Transcript
Page 1: Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leseprobe 'Klettern bis ich tot bin

88

«Auf eine schwere und schlechtabgesicherte Tour geht man nicht,weil man sterben will, sondern imGegenteil, um intensiv zu leben.»

Oswald Oelz

87

Ich lebe noch ziem-

lich intensiv und habe

nicht vor, demnächst

zu sterben, ich will noch mindestens 20 Jahre klettern und über-

haupt klettern, bis ich tot bin. Die Pläne reichen für die nächsten

200 Jahre. Aber irgendwann wird es passieren, die Todesanzeigen

in den Zeitungen handeln von meinem Jahrgang und von viel Jün-

geren. Obwohl ich immer gierig zugeschnappt habe, wenn es et-

was zu erhaschen gab, werde ich am Endpunkt vor allem Uner-

ledigtes zurücklassen.

Das Sein am Höhepunkt einer medizinischen Karriere an der

Spitze einer Klinik kontrastierte zum Tasten im löchrigen Omanfels,

dem Schneebiwak in Lunana im Nordwesten Bhutans, zum Sche-

ren der Schafe und zum Trekking im inneren Dolpo in Nepal. Berg-

steigen in allerlei Spielarten war für mich die ergänzende archa-

ische Lebensform als Kontrast zum Wirken in der überregulierten

Plastikwelt. Diese hat uns bequemen Komfort, physische Lebens-

qualität, mehr als verdoppelte Lebenserwartung sowie Allergien,

krebserregende Chemikalien und Fettberge gebracht. Wir haben

die Rhythmen der Natur ausgeschaltet, die Nacht ist taghell er-

leuchtet, Regen, Kälte und Sturm müssen wir nicht mehr spüren,

kein Bär und kein Mammut drohen. Nahrung ist nicht mehr mühsam

zu erjagen oder anzupflanzen. Diesel und Flugbenzin ersparen uns

das Gehen, die Schichten aus Beton, allerlei Textilien und Metall

haben uns von der Erde isoliert. Elektrische Leitungen und Äther-

wellen transportieren täglich Milliarden von Banalitäten, alle sim-

sen, aber nur noch wenige können reden.

All das wird in ein immer dichteres Regulierungskorsett ge-

zwängt, Sicherheitsvorschriften sind die modernen Terrornetze.

Bald werde ich meine Fleischabfälle auch an Füchse nicht mehr

verfüttern dürfen, und das Hirn meiner Lämmer dürfte ich schon

jetzt nicht mehr selbst verzehren. Virtuelle Welt, Sicherheit, Regu-

lierung und Fremdbestimmung sind bequem und füllen Praxen und

Kassen der Psychoindustrie. Unsere Urwelt, in der sich unsere Evo-

lution vollzogen hat, war nämlich anders. Wie unsere Vorfahren

mussten wir, sobald wir von den Bäumen heruntergestiegen waren,

um Nahrung, Wärme und Frauen kämpfen. Vor dem Bären konnte

man entweder ganz schnell davonrennen oder sich ihm stellen.

Beim ernsthaften Bergsteigen kehren wir zu jenen Bedingungen

zurück, unter denen innert einiger Millionen Jahre die menschliche

Entwicklung stattfand: Lebenswichtig ist ein geschützter Biwak-

platz, ein Feuer, um Schnee zu schmelzen, Kartoffeln und etwas

Parmesan sowie scharfe Steigeisenwaffen. Darin liegt die regene-

rative Potenz des Aufbruchs in die Wildnis, beim Klettern in un-

bekanntes Gelände werden Mobbing, das Finanzamt und die PS

des eigenen Autos belanglos. Die Batterien laden sich beim Ge-

hen im indischen Hochland für Herausforderungen in den Stadt-

schluchten von Zürich oder Berlin.

Diese Therapie ist nicht ohne Risiken. Es fehlen mehr als 25

Freunde, mit denen ich am gleichen Seil geklettert bin, mit denen

ich gelacht habe und in deren Gesellschaft ich empfand, dass das

Leben nicht mehr schöner werden könnte. Sie sind in Lawinen

geblieben, verschwunden, abgestürzt, am Höhenödem gestorben

und ins unbekannte Land vorausgegangen. Ob dieser Preis ge-

rechtfertigt war, bleibt ein Geheimnis.

Einige Male hat Freund Hein auch schon auf mich gezielt

und mich nur knapp verfehlt. Streifschüsse wie Felsbrocken, Eis-

lawinen, Lungenödeme und ausbrechende Haken machten das

herrliche Leben bewusster – wir klettern ja, um intensiv zu sein,

nicht um zu sterben. «Das Geheimnis des fruchtbaren Lebens

heisst gefährlich leben, darum: baut eure Häuser an den Vesuv»,

meinte Nietzsche. Bergsteigen ist eine wunderbare Alternative.

Vielleicht aber ist die Antwort nach dem Warum eine ganz

andere. Zum Beispiel wie Diego Wellig sie formuliert hat, als er ge-

fragt wurde, warum er Achttausender besteigen wolle: «Weil es

keine Neuntausender gibt.» Damit meinte er Ähnliches wie George

Leigh Mallory, der 1924 eine Journalistenfrage, warum er den Eve-

rest besteigen wolle, mit «because it’s there» beantwortete. Beide

drückten aus, wie unnütz und unbeantwortbar die Frage ist.

So geniesse ich weiterhin jeden Tag, an dem ich einen Griff

ertaste, die Sonne im Nacken brennt, der Durst wächst und der

feuchte Schnee durchnässt. Die Botschaft von Jabal Misht, Cho-

latse, Heiligkreuzkofel und Triemlispital hat Max Frisch 1937 in

«Antwort aus der Stille» unnachahmlich formuliert: «Warum leben

wir nicht, wo wir doch wissen, dass wir nur ein einziges Mal da

sind, nur ein einziges und unwiederholbares Mal, auf dieser un-

sagbar herrlichen Welt!»

KLETTERN, BIS ICH TOT BINOswald Oelz l Rund um die Welt