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medgen 2011 · 23:505–517DOI 10.1007/s11825-011-0307-7Online publiziert: 12. Dezember 2011© Springer-Verlag 2011

A. Küchler · D. WieczorekInstitut für Humangenetik, Universitätsklinikum Essen, Universität Duisburg-Essen

Syndrome mit dem Leitsymptom GroßwuchsZusammenfassungSyndromale Krankheitsbilder mit dem Leitsymptom Großwuchs stellen eine häufige Fragestel­lung in der humangenetischen und pädiatrischen Sprechstunde dar. Definiert ist ein Großwuchs durch eine Körperlänge, die mehr als 2 Standardabweichungen oberhalb des Mittelwerts liegt. Dies entspricht einer Körperlänge oberhalb der 97. Perzentile. Dargestellt werden in diesem Arti­kel häufigere Großwuchssyndrome, die Relevanz haben für die tägliche Arbeit des klinischen Genetikers bzw. des Pädiaters: das Marfan­, Beckwith­Wiedemann­, Sotos­, Weaver­, Simpson­Golabi­Behmel­ und das Proteus­Syndrom. Es werden die jeweiligen charakteristischen klinischen Zeichen, die diagnostischen Kriterien, die molekularen Ursachen, einschließlich zugrunde liegen­dem Erbgang, und – falls notwendig – Vorsorgeprogramme sowie mögliche Differenzialdiagno­sen dargestellt.

SchlüsselwörterGroßwuchs · Syndrome · Malignomrisiko · Vorsorgeprogramme

Syndromes with overgrowth as the cardinal symptom

AbstractSyndromic conditions with overgrowth as the cardinal clinical sign are a relevant problem in hu­man genetics and pediatrics. Overgrowth is defined as a length/height of more than two standard deviations above the mean, i.e. a body length above the 97th centile. Overgrowth syndromes rele­vant in the clinical daily routine of the geneticist or pediatrician are described here: Marfan, Beck­with­Wiedemann, Sotos, Weaver, Simpson­Golabi­Behmel and Proteus syndromes. The charac­teristic clinical signs, diagnostic criteria, molecular bases, modes of inheritance, prevention pro­grams—where necessary—as well as differential diagnoses are presented here.

KeywordsOvergrowth · Syndromes · Tumor risk · Prevention programs

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Die Lektüre dieses Beitrags wird dem Leser helfen,– Großwuchssyndrome einzuschätzen,– sie von möglichen Differenzialdiagnosen abzugrenzen sowie – ggf. Vorsorgeprogramme einzuleiten.

Großwuchssyndrome, die durch hohe Körpermaße als gemeinsames Merkmal charakterisiert sind, sind heterogen. Die zugrunde liegenden Ursachen sind vielfältig. Neben genetischen Faktoren spielen u. a. endokrinologische, metabolische und exogene Einflüsse eine Rolle (z. B. Gestationsdiabetes bei kongenitalem Großwuchs, Adipositas bei postnatalem Großwuchs). Die Winter­Baraitser Dysmor­phology Database (Version 1.0.21, [8]) listet unter dem Suchbegriff „overgrowth“ 52 Syndrome auf, unter „tall stature“ 106 Syndrome. Dieses verdeutlicht, dass im vorliegenden Übersichtsartikel nur eine Auswahl genetischer Großwuchssyndrome dargestellt werden kann, die aufgrund ihrer Häufig­keit Relevanz für die tägliche Arbeit haben: Dies sind im Einzelnen das Marfan­, das Beckwith­Wie­demann­, das Sotos­, das Weaver­, das Simpson­Golabi­Behmel­ und das Proteus­Syndrom.

Definition und Einteilung

Als Definition für Großwuchs wird meist eine Körperlänge >97. Perzentile bzw. > + 2 Standardab­weichungen (SD, „standard deviation“) angesehen (z. B. [12, 16]). Der Großwuchs kann bereits bei der Geburt bestehen (kongenitaler Großwuchs), oder sich im Lauf des Wachstums manifestieren. Zur Beurteilung des 7 kongenitalen Großwuchses wird häufig nicht die Körperlänge, sondern das Geburtsgewicht >97. Perzentile [12] bzw. >4,5 kg [15] herangezogen. Für Neugeborene sollten die Perzentilenkurven nach Voigt et al. [17] genutzt werden. Im weiteren Verlauf stehen z. B. die Daten von Reinken/van Oost für Größe/Gewicht [14], Nellhaus für den Kopfumfang [11] bzw. Kromeyer­Hauschild für den Body­Mass­Index (BMI; [4]) zur Verfügung. Um festzustellen, ob es sich um einen

Als Definition für Großwuchs wird meist eine Körperlänge >97. Perzen-tile bzw. > + 2 SD angesehen7  Kongenitaler Großwuchs

Tab. 1 Checkliste zur Abklärung von Großwuchssyndromen

Familien-anamnese

Stammbaum (3 Generationen):insbesondere Maße (KL/KGr, KG, KU) (mit Perzentilen oder SD) und Wachstumsverhalten von Eltern und Geschwistern, zur Geburt und aktuell evtl. Kinderfotos der Eltern

Anamnese Schwangerschaft:Gestationsdiabetes, pränatale Wachstumsmaße, evtl. erfolgte Terminkorrektur?Geburt: Maße (KG, KL, KU)neonatale Hypoglykämie?angeborene Fehlbildungen oder Auffälligkeiten (z. B. Omphalozele, Nabelhernie, akzessorische Mamillen)Entwicklungsmeilensteine (freies Laufen, freies Sitzen, erste Worte, 2-Wort-Sätze

Körperliche Untersuchung

Aktuelle Maße: KGr, KG, KUKörperasymmetrie (Hemihypertrophie/-hypotrophie), Körperproportionen (z. B. Ober-/Unterlänge?, Arachnodaktylie?, lokalisierter Großwuchs?)Auffälligkeiten des Skeletts (z. B. Skoliose, Pes planus)akzessorische MamillenHautauffälligkeiten (z. B. Striae distensae, zerebriforme Bindegewebsnävi)kraniofaziale Dysmorphien (z. B. hohe Stirn, „frontal bossing“, prominentes Kinn, Ohrkerben,  große Zunge, gespaltene Uvula, Gaumenspalte)Auffälligkeiten der Augenlinse

Diagnostik Röntgenaufnahme linke Hand (bei Verdacht auf Skelettdysplasie ggf. ergänzende Aufnahmen)ophthalmologische Untersuchungpädaudiologische UntersuchungEchokardiographieAbdomensonographieggf. MRT des Schädelsggf. Entwicklungsdiagnostik, IQ-Testung

Labor-diagnostik

Endokrinologische Diagnostikggf. Stoffwechseldiagnostikggf. Chromosomenanalyse oder Array-CGHggf. spezifische molekulargenetische Analysen

KL Körperlänge; KGr Körpergröße; KG Körpergewicht; KU Kopfumfang; SD „standard deviation“, Standardabweichung;MRT Magnetresonanztomographie; IQ Intelligenzquotient; CGH „comparative genomic hybridization“.

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7 familiären Großwuchs handelt, sollten auch die Körpermaße beider Eltern einbezogen werden. Das diagnostische Vorgehen bei der Abklärung von Großwuchssyndromen finden Sie in . Tab. 1.

Einige der Großwuchssyndrome (z. B. Sotos­Syndrom, Beckwith­Wiedemann­Syndrom) zeigen im Verlauf eine Normalisierung der Wachstumsparameter mit einer Erwachsenengröße im Norm­bereich, bei anderen liegt die Endlänge oberhalb des Normbereichs (z. B. Marfan­Syndrom). Groß­wuchs kann generalisiert den gesamten Körper betreffen oder nur einige Körperregionen, sodass eine Hemihypertrophie bzw. Körperasymmetrie vorliegt. Oft gehen Großwuchssyndrome mit wei­teren Merkmalen, wie z. B. einer Makrozephalie, einem akzelerierten Knochenalter, mentaler Retar­dierung, fazialen Dysmorphien, Gefäßmalformationen oder einem erhöhten Risiko für Neoplasien einher. Anhand der spezifischen Kombination dieser Merkmale lassen sich einige Großwuchssyn­drome klinisch diagnostizieren, wobei es Überlappungen gibt [1]. Für eine Reihe von Großwuchs­syndromen konnten die zugrunde liegenden genetischen Mechanismen in den letzten Jahren aufge­klärt werden. Trotzdem bleibt immer noch bei bis zu 40% der Patienten die Ursache ungeklärt [9].

Marfan-Syndrom

Das Marfan­Syndrom (MIM #154700), erstmals 1896 von dem Kinderarzt Antoine Marfan beschrie­ben, ist eine autosomal­dominant vererbte Systemerkrankung, die sehr variabel ist und das Auge, das Skelettsystem und das kardiovaskuläre System betrifft. Als Anomalien des Auges findet man eine Myopie und eine Subluxation der Linse (7 Ectopia lentis). Typische Veränderungen des Skelettsys­tems sind 7 Großwuchs, dysproportioniert lange Extremitäten, Finger und Zehen (7 Arachnodak-tylie ; . Abb. 1), Thoraxdeformitäten, eine leichte bis moderate Gelenküberbeweglichkeit, Wir­belkörperfehlbildungen (Skoliose und thorakale Lordose) und ein hoher Gaumen. Häufige 7 kar-diovaskuläre Anomalien sind ein Mitralklappenprolaps und eine Erweiterung des Aortenbogens.

7  Familiärer Großwuchs

Großwuchs kann den gesamten Kör-per betreffen oder nur einige Körper-regionen

Das Marfan-Syndrom ist eine auto-somal-dominant vererbte System-erkrankung7  Ectopia lentis7  Großwuchs7  Arachnodaktylie7  Kardiovaskuläre Anomalien

Abb. 1 8 Charakteristische klinische Zeichen beim Marfan-Syndrom. a, b Arachnodaktylie, c positives Daumenzei-chen (Steinberg-Zeichen), d positives Handgelenkzeichen (Murdoch-Zeichen)

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Dabei können ein Aortenaneurysma und die Aorten­dissektion als lebensbedrohliches Ereignis auftreten. Die Prävalenz wird mit 1–2 auf 10.000 angegeben [3]. FBN1(Fibrillin­1)­Mutationen sind bei 70–90% der Pa­tienten nachweisbar. 1996 wurden von De Paepe et al. die ersten diagnostischen Kriterien definiert, eine revi­dierte Fassung der „Ghent Kriterien“ wurde 2010 pub­liziert [7]. Danach liegt dann ein Marfan­Syndrom vor, wenn beide Kardinalsymptome – Aortenaneurysma und Ectopia lentis – vorliegen. Wenn eins dieser beiden Kardinalsymptome fehlt, ist eine kausale FBN1­Muta­tion oder die Kombination aus Systemmanifestationen notwendig. Hierfür wurde ein neues Scoringsystem ent­wickelt, welches in . Tab. 2 dargestellt ist. Diese revi­dierte Nomenklatur wird bereits kontrovers diskutiert, soll aber dazu beitragen, die falsch­positiven Diagno­sen zu minimieren.

Es existieren einige Hinweise auf eine Genotyp­Phä­notyp­Korrelation, aber keine ist definitiv: Beim „neo­natalen Marfan­Syndrom“, einem Marfan­Syndrom mit einer schweren Ausprägung und progressivem Verlauf, findet man z. B. Mutationen zwischen den Exons 24 und 32 des Fibrillin1­Gens.

Differenzialdiagnostisch sind Mutationen im TGFBR1­und TGFBR2­Gen zu diskutieren. Mutationen in diesen Genen führen zu den verschiedenen Typen des 7 Loeys-Dietz-Syndroms (MIM #609192, 608967, 610168, 610380), auch als Marfan­Syndrom 2 und 3 bezeichnet. Diese Patienten zeigen i. d. R. eine diffuse und aggressive Gefäßerkrankung mit Rupturen bereits in jungen Jahren, auch in kleinen Gefäßen. Eine Ecto­pia lentis und verlängerte Extremitäten finden sich bei diesen Patienten i. d. R. nicht.

Als weitere Differenzialdiagnosen sind die Homo­zystinurie, die kongenitale mit Kontrakturen einherge­hende Arachnodaktylie (CCA, Beals­Hecht­Syndrom), das Ehlers­Danlos­Syndrom, die multiple endokrine Neoplasie Typ 2B (MEN2B), das Lujan­Fryns­Syndrom und das fragile X­Syndrom zu nennen.

Beckwith-Wiedemann-Syndrom

Das Beckwith­Wiedemann­Syndrom (MIM #130650, BWS) wurde aufgrund der Symptomtrias neo­natale und/oder postnatale 7 Makrosomie, 7 Bauchwanddefekte und 7 Makroglossie (. Abb. 2) von Bruce Beckwith und Hans­Rudolf Wiedemann 1963, 1964 und 1969 beschrieben und auch EMG­Syndrom (für Exomphalos, Makroglossie, Gigantismus) genannt. Das klinische Bild ist varia­bel [2, 3, 20]. Die 3 Hauptmerkmale sind nicht obligat vorhanden, und das Spektrum der Symptome und deren Schweregrad können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Haupt­ und Nebenkrite­rien [3, 20] sind in . Tab. 3 zusammengefasst. Für die klinische Diagnosestellung wurde das Vorlie­gen von 3 Hauptkriterien oder von 2 Haupt­ und mindestens einem Nebenkriterium vorgeschlagen.

Die Häufigkeit wird mit etwa 1:13.700 angegeben [3], aufgrund der großen Variabilität wird aber eine noch höhere Ziffer vermutet. In der Schwangerschaft ist oft bereits ein Polyhydramnion auffäl­lig, bei etwa der Hälfte der Kinder mit BWS liegt eine Frühgeburtlichkeit vor. Die Diagnose BWS wird häufig wegen einer neonatalen Makrosomie (Gewicht und Größe ≥ 97. Perzentile) gestellt. In der Adoleszenz kommt es meist zu einer Normalisierung der Körpermaße. Die kognitive Entwicklung verläuft i. d. R. normal. Klinische Probleme beim BWS resultieren vor allem aus dem erhöhten Risi­

Ein Aortenaneurysma und die  Aortendissektion können beim Mar-fan-Syndrom als lebensbedrohliches Ereignis auftreten

7  Loeys-Dietz-Syndrom

7  Makrosomie7  Bauchwanddefekte 7  Makroglossie

In der Schwangerschaft ist beim  BWS oft bereits ein Polyhydramnion auffällig

Tab. 2 Revidierte Ghent-Kriterien für die Diagnose Marfan-Syndrom. (Nach [7])

Bei unauffälliger Familienanamnese:  

Aortendurchmesser oberhalb des erwarte-ten Z-Scores (Z  ≥ 2) oder Aortendissektion und Ectopia lentis = Marfan-Syndrom

Aortendurchmesser oberhalb des erwarte-ten Z-Scores (Z  ≥ 2) oder Aortendissektion und FBN1-Mutation = Marfan-Syndrom

Aortendurchmesser oberhalb des erwarte-ten Z-Scores (Z  ≥ 2) oder Aortendissektion und systemischer Score  ≥ 7 = Marfan Syndrom

Ectopia lentis und FBN1-Mutation mit bekanntem Aortendurchmesser oberhalb des Z-Scores

Bei für Marfan-Syndrom positiver Fami-lienanamnese (FA):

Ectopia lentis und positive FA = Marfan-Syndrom

Systemischer Score  ≥ 7 und positive FA = Marfan-Syndrom

Aortendurchmesser (Z >2 über 20 Jahre, Z >3 unter 20 Jahre) und positive FA = Mar-fan-Syndrom

Systemischer Score:

Handgelenk- und Daumenzeichen 3

Pectus carinatum 2

Fußdeformität 2

Pneumothorax 2

Durale Ektasie 2

Protrusio acetabuli 2

Reduziertes Oberlängen--/Unterlängen-Verhältnis und erhöhtes Arm-Körpergrö-ßen-Verhältnis und keine schwere Skoliose

1

Skoliose oder thorakolumbale Kyphose 1

Reduzierte Ellbogenextension 1

Faziale Dysmorphien (3/5) – (Dolichoze-phalie, Enophthalmos, abfallende Lidach-sen, malare Hypoplasie, Retrognathie)

1

Striae distensae 1

Myopie >3 dpt 1

Mitralklappenprolaps (alle Typen) 1

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ko für die Entwicklung 7 embryonaler Tumoren (insbesondere Wilms­Tumoren, Hepatoblastome, Neuroblastome und Rhabdomyosarkome). Daher sollten Patienten in ein regelmäßiges 7 Vorsorge-programm eingegliedert werden (. Tab. 4, [5]). Darüber hinaus besteht die Gefahr von zerebralen Komplikationen, die im Rahmen neonataler Hypoglykämien (hervorgerufen durch einen Hyperin­sulinismus aufgrund einer Pankreas­Inselzellhyperplasie) auftreten können, sowie einer möglichen Behinderung von Atmung oder Ernährung durch eine Makroglossie.

Aufgrund des variablen Phänotyps sollte auch bei Vorliegen nur einzelner klinischer Zeichen eine molekulargenetische Diagnostik durchgeführt werden, da sich aus dem Ergebnis erhebliche Konse­quenzen für das klinische Management ergeben. Bei unauffälligem molekularem Testergebnis kann jedoch ein BWS nicht ausgeschlossen werden.

Molekulare Ursache

Bei etwa 85% der Betroffenen tritt das BWS sporadisch auf, bei 10–15% liegt eine familiäre Form vor, die autosomal­dominant vererbt wurde. Ursache ist eine gestörte Transkription von Genen in

7  Embryonale Tumoren7  Vorsorgeprogramm

Ursache des BWS ist eine gestörte Transkription von Genen in der chro-mosomalen Region 11p15

Abb. 2 8 Typische Merkmale beim Beckwith-Wiedemann Syndrom. a Makroglossie, b Ohrkerben (Pfeil), c Bauch-wanddefekt, d Hemihyperplasie

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einem oder beiden dem 7 genomischen Imprinting („Prägung“) unterliegenden Gen­Clustern in der chro­mosomalen Region 11p15 (. Abb. 3). Geprägte Gene werden nur monoallelisch exprimiert, entweder mater­nal oder paternal. Die Regulation erfolgt durch epige­netische Mechanismen (z. B. Methylierung). Verant­wortlich hierfür sind die sog. „imprinting center“ (IC), Abschnitte der DNA, die entsprechend der elterlichen Herkunft unterschiedlich (differenziell) methyliert sind und die Expression der geprägten Gene regulieren. Sie werden daher auch „differenziell methylierte Regionen“ (DMR) genannt. Die Region 11p15 ist in zwei funktio­nelle Domänen unterteilt. In jeder reguliert ein IC die Expression der geprägten Gene. In der distalen Domai­ne 1 (IC1 oder DMR1) liegen die beiden geprägten Ge­nen H19 (nichtkodierende RNA, maternal exprimiert) und IGF2 („insulin­like growth factor 2“; fetaler Wachs­tumsfaktor, paternal exprimiert). Das H19­assoziierte Imprinting Center (IC1) ist normalerweise paternal methyliert und maternal unmethyliert. Eine Methy­lierung von IC1/H19 auf dem mütterlichen Chromo­som (IC1­/H19­Hypermethylierung) führt zu einer bi­allelischen Expression von IGF2. In der proximalen Do­mäne 2 (IC2 oder DMR2 oder KvDMR) sind mehrere geprägte Gene enthalten, darunter KCNQ1 (Ionenka­nal, maternal exprimiert), KCNQ1OT1 (LIT1; nichtko­dierendes Antisense­Transkript, paternal exprimiert), and CDKN1C (negativer Zellzyklusregulator, maternal exprimiert). Im IC2 ist ein Promoter für KCNQ1OT1 enthalten, der auf dem maternalen Chromosom me­thyliert und auf dem paternalen Chromosom unme­thyliert ist. Durch die Expression von KCNQ1OT1 auf dem paternalen Chromosom wird das paternale Al­lel von CDKN1C stillgelegt. Eine IC2­/KvDMR­Hypo­methylierung führt zur Expression von KCNQ1OT1 und zu einer reduzierten Expression von CDKN1C auf dem mütterlichen Chromosom. IC1­ und IC2­Methy­lierungsveränderungen treten oft im Mosaik auf. Eine weitere Ursache für eine veränderte Expression der pa­rentalen Allele ist eine paternale uniparentale Disomie 11p15.5, die durch eine gleichzeitige IC1­Hypermethy­lierung und IC2­Hypomethylierung auffällt. Sie ent­steht durch somatische Rekombination und liegt meist im Mosaik vor.

Die genannten Mechanismen treten i. d. R. spora­disch auf; lediglich Methylierungsauffälligkeiten, die im Zusammenhang mit einer (meist submikroskopi­schen) chromosomalen Veränderungen stehen (Dele­tion/Duplikation/Tranlsokation/Inversion), können er­blich sein. Dies trifft ebenfalls auf Mutationen im Gen CDKN1C zu, die bei Vorliegen im maternalen Allel zum BWS führen.

BWS­typische Veränderungen in der Region 11p15 können auch bei einem Teil der Patienten mit einer 7 Hemihyperplasie (MIM %235000), einem asymmetrischen Großwuchs, diagnostiziert wer­den. Die Ausprägung ist extrem variabel, kann nur ein einzelnes Körperteil oder aber eine gesamte Körperhälfte (. Abb. 2d) betreffen. Die Ursache ist heterogen und in vielen Fällen noch ungeklärt.

7  Genomisches Imprinting

7  Hemihyperplasie

Tab. 3 Diagnostische Kriterien beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom. (Nach [20])

Hauptkriterien („major findings“):

Bauchwanddefekt: Omphalozele (Exompha-los) oder Nabelhernie

Makroglossie

Makrosomie (Größe und Gewicht >97. Per-zentile)

Ohrläppchenkerben und/oder helikale „pits“ (ein- oder beidseitig)

Viszeromegalie (Leber, Niere, Nebenniere, Milz, Pankreas)

Entwicklung embryonaler Tumoren in der Kindheit (insbesondere Wilms-Tumor, Hepa-toblastom, seltener Neuroblastom, Rhabdo-myosarkom)

Hemihyperplasie

Nierenanomalien (Nephromegalie, medulläre Dysplasien, Nephrokalzinose, Entwicklung einer Markschwammniere)

Positive Familienanamnese für Beckwith-Wie-demann-Syndrom

Gaumenspalte (selten)

Nebenkriterien („minor findings“)

Schwangerschaftsauffälligkeiten: Polyhy-dramnion, vergrößerte Plazenta und/oder verdickte Nabelschnur, Frühgeburtlichkeit

Neonatale Hypoglykämie

Naevus flammeus

Kardiomegalie/strukturelle Herzfehler/Kar-diomyopathie

Charakteristische Gesichtszüge

Rektusdiastase

Akzeleriertes Knochenalter

Tab. 4 Vorsorgeprogramm für Patien-ten mit Beckwith-Wiedemann-Syndrom. (Nach [5, 2])

Bis zum Alter von 4 Jahren

Vierteljährliche Abdomen-sonographie zur Erkennung embryonaler Tumoren und vierteljährliche Bestimmung des α-Fetoproteins im Serum zur Früherkennung eines Hepatoblastoms

Bis zum Alter von 8 Jahren

Vierteljährliche Abdomen-sonographie zur Erkennung embryonaler Tumoren

Ab dem Alter von 8 Jahren bis ins Ju-gendalter

Jährliche sonographische Untersuchung der Nieren zur Erkennung einer evtl. Nephrokalzinose oder Mark-schwammniere

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Neben 11p15­Veränderungen können auch chromoso­male Mosaike (z. B. Trisomie­8­Mosaik, [18]) vorliegen. Wichtig bei der Beurteilung ist festzustellen, ob es sich bei der Körperasymmetrie um einen Großwuchs (He­mihyperplasie) der einen oder um einen Kleinwuchs (Hemihypoplasie) der anderen Körperregion handelt. Dies ist von großer klinische Bedeutung, da Letzterer nicht mit einem erhöhten Tumorrisiko vergesellschaf­tet ist, während bei der Hemihyperplasie das Risiko für embryonale Tumoren ähnlich dem beim BWS erhöht ist und entsprechende Vorsorgeuntersuchungen durch­geführt werden sollten [5].

Sotos-Syndrom

Im Jahr 1964 beschrieben Sotos et al. erstmals 5 Kin­der mit beschleunigtem Wachstum, Akromegalie und mentaler Retardierung und nannten dies „zerebraler Gigantismus“. Inzwischen wird für das Sotos­Syndrom (MIM #117550) eine Prävalenz von etwa 1:14.000 [3] angenommen. Damit zählt es zu einem der häufigeren Großwuchs­Syndrome.

Die drei klinischen Leitsymptome, die bei über 90% der Betroffenen vorliegen, sind 7 Großwuchs, 7 charakteristische Gesichtsmerkmale (. Abb. 4) und 7 Entwicklungsverzögerung/Lernschwie-rigkeiten. Der Großwuchs beginnt meist schon pränatal, die durchschnittliche Geburtslänge liegt im Bereich der 98., der Kopfumfang zwischen 90. und 97. Perzentile. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist insbesondere bis zum 10. Lebensjahr beschleunigt, danach kann sich der Großwuchs zum Erwach­senenalter hin normalisieren, während der 7 Makrozephalus i. d. R. bestehen bleibt. Typisch ist bei den Kindern ein 7 akzeleriertes Knochenalter (in der Handröntgenaufnahme phalangeal betont; (. Abb. 5). Neben den hohen Längen­ und Kopfumfangsmaßen sind es vor allem die charakteristi­schen Gesichtszüge (. Abb. 4), die insbesondere in der Kindheit die klinische Diagnose unterstüt­

Bei der Hemihyperplasie ist das Risiko für embryonale Tumoren erhöht 

7  Großwuchs7  Charakteristische Gesichts-

merkmale7  Entwicklungsverzögerung/

Lernschwierigkeiten7  Makrozephalus 7  Akzeleriertes Knochenalter

Abb. 3 8 Molekulargenetische Ursachen des Beckwith-Wiedemann-Syndroms und deren Häufigkeiten. * bei unauf-fälliger Familienanamnese, ** bei positiver Familienanamnese. (Erläuterung s. Text)

Abb. 4 8 Charakteristische faziale Merkmale bei einem 3¼ Jahre alten Patienten mit Sotos-Syn-drom: prominente Stirn mit hoher Stirnhaar-grenze, längliches Gesicht, nach außen abfallen-de Lidachsen

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zen: eine hohe, vorgewölbte Stirn mit hoher Stirnhaargrenze, ein längliches Gesicht, nach außen ab­fallende Lidachsen, ein prominentes, spitzes Kinn sowie ein hoher enger Gaumen, häufig mit Zahn­fehlstellungen.

Eine statomotorische Entwicklungsverzögerung tritt häufig auf, mitbedingt durch eine muskuläre Hypotonie. Die Mehrheit der Betroffenen hat eine Intelligenzminderung, deren Schweregrad unter­schiedlich stark ausgeprägt sein kann. 7 Verhaltensauffälligkeiten sind häufig, hier insbesondere aus dem autistischen Spektrum, Phobien und aggressive Verhaltensweisen. Etwa 1/4 der Betroffe­nen entwickeln Anfälle (Absencen, tonisch­klonisch, myoklonisch oder fokal­komplex). Auffällig­keiten in der Schädel­MRT sind beim Sotos­Syndrom häufig (meist erweiterte Ventrikel, aber auch Balkenanomalien, Megacisterna magna u. a.) Bei einem Fünftel treten Herzfehler auf [z. B. Vorhof­septumdefekt (ASD), Ventrikelseptumdefekt (VSD), persistierender Ductus arteriosus (PDA)]. Au­ßerdem können Nierenanomalien (vor allem vesikoureteraler Reflux) und Augenauffälligkeiten auf­treten. Etwa 1/3 der Patienten entwickelt eine 7 Skoliose. Oft kommt es aufgrund von chronischen Mittelohrentzündungen zu Hörstörungen.

Das Risiko für Tumoren ist gering erhöht (etwa 2–3% der Betroffenen). Allerdings treten – im Gegensatz zu anderen Großwuchssyndromen – extraabdominale Tumoren häufiger auf als intraab­dominale, und der Manifestationszeitpunkt schließt das Erwachsenenalter ein [5]. Daher ist eine ef­fektive spezifische Tumorfrüherkennung schwierig durchzuführen.

Dem Sotos­Syndrom liegt meist eine autosomal­dominante Veränderung (Punktmutation oder Deletion) im Gen NSD1 auf dem langen Arm des Chromosoms 5 (im Bereich 5q35) zugrunde, die zur Haploinsuffizienz führt. Die Mutation tritt meist de novo auf und lässt sich bei bis zu 90% der Betroffenen nachweisen. Auch einige familiäre Fälle mit autosomal­dominanter Vererbung sind be­schrieben. Bei Patienten mit Sotos­ähnlichem Phänotyp („Sotos­like“) wurden kürzlich Mutationen im Gen NFIX beschrieben [10].

Weaver-Syndrom

Dieses Syndrom, von Weaver et al. 1974 erstmals beschrieben, ist ein seltenes 7 Makrozephalie-Großwuchs-Syndrom (bislang <100 beschriebene Fälle). Es zeigt vor allem im jüngeren Kindes­

7  Verhaltensauffälligkeiten

7  Skoliose

Dem Sotos-Syndrom liegt meist eine autosomal-dominante Veränderung im Gen NSD1 zugrunde

7  Makrozephalie-Großwuchs-Syn-drom

Abb. 5 8 a Die Handröntgenaufnahme eines Patienten mit Sotos-Syndrom im Alter von 21 Monaten zeigt ein deut-lich akzeleriertes Knochenalter. b Zum Vergleich ein etwa altersentsprechender Normalbefund (Skelettalter 24 Mo-nate)

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alter phänotypisch einige Ähnlichkeiten zum Sotos­Syndrom [13]. Im Verlauf unterscheiden sich die fazia­len Merkmale: Beim Weaver­Syndrom (MIM #277590) finden sich eine breite Stirn und ein 7 rundes Gesicht, es besteht ein 7 Hypertelorismus, und das Kinn ist we­niger prominent als beim Sotos­Syndrom. Neben der Makrozephalie und dem Großwuchs, der oft bis ins Er­wachsenenalter fortbesteht, liegt meist eine Entwick­lungsverzögerung vor. Patienten mit Weaver­Syndrom haben häufig eine raue, tiefe Stimme. Es treten Nabel­ und 7 Leistenhernien auf sowie überschüssige, schlaf­fe Haut. An den Händen können 7 Kamptodaktylien bestehen. Wie auch beim Sotos­Syndrom ist das 7 Kno-chenalter akzeleriert, die Akzeleration ist beim Wea­ver­Syndrom allerdings karpal betont. Die zugrun­de liegende genetische Ursache ist noch ungeklärt. Bei einem kleinen Teil der Patienten (<10%) wurden Ver­änderungen im NSD1­Gen gefunden.

Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom

Simpson et al. (1975), Behmel et al. (1984) und Golabi und Rosen (1984) beschrieben Patienten, die übereinstimmende Merkmale zeigten, sodass sie schließlich zu dieser gemeinsamen Entität zusam­mengefasst wurden. Zur Häufigkeit des Simpson­Golabi­Behmel­Syndroms (SGBS; MIM #312870 und #300209) gibt es noch keine Daten, es wird jedoch vermutet, dass dieses Syndrom unterdiag­nostiziert ist [3]. Neben einem 7 Großwuchs und einer 7 Makrozephalie (i. d. R. mit pränatalem Beginn) sind für das SGBS 7 grobe Gesichtszüge mit großem Mund, großer Zunge und vollen Lip­pen (. Abb. 6), ein hoher Gaumen, Zahnfehlstellungen, ein prominenter Unterkiefer, Hypertelo­rismus und Epikanthus sowie ein relativ kurzer Hals charakteristisch. Weitere variable Merkma­le stellen akzessorische Mamillen, Organomegalien, Herzfehler, Nierenfehlbildungen, verschiedene 7 Mittellinienauffälligkeiten (Hypospadie, Nabelhernie, Kerbe der Zungenspitze oder in der Mit­te der Unterlippe, Gaumenspalte) sowie Auffälligkeiten der Wirbelkörper und der Hände (u. a. gro­ße Hände, breite Daumen, hypoplastische Nägel, insbesondere der Zeigefinger, Syn­ und Polydakty­lien) dar [3]. Oft bestehen eine Entwicklungsverzögerung und mentale Retardierung, deren Ausprä­gung jedoch sehr variabel sein kann.

Das Risiko für embryonale Tumoren ist mit etwa 10% deutlich erhöht [5]. Alle bislang beschrie­benen Neoplasien (Wilms­Tumor, Hepatoblastom, adrenales Neuroblastom, Gonadoblastom, hepa­tozelluläres Karzinom) waren intraabdominal lokalisiert. Daher sollten Betroffene in ein regelmäßi­ges Vorsorgeprogramm (ähnlich dem beim BWS, . Tab. 4) eingegliedert werden [5]. Das SGBS wird X­chromosomal vererbt. Abhängig von der X­Inaktivierung können Konduktorinnen leichte klini­sche Zeichen aufweisen. Bei bis zu 70% der Betroffenen können gegenwärtig Mutationen (Punktmu­tationen oder Deletionen) im Gen Glypican 3 (GPC3) auf dem langen Arm des X­Chromosoms in Xq26 nachgewiesen werden. Kürzlich wurden auch Duplikationen im benachbart lokalisierten Gen Glypican 4 als Ursache identifiziert [19].

Proteus-Syndrom

Das Proteus­Syndrom (MIM #176920) ist charakterisiert durch ein lokalisiertes, überschüssiges Wachs­tum von Haut, Bindegewebe, Gehirn und anderen Geweben. Der Großwuchs, der i. d. R. umschrieben und asymmetrisch ist, beginnt im Alter von 6–18 Monaten und ist progressiv und schlecht zu behandeln. Typisch ist auch ein überschüssiges Wachstum von Haut, Bindegewebe, Gehirn und anderen Geweben, das zu charakteristischen Strukturen führen kann. Der lineare verruköse epidermale Nävus ist typisch und führt zu zerebriformen Hautveränderungen. Venöse Gefäßfehlbildungen sind häufig. Aufgrund des 7 um-schriebenen Großwuchses resultieren ausgeprägte orthopädische Probleme. Außerdem kann es zu tiefen venösen Thrombosen und lebensbedrohenden 7 Embolien kommen. Das Risiko für Malignome ist deut­lich erhöht, obwohl es hierzu keine konkreten Zahlen gibt. Beim Proteus­Syndrom handelt es sich um ein

7  Rundes Gesicht

7  Hypertelorismus

7  Leistenhernien7  Kamptodaktylien 7  Knochenalter akzeleriert

7  Großwuchs 7  Makrozephalie 7  Grobe Gesichtszüge

7  Mittellinienauffälligkeiten

Das Risiko für embryonale Tumoren ist beim SGBS mit etwa 10% deut-lich erhöht Das SGBS wird X-chromosomal  vererbt

Typisch beim Proteus-Syndrom ist ein überschüssiges Wachstum von Haut, Bindegewebe, Gehirn und anderen Geweben7  Umschriebener Großwuchs7  Embolien Das Risiko für Malignome ist beim Proteus-Syndrom deutlich erhöht

Abb. 6 8 Fazialer Aspekt bei einem Jungen mit Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom. Grobe Ge-sichtszüge, Hypertelorismus, großer Mund mit vollen Lippen sowie ein relativ kurzer Hals

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sehr seltenes Krankheitsbild mit einer Inzidenz von 1/1 Mio. Als berühmter Patient mit Proteus­Syndrom wird Joseph Merrick, „the elephant man“, angesehen.

Die diagnostischen Kriterien sind unterteilt in generelle Kriterien und spezifische diagnostische Kriterien. Zu den generellen Kriterien, die für die Diagnosestellung alle vorhanden sein müssen, ge­hören eine mosaikartige Verteilung der Läsionen, ein sporadisches Vorkommen und ein progressiver Verlauf. Die spezifischen Kriterien, die zusätzlich vorhanden sein sollten, sind definiert als 7 zerebri-forme Bindegewebsnävi, lineare epidermale Nävi, asymmetrischer und dysproportionierter Groß­wuchs, spezifische Tumoren vor der 2. Lebensdekade und faziale Dysmorphien.

Die Therapie beim Proteus­Syndrom ist sehr schwierig. Es sollte möglichst lange gewartet werden, bis die überschießend wachsenden Gewebe entfernt werden. Die Kunst ist es, den op­timalen Zeitpunkt herauszufinden, da bei zu langem Zuwarten die orthopädischen Probleme nicht mehr beherrschbar sind. Da das Tumorspektrum breit ist, gibt es kein spezifisches Tumor­vorsorgeprogramm.

Kürzlich wurde eine aktivierende, somatische Mutation (c.49G → A, p.Glu17Cys) im Onkogen AKT1 bei 26/29 Patienten mit Proteus­Syndrom nachgewiesen. Das gebildete Enzym ist für die Zell­proliferation und Apoptose verantwortlich. Lindhurst et al. konnten zeigen, dass die untersuchten Gewebe und Zelllinien die Mutation mit einer Häufigkeit von 1–50% aufweisen [6]. Nur bei zwei dieser Patienten konnte die Mutation auch im Blut nachgewiesen werden. Auch die 3 Patienten, bei denen keine Mutation nachweisbar war, erfüllten alle diagnostischen Kriterien. Es ist daher davon auszugehen, dass das Proteus­Syndrom heterogen ist, d. h. dass noch andere Gene kausal für das Pro­teus­Syndrom sind.

Chromosomenaberrationen mit Großwuchs

Einige chromosomale Aberrationen gehen mit einem Großwuchs einher. Neben den gonosomalen Aberrationen mit zusätzlichem Vorliegen von X­Chromosomen (z. B. 47,XXY oder 48,XXXY) sind besonders die terminale Duplikation 15qter, die zu einem Gendosiseffekt des IGF1R­Gens führt, so­wie die terminale Deletion 22q13 zu nennen. Weitere Aberrationen sind in . Tab. 5 aufgeführt. Ar­ray­Analysen bei 93 Patienten mit ungeklärtem Großwuchs ergaben chromosomale Aberrationen in 5% der Fälle [9].

Fazit für die Praxis

F  Die Großwuchssyndrome sind heterogen und differenzialdiagnostisch im Einzelfall schwierig voneinander abzugrenzen.

F  Die Zuordnung zu einer bestimmten Entität ermöglicht eine prognostische Einschätzung, die Anpassung des klinischen Managements und die exakte Angabe eines Wiederholungsrisikos für die betroffenen Familien und kann damit die Betreuung des Patienten und seiner Familie deut-lich verbessern.

7  Zerebriforme Bindegewebsnävi

Da das Tumorspektrum breit ist, gibt es kein spezifisches Tumorvorsorge-programm

Tab. 5 Chromosomale Aberrationen mit Großwuchs (Auswahl)

Chromosomale Aberration Klinische Zeichen Dosiseffekte

dup(4)(p16.3) Großwuchs, leichte bis moderate Intelligenzminderung FGFR3

del(5)(q35) Sotos-Syndrom NSD1

del(9)(q22.32q22.33) Makrozephalie, Großwuchs, Trigonozephalie TGFBR1

Tetrasomie 12p Pallister-Killian-Syndrom(Großwuchs meist nur fetal)

dup(15)(q26qter) Großwuchs, Intelligenzminderung IGF1R

dup(19)(p13.2) “ Sotos-like “ NFIX

del(22)(q13) Großwuchs, Makrozephalie, Autismus, fehlende Sprache SHANK3

dup(X)(p22.3) Normale bis erhöhte Körpergröße SHOX

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KorrespondenzadresseDr. A. KüchlerInstitut für Humangenetik, Universitätsklinikum EssenUniversität Duisburg-EssenHufelandstr. 55, 45122 [email protected]

Danksagung.  Wir bedanken uns bei allen Eltern, die sich bereit erklärt haben, dass ein Foto ihres Kindes abgedruckt werden darf. Außerdem danken wir Bernd Schweiger für die Überlassung der Handröntgenaufnahmen, Bernhard Horsthemke für das zur Ver-fügung stellen des graphischen Schemas der BWS-Region, Beate Albrecht und Kirsten Cremer für Patientenfotos sowie Bernhard Horsthemke und Karin Buiting für hilfreiche kritische Diskussionen.

Interessenkonflikt.  Die korrespondierende Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

  1.  Baujat G, Rio M, Rossignol S et al (2005) Clinical and molecular over-lap in overgrowth syndromes. Am J Med Genet Part C 137C:4–11

  2.  Choufani S, Shuman C, Weksberg R (2010) Beckwith-Wiedemann syn-drome. Am J Med Genet Part C 154C:343–354

  3.  (o A) (2011) Gene reviews. Home-page. http://www.genereviews.org. Zugegriffen: August 2011

  4.  Kromeyer-Hauschild K et al (2001) Perzentilen für den Body-mass-In-dex für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschr Kinderheilkd 8:807–818

  5.  Lapunzina P (2005) Risk of tumori-genesis in overgrowth syndromes: a comprehensive review. Am J Med Genet Part C 137C:53–71

  6.  Lindhurst et al (2011) A mosaic acti-vating mutation in AKT1 associated with the Proteus syndrome. N Engl J Med 365:611–619

  7.  Loeys BL, Dietz HC, Braverman AC et al (2010) The revised Ghent nosology for the Marfan syndrome. J Med Ge-net 47:476–485

  8.  LMD (2010) London medical databa-ses, Version 1.0.21. London Medical Databases Ltd, London

  9.  Malan V, Chevallier S, Soler G et al (2010) Array-based comparative geno-mic hybridization identifies a high fre-quency of copy number variations in patients with syndromic overgrowth. Eur J Hum Genet 18:227–232

10.  Malan V, Rajan D, Thomas S et al (2010) Distinct effects of allelic NFIX mutations on nonsense-mediated mRNA decay engender either a So-tos-like or a Marshall-Smith syndro-me. Am J Hum Genet 87:189–198

11.  Nellhaus G (1968) Head circumference from birth to eighteen years. Practical composite international and interracial graphs. Pediatrics 41:106–114

12.  Neri G, Moscarda M (2009) Over-growth syndromes: a classification. Endocr Dev 14:53–60

13.  Opitz JM, Weaver DW, Reynolds JF Jr (1998) The syndrome of Sotos and Weaver: reports and review. Am J Med Genet 79:294–304

14.  Reinken L, Oost G van (1992) Physi-cal growth of normal German children from birth to 18 years: longitudinal study of height, weight and height ve-locity. Klin Pädiatr 204:129–133

15.  Verge CF, Mowat D (2010) Over-growth. Arch Dis Child 95:458–463

16.  Visser R, Kant SG, Wit JM, Breuning MH (2009) Overgrowth syndromes: from classical to new. Pediatr Endo-crinol Rev 6:375–394

17.  Voigt M, Fusch C, Olbertz D et al (2006) Analyse des Neugebore-nenkollektivs der Bundesrepublik Deutschland. 12.Mitteilung: Vorstel-lung engmaschiger Perzentilwerte (-kurven) für die Körpermaße Neu-geborener. Geburtsh Frauenheilkd 66:956–970

18.  Voigt R, Gburek-Augustat J, Seidel A, Gillessen-Kaesbach G (2008) He-mihyperplasia and discordant bone age in a patient with trisomy 8 mo-saicism. Am J Med Genet 146A:132–135

19.  Waterson J, Stockley TL, Segal S, Go-labi M (2010) Novel duplication in glypican-4 as an apparent cause of Simpson–Golabi–Behmel syndrome. Am J Med Genet 152A:3179–3181

20.  Weksberg R, Shuman C, Beckwith JB (2010) Beckwith-Wiedemann syn-drome. Eur J Hum Genet 18:8–14

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D Mitmachen, weiterbilden und CME-Punkte sichern durch die Beantwortung der Fragen im Internet unter CME.springer.de

CME-Fragebogen

Welche Aussage zur Diagnose-stellung des Proteus-Syndroms trifft zu?  Die Diagnosestellung erfolgt 

aufgrund der charakteristi-schen klinischen Auffälligkei-ten. Eine molekulargenetische Bestätigung ist nicht möglich, da die genetische Ursache bis-her nicht bekannt ist.

 Die übermäßig wachsenden Gewebe beim Proteus-Syn-drom sollten operativ entfernt werden. Dann ist mit einer Heilung zu rechnen.

 Es sollte eine molekulargene-tische Analyse des AKT1-Gens an DNA aus Blutlymphozyten bei Patienten mit Proteus-Syn-drom durchgeführt werden, um die klinische Diagnose zu bestätigen.

 Das Proteus-Syndrom folgt einem autosomal-rezessiven Erbgang.

 Zur molekulargenetischen  Bestätigung der klinischen Diagnose Proteus-Syndrom sollte eine molekulargeneti-sche Analyse an DNA aus be-troffenem Gewebe hinsicht-lich der Mutation c.49G → A, p.Glu17Lys im AKT1-Gen durchgeführt werden.

Welche Aussage zu Großwuchs-syndromen trifft nicht zu?  Die Messung der Elterngröße 

ist notwendig um festzustel-len, ob ein familiärer Groß-wuchs vorliegt.

 Die Röntgenaufnahme der lin-ken Hand, die im Rahmen der Abklärung von Großwuchs-syndromen durchgeführt wird, gibt Aufschluss über das aktu-elle Knochenalter (retardiert – altersentsprechend – akzele-riert) und über mögliche knö-cherne Fehlbildungen.

 Chromosomenstörungen, die mit einem Großwuchs einher-gehen, sind z. B. die terminale Deletion 22q (Phelan-McDer-mid-Syndrom) und die termi-nale Duplikation 15q.

 Nur bei Großwuchsformen, die einem bekannten Syn-drom zuzuordnen sind, be-steht ein erhöhtes Risiko für Malignome.

 Bei klinisch gestellter Ver-dachtsdiagnose Marfan-Syn-drom ist auch ohne molekular-genetische Sicherung der Dia-gnose eine regelmäßige echo-kardiographische Untersu-chung notwendig.

Junge, gesunde und normal-wüchsige Eltern stellen ihre 6 Monate alte Tochter vor, weil bei ihr ein Großwuchs und eine Körperasymmetrie vorliegen. Sie fragen nach einem überge-ordneten Krankheitsbild. Wel-che Befunde erwarten Sie nicht bei einem Beckwith-Wiede-mann-Syndrom?  Eine Makroglossie  Einen Bauchwanddefekt  Hyperglykämien in der Neu-

geborenenperiode  Eine normale psychomoto-

rische Entwicklung  Helixkerben

Welches der Gene hat keinen Einfluss auf die Körpergröße?  TCOF1  IGF1R  SHOX  NSD1  FBN1

Welches klinische Zeichen ist nicht typisch für ein Marfan-Syndrom?  Striae distensae  Mitralklappenprolaps  Skoliose  Linsenluxation  Kraniosynostose

Welche Aussage zum Marfan-Syndrom trifft zu?  Wenn bei einem Patienten mit 

Verdacht auf Marfan-Syndrom keine Mutation im FBN1-Gen nachgewiesen wird, sollte auf eine echokardiographische Verlaufskontrolle verzichtet werden.

 Die Skoliose beim Marfan-Syn-drom liegt schon in der Neu-geborenenperiode vor.

 Als positive Familienanamne-se bei Patienten mit Marfan-Syndrom sind Familienange-hörige anzusehen, die groß-wüchsig waren und aus unge-klärter Ursache plötzlich ver-storben sind.

 Eine einmalige ophthalmo-logische Untersuchung zum Ausschluss einer Linsenluxati-on ist ausreichend.

 Die Abgrenzung der verschie-denen Formen des Marfan-Syndroms ist klinisch leicht möglich.

Ein 4 Jahre altes, von Geburt an großwüchsiges Mädchen mit Makrozephalus wird we-gen seiner Entwicklungsver-zögerung in der genetischen Sprechstunde vorgestellt. Das Mädchen hat ein längliches Ge-sicht, ein prominentes Kinn und eine hohe Stirn mit hohem temporalem Haaransatz. Die Eltern fragen nach der Ursa-che für die Auffälligkeiten und nach dem Wiederholungsrisi-ko für weitere Kinder. Sie selbst denken an eine bestimmte Ver-dachtsdiagnose. Welchen Be-fund erwarten Sie bei Ihrer Ver-dachtsdiagnose nicht?  Ein akzeleriertes Knochenalter 

(phalangeal > karpal)  Eine Deletion des NSD1-Gens  Eine Punktmutation im NFIX-

Gen  Eine Skoliose  Eine Körperasymmetrie

Welches der unten genannten syndromalen Krankheits bilder geht nicht mit einem Groß-wuchs einher?  Terminale Deletion 22q  Aarskog-Syndrom  Beckwith-Wiedemann-Syn-

drom  Sotos-Syndrom  Homozystinurie

Welche Aussage zum Simpson-Golabi-Behmel- Syndrom (SGBS) trifft zu?  Eine schwere geistige Behin-

derung ist typisch.  Beim SGBS findet man keine 

Makrozephalie.

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Bitte beachten Sie: F Antwortmöglichkeit nur online unter: CME.springer.deF Die Frage-Antwort-Kombinationen werden online individuell zusammengestellt. F Es ist immer nur eine Antwort möglich.

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Page 13: Syndrome mit dem Leitsymptom Großwuchs

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 Viele Patienten mit SGBS ha-ben akzessorische Mamillen.

 Das SGBS folgt einem autoso-mal-dominanten Erbgang.

 Beim SGBS gibt es kein erhöh-tes Tumorrisiko.

Welche der folgenden Diagnosen stellt keine Differenzialdiagnose zum Marfan-Syndrom dar?  Das Loeys-Dietz-Syndrom  Das Beals-Hecht-Syndrom  Das Silver-Russell-Syndrom  Das Ehlers-Danlos-Syndrom  Das Lujan-Fryns-Syndrom

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