Patient und Arzt auf Augenhöhe—Shared Decision Making
»Die geeignete Therapie ist die, die zu Ihnen passt.«
DR. MED. ECKART VON HIRSCHHAUSEN
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Patient und Arzt auf Augenhöhe—
Das Gesundheitswesen ist stark im Wandel. Die verfügbaren Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten nehmen rapide zu und die Patienten haben über Medien und Internet Zugang zu vielfältigen Informationen. Gleichzeitig steigt der finanzielle Druck auf die Ent scheidungsträger im Gesundheitswesen. Auch die Rolle der Patienten ist im Umbruch. In einer großen europäi schen Studie wurde schon im Jahr 2003 darauf hinge wiesen, dass Patienten ein hohes Informations bedürfnis sowie mehr heitlich den Wunsch haben, an medizi nischen Entscheidungen beteiligt zu werden [1].
Diesem Wunsch wird auch von Seiten des Gesetzes Rechnung getragen.
In Deutschland gewährleistet das Patientenrechte gesetz aus dem Jahr
2013 dem Patienten einen Anspruch auf gute, voll ständige und verständ
liche Infor mation und Aufklärung sowie einen gemeinsamen Entschei
dungs findungs prozess mit dem Arzt (§630ce Bürgerliches Gesetzbuch,
Bundesgesetz blatt 2013) [4]. Auf europäischer Ebene werden Patienten
rechte und die Beteili gung von Patienten an Entscheidungsprozessen
längst thematisiert, jedoch bislang noch in sehr unterschied lichem
Aus maß in den einzelnen Ländern umgesetzt [1]. In den USA hat diese
Bewegung insbesondere im Rahmen der soge nannten ValueBased
Medicine deutlich an Fahrt aufgenommen [2], die die individuellen
Vorstellungen des Patienten in den Mittelpunkt rückt.
SHARED DECISION MAKING
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Die Qualität und die Ressourcen des Gesundheitswesens in
Deutsch land und Europa befinden sich im internationalen Ver
gleich auf hohem Niveau – beispielsweise in Bezug auf die appa
rative und strukturelle Ausstattung sowie die Qualifikation des
Personals. Jedoch besteht im Hinblick auf die ArztPatienten
Kommunikation ein deutliches Verbesserungspotenzial [2]. Bei
spielsweise fehlen fast flächendeckend einfach verständliche,
schriftliche Informationen, mithilfe derer Patienten über unter
schiedliche Behandlungsmöglichkeiten und deren Nutzen und
Risiken aufgeklärt werden.
Shared Decision Making (SDM) kann als partizipative Form des
ArztPatientenGesprächs neue, zeitgemäße Maßstäbe setzen.
Basierend auf aktuellen, systematisch recherchierten und aus
gewerteten Ergebnis sen wissenschaftlicher Studien informiert
der Arzt den Patienten über die Entscheidungssituation und die
Handlungsmöglichkeiten. Patient und Arzt tauschen hierzu
Erfahrungen und Präferenzen miteinander aus, treffen dann
gemeinsam eine Entscheidung und setzen diese um.
Status quo: High-Tech Medizin kombiniert mit herkömmlicher Kommunikation—
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Wozu dient Shared Decision Making?
Patienten ...
... werden besser versorgt.
... sind therapietreuer.
... sind zufriedener.
... fordern es zunehmend ein.
... haben ein Recht darauf.
Shared Decision Making in 6 Schritten
Vor- und Nach teile jeder Therapieoption erläutern(inkl. Abwarten und Beobachten)
3
Entscheidung treffen(oder aufschieben)
5
Umsetzung planen
6
Erwartungen und Bedenken des Patienten explorieren
4
Patientenbeteiligung begründen
2
Gesprächsziel definieren
1
»Ich hätte gerne mehr unterstützende Informationsmaterialien für die Aufklärungs- arbeit und verstehe gar nicht, warum es das nicht gibt.«
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ÄRZTIN
Die Herausforderungen für SDM—
Mit SDM kann nicht nur der gesetzlichen und ethischen Ver pflichtung und
dem Wunsch vieler Patientinnen und Patienten nach aktiver Beteili gung in
Behandlungsentscheidungen nach gekommen werden. SDM ver ringert die
Über, Unter und Fehlversorgung und steigert die Therapietreue [7]. Erste
Studien weisen sogar auf Einsparungen und Effizienzsteigerungen in der
Gesundheits versorgung mittels SDM hin [8].
Für die Implementierung von SDM gilt es praktische Hindernisse im klini
schen Alltag sowie strukturelle Hürden der Gesundheitssysteme zu über
winden. In Deutschland fehlen im Klinikalltag oft die Zeit und die struk
turellen Voraussetzungen auf Seiten der Ärzte, die Patienten aktiv in
Entscheidungen einzubinden. Zudem ist es schwierig für Patienten, die ei
gene Erkrankungs und Behandlungssituation einzuschätzen und sich aktiv
in Entscheidungen einzubringen. Patienten brauchen neben einem besseren
Wissen über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten (Gesund
heitskompetenz) auch eine bessere Motivation und die entsprechende Stel
lung gegenüber dem Arzt, um sich in die Behandlungsentscheidung ein
bringen zu können. Ärzte müssen bereit und geschult sein sowie die Zeit
haben, gemeinsame Entscheidungsfindung zu praktizieren und den Patien
ten verständlich zu informieren bzw. sich mit diesem auszutauschen.
Auch fehlt es den Ärzten oft an Unterstützung bei der Umsetzung von
Shared Decision Making, wie es in folgenden Äußerungen deutlich wird: »Der
Patient entscheidet nicht, ich entscheide. Für alles andere fehlt uns die Zeit.
Der Patient kann diese Behandlungsmöglichkeiten auch gar nicht wirklich
einschätzen ... « oder aus Sicht des Patienten: »Diese Aufklärungsunterlagen
sind so klein gedruckt, die kann ich gar nicht lesen. Da vertraue ich meinem
Arzt; was der entscheidet, wird schon richtig für mich sein.«
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SHARE TO CARE basiert auf vier Modulen, die miteinander verbunden
sind. Die Idee ist, bei Arzt, Patient und Pflege gleich zeitig anzusetzen
und SDM durch evidenzbasierte Ent scheidungshilfen in möglichst vielen
Frage stellun gen zu unterstützen. Die vier Module des Pro gramms sind im
Folgenden skizziert. Für eine Fachabteilung dauert eine vollständige
Einführung von SDM je weils etwa ein halbes Jahr. Alle Module wurden im
Vorfeld in wissen schaft lichen Studien getestet und konnten einen Nut
zen für die ArztPatienten Kommunikation zeigen.
MODUL 1Training für ÄrzteIm ersten Schritt absolvieren die Ärztinnen und Ärzte ein OnlineTraining,
in dem anhand von Lehrbeispielen ein Grundlagenwissen zu SDM vermit
telt wird. Dann nehmen sie zwei reale Entscheidungsgespräche auf
Video auf. Auf deren Basis erhalten sie jeweils ein individuelles Feedback
mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Die Trainings werden von
speziell ausge bildeten Trainern und Trainerinnen durchgeführt [3, 4].
So funktioniert‘s
Das vom Innovationsfonds seit 2017 geförderte Projekt »Making SDM A
REALITY« setzt mit dem sogenannten SHARE TO CAREProgramm welt
weit erstmalig die Prozesse des Shared Decision Making in einem kom
pletten Kranken haus der Maximalversorgung um, dem Universitätsklinikum
SchleswigHolstein (Campus Kiel). Dabei werden auch alle Herausforde
rungen der Umsetzung von SDM berücksichtigt und näher unter die Lupe
genommen. Denn SDM soll nicht nur formal eingeführt, sondern auch
nachhaltig implementiert und weiter erforscht werden.
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Ein erster Schritt in die Zukunft: SHARE TO CARE—
Training für Ärzte
1Qualifizierungvon Pflege-kräften
2
OnlineEntscheidungs-hilfen
4Aktivierung von Patienten
3
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MODUL 2 Qualifizierung von PflegekräftenAusgewählte Pflegekräfte erhalten eine umfassende Schulung zum
Decision Coach. In dieser Rolle unterstützen sie den Patienten im Ver
ständnis der medizinischen Inhalte. Außerdem helfen sie ihm dabei, die
eigenen Präferenzen und Prioritäten klar zu benennen [5, 6].
MODUL 3 Aktivierung von PatientenPatienten werden angeleitet, wie sie sich aktiv an ihren Therapieent
scheidungen beteiligen können, zum Beispiel indem sie ihrer Ärztin oder
ihrem Arzt die »Drei Fragen« stellen [7].
MODUL 4 Entscheidungshilfen für PatientenFür verschiedene Indikationen werden OnlineEntscheidungshilfen ent
wickelt, die dem Patienten auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher
Er kenntnisse Informationen zu seinen Handlungsmöglichkeiten bereit
stellen. Damit diese Informationen verständlich werden, werden sie
zudem bildhaft dargestellt und filmisch durch Erklärungen von Ärzten
sowie Berichten von Patienten unterstützt [8].
Um alle vier Module effektiv in die Behandlungsabläufe zu inte grieren,
werden gemeinsam mit den Klinikern Entscheidungs punkte im Behand
lungs ablauf identifiziert werden, an denen die Einbeziehung von Pa
tienten erforderlich und möglich ist. Diese Punkte werden in den
klinik internen Behandlungs pfaden markiert und mit Empfehlungen auf
die Nutzung der Entscheidungs hilfen versehen.
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Wann ist SDM angezeigt – und wann nicht?
Dem Patienten bleibt genügend Zeit für eine Abwägung der
Handlungsmöglichkeiten
Mehr als eine medizinisch vertretbare Behandlungsoption liegt vor
Behandlungsoptionen haben ausgewogene Vor- und Nachteile
Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen
Patient ist entscheidungsfähig
Medizinische Situation lässt eine Ab wägung der Behandlungsoptionen zu (bzgl. vorhandener Zeit, Dringlichkeit, Entscheidungsfähigkeit des Patienten)
Eine Möglichkeit ist eindeutig zu bevorzugen
Entscheidung hat kaum Konsequenzen
Patient ist nicht entscheidungsfähig
unmittelbare Notfallsituation
Nur eine medizinisch ver tret bare Behandlungsoption liegt vor
+ –
Was ist »Shared Decision Making«?Patient und Arzt tauschen Erfahrungen und Präferenzen untereinander
aus und treffen letztlich eine gemeinsame Therapieentscheidung. Dazu
informiert der Arzt den Patienten über die Entscheidungs situation und
die Hand lungs möglichkeiten bzw. deren Implikationen basierend auf
den Erkenntnissen wissen schaftlicher Studien und eigener Erfahrungen.
Der Patient wägt die Vor und Nachteile der Therapieoptionen vor dem
Hintergrund seiner Prioritäten und Lebensumstände ab.
Ist das nicht alter Wein in neuen Schläuchen?Ja und nein. Die Wünsche der Patienten werden auch heute schon
berück sichtigt. Neu ist, dass die Patienten explizit und systematisch
über ihre Handlungsmöglichkeiten informiert werden. Sie werden
dazu ermuntert und aufgefordert, eigene Präferenzen zu äußern und
sich aktiv in den Entscheidungs prozess einzubringen.
Geht das überhaupt?Es geht sicher nicht bei jeder Entscheidung und jedem Patienten.
Jedoch zeigen Studien, dass SDM sogar bei schwer kranken Patien
ten erfolg reich praktiziert werden kann.
Häufig gestellte Fragen zum Shared Decision Making—
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Wird das nicht sowieso schon gemacht?Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass
SDM in der Routineversorgung noch nicht regelmäßig praktiziert wird.
Wozu soll das gut sein?SDM erfüllt den zunehmenden Wunsch der Patienten nach Infor mation
und Mitbestimmung. Es kann helfen, das ArztPatientenGespräch
offener, fakten basierter und unter Berücksichtigung individueller Erfah
rungen, Meinungen und Präferenzen zu führen.
Welche Entscheidungen eignen sich besonders für SDM?Besonders wichtig ist SDM bei präferenzsensitiven Entschei dungen, d.h.
wenn aus medizinischer Sicht mehrere ver tret bare Handlungs möglich
keiten existieren mit jeweils eigenen Vor und Nachteilen. Besonders
dann gilt es, die Präferenzen des Patienten – also seine individuelle Ge
wichtung und Beurteilung der Vor und Nachteile – zu berücksichtigen.
Kostet das nicht zu viel Zeit?Nein, es ist sogar möglich, dass durch SDM die verfügbare Zeit
besser genutzt und Zeit im Umgang mit den Patienten gespart wird.
Die OnlineEntscheidungshilfen zur Entscheidungs vorbereitung kön
nen die Aufklärungs arbeit erleichtern und das ArztPatientenGespräch
sinnvoll strukturieren und unterstützen.
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1 Coulter A MH. The European patient of the future. Berkshire: Open University Press 2003.
2 Härter M, Dirmaier J, Scholl I, et al. The long way of implementing patientcentered care and shared decision making in Germany. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2017;123–124:46–51. doi:10.1016/j.zefq.2017.05.006
3 Geiger F, Liethmann K, Reitz D, et al. Efficacy of the doktormitSDM training module in supporting shared decision making − Results from a multicenter doubleblind randomized controlled trial. Patient Educ Couns 2017;100:2331–8. doi:10.1016/ j.pec.2017.06.022
4 Kasper J, Liethmann K, Heesen C, et al. Training doctors briefly and in situ to involve their patients in making medical decisionsPreliminary testing of a newly developed module. Health Expect 2017;20:1254–63. doi:10.1111/hex.12565
5 BergerHöger B, Liethmann K, Mühlhauser I, et al. Informed shared decisionmaking supported by decision coaches for women with ductal carcinoma in situ: study protocol for a cluster randomized controlled trial. Trials 2015;16:452. doi:10.1186/s1306301509918
6 Stacey D, Murray MA, Légaré F, et al. Decision Coaching to Support Shared Decision Making: A Framework, Evidence, and Implications for Nursing Practice, Education, and Policy. Worldviews EvidenceBased Nurs 2008;5:25–35 doi:10.1111/j.17416787.2007.00108.x
7 Shepherd HL, Barratt A, Trevena LJ, et al. Three questions that patients can ask to improve the quality of information physicians give about treatment options: a crossover trial. Patient Educ Couns 2011;84:379–85. doi:10.1016/jpec.2011.07.022
8 Stacey D, Légaré F, Lewis K, et al. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions (Review) Cochrane Database Syst Rev 2017;:1–242 doi:10.1002/14651858.CD001431.pub5.www.cochranelibrary.com
Literatur
Im Shared Decision Making spielen der Arzt, das Pflege personal, der Patient,
so wie die der Entscheidung zugrunde liegenden Informa tionen eine maß gebliche
Rolle. SHARE TO CARE setzt auf allen vier Ebenen an und versucht hierdurch,
SDM im Versorgungsalltag zu ermöglichen und zu unterstützen. Der SDM geschul
te Arzt trifft auf den auf SDM vorberei teten Patienten. Gleichzeitig liegen der
ArztPatientenKommunikation evidenzbasierte Informationen aus den Ent
scheidungshilfen zugrunde, die in die Gesprächssituation einge bunden wer den
können. Das Pflegepersonal unterstützt den Entscheidungsprozess zwischen
Arzt und Patient maßgeblich im Sinne von SDM. Diese Prozesse werden in beste
hende Strukturen und Abläufe integriert.
Bei der Umsetzung von SDM in der Regelversorgung kann SHARE TO CARE
durch seinen interdisziplinären und zielgerichteten Ansatz eine wichtige Unter
stützung für Patienten, Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige sein. Im besten
Fall unterstützt es einen längst überfälligen Paradigmenwechsel – hin zu einer
zeitgemäßen und für alle zufriedenstellenden ArztPatientenKommunikation.
Fazit—
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Das bietet SHARE TO CARE
Dialog auf AugenhöheÄrzte und Patienten finden gemeinsam zu
einer Entscheidung.
Individuell beste BehandlungNeben den medizinischen Aspekten wird alles
berücksichtigt, was den Patienten für ihre Entscheidung wirklich wichtig ist.
Bessere VersorgungsqualitätPatienten entwickeln ein besseres Verständnis für ihre
Erkrankung und können entscheidend zur Verbesserung ihrer Situation beitragen.
Praktische UnterstützungDie Entscheidungshilfen sind jederzeit online verfügbar – in der
Klinik, zu Hause oder unterwegs. Ideal als Quelle zum Nachlesen – vor, während und nach dem Arztgespräch.
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