Download pdf - Moral Er Zie Hung

Transcript
Page 1: Moral Er Zie Hung

Moralerziehung im Kindergarten –eine schwierige, aber lohnende Aufgabe

Markus Hess, Dietmar Sturzbecher

Der Kindergarten – eine wertefreie Zone?Schlägereien, Drangsalierungen, Bedrohungvon Lehrpersonal, Amokläufe – in der Öffent-lichkeit wird ein Besorgnis erregendes Bildvom sozialen Klima in Schulen gezeichnet.Dass sich dieses Bild bei differenzierterBetrachtung nicht immer bestätigt, sei dahin-gestellt. Wenden wir uns unterschiedlichenAltersgruppen und deren Neigung zu gewalt-tätigen Auseinandersetzungen zu, so stellenwir allerdings überraschend fest, dass nicht inder Schule, sondern unter den Vier- bis Fünf-jährigen besonders viele Konflikte körperlichausgetragen werden (z.B. durch Schubsen,Beißen, Treten oder Schlagen; vgl. Sturzbe-cher & Hermann, 2003). Diese Konflikte wer-den in der Öffentlichkeit wohl deshalb wenigerbeachtet, weil sie seltener als Gewalttatenunter älteren Jugendlichen gravierende physi-sche Folgen nach sich ziehen. Betrachtetman die gesamte Lebensspanne, so wird ins-gesamt von einer nachlassenden Gewaltnei-gung mit zunehmendem Alter ausgegangen.Dies wirft eine Reihe von Fragen auf: Sind wirErwachsenen tatsächlich friedfertiger oderbedienen wir uns nur subtilerer Methoden derGewalt? Wenn ja, verhalten wir uns deshalbnaturgemäß amoralisch oder wird es vielfachnur versäumt, uns frühzeitig Werte und Nor-men im Umgang miteinander zu vermitteln?Stimmt man Letzterem zu, so stellt sichschließlich zwangsläufig die Frage, wann

diese Vermittlung beginnen sollte und welcheAufgaben dabei Erzieherinnen und zuneh-mend auch Erzieher1 im Kindergarten über-nehmen können.Antworten auf diese Fragen wurden im Rah-men eines Projekts des Instituts für ange-wandte Familien-, Kindheits- und Jugendfor-schung an der Universität Potsdam (IFK) mitdem Titel „Konflikt als Chance“ gesucht. ImErgebnis dieses Projekts wurden zwei Bücherveröffentlicht, die sich auf theoretischer undpraktischer Ebene unter anderem mit der Ver-mittlung von Normen und Werten auseinan-der setzen (Sturzbecher & Großmann, Hrsg.,2003). Zudem wurde im Rahmen des Projektsein Fortbildungsprogramm für Erzieherinnenerarbeitet. Die folgenden Ausführungen stützen sich imWesentlichen auf Erkenntnisse aus diesemForschungsprojekt. Wer sich vertiefend überdie hier besprochenen Themen informierenmöchte, dem seien die beiden angegebenenBücher empfohlen.Als Kernelement einer Erziehung zu gewalt-freien und konstruktiven Konfliktlösungenkann die Vermittlung moralischer Werte gel-ten. Dazu ist zunächst zu klären, wie derErwerb von Moralvorstellungen in der kindli-chen Entwicklung mit dem Erwerb sozialerKompetenzen verknüpft ist. Erzieherinnen,die sich diesbezügliches Wissen angeeignethaben, können daraus Ansätze zur Förderungder kindlichen Moralentwicklung ableiten.Unserer Auffassung nach bietet das Kinder-

MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN –16

Page 2: Moral Er Zie Hung

MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN – 17

gartenalter dafür gute Voraussetzungen. Alsbesonders fruchtbar erweist sich diese Alters-spanne deshalb, weil der Nutzen kooperativerSpielformen von den Kindern erkannt wird,daher das Interesse an gemeinsamenSpielaktivitäten wächst und das kindlicheLernpotenzial im Bereich des sozialen Wis-sens und Könnens kaum zu überschätzen ist.Kommen wir aber zunächst auf die Fragezurück, wie wir uns die Entwicklung vonMoralvorstellungen und von moralischemHandeln im Kindesalter vorzustellen haben.Eine ausführliche Darstellung und Problema-tisierung der kindlichen Moralentwicklung fin-den sich im Übrigen bei Monika Keller (2003).

Können Kinder moralisch handeln?Die Entwicklung eines moralischen Verständ-nisses ist eng verbunden mit der Perspekti-venerkennung und -koordination: Nur werseine eigenen Sichtweisen mit den Perspekti-ven anderer in Einklang bringen kann, wird zueinem befriedigenden Zusammenleben imAlltag fähig sein. Bereits kleine Kinder müs-sen daher lernen, nicht nur die eigenen Inte-ressen zu verfolgen, sondern auch die Inte-ressen, Wünsche, Erwartungen und Gefühleanderer zu berücksichtigen. GrundlegendeRegeln moralischen Handelns im Umgang mitanderen wie beispielsweise, dass man nichtlügen und betrügen soll oder dass man seineVersprechen einhalten und das Eigentumanderer respektieren soll, bieten Richtlinienfür ein geregeltes Zusammenleben (Keller,2003). Das Erlernen derartiger Regeln läuft bei Kin-dern aber nicht automatisch ab. Besonderswichtig sind für Kinder daher Erfahrungen,

welche Folgen die Nichteinhaltung dieserRegeln für andere und auch für die eigenePerson nachsichzieht. Diese Erfahrungenkönnen aus eigenen Erlebnissen oder aus derBeobachtung anderer resultieren und müssendurch die Erzieherinnen vermittelt werden.Für manche Regeln ist dies einfach: Jederweiß beispielsweise, dass es wehtut, wennman geschlagen wird. Andere Regeln sindschwieriger zu erklären, da sie ein psycholo-gisches Verständnis erfordern: Warum ist bei-spielsweise eine andere Person traurig, wennman ein Versprechen nicht einhält? Für denErwerb eines ausdifferenzierten Moralver-ständnisses sind also nicht nur die Kenntnisvon Regeln, sondern auch ein psychologi-sches Verständnis notwendig, weshalb dieseRegeln vielleicht für den Einzelnen einmalunbequem sein können, aber für die Gemein-schaft sinnvoll und unverzichtbar sind.Die Entwicklungspsychologie hat sich in zahl-reichen Untersuchungen mit der sozialen undmoralischen Entwicklung von Kindern be-schäftigt und aufgeklärt, über welche Fähig-keiten zum moralischen Verstehen Kinder zubestimmten Zeitpunkten ihrer Entwicklungverfügen. Der Schweizer Psychologe JeanPiaget, der Begründer der entwicklungspsy-chologischen Moralforschung, unterschied imEntwicklungsprozess zwei Formen der Moral,die auf unterschiedlichen Formen der Pers-pektivenübernahme beruhen und in unter-schiedlichen Formen von sozialen Beziehun-gen verankert sind. Nach Piaget (1972) verhält sich ein kleinesKind egozentrisch und „außengeleitet“. Diediesen Verhaltensweisen zugrunde liegendenMoralvorstellungen werden durch die Eltern-

Page 3: Moral Er Zie Hung

18 MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN –

Kind-Beziehung bestimmt: Elterliche Regelnhaben für Kinder zunächst eine absolute Gel-tung, die Zwang zur Grundlage hat und nichtverhandelbar ist. Demgegenüber schließt dieautonome Moral des Heranwachsendenwechselseitige Berücksichtigung und Gleich-heit ein. Diese Moralvorstellungen sind in denkooperativen Beziehungen zwischen Gleich-altrigen verankert. In diesen Beziehungenkann über Konfliktgegenstände verhandeltwerden; die Regeln des sozialen Zusammen-lebens beruhen häufig auf gemeinsam getrof-fenen Übereinkünften. Die autonome Moralwird nicht durch Zwang bestimmt und wächstaus der Fähigkeit zur Perspektivenübernah-me (die beiden Formen der Moral werden inder folgenden Tabelle gegenübergestellt).

der Moralerziehung im Kindergarten ist zubeachten, dass das pädagogische Personalähnlich wie die Eltern eine Autorität darstellt,dem Kinder Gehorsam entgegenbringen.Dies kann die Entwicklung einer autonomenMoral hemmen, wenn Kinder nicht auch denSinn und das Aushandeln von Regeln erfah-ren. Deshalb sollten Erzieherinnen den Kin-dern die Regeln des Zusammenlebens nichtausschließlich als Autorität vermitteln. Viel-mehr müssen Erfahrungen mit den Regelndes Zusammenlebens für Kinder derart ge-staltet werden, dass die Regeln als sinnvollund nützlich für den Umgang miteinander inder Gemeinschaft erfahren werden und, wodies möglich und von den Kindern zu bewälti-gen ist, auch ausgehandelt werden können.

Formen der Moral nach Piaget (aus Keller, 2003, S.148)

Egozentrisch, subjektiv und „außengeleitet“Kindliche Moral Produkt der einseitig dominierten Beziehungen mit den Eltern

Regeln im Zwang begründet

Gegenseitigkeit, Gleichheit, Selbstbestimmung (Autonomie)Moral des Heranwachsenden Produkt der kooperativen Beziehungen zwischen

GleichaltrigenRegeln verhandelbar

Anders als bei der autoritären Festlegung vonRegeln durch die Eltern entsteht beim Aus-handeln von Regeln unter Gleichaltrigen (unddeshalb auch häufig Gleichrangigen) nichtnur eine Gehorsamspflicht, sondern vielmehrein selbst auferlegter Respekt vor den hand-lungsleitenden Regeln. Dieser Respekt ist alsBedingung für das Funktionieren autonomerMoral als Handlungsrahmen anzusehen. Bei

Die wohl einflussreichste Theorie zur Moral-entwicklung stammt von dem amerikanischenEntwicklungspsychologen Lawrence Kohl-berg (1996). Für ihn zeigt sich eine individuel-le moralische Entwicklung in der Veränderungdes Denkens über Gerechtigkeit. Diese Ver-änderungen vollziehen sich in einer Abfolgevon sechs aufeinander aufbauenden Entwick-lungsstufen des moralischen Urteilens. Ent-

Page 4: Moral Er Zie Hung

MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN – 19

scheidend für die jeweiligen Stufen ist dabeidie sozio-moralische Perspektive. Diese istgekennzeichnet durch die Sichtweise auf daseigene Selbst (z.B. die eigenen Interessen),auf die anderen und auf die moralischenRegeln, die mit den unterschiedlichen For-men der Verhandlung von Interessen undErwartungen einhergehen. Im Folgenden werden die Ebenen des mora-lischen Urteilens für die ersten drei Entwick-lungsstufen dargestellt, die für die Entwick-lung im Kindesalter und im frühen Jugendalterbesondere Bedeutung besitzen:– Die Stufe 1 wird wie bei Piaget als ego-

zentrisch gekennzeichnet, da die Interes-sen anderer mit den eigenen gleichge-setzt werden. Handlungen werden auf die-ser Entwicklungsstufe nicht psychologischinterpretiert; moralische Urteile geltenunbedingt und müssen nicht begründetwerden. Vielmehr resultieren die morali-schen Urteile aus der Existenz einerRegel und deren Festsetzung durch Auto-ritäten (z.B. „Vati ist der ‚Boss’, weil erstärker ist“). Physische Bestrafung imFalle einer Regelverletzung wird als(gerechte) Sanktionierung für moralischesFehlverhalten ausgelegt. Der Leitsatz desmoralischen Urteilens könnte auf dieserEntwicklungsstufe lauten: „Mutti (Vati, dieErzieherin ...) hat Recht und ist gerecht“.

– Die Stufe 2 beruht auf der Fähigkeit zurDifferenzierung und teilweisen Koordina-tion verschiedener individueller Perspekti-ven. Kinder auf dieser Entwicklungsstufenehmen Interessenunterschiede alsowahr, und es werden Regelungen für dieLösung von Interessenkonflikten gesucht.

Allerdings besitzen Individuen auf dieserEntwicklungsstufe nach Kohlberg vorallem ein Motiv: die maximale Befriedi-gung der eigenen Interessen und die Ver-meidung von negativen Folgen für sichselbst. Daher gilt die Handlungsregel „Wiedu mir, so ich dir“; als gerecht empfindetder Einzelne, was ihm nützt.

– Auf der Stufe 3 werden die individuellenPerspektiven der an einem Konflikt betei-ligten Personen zu einem „Gesamtbild“integriert; der Handelnde nimmt also dieSichten der anderen wie aus einer „Beo-bachterperspektive“ wahr. Dies ermöglichtnach Kohlberg eine Unterordnung derindividuellen Interessen unter die gemein-samen Interessen der Gruppe. Die sozia-len Beziehungen beruhen auf dieser Ent-wicklungsstufe auf der gegenseitigenAnerkennung positiver Normen wie Ver-trauen, Respekt, Loyalität und Dankbar-keit. Erst wenn dieses Entwicklungsniveauerreicht ist, kann der Einzelne nach demLeitsatz „Was du nicht willst, das man dirtu, das füg auch keinem andern zu!“ han-deln. Dieser Leitsatz besitzt über alle Kul-turen hinweg universelle Geltung; ihn Kin-dern wirkungsvoll als stabile Verhaltensre-gel zu vermitteln, stellt aus unserer Sichtdas vornehmste und wichtigste Ziel dersozialen Erziehung dar.

In Bezug auf das Stufenmodell Kohlbergs unddie Vorstellungen Piagets wurde häufig disku-tiert, ob das moralische Denken von Kindernim Alter zwischen vier und sechs Jahrentatsächlich ausschließlich durch Autoritäts-hörigkeit bestimmt wird oder ob bereits in die-ser Altersphase moralische Denkweisen zu

Page 5: Moral Er Zie Hung

20 MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN –

beobachten sind, die sich als unabhängig vonder Regelung durch Autoritäten und derAndrohung von Strafe erweisen. Um dieserFrage nachzugehen, wurden zahlreiche psy-chologische Studien durchgeführt. Diese zei-gen im Ergebnis, dass bereits Kindergarten-kinder nicht in allen Regelbereichen die Auto-rität Erwachsener bedingungslos anerken-nen. Vielmehr nutzen sie je nach Entwick-lungsstand schon Möglichkeiten, um überRegeln zu verhandeln. Auch jüngere Kindererkennen bereits, dass Normen mehr oderweniger große Spielräume zum Verhandelnvon Regeln bieten (z.B. Pausenregelungen,Essenszeit, Mittagsruhe), während andereeindeutige moralische Regeln (z.B. „Keinekörperliche Gewalt!“) nicht verhandelbar sind.Allerdings ist bisweilen auch die absichtsvolleVerletzung eigentlich nicht verhandelbarerRegeln durch Kinder zu beobachten, wennsie die Autorität von Erziehungspersonen aufdie Probe stellen oder anfechten wollen. Dieskann sich in aggressivem oder abweichen-dem Verhalten (z.B. Stehlen) äußern.Weiterhin besitzen Kindergartenkinder bereitsVorstellungen von einem „Privatbereich“, indem sie Autoritäten – unter Umständen be-rechtigterweise – nicht bedingungslos aner-kennen, sondern eigene Entscheidungen tref-fen möchten, beispielsweise hinsichtlich ihrerKleidung oder Spielpartner. Dies erfahrenErzieherinnen häufig dann, wenn es darumgeht, was, wann und wo gespielt oder gebas-telt werden soll. Solche Situationen könnenRaum und Lernmöglichkeiten für Verhandlun-gen über Regeln bieten, sofern diese Regelnprinzipiell verhandelbar sind. Welche Regelnin der Einrichtung verhandelbar sein sollen,

muss im Team und mit den Eltern abgestimmtwerden. Um höhere Stufen moralischen Urtei-lens zu erreichen, müssen Kinder jedochauch lernen, dass ein Einzelner die Regeln,auf die man sich gemeinsam geeinigt hat,nicht beliebig bzw. einseitig verändern kann.Vielmehr erfordert eine Regeländerung dieZustimmung aller bzw. einen demokratischenKonsens der beteiligten Kinder. Zusammenfassend kann man davon ausge-hen, dass Kinder bereits im Kindergartenalterzu konventionellen moralischen Urteilen undzum Aushandeln von Regeln in der Lage sind,wenn die diesbezüglichen Anforderungen inihre Lebenswelt eingebettet und nicht allzukomplex gestaltet werden. Für Erzieherinnen geht es bei der Förderungmoralischer Urteilskraft in erster Linie darum,Kindern die Einsicht zu vermitteln, dassRegeln keine beliebigen Festsetzungen durchErziehungspersonen darstellen, sondern fürdas Zusammenleben aller notwendig sind.Die dazu notwendigen Erfahrungen sammelnKinder vor allem in der Auseinandersetzungmit Regeln bzw. Regelverstößen beim koope-rativen Spiel in der Kindergruppe. Die Bedeu-tung dieser Erfahrungen mit Gleichaltrigenwiegt schwer, da hier Übereinkünfte über Nor-men getroffen werden können, die nicht durchAutoritäten vorgegeben sind. Zwar sind eben-so unter Kindern Autoritätsbeziehungen zubeobachten. Diese sind aber längst nicht der-art gefestigt wie die Beziehungen zwischenEltern und Kind bzw. Erzieherin und Kind.Letztlich wird unter Kindergartenkinderndaher häufig nicht nur über Regeln, sondernauch über Autoritätsbeziehungen verhandelt,um die Frage zu beantworten, wer in der kon-

Page 6: Moral Er Zie Hung

MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN – 21

kreten Spielsituation der „Bestimmer“ in derGruppe sein darf.

Soziale Partizipation als Weg zummoralischen Denken?Das Aushandeln von Regeln in einer Gruppeist wesentlicher Bestandteil eines Prozesses,den wir gerne mit dem Begriff „Soziale Parti-zipation“ umschreiben und der im Folgendengenauer dargestellt werden soll. Der Begriff„Partizipation“ wird zahlreichen Lesern ver-traut sein. Er wird heutzutage in Politik,Pädagogik oder Jugendarbeit vielfältiggebraucht. Er bedeutet wörtlich „Teilhabe“,„etwas abbekommen von dem, das ein ande-rer hat“. Umgangssprachlich versteht mandarunter, dass Einzelne oder auch kleinereGruppen an Entscheidungen mitwirken, diesowohl das eigene Leben als auch das einergrößeren Gemeinschaft betreffen. Schon hierwird deutlich, dass dazu zugleich das Aus-handeln von gemeinsamen Regeln gehört.Die Forderung nach Partizipation erfasstheute alle Lebensbereiche, denken wir an diePolitik, die Wirtschaft oder die Bildung. Amhäufigsten finden wir den Partizipationsbegriffim Allgemeinen in Diskussionen über die Teil-habe Einzelner am gesellschaftlichen undpolitischen Leben sowie im Speziellen überDemokratisierung, Mitbestimmung und Teil-nehmerorientierung. Im Hinblick auf Kinderund Jugendliche wird Partizipation als Beitragzur politischen Sozialisation (Einübung demo-kratischer Verhaltensweisen) und zur gesell-schaftlichen Integration verstanden. Auf kom-munaler Ebene kann dies bedeuten, dassKinder und Jugendliche unter dem Stichwort„kinder- und jugendfreundliche Kommunal-

planung“ an Planungs- und Entscheidungs-prozessen beteiligt werden, die beispielswei-se die Spielplatzgestaltung oder die Verkehrs-wegeplanung betreffen.Auch in den Bildungs- und Jugendhilfeeinrich-tungen, also im engeren pädagogischenSinne, wird Partizipation zunehmend themati-siert. Baacke (1982) unterscheidet dabei zweiDimensionen von Partizipation:– Die erste Form, die Baacke „institutionelle

Dimension“ nennt, umfasst einerseits Ge-setze, Vorschriften oder Satzungen, diedie formale Sicherung partizipatorischenHandelns gewährleisten, und andererseitsdie organisatorischen Maßnahmen, diedie genannten Dekrete in Handeln umset-zen (z.B. ein bestimmtes „Projekt“ ineinem Kindergarten). Zu dieser Dimensiongehören beispielsweise Festlegungen zuPartizipationsmöglichkeiten in der pä-dagogischen Konzeption der Einrichtungoder organisierte Möglichkeiten im Ein-richtungsalltag, um individuelle Meinun-gen in die Gemeinschaft einzubringen(z.B. eine „Meckerrunde“).

– Die zweite Form, die Baacke als „interak-tionale Dimension“ bezeichnet, betrifft hin-gegen das konkrete, wechselseitig aufei-nander bezogene Kommunizieren undHandeln von Individuen, die Partizipationverwirklichen wollen. Hierzu würde manauch Verhandlungen über Regeln zählen.Diese Dimension wird häufig unterschätzt,insbesondere wenn es um das Lernenund pädagogische Vermitteln von Partizi-pationsbereitschaft und -fähigkeit geht.Dies ist äußerst bedauerlich, denn mankann Partizipation weder durch pädagogi-

Page 7: Moral Er Zie Hung

22 MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN –

sche Konzeptionen noch durch Diskussi-onsangebote fördern, wenn man den Kin-dern nicht konkret zeigt und vorlebt, wiepartizipatives Handeln aussieht.

Bei der Partizipationsförderung ist zu beach-ten, dass es eine Vielzahl von Lebensbedin-gungen, Themen und Gegenständen gibt, anderen Gestaltung man sich bzw. Kinder theo-retisch beteiligen könnte. Dies gilt nichtzuletzt für Kindergarten und Schule, die alswichtige Lebensräume von Kindern undJugendlichen eine Vielzahl von Partizipations-möglichkeiten bereithalten. Dazu gehörennicht nur institutionalisierte Partizipationsfor-men, die vom „Stuhlkreis“ bis zur „Kinderkon-ferenz“ reichen, sondern eben auch Möglich-keiten zum Aushandeln sozialer Regeln, diezum Erwerb moralischer Urteilskraft wichtigsind. Als unmittelbare Funktion von Partizipa-tion in Bildungseinrichtungen betrachten wirdaher die Verbesserung der kindlichenLebenswelt durch Mitbestimmung und Mitge-staltung des Tagesablaufes sowie durch dasAushandeln gemeinsamer Regeln und kon-struktiver Konfliktlösungen. Darüber hinausist davon auszugehen, dass eine derartige„Alltagspartizipation“ auch ein Übungsfeld füreine spätere politische Partizipation darstellt.

Eine solche „echte“ Partizipation ist aber kei-neswegs leicht zu verwirklichen. Nach unse-rem Verständnis partizipiert ein Kind, daseiner Gruppe spielender Kinder lediglichzuschaut oder eine zugewiesene Rolle aus-füllt, nicht wirklich an den Aktivitäten derGruppe. Zu „echter“ Partizipation gehörenimmer sowohl die Beteiligung an den Aktivitä-

ten einer Gruppe als auch die Aushandlungeigener Interessen innerhalb dieser Gruppe,also das Abstimmen und Einbringen eigenerInteressen in das Gruppenleben, auch wenndabei Kompromisse zu schließen oder eigeneInteressen nach Abwägung zurückzustellensind. Partizipation ist für uns untrennbar mitaktivem, zielgerichtetem Handeln der Partizi-pierenden verknüpft. Dementsprechend mussbei Partizipationsformen wie Kinderparlamen-ten, Projekten zur kinderfreundlichen Spiel-platzgestaltung oder Schulkonferenzen kri-tisch hinterfragt werden, inwieweit hiertatsächlich Partizipation im Sinne unsererDefinition stattfindet. Nach unserem Ver-ständnis können zwar alle diese Beteiligungs-formen einen förderlichen Rahmen für Partizi-pation bilden; die Existenz dieser Beteili-gungsmöglichkeiten sagt jedoch noch nichtsdarüber aus, ob die Kinder oder Jugendlicheneffektiv die Möglichkeit haben, ihre eigenenIdeen und Interessen einzubringen, überRegeln zu verhandeln und ihre Intentionengegebenenfalls auch entgegen den Interes-sen anderer Beteiligter, insbesondere Er-wachsener, zu verwirklichen. Unzweifelhafterfüllen manche Kinderparlamente oder Parti-zipationsprojekte lediglich Dekorations- undAlibifunktionen.

Schlussfolgerungen für die Moral-erziehung und Partizipationsförderung imKindergartenIn eigenen Untersuchungen konnten wir fest-stellen, dass durch soziale Partizipation beifünf- bis siebenjährigen Kindern die Fähigkeitzum Perspektivenvergleich und zur kritischenReflexion der Perspektiven anderer deutlich

Page 8: Moral Er Zie Hung

MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN – 23

verbessert werden kann. Wenn wir uns dieTheorien Piagets und Kohlbergs ins Gedächt-nis rufen, so wurde dort die Fähigkeit zurÜbernahme von Perspektiven anderer alswesentlicher Baustein für die Aushandlungs-kompetenz und damit für die moralische Reifeangesehen. Deshalb sollte das alterstypischeInteresse von Kindern dieser Altersgruppe anden Sichtweisen anderer aufgegriffen undPerspektivenübernahme in dieser Altersgrup-pe schwerpunktmäßig in der sozialen Erzie-hung thematisiert werden.Partizipationsförderung setzt angemesseneFreiräume und Selbstständigkeit voraus. Sieerfordert daher, den Kindern Verantwortungund Entscheidungen für die Organisationihres Alltags und ihres Zusammenlebens zuübertragen, sobald sie dazu in der Lage sind,diese Aufgabe verantwortungsbewusst undzuverlässig zu bewältigen. Es gibt kaumeinen anderen Weg, (soziales) Selbstwirk-samkeitsgefühl, Zivilcourage und soziale Ver-antwortung erfolgreich zu fördern. Will mandies tun, muss man als Pädagoge beständigprüfen, welche Eigenverantwortung Kinder imAlltag schon tragen wollen und können, umihnen dann entsprechende Freiräume auchzuzumuten und zuzugestehen. Freiräume,Mitverantwortung und Partizipationsangebotemüssen also mit den Kindern mitwachsen.Damit ist auch gemeint, dass PartizipationGrenzen hat und Kinder nicht an allen anste-henden Entscheidungen beteiligt werden kön-nen und sollen, von denen sie betroffen sind.Auch diese Grenzen müssen erklärt und dis-kutiert werden, nicht zuletzt, um Enttäuschun-gen zu vermeiden.

Da die Partizipationsbereitschaft der Partizi-pationsfähigkeit im Entwicklungsprozess vo-rauseilt und wichtige Voraussetzungen fürerfolgreiche Partizipation wie Fähigkeiten zurPerspektivenübernahme oder Selbstwirksam-keitsgefühl eben erst bei Partizipationsver-suchen erworben werden, löst frühe Partizi-pationsförderung zunächst auch viele Konflik-te zwischen den beteiligten Kindern aus. Alsaggressiv fallen den Erzieherinnen vor allemdiejenigen Kinder auf, die in Gruppen hinein-drängen und „mitmachen“ wollen, denen aberder Gruppeneinstieg aufgrund einfallsloser,gewalteinschließender Strategien nicht ge-lingt. Solche Situationen, in denen Partizipa-tionswünsche und soziale Hilflosigkeit zusam-mentreffen, bieten die besten Lernchancenfür konstruktive Konfliktbewältigung und Parti-zipationskompetenz. Konflikte sind alsoimmer auch eine Chance für soziales Lernen;Partizipationsförderung ist immer auch einePräventionsstrategie gegen Gewalt.Partizipationsförderung kann für die Konflikt-erziehung und moralische Wertevermittlungim Kindergarten einen Rahmen bieten und siewirkungsvoll ergänzen; sie kann sie aber nichtersetzen. Es reicht auch nicht, wenn Kindersoziale und moralische Regeln lediglich ler-nen; vielmehr müssen sie auch erfahren,warum solche Regeln im Zusammenlebenwichtig und nützlich sind. Weiterhin müssensie unterscheiden lernen, welche Regelndurch Aushandeln geändert werden können(z.B. die Regeln eines Spiels) und welchenicht (z.B. dass man jemanden nicht schlagendarf) und wie man ggf. solche Aushandlungs-prozesse führt. Dazu gehört, bei alltäglichenInteressenkonflikten gemeinsame Lösungen

Page 9: Moral Er Zie Hung

24 MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN –

zu suchen, die allen Beteiligten akzeptableChancen eröffnen und nicht Verlierer undGewinner produzieren. Lösungen für Konflikte unter Kindern solltendeshalb nicht durch Erzieherinnen „von oben“diktiert werden. Vielmehr müssen die Erzie-herinnen die Kinder dabei unterstützen,eigenverantwortlich nach Kompromissen zusuchen und individuelle Interessen fair auszu-handeln; dies wird von ihnen erwartet undlässt sich auch erfolgreich bewältigen. Dafürbrauchen Erzieherinnen jedoch ein pädago-gisch-psychologisches Verständnis von Kon-fliktbewältigung und Partizipation, anhanddessen man die dafür notwendigen psychi-schen Voraussetzungen von Kindern erken-nen und darauf aufbauend entsprechendeLernangebote für Kinder im Alltag planen undarrangieren kann. Hinweise darauf, wie maneine Balance zwischen angemessenen He-rausforderungen und kindlichen Entwick-lungsvoraussetzungen finden kann und wieentwicklungsstandgerechte Angebote undFörderstrategien konkret aussehen können,finden sich bei Völkel und Großmann (2003).Allerdings stellt die Vermittlung gewaltloserKonfliktbewältigungsstrategien nur ein Ele-ment einer wünschenswerten Konflikterzie-hung dar. Andere Elemente erscheinen gera-de für Erzieherinnen noch „gewöhnungsbe-dürftig“. Dazu gehören die Duldung und ange-messene Bewertung von Rauf- und Kampf-spielen, die wir wie viele andere Autoren (vgl.ausführlich Oswald, 1997) insbesondere bei

Jungen für entwicklungsförderlich halten, weilman dabei Rücksicht und Grenzen zwischenSpiel und Gewalt erleben und erlernen kann:Die Kontrahenten sind bei solchen Spielen inder Regel eben nicht zuallererst Gegner, son-dern Freunde; sie schöpfen ihre Kampfmög-lichkeiten nicht aus, weil sie den Kontrahen-ten nicht schädigen wollen.Angesichts der dargestellten Probleme undunseres umfangreichen Forderungskatalogsbesteht die Gefahr, dass Erzieherinnen undLehrer vor den Herausforderungen und Miss-erfolgsrisiken zurückschrecken, die mit derFrühförderung sozialer Partizipation undmoralischen Denkens verbunden sind. Damitwürde allerdings unser wichtigstes Anliegenvereitelt, nämlich eine solche Frühförderunganzuregen und zu bereichern. Deshalb seidarauf verwiesen, dass noch nicht vieleErfahrungen mit der Partizipation von Kindernin Bildungseinrichtungen vorliegen. DieSuche nach innovativen Formen von Kinder-beteiligung erfordert aus diesem Grundesowohl Mut zu Experimenten als auch eineunvoreingenommene, konstruktive Kritik anden bereits erprobten Modellen.

1 Aus schreibtechnischen Gründen wird nachfolgend ausschließlich die weibliche Bezeichnungsform verwen-det.

Page 10: Moral Er Zie Hung

MORALERZIEHUNG IM KINDERGARTEN – 25

LiteraturKeller, M. (2003). Moralische Entwicklung alsVoraussetzung für soziale Partizipation. In: D.Sturzbecher & H. Großmann (Hrsg.). SozialePartizipation im Vor- und Grundschulalter –Grundlagen (S. 144 - 172). München: Rein-hardt.

Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie derMoralentwicklung. Althof, W., Noam, G. G. &F. Oser (Hrsg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Oswald, H. (1997). Zur sozialisatorischenBedeutung von Kampf- und Tobespielen. In:Renner, E., Riemann, S., Schneider, I. K. & T.Trautmann (Hrsg.). Spiele der Kinder. Wein-heim: Deutscher Studienverlag.

Piaget, J. (1932 / 1973). Das moralische Urteilbeim Kinde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. (Ori-ginal 1932: Le Judgement Moral chez l’En-fant)

Sturzbecher, D. & Hermann, U. (2003).Aggression und Konflikterziehung im Kinder-garten. In: D. Sturzbecher & H. Großmann(Hrsg.). Soziale Partizipation im Vor- undGrundschulalter – Grundlagen (S. 173-222).München: Reinhardt.

Völkel, P. & Großmann, H. (2003). „Das istnicht fair!“ – Moralerziehung im Kindergarten.In: D, Sturzbecher & H. Großmann (Hrsg.).Praxis der sozialen Partizipation im Vor- undGrundschulalter (S.81-108). München: Rein-hardt.

Kontakt:Dipl.-Psych. Markus Hess und Prof. Dr.habil. paed. Dietmar SturzbecherInstitut für angewandte Familien-,Kindheits- und Jugendforschung (IFK) an der Universität PotsdamBurgwall 15, 16727 OberkrämerTel.: 03304-3970 10