS: CHRISTOPH BEYER/HANS-ULRICH KÖHLER

13. Juli 1698 Grundsteinle-gung des Waisenhauses inHalle

1698 Gründung des Päda-gogiums für Kinder deseuropäischen Adels

1701 Aufnahme Franckesin Berliner Akademie derWissenschaften

1706 Francke schickt ersteprotestantische Emmisäre inssüdindische Tranquebar.

1709 Bau des „EnglischenHauses“ für englische Stu-denten

1710 Die erste Bibelanstaltder Welt entsteht.

1713-1716 Bau des LangenHauses, heute der größte zu-sammenhängende Fachwerk-bau Europas

12. Juli 1716 Francke wirdProrektor der halleschenUniversität.

1726-28 öffentliches Bibli-otheksgebäude errichtet, heu-te ältester erhaltener profanerBibliothekszweckbau

8. Juni 1727 August HermannFrancke stirbt, 2 000 Kinderlernen zu dem Zeitpunkt inseinen Schulen.

1736-41 Kunst- und Natura-lienkammer von GottfriedAugust Gründler eingerichtet.

1741 Heinrich Melchior Müh-lenberg geht zur Betreuungder Lutheraner nach Amerika.

1799 Wiedergeburt der Fran-ckeschen Stiftungen durchAugust Hermann Niemeyer

1813 Leipziger Völker-schlacht, die Stiftungen wer-den zum Lazarett umfunkti-oniert.

1894 Nach der Aufhebungdes Schulgeldes konnten diekostenfreien Freischulen derStiftungen schließen.

1913-1914 Errichtung derOberrealschule und der La-teinischen Hauptschule

1945 In der Osternacht zer-stört eine Weltkriegs-BombeFrancke Wohnhaus und dieLatina.

1946 bis 1990 Die Stiftungenbeherbergen u.a. Institute derMartin-Luther-Universität.

1952 Errichtung der Arbeiter-und Bauern-Fakultät

1968-1971 Bau der Hoch-straße nach Halle-Neustadt,die historische Waisenhaus-mauer wird abgerissen.

9. Juni 1990 Gründung desFreundeskreises der Stiftun-gen und Beginn der Sanierung

1995 das Waisenhaus wirdnach umfassender Rekons-truktion als kulturelles Zen-trum eingeweiht.

1.Juni 2003 Thomas Müller-Bahlke wird Direktor der Stif-tungen .

2013 Die Sanierung des Ge-samtkomplexes ist nahezuvollendet.

Franckes Wohnhaus, dahinterdie Bundeskulturstiftung