Hattie - der neue Boom im Bildungsdiskurs?

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DOI: 10.1002/ckon.201310194

Hattie – der neue Boom imBildungsdiskurs?

Hattie? Den Namen haben wohl die allermeisten CHEM-KON-Leserinnen und Leser vor einigen Monaten noch garnicht gekannt. Dies hat sich vermutlich dank der ZEITund an-derer Medien mit Beitr�gen zu Bildung und Schule j�ngst ge-�ndert. Die Medienpr�senz von Berichten und Stellungnah-men zu Hatties Buch „Visible Learning“ [1] erinnern stark andie PISA-Diskurse, leider auch hinsichtlich des Umgangs mitwissenschaftlichen Daten. „Kleine Klassen bringen nichts, offe-ner Unterricht auch nicht. Entscheidend ist: Der Lehrer, dieLehrerin. Das sagt John Hattie. Noch nie von ihm gehçrt? Daswird sich �ndern.“ – so zu lesen in ZEIT-ONLINE (http://www.zeit.de/2013/02/Paedagogik-John-Hattie-Visible-Lear-ning; Zugriff 28.03.2013). Doch sagt Hattie das wirklich? Wervon denjenigen, die nun im scheinbaren Fahrwasser des neu-seel�ndischen Bildungsforschers eine R�ckkehr zum Frontal-unterricht fordern, hat die so viel zitierte Metastudie wirklichstudiert? Meine persçnliche Einsch�tzung ist, dass es dasLesen dieses Buches wert ist! Nicht nur, weil das eine oderandere Urteil danach womçglich differenzierter ausf�llt, son-dern weil es wirklich zum Nachdenken �ber eigene �berzeu-gungen und Ans�tze anregt. Aber eben nur, wenn man nichtausschließlich auf die scheinbar so einsichtigen Zeigeraus-schl�ge vertraut!

Betrachtet man n�mlich allein die �ber Studien hinweg be-rechneten Effektst�rken1 (analog zu der alleinigen Betrach-tung der „PISA-Punkte“), �bersieht man womçglich Bedin-gungen und Differenzierungen, die man aus Sicht eines gutenUnterrichts nicht �bersehen sollte, bspw. die Frage nach denjeweiligen Bildungs- oder Lernzielen. Hatties Maß ist „achi-evement“, also Lernerfolg – was jedoch genau darunter zuverstehen ist, wird erst klar, wenn man die einzelnen Variablengenauer betrachtet. Daher ist es eigentlich verwunderlich, dassHattie selbst etwa konstruktivistische Lernans�tze, die in allenFachdidaktiken so pr�sent sind, fast pauschal kritisch bewertet(Kap. 3), obwohl er an verschiedenen Stellen Belege f�r einenotwendige Differenzierung liefert. Die Ausf�hrungen speziellzum Science-Unterricht (S. 147/148) weisen etwa eine Reihevon Befunden aus, die Ans�tze des forschenden Lernens be-f�rworten, allerdings abh�ngig von der Art des Einsatzes ex-perimenteller Untersuchungen und von den jeweiligen Lern-zielen. Experimente fçrdern manuelle F�higkeiten, nicht perse auch naturwissenschaftliches Denken. Werden sie im Sinneeiner Untersuchung und Kl�rung von Fragen sowie zum Anre-gen von Denkprozessen eingesetzt, f�hren sie erwartungsge-m�ß zu besseren Lernergebnissen, als wenn sie nur zur Veran-schaulichung von Gelerntem verwendet werden. Eine zitierte

Studie von Schroeder et al. (S. 148) berichtet �ber positive Ef-fekte f�r die Verkn�pfung von Inhalten mit Erfahrungen undInteressen der Lernenden (Effektst�rke d=1.48) und auch f�rforschendes Lernen (inquiry strategies, d=0.65). Spricht diesgegen konstruktivistische �berzeugungen? Hattie zitiertweiter die Botschaft dieser Studie wie folgt: “They concludedthat, if students are placed in an environment in which they canactively connect the instruction to their interests and present un-derstandings and have an opportunity to experience collaborati-ve scientific inquiry under the guidance of the teacher, achieve-ment will be accelerated.” (S. 148) – �hnliches liest man in ver-schiedenen fachdidaktischen Ans�tzen, z.B. zum forschend-entwickelnden Lernen, zu Chemie im Kontext und anderenmehr. In weiteren ber�cksichtigten Studien sind allerdings dieberichteten Effekte des forschenden Lernens in der Tat klei-ner (z.B. d=0.28, S. 149), womit m.E. nur deutlich wird, dassdas Ausmaß positiver Wirkungen selbstverst�ndlich vom Zu-sammenspiel vieler Faktoren sowie von den jeweils angestreb-ten und untersuchten Lernzielen (z.B. Prozessverst�ndnisoder Fachwissen, S. 209, Konzeptwissen oder Konzeptanwen-dung und Prinzipien, S. 211, hier bezogen auf problembasier-tes Lernen) abh�ngt und jegliche Form der „Schwarz-Weiß-Malerei“ per se wenig sinnvoll ist…

Einige auftretende Missverst�ndnisse hat Hattie wohl schongeahnt, etwa die Gleichsetzung von „direct instruction“ mitFrontalunterricht. Er schreibt dazu auf S. 25: “This explanati-on of visible teaching relates to teachers as activators, as delibe-rate change agents, and as directors of learning. This does notmean that they are didactic2, spend 80 percent or more of theday talking, and aim to get through the curriculum or lessoncome what may. Effective teaching is not drilling and trilling tothe less than willing.”Auch die Bedeutung von Feedback stellt Hattie ausf�hrlichdar: Gemeint ist nicht nur die R�ckmeldung der Lehrkraft andie Lernenden, sondern auch das Feedback, dass die Lehrkraftdurch die Reaktionen, R�ckmeldungen und Lernerfolge derLernenden erh�lt und zur Verbesserung des weiteren Unter-richts nutzen sollte (S. 173 ff).

Erwartete Reaktionen, die wiederum – wie bei PISA – nurdie Aussagen heranziehen werden, die den eigenen �berzeu-gungen und Argumenten gerade entsprechen, kçnnten die fol-genden sein: W�hrend wohl alle, die die Kosten eines Bil-dungssystems im Blick haben, sicher die Befunde zur Klassen-grçße gern heranziehen werden, wird man die Bedeutung ver-schiedener oder identischer Schulformen wohl je nach Partei-zugehçrigkeit unterschiedlich interpretieren. �berzeugte

Ilka Parchmann ist Di-rektorin der AbteilungChemiedidaktik am IPN– Leibniz-Institut f�r dieP�dagogik der Natur-wissenschaften und Ma-thematik an der Univer-sit�t zu Kiel und verant-wortliche Redakteurindieser Zeitschrift.

1 Die „Effektst�rke“ ist ein statistisches Maß f�r die Einsch�tzung derBedeutsamkeit einer Maßnahme. Gerade im Zusammenspiel ver-schiedener Einflussfaktoren findet man f�r eine einzelne Variableoftmals kleine bis mittlere Effektst�rken. Von bedeutsamen Effektenspricht man nach Hattie ab einem Wert ,Cohens d‘ von .4.

2 „didactic“ hat im englischen Sprachgebrauch eine ganz andere Be-deutung als „didaktisch“ im deutschen, man versteht darunter ehereine kleinschrittige Abfolge von Stundenverl�ufen, die die Interakti-on von Lehrenden und Lernenden im Prinzip außer Acht l�sst.

CHEMKON 2013, 20, Nr. 2, 57 – 58 � 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 57

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Anh�nger eines fachlich instruierenden Unterrichts werdendie Botschaft der direkten Instruktion womçglich aufgreifen,ohne deren Bedeutung zu hinterfragen. Gespannt bin ich aufdie (womçglich ausbleibende?) Diskussion eines anderen Be-funds: die nach Hatties Analyse geringe Bedeutsamkeit desFachwissens der Lehrkr�fte (S. 114)! Dieser steht nicht nur imGegensatz zu den Ergebnissen der COACTIV-Studie [2], son-dern ist auch vor dem Hintergrund anderer Befunde der Me-tastudien schwer zu interpretieren: Wie kçnnen Instruktion,Strukturierung und Lernunterst�tzung in einem Fach gelingen,wenn das erworbene Fachwissen der Lehrpersonen scheinbarkeinen großen Effekt hat? Hier ist sicher weitere Forschungnotwendig, denn Hattie verweist selbst vçllig zu Recht darauf,dass dieser verwunderliche Befund vorrangig der Tatsache ge-schuldet ist, dass es bisher kaum Studien in diesem Feld gibt(S. 113).

Sagt Hattie nun wirklich etwas Neues? Engagierte Leserin-nen und Leser p�dagogischer Werke von Meyer bis Helmkeoder fachdidaktischer Studien und Ans�tze werden �ber dieBedeutung des Lehrers oder der Lehrerin, einer guten In-struktionsqualit�t von Unterricht oder einer guten Lernatmo-sph�re auch schon fr�her etwas gehçrt haben. Auch die Krite-rien zu „Quality of teaching“ (S. 115) sind hoffentlich jederLehrkraft nach einem Fachdidaktik- und P�dagogikstudiumbekannt. Neu ist, dass dank der enormen Arbeit von Hattieeinzelne Faktoren nun auch vergleichend forschungsbasiertbetrachtet werden kçnnen – aber eben auf Basis der differen-ziert dargestellten Befunde, nicht nur der pauschalen Zahlen-werte! Dass diese Befunde als Ergebnisse einer Metastudievon Metastudien nichts �ber individuelle Gegebenheiten und

besondere Lernsituationen aussagen kçnnen, schreibt Hattieselbst in seiner Einleitung. Deswegen muss im Einzelfall ebendoch wieder genau gefragt werden, welche Schl�sse man ausdiesem beeindruckenden Werk ziehen darf und welche nicht:Es kommt hoffentlich niemand auf die Idee zu behaupten,dass die Klassengrçße f�r einen Experimentalunterricht imChemieraum keine Rolle spiele, bloß weil Hattie diese Varia-ble auf Basis seiner Daten nicht als bedeutsam ausgewiesenhat!

Eine Botschaft kann und sollte man von Hattie aber sicheruneingeschr�nkt �bernehmen: Es ist sinnvoll, genau hinzu-schauen und Wirkungen von Ans�tzen zu untersuchen (Ef-fektst�rke formativer Programmevaluationen von d=0.9,S. 181), anstatt nur den eigenen oder vermittelten �berzeu-gungen zu vertrauen. Hier ist Fachdidaktik gefragt!

Literatur

[1] Hattie, J. (2009). Visible Learning. London, New York, Routledge.Und bald gibt es das Buch auch in deutscher Sprache: Hattie, J.,Beywl, W. & Zierer, K. (2013). Lernen sichtbar machen. �berarbei-tete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“. Baltmanns-weiler, Schneider Hohengehren.

[2] Krauss, S., Blum, W., Brunner, M., Neubrand, M., Baumert, J.,Kunter, M. et al. (2011). Konzeptualisierung und Testkonstruktionzum fachbezogenen Professionswissen von Mathematiklehrkr�ften.In Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss S.,Neubrand, M. (Hrsg.), Professionelle Kompetenz von Lehrkr�ften.Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. M�nster, Wax-mann, S. 135–161.

58 � 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim CHEMKON 2013, 20, Nr. 2, 57 – 58

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