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Charaktere im Krieg 37
Niemandsland H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel
Einkommen: Je nach Rang.
Kontakte und Verbindungen: Verschiedene innerhalb
des Heeres.
Fertigkeiten: Faustfeuerwaffen, Fußtritt, Gewehr, Ka-
valleriesäbel, Kavallerielanze, Kriegshandwerk, Reiten
Leitfertigkeit: Reiten
Besonderheiten: Soldaten der Kavallerie haben eine
besonderes Verhältnis zu Tieren (im Besonderen zu Pfer-
den) und erhalten daher leichtere Proben, wenn sie diese
beispielsweise beruhigen wollen.
PanzertruppenTanks werden Ersten Weltkrieg erst sehr spät eingesetzt.
Obwohl es bereits zuvor Pläne gab, gepanzerte und be-
waffnete Fahrzeuge zu entwickeln, geht der erste Tank, der
englische „Mark I“, erst 1916 in Serienproduktion. Frank-
reich und Deutschland folgen bald mit eigenen Modellen.
Hierbei wird zwischen Kanonenpanzern, wie dem „Mark I“
mit seinen zwei 57 mm Kanonen, und dem MG-Panzer un-
terschieden. Ein Tank benötigt je nach Modell mindestens
einen Fahrer und einen Kanonier. Im Normalfall kommen
allerdings noch ein Kommandant, ein Soldat zum Nachla-
den der Geschütze und mehrere MG-Schützen hinzu.
Einkommen: Je nach Rang.
Kontakte und Verbindungen: Verschiedene innerhalb
des Heeres.
Fertigkeiten: Artillerie (Panzerkanone), Faustfeuer-
waffen, Kriegshandwerk, Maschinengewehr, Mecha-
nische Reparaturen, Orientierung, Schweres Gerät (Pan-
zer)
Leitfertigkeit: Artillerie (Panzerkanone) oder Schwe-
res Gerät (Panzer)
Besonderheiten: -
MarinesoldatenAuch wenn sich ein Großteil der Schlachten des Ersten
Weltkrieges auf dem Land abspielt, gibt es auch Ausei-
nandersetzungen auf hoher See. Hierbei müssen Mari-
nesoldaten an Bord der Schlachtschiffe und U-Boote die
verschiedensten Aufgaben übernehmen. Von der Bedie-
nung der Bordgeschütze über die Navigation bis hin zu
Wartung der Maschinen wird alles von tüchtigen Solda-
ten geregelt.
Einkommen: Je nach Rang.
Kontakte und Verbindungen: Verschiedene innerhalb
der Marine.
Fertigkeiten: Artillerie (Schiffsartillerie oder Torpe-
do), Ausweichen, Faustfeuerwaffe, Faustschlag, Gewehr,
Klettern, Kopfstoß, Kriegshandwerk, Messer, Orientie-
rung, Schweres Gerät (Schiff oder U-Boot), Schwimmen,
Springen, Werfen, möglicherweise auch technische oder
organisatorische Fertigkeiten
Leitfertigkeit: Schweres Gerät (Schiff oder U-Boot)
Besonderheiten: -
PilotenNeben dem Krieg auf Land und See gibt es im Ersten Welt-
krieg auch das erste Mal einen richtigen Luftkrieg. Da Zep-
peline durch ihre große Angriffsfl äche und Schwerfälligkeit
nicht für die Front geeignet sind, wird die Flugzeugindu-
strie stark angekurbelt. Schnell gibt es neben Flugzeugen
zur Aufklärung die ersten Jagdfl ieger und Bomber. Vor
allem die Piloten der einsitzigen Jagdfl ugzeuge erlangen
durch waghalsige Manöver Ruhm in den eigenen Reihen.
Einkommen: Je nach Rang.
Kontakte und Verbindungen: Hauptsächlich ande-
re Piloten und Mechaniker. Piloten in höheren Rängen
konnten zusätzlich Kontakte zur Heeresleitung und Flug-
zeugherstellern haben.
Fertigkeiten: Ansehen, Horchen, Maschinengewehr,
Mechanische Reparaturen, Orientierung, Physik, Pilot
(Zeppelin oder Flugzeug), Verborgenes erkennen
Sam
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H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel Niemandsland
38 Charaktere im Krieg
Leitfertigkeit: Pilot (Zeppelin oder Flugzeug)
Besonderheiten: Der Grundwert in Orientierung ent-
spricht der Hälfte der Fertigkeit Pilot. Außerdem: Verbor-
genes erkennen +20
SpioneSpione sind Agenten, die im Auftrag der Nachrichten-
dienste militärisch wichtige Informationen des Feindes
beschaffen sollen. Auch wenn der Einsatz von Agenten
während des Ersten Weltkrieges nur wenige Erfolge er-
zielt, gibt es doch eine ganze Zahl von Spionen, die rekru-
tiert und in feindlichen und neutralen Ländern eingesetzt
werden. Hierbei ist es auch üblich,
dass Frauen als Agenten eingesetzt
wurden.
Einkommen: Je nach Ergebnis-
sen der Spionagetätigkeit bzw. den
militärisch wichtigen Kontakten des
Spions.
Kontakte und Verbindungen: Oft
verfügen Spione über Verbindungs-
männer, denen sie Bericht erstatten
müssen. Außerdem sollte jeder Spi-
on über ein paar Verstecke verfügen,
in denen er geheime Unterlagen,
eine Pistole oder einen gefälschten
Pass deponieren konnte.
Fertigkeiten: Faustfeuerwaffe,
Feilschen, Fremdsprachen, Horchen,
Messer, Schleichen, Tarnen, Überre-
den, Überzeugen, Verkleiden, Verbergen, Verborgenes
erkennen
Leitfertigkeit: Tarnen oder Überreden
Besonderheiten: Spione sind in der Regel immun gegen
Überredungs- und Überzeugungsversuche und sollten in
ihrer Reaktion nicht so schnell einschätzbar sein (Malus,
wenn Psychologie gegen sie angewendet wird). Zusätzlich
hat jeder Spion Papiere für eine zweite Identität dabei
oder in einem passenden Versteck hinterlegt.
Der Rang des Soldaten
Neben dem Truppentyp, dem ein Soldat angehört, hat
er auch noch einen Rang, der seine Position in der Be-
fehlshierarchie des Heeres verdeutlicht. Dies kann auch
am Rollenspieltisch sehr interessant sein, da rangniedere
Spielercharaktere Befehlen der ranghöheren Folge lei-
sten müssen. Allerdings gibt es oft Spieler, die mit dieser
Situation nicht umgehen können und ihre Befehlsgewalt
ausnutzen bzw. sich von anderen Spielern unterdrückt
fühlen. Es ist dann die Aufgabe des Spielleiters, ein gutes
Mittelmaß herbeizuführen, um eine spannende Kampa-
gne in der Epoche von Niemandsland zu spielen und dabei
keinerlei Frust am Spieltisch aufkommen zu lassen. Als
Notlösung kann man auch einfach allen Charakteren den
gleichen Rang geben, wodurch allerdings einige interes-
sante Begebenheiten am Spieltisch wegfallen könnten.
Um die Stellung der unterschiedlichen Ränge noch ein-
mal zu verdeutlichen, wurden jedem Rang zusätzliche
Besonderheiten bei der Charaktergenerierung (auf der
nachfolgenden Tabelle) gegeben, die aber natürlich auch
weggelassen werden können. Die Besonderheiten sind hier-
bei kumulativ zu verstehen. Das heißt, dass beispielsweise
ein Unteroffi zier die Besonderheiten eines Gefreiten, Ober-
gefreiten und Unteroffi zier erhält. Ein Hauptmann erhält
somit alle Besonderheiten. Zusätzlich hängt das Einkom-
men eines Soldaten von dessen militärischem Rang ab.
Der Rang der Spielercharaktere kann frei oder durch
einen Würfelwurf bestimmt werden. Für Soldaten der
Marine und Kampffl ieger wird auf die Dienstrangliste (si-
ehe Seite 72) verwiesen.
RangübersichtRang % Besonderheiten Einkommen
Hauptmann 01-03 Ansehen +5% Oberschicht
Oberleutnant 04-07 Ansehen +5% Oberschicht
Leutnant 08-11 Ansehen+5% Obere Mittelschicht
Feldwebelleutnant 12-16 Ansehen+5% Obere Mittelschicht
Offi ziersstellvertreter 17-22 Überzeugen+3% Obere Mittelschicht
Feldwebel 23-29 Überzeugen+3% Mittelschicht
Vizefeldwebel 30-37 Überzeugen+2% Mittelschicht
Fähnrich 38-47 Leitfertigkeit +3% Mittelschicht
Sergeant 48-57 Leitfertigkeit +2% Untere Mittelschicht
Unteroffi zier 58-69 Leitfertigkeit +2% Untere Mittelschicht
Obergefreiter 60-75 Leitfertigkeit +2% Arbeiterschicht
Gefreiter 76-00 - Arbeiterschicht
Sam
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Charaktere im Krieg 39
Niemandsland H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel
Frauen im Ersten Weltkrieg
Weibliche Charaktere stellen auf den ersten Blick eine
Schwierigkeit dar, wenn man in der Epoche von Niemands-
land nach einem geschichtlich korrekten Hintergrund
spielen will. Das Heer bestand nun mal aus Männern, und
Frauen hatten Anfang des letzten Jahrhunderts nichts
an einer Waffe zu suchen. Allerdings täuscht dieser erste
Blick; es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, auch weib-
liche Charaktere glaubhaft in eine Gruppe zu integrieren.
Die erste Option stellen hierbei die Agentinnen dar.
Ein möglicher Einstieg in ein Abenteuer wäre beispiels-
weise die Befreiung einer Agentin aus feindlicher Gefan-
genschaft. Die Spionin schließt sich daraufhin der Solda-
tengruppe an und versucht mit ihr, durch die feindlichen
Linien zu brechen, um die geheimen Informationen, die
sie über die neuen Panzermodelle des Gegners erhalten
hat, an die Heeresleitung zu übermitteln.
Eine weitere Möglichkeit stellt eine Krankenpfl egerin
dar, die von einem Trupp aus dem zerbombten Lazarett
gerettet wird und zusammen mit den Soldaten einen Weg
zurück zu den eigenen Truppen sucht. Oder die Bäuerin,
die verwundeten Soldaten Unterschlupf gewehrt und mit
diesen zusammen ihren Hof verteidigt. Die letzten beiden
Optionen zeigen Einstiegswege, bei denen die Frauen
unfreiwillig mit den Schrecken des Krieges konfrontiert
wurden. Es gab aber auch bereits im Ersten Weltkrieg
Frauen, die den Krieg förmlich gesucht haben. Wie Fräu-
lein Marie v. Fery-Bognar, die im österreichisch-unga-
rischen Heer als Kriegsfreiwillige diente und aufgrund
ihrer Leistungen sogar zum Korporal befördert wurde.
Oder Marfa Malko, eine russische Infanteristin, die Sei-
te an Seite mit ihrem Mann kämpfte. Auch wenn diese
Frauen die Ausnahme waren, kann man sie für die Spie-
lercharaktere als Vorbild nehmen und eine Kämpferin
entwickeln, die sich nahtlos in die Reihen dieser mutigen
Frauen einreiht, die ihrer Zeit weit voraus waren.
Charaktere an der Heimatfront
Das Hauptaugenmerk von Niemandsland liegt auf den ak-
tiv kämpfenden Kriegsteilnehmern, doch darf man nicht
vergessen, dass auch das Leben der in
der Heimat verbliebenen Menschen
durch den Krieg auf den Kopf ge-
stellt wird und auch die Heimatfront
Schauplatz cthuloider Schrecken
sein kann.
Je nachdem, aus welchem Grun-
de sich ein Charakter während des
Krieges in der Heimat aufhält, kom-
men entweder die ganz normalen
Regeln für die Charaktererschaf-
fung zur Anwendung, oder aber
die speziellen Niemandsland-Regeln.
Letzteres ist natürlich dann der
Fall, wenn der Charakter als Ange-
höriger des Militärs lediglich in der
Heimat stationiert ist, oder wenn er
aufgrund von Verletzungen bereits
aus dem Militärdienst ausgeschie-
den ist.
Für alle männlichen Charaktere an der Heimatfront
gilt es grundsätzlich, eine zufrieden stellende Antwort
auf die Frage zu fi nden: „Warum bist du hier — und nicht
an der Front?“
Dies kann sich beispielsweise bereits aus der o.g. mi-
litärischen Stationierung in der Heimat oder dem nicht-
militärischen Beruf (z.B. Polizist) ergeben. Möglich wäre
auch ein unterdurchschnittlicher Attributswert, beispiels-
weise durch eine Kriegsverletzung. Weibliche Charakte-
re bedürfen natürlich keiner besonderen Erklärung. Bei
ihnen muss man dafür mehr die Fantasie spielen lassen,
wenn sie Frontabenteuer erleben sollen.
Subjektives EmpfindenDie folgenden Beschreibungen sollen als Ergänzung zu
dem Kapitel zur Heimatfront (siehe Seite 39ff.) einen
Einblick verschaffen, wie der Krieg in der Heimat wahr-
genommen bzw. erlebt wird. Es ist bewusst ein subjek-
tiv gehaltener Einblick, der zumindest grob den durch-
schnittlichen Wissensstand und die allgemeine Meinung
widerspiegelt. Ein Charakter muss diese Auffassungen
nicht teilen, aber wenn es keine besonderen Gründe für
eine andere Meinung gibt (z.B. eine extreme politische
Einstellung), ist es wahrscheinlich, dass er zumindest an-
nähernd so denken würde.
Das Werk Sperrfeuer um Deutschland von Werner Beu-
melburg gibt hierzu einen sehr anschaulichen Einblick
und wird in den folgenden Meinungsdarstellungen weit-
gehend zitiert.
Die Versorgung bei KriegsausbruchDeutschland hatte sich seit 1870 zu einer gewaltigen
industriellen Werkstatt entwickelt, in der für den Be-
darf in aller Welt gearbeitet wurde. Es führte vor dem
Kriege jährlich ungeheure Mengen an Rohstoffen und
Lebensmitteln ein. 1913 erreichte die Jahreseinfuhr den
Wert von fast zwölf Milliarden Goldmark. Auf fast jedem
Wirtschaftsgebiet war man auf die Einfuhr angewiesen.
Selbst Kohle und Eisen reichten nicht mehr aus, die Mil-
lionen Werkstätten zu versorgen. Seit langem deckte die
deutsche Landwirtschaft nicht mehr den immensen Be-
darf. Schon kam ein Viertel der Lebensmittel aus dem
Ausland herein.
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H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel Niemandsland
40 Charaktere im Krieg
Mata Hari — Spionin, femme fatale und Kurtisane
ST 11 KO 9 GR 11 IN 14 MA 11
GE 14 ER 15 BI 12 gS 55
Trefferpunkte: 10
Schadensbonus: -
Angriff:
- Faustschlag 50%
Schaden 1W3
Fertigkeiten: Ansehen 35%, Fremdsprache (Asiatische Sprachen) 20%, Fremdsprache
(Deutsch) 40%, Fremdsprache (Französisch) 55%, Kunst (Tanzen) 70%, Männer um den
Finger wickeln 80%, Muttersprache (Niederländisch) 60%, Schleichen 60%, Schlosserar-
beiten 47%, Tarnen 45%, Überreden 65%, Überzeugen 35%, Verbergen 68%, Verbor-
genes erkennen 55%, Verführen 50%
Geboren: 7.8.1876 in Leeuwarden (Niederlande)
Gestorben: 15.10.1917 in Vincennes (Frankreich)
Nationalität: niederländisch
Ausbildung: Tänzerin
Richtung: Tänzerin und angebliche Doppelagentin
Werdegang vor dem Krieg: Mata Hari ist der Künstlername der Tänzerin Margaretha Geertruida Zelle, die am
7. August 1876 im niederländischen Leeuwarden zur Welt kommt. Er steht noch immer für eine der schil-
lerndsten und geheimnisvollsten Figuren, die ein Krieg anzieht — besonders wenn es ein weltumspannender
ist. Der Name steht aber auch für die Tragik einer isolierten Einzelperson, der die Dinge über den Kopf wach-
sen. Denn manchmal stimmt der Satz: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“
Ihr Vater, ein großspuriger Hutmacher, schickt sie auf eine teure Mädchenschule, in der sie eine unbeschwerte
Kindheit genießt und mit ihrer blühenden Phantasie hervorsticht. Als das Geschäft ihres Vaters bankrott geht und
kurz darauf die Mutter stirbt, wird Gretje, wie sie in der Familie genannt wird, im Alter von 13 Jahren auf ein
Pensionat für angehende Kindergärtnerinnen geschickt. Gerüchte über ein Verhältnis der mittlerweile 17-Jähri-
gen zu einem Lehrer erzwingen den Abbruch der Ausbildung, und sie wählt die einzige Alternative: Heirat. Durch
eine Zeitungsannonce in Nieuws van den Dag lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen, den etwa 20 Jahre
älteren niederländischen Kolonialoffi zier (mit britischen Wurzeln) Campbell Rudolph Mac Leod. Einige Jahre lebt
sie mit ihrem Mann und den zwischenzeitlich geborenen zwei Kindern auf Java und Sumatra. Doch schon bald
bereut sie die schnelle Heirat — ihr Mann beschimpft, verachtet und schlägt sie — zudem vergiftet ein Feind ihres
Mannes auf mysteriöse Weise die Kinder, wobei Sohn Norman stirbt, Tochter Non schwer verletzt überlebt. Mata
Hari fl ieht aus der Hölle dieser Ehe 1903 nach Paris und reicht 1906 die Scheidung ein. Aufgrund von Nacktauf-
nahmen, die sie für einen Bildhauer anfertigen ließ, wird sie schuldig geschieden. Das Sorgerecht für die Tochter
erhält ihr Mann, und sie wird ihr Kind nicht wieder sehen — ein Umstand, der ihr zeitlebens Gram bereitet.
Es gibt zwar einen militärischen Mobilmachungsplan,
einen wirtschaftlichen jedoch nicht. Als der Krieg aus-
bricht, ist weder der einzelne Betrieb, noch die Gesamt-
heit der Betriebe, noch der Staat als Wirtschaftsfaktor
genügend vorbereitet.
Mit einem einzigen Schlag geht der größte Teil der wirt-
schaftlichen Auslandswerte verloren, die Schiffe, die Wa-
ren, die Betriebe, die Firmen, die Kunden. Es gibt fast keine
Einfuhr mehr, keine Rohstoffe, die man verarbeiten, keine
Fertigfabrikate, die man kaufen kann. Der lebendige Strom
des Handels versiegt. Die Männer, in deren Hand bisher An-
ordnung und Ausführung lag, strömen zu den Waffen. Die
Werkstätten der Wirtschaft leeren sich in wenigen Tagen.
Die vorhandenen Waren fi nden keine Abnehmer. Neue
Aufträge gibt es nicht mehr in genügendem Umfange. Der
Arbeitsmarkt zerrüttet binnen einer Woche vollständig.
Was die Armee an Material mitführt und was in den
Magazinen aufgespeichert liegt, würde für einige Wochen
Krieg ausreichen. Es gibt auch in den leitenden Stellen
Optimisten, die nur mit einer so kurzen Frist rechnen.
Das Volk ist fest davon überzeugt, dass der Krieg bis spä-
testens Weihnachten 1914 beendigt sein wird.
Umstellung auf KriegsproduktionMit der Fortdauer des Krieges kommt das Problem der Um-
stellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion ganz von selbst
und wird zu einer Lawine von gigantischen Ausmaßen.
Um sich einen Überblick über die vorhandenen Bestän-
de an Rohstoffen zu verschaffen, gründet das preußische
Kriegsministerium eine „Kriegsrohstoffabteilung“. Deren
Erkenntnis lautet, dass die Rohstoffe bestenfalls für einen
Krieg von einjähriger Dauer ausreichen werden. Eine zu-
nächst erfreuliche und beruhigende Feststellung, da nie-
mand denkt, dass ein Krieg solcher Ausdehnung länger
andauern könnte.
Es stellt sich heraus, dass man die vorhandenen Roh-
stoffe durch Beschlagnahmung sicherstellen muss. Dann
müssen die beschlagnahmten Mengen durch halbstaat-
liche Gesellschaften auf die vorhandenen Produktions-
stätten verteilt werden. Es entstehen die „Kriegsgesell-
schaften“. Immer mehr Wirtschaftszweige werden von
dieser Entwicklung erfasst.
Je knapper die Bestände werden, desto höher steigen
die Preise. Auch hier muss der Staat eingreifen, indem
er Höchstpreise bestimmt. Beschränken sich die Höchst-
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Charaktere im Krieg 41
Niemandsland H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel
preise zunächst auf die Stoffe, die unmittelbar von der
Kriegsindustrie benötigt werden, greifen sie nach und
nach auf den übrigen industriellen Bedarf, den täglichen
Bedarf der Bevölkerung und die Lebensmittel über.
Ist die Bestimmung von Höchstpreisen eigentlich nur
eine politische Maßnahme, die den privaten Verkäufern
die Preise vorschreibt, stellt sich bald der Zwang ein, ei-
nen Schritt weiter zu gehen. Es gelangt nämlich immer
weniger Ware auf den Markt, je knapper der Vorrat wird
und je mehr die Verkäufer, die in den festgesetzten Prei-
sen keinen Anreiz mehr fi nden, die vorhandenen Bestän-
de zurückhalten. Die Regierung geht zu einem System
der Zwangswirtschaft über, das den privaten Verkäufern
die Verfügung über die Ware entzieht und sie dem Staat
überträgt. Aus der Preisfrage entsteht die Mengenfrage
und wächst sich zu immer bedrohlicherer Gestalt aus.
Gegen Ende des Krieges gibt es überhaupt nichts mehr zu
kaufen, was nicht der Zwangswirtschaft unterliegt.
Kriegsproduktion und ErsatzWer soll Kriegsmaterial produzieren? Die Möglichkeiten
der stattlichen und militärischen Wirtschaftsbetriebe sind
schnell ausgeschöpft. Die Privatwirtschaft muss heran.
Diese Umstellung nimmt zu, je länger der Krieg dauert,
je mehr der Zivilbedarf zugunsten des militärischen ein-
geschränkt wird. Schließlich gibt es kaum noch einen Be-
trieb, der nicht unmittelbar oder mittelbar für den Kriegs-
bedarf arbeitet und staatliche Aufträge ausführt.
Vom Frühjahr 1915 an erfährt die wirtschaftliche Kriegs-
führung eine neue Erweiterung. Will man die wachsenden
Bedürfnisse der Armee für längere Zeit sicherstellen, muss
der Bedarf der Heimat erheblich gedrosselt werden. Die
große Leidenszeit hebt an und wächst zu einer sittlichen und
materiellen Forderung von weltgeschichtlicher Größe an.
Es beginnt harmlos mit dem Einsammeln alter ent-
behrlicher Gegenstände des Gebrauchs. Bald kommen
die kupfernen Kessel an die Reihe, die Türklinken, die
Beschläge der Eisenbahnwagen, die Firmenschilder.
Dann geht man aufs Ganze und nimmt die Kirchenglo-
cken, um Granaten daraus zu gießen. Es kommt die Jagd
auf Gummi. Keine Fahrraddecke, kein Automobilreifen
bleibt verschont. Und so geht es immer weiter.
Dann kommt die Ersatzfabrikation für unentbehr-
liche Gebrauchsgegenstände. Es gibt keine Schuhsohlen
In den Jahren 1903 bis 1905 entsteht in dem nach ausschweifenden Vergnügungen lechzenden Paris das Phäno-
men Mata Hari. Die Geschichte und der freizügige Tanz — am Ende einer Vorstellung entblößt sich Mata Hari bis
auf das kunstvoll gestickte Oberteil —
sind Sensation und Skandal zugleich für das reiche und gelangweilte Publikum. Phantasievoll garniert sie das
fi ktive Kunstwerk Mata Hari — auf malaiisch Auge der Morgenröte oder Auge des Tages — und entwirft ihren
exotischen Tanz, ihr Kostüm und die Legende. In einem Zeitungsbericht beschreibt sie ihre fi ngierte Jugend: „In
Malabar, an der Küste Südindiens, kam ich als Tochter einer Brahmanenfamilie zur Welt. Meine Mutter war eine berühmte
und gefeierte Bayadere im Tempel Kanda Swany; mit vierzehn, als sie mich gebar, starb sie. Als ihre Leiche auf dem Scheiter-
haufen verbrannt war, zogen mich die Priester auf und gaben mir den Namen Mata Hari. Schon als kleines Kind wurde ich
in der unterirdischen Grotte der Pagode Shiwas in die heiligen Tänze des Gottes eingeweiht.“ Mata Haris Aufstieg in die
Glitzerwelt des Ruhms und Reichtums erscheint wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Nur wenige Jahre
später stürzt dieser jedoch wie ein Alptraum in sich zusammen. Die Stereotype einer orientalischen Tänzerin wird
immer häufi ger — auch freizügiger — kopiert, zum Beispiel von den Tänzerinnen Colette im Moulin Rouge oder
Sulamith Raha in Berlin, zudem lebt Mata Hari ständig über ihre Verhältnisse. Schließlich tanzt sie auf einem
riesigen Schuldenberg und trifft eine folgenschwere Entscheidung — jedenfalls wird dies vermutet, denn für die
ihr vorgeworfene Spionagetätigkeit gibt es nur wenige schriftliche Belege.
Während des Krieges: Im Kriegsjahr 1914 lässt sie sich für die Deutschen als Spionin anwerben — Deckname:
H21. Ihre Aufgabe ist es, mittels ihrer engen — amourösen — Verbindungen, den französischen Offi zieren mög-
lichst viele Geheimnisse zu entlocken. Kurze Zeit später arbeitet sie gleichzeitig für den französischen Geheim-
dienst und begibt sich in das gefahrvolle Spiel einer Doppelagentin. 1917 schnappt schließlich die Falle zu: Ein
französischer Major übermittelt ihr die Namen von sechs belgischen Agenten, welche sie aufsuchen soll — fünf
von ihnen stehen im Verdacht, irreführende Meldungen zu liefern. Als wenig später der sechste Agent von den
Deutschen erschossen wird, sieht man es als erwiesen an, dass Mata Hari die Informationen verraten hat. Am
13. Februar 1917 wird sie von der französischen Spionageabwehr festgenommen und fünf Monate in einer Ein-
zelzelle unter erbärmlichen Umständen festgesetzt. In der Verhandlung will oder kann sich keiner der einfl uss-
reichen Gönner und Bewunderer für sie einsetzen, so dass sie verzweifelt schreibt: „Meine ganze Welt stürzt ein,
jeder kehrt mir den Rücken zu.“
Am 15. Oktober 1917, 6:15 Uhr morgens wird Mata Hari im Alter von 41 Jahren in den Befestigungsanlagen
von Schloss Vincennes nahe Paris von einem zwölfköpfi gen Exekutionskommando — sie verweigerte die ob-
ligatorische Augenbinde — erschossen. Da niemand auf die Leiche Anspruch erhebt und niemand die Beerdi-
gungskosten übernimmt, wird der Körper der medizinischen Fakultät der Sorbonne zur Verfügung gestellt. Der
Seziertisch wird zugleich das Grab der berühmten Tänzerin.
Besonderes: Direkt nach Mata Haris Tod kommt das Gerücht auf, sie habe das Erschießungskommando beste-
chen lassen und sei mit einem jungen französischen Offi zier aus dem Gefängnis gefl üchtet.
Angeblich wird in der Sorbonne ihr Kopf präpariert und im Pariser Museum für Anatomie ausgestellt, aus dem
er in den 1950er Jahren unter ungeklärten Umständen verschwindet.Sam
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H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel Niemandsland
42 Charaktere im Krieg
mehr aus Leder. Sie werden aus Pappdeckeln gemacht.
Die Kleidung macht eine sonderbare Wandlung durch.
Baumwolle und Wolle verschwinden aus dem Zivilbe-
stand. Brennnessel, Bast, Hopfen und Ginster treten für
sie ein.
Das Papier wird zum Hauptrohstoff — statt Eisen, statt
Leder, statt Tuch. Schließlich hat der Zivilmensch nicht
mehr viel am Leibe, was für die Front hätte gebraucht
werden können. Auch hier entsteht eine Organisation,
die nicht nur den Ersatz befi ehlt, sondern auch die Not-
wendigkeit des Ersatzes von einer genauen Prüfung ab-
hängig macht. Das Bezugsscheinwesen, so lächerlich und
grotesk es sich im Einzelnen auswirkt, trägt ebenso zum
Durchhalten bei wie die Granatenfabrikation.
Das alles genügt noch immer nicht. Diesmal helfen die
deutschen Chemiker. Es grenzt an ein Wunder, welche
Veränderungen ihr Geist und ihr Fleiß erzwingen. Schon
1915 würde Deutschland das Pulver ausgehen, wäre es
nicht gelungen, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen und
sich damit vom ausländischen Salpeter frei zu machen.
Man lernt, Gummi auf chemischem Wege herzustellen.
Man gewinnt Spiritus aus den Abfällen der Zellstoffi ndu-
strie, Öl aus Schiefer, Glyzerin aus Zucker, Schwefel aus
Gips. Wie moderne Alchemisten arbeiten die Chemiker
in ihren Laboratorien.
Vervielfachung der KriegsproduktionDann verlangen Hindenburg und Ludendorff nach und
nach die Verdoppelung und Verdreifachung alles Bishe-
rigen. Doppelt soviel Granaten, doppelt soviel Patronen,
dreimal soviel Maschinengewehre und Geschütze und tau-
send Flieger im Monat. Das alles bis zum Sommer 1917.
Ein Kriegsamt wird geschaffen. Es umfasst eine Abtei-
lung für die Regelung der Arbeiterfragen, eine zweite für
Bekleidungsfragen, eine dritte für Waffen- und Muniti-
onsbeschaffung, eine vierte für Kontrolle und Verteilung
der Rohstoffe und eine fünfte für Regelung der Aus- und
Einfuhr, soweit eine solche noch besteht. Das Amt un-
tersteht dem preußischen Kriegsministerium, hat aber
beinahe diktatorische Befugnisse.
Die Hauptschwierigkeit der Erfüllung des Hindenburg-
Programms besteht in der Frage der Kohleversorgung und
in der durch die gesteigerten Forderungen notwendig ge-
wordene Neuanlage von Fabriken. Das Tempo verlangsamt
sich wesentlich trotz ungeheurer Anspannung aller Kräfte.
Kohle und Eisen werden besonderen Reichskommissaren
unterstellt. Man versucht alles. Trotzdem sinken die Pro-
duktionsziffern auf beiden Gebieten mit unheimlicher Re-
gelmäßigkeit. Arbeiterknappheit und Transportnot wachsen
mit jedem Monat. 1913 förderte Deutschland 190 Millionen
Tonnen Kohlen, 1917 nur noch 167. 1913 erzeugte man 19
Millionen Tonnen Roheisen, 1917 nur noch 11.
Dennoch erfährt die Herstellung von Kriegsmaterial je-
der Art durch das Hindenburg-Programm eine ungeheure
und beinahe phantastische Steigerung. In einem einzigen
Jahr werden soviel Gewehre hergestellt, dass man damit
60 friedensstarke Armeekorps (das Korps zu 40.000 Köp-
fen gerechnet) bewaffnen könnte. Die Monatsherstellung
von Maschinengewehren erreicht die Zahl von 9.000
Stück (1914 200 Stück, 1916 2.300 Stück). 200 Millionen
Patronen pro Monat kommen hinzu. Von Juni bis Okto-
ber 1917 schwillt die Gesamtzahl der an der Front befi nd-
lichen Maschinengewehre von 29.000 auf 56.000 an.
Nach der Sommeschlacht verfügt das Feldheer über
rund 2.500 Minenwerfer. Ein Jahr später sind es 16.000.
Allein 1917 werden 30.000 neu hergestellt.
Die Monatsherstellung von Feldartilleriegeschützen
schwillt auf 2.000 Stück an (1915 300 Stück). 7.000
schwere Geschütze stehen der Obersten Heeresleitung
zur Verfügung.
Im Frieden lieferten die Heeresfabriken monatlich
etwa 200 Tonnen Pulver — 1915 sind es bereits 4.000,
1916 schon 6.000, 1917 schließlich 14.000 Tonnen. Wür-
de man alle Munitionszüge, die im Jahre 1917 aus der
Heimat an die Front gehen, hintereinander stellen, so
ergäbe es eine Strecke von Hamburg über Berlin, Wien,
Sofi a bis nach Konstantinopel.
Arbeitskräfte für die RüstungHindenburgs Forderungen beschränken sich nicht auf die
Erhöhung der Kriegsproduktion. Die Oberste Heereslei-
tung sagt auch ihre Meinung dazu, wie man die Men-
schenkräfte herbeibringen muss, um diese Mehrproduk-
tion zu erreichen.
Die allgemeine Wehrpfl icht reicht vom neunzehnten
bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahr. Die gesunden und
kriegsverwendungsfähigen Angehörigen dieser Jahrgänge
stehen mit wenigen Ausnahmen an der Front, im Kriegs-
gebiet oder befi nden sich in der Ausbildung. Die Abgänge
sind ungeheuer groß, aber sie können noch ersetzt wer-
den. Es gelingt sogar, die Armee so zu verstärken, dass
im Jahre 1918 trotz aller großen Verluste 5,3 Millionen
Soldaten an der Front und in den besetzten Gebieten ste-
hen. 2,7 Millionen leisten Militärdienst in der Heimat. Im
Ganzen werden während des Krieges unter Einrechnung
der bei Kriegsbeginn aktiv dienenden Soldaten 13,2 Mil-
lionen Männer ausgehoben. Das bedeutet, dass mehr als
jeder fünfte Deutsche, Greise, Frauen und Kinder mitein-
bezogen, den Soldatenrock trägt oder trug.
Das Aufgebot 1899.
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Charaktere im Krieg 43
Niemandsland H. P. Lovecrafts Cthulhu — das Rollenspiel
Nun fordert Hindenburg die Ausdehnung der Wehr-
pflicht vom sechzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr.
Aus den drei Jahrgängen nach unten und den fünfzehn
Jahrgängen nach oben sollen die Arbeitskräfte für das
Rüstungsprogramm gewonnen werden. Die meisten An-
gehörigen dieser Jahrgänge sind bereits in der Industrie
beschäftigt. Jetzt soll eine gesetzliche Handhabe geschaf-
fen werden, um auch den Rest zu erfassen.
Die geplante Militarisierung der Kriegsproduktion wird
aber nicht zu dem Versuch erweitert, eines der schwersten
Übelstände zu beseitigen, der die vaterländische Moral in
beängstigender Weise untergräbt. Der Rüstungsarbeiter
sitzt daheim in Sicherheit bei Frau und Kind und emp-
fängt einen relativ hohen Lohn. Der Soldat an der Front
erhält nur ein paar Pfennige und muss Tag für Tag sein
Leben einsetzen. Der jugendliche Arbeiter, der die Stelle
des draußen kämpfenden älteren Arbeiters eingenommen
hat, ist zuhause der große Mann. Seine Taschen füllen
sich mit Geld. Die erzieherische Einwirkung der älteren
Arbeitskollegen fehlt. Die gewerkschaftliche Organisation
weist ihm Aufgaben zu, für deren Verständnis und Verant-
wortungsschwere ihm jede Voraussetzung fehlt. Die Dis-
ziplin geht zum Teufel. Einmal würde der Tag kommen,
an dem er die feldgraue Uniform anziehen, sich der mi-
litärischen Zucht unterwerfen und sein Vaterland für ein
lächerlich geringes Geld mit dem Leben verteidigen soll.
Bald erscheint ihm dieser krasse Wechsel durchaus nicht
mehr als selbstverständlich. Er empfindet ihn als einen
Zwang, als ein Unglück, als ein Herabsinken zu der Masse
der draußen Verdammten. Der Unterschied zwischen sei-
nem bisherigen und seinem neuen Leben ist allzu groß.
Am 2. Dezember 1916 nimmt der Reichstag das neue
„Hilfsdienstgesetz“ an. Der gesetzliche Arbeitszwang wird
festgelegt, durch einschränkende Sonderbestimmungen
teilweise wieder aufgehoben. Da ohnehin durch den An-
reiz der hohen Löhne fast alle brauchbaren Arbeitskräfte
in die Industrie geströmt sind, bleibt der Arbeitszwang
ein Schlag ins Wasser. Die Kräfte, die man dadurch neu
gewinnt, stellen sich als fast unbrauchbar heraus. Die in
weitem Umfang herangezogene Frauenarbeit erfüllt zwar
die in sie gesetzten Hoffnungen durchaus, kann aber die
vorhandenen Lücken nicht ausfüllen.
Die Ungleichheit zwischen Arbeiter und SoldatUm wenigstens die Durchführung eines Teiles des Hin-
denburg-Programms zu erreichen, muss die Oberste
Heeresleitung zu einem verhängnisvollen System über-
gehen. Das Reklamationswesen (das ist die Befreiung
vom Kriegsdienst) wächst zu schlimmer Bedeutung an.
Zusammen mit dem krassen Unterschied zwischen mi-
litärischer Löhnung und industriellem Lohn entwickelt
es sich zum größten Krebsschaden der ganzen Kriegszeit.
Hier frisst der Wurm der Zwietracht, der Schwäche, der
Vaterlandsverleugnung am Mark Deutschlands. Der Re-
klamierte ist der beneidete Glückliche, der Soldat an der
Front der verdammte Unglückliche.
Bis zur Mitte des Jahres 1918 schwillt die Zahl der
gesetzlichen Wehrpflichtigen, die von der Armee für In-
dustriezwecke freigegeben werden, auf fast 2,5 Millionen
Menschen an. Darunter sind 1,2 Millionen Frontverwen-
dungsfähige. Nicht nur, dass sie vor ihren Kameraden,
die draußen bleiben, den Fortfall der Todesgefahr voraus
haben — sie erhalten daheim den gleichen Lohn wie alle
Industriearbeiter und unterstehen auch nicht mehr der
strengeren militärischen Gesetzbarkeit. Man kann ja nicht
zwei Arbeiter nebeneinander beschäftigen, von denen
der eine den Industrielohn, der andere die Militärpfen-
nige für die gleiche Arbeitsleistung bezieht. Man versucht
nicht, durch Senkung des allgemeinen Industrielohns
und durch entsprechende Steigerung der militärischen
Löhnung einen gerechten Ausgleich zu schaffen.
Als die Industrie von sich aus den Versuch macht, die
Löhne zu senken, kommt es zu Streiks, die mit der Zeit
größeren Umfang annehmen. Die sinkende moralische
Kraft Deutschlands wird scheinwerferartig durch diese
Streiks beleuchtet. Naive und verhetzte Gemüter begin-
nen, den Soldatendienst als eine Deklassierung und als
eine Abstempelung der Dummheit zu bewerten. Hier
stirbt die Vaterlandsliebe zuerst.
Die UnternehmerSind die Arbeiter nur Menschen, so sind auch die Un-
ternehmer keine Engel. Die Figur des Kriegsgewinnlers
spielt bei einem gesunden und national empfindenden
Volke immer eine verächtliche Rolle. Die Reichsregierung
befolgt den Grundsatz, dem privaten Unternehmertum
möglichst freie Hand zu lassen. Nur so glaubt sie, die ge-
waltigen Forderungen des Heeresbedarfs erfüllen zu kön-
nen. Dieser Grundsatz bewährt sich. Die Industrie ist die
erste, die das neue Hindenburg-Programm für ausführbar
erklärt. Ihre Organisation, ihre Beweglichkeit und ihre
Energie schaffen das Äußerste. Tut sie es für den Profit,
für möglichst hohe Dividenden und Direktorengehälter,
oder tut sie es für das gleiche Vaterland, für das draußen
der Soldat jahraus und jahrein kämpft, leidet und stirbt,
während daheim die Grundlagen seiner Lebensarbeit
verkümmern? Dass der verächtliche Typus des Kriegs-
gewinnlers überhaupt entstehen kann, ist eine schwere
Versündigung an der vaterländischen Moral. Hier stirbt
die Vaterlandsliebe zum zweiten Mal. Selbstsüchtiger
Materialismus beginnt sich an die Stelle nationaler Ideale
zu drängen.
Der HungerWährend durch eigenes Verschulden viel gesündigt wird,
kommt der furchtbarste Angriff auf die Vaterlandsliebe
von außen. Das Volk beginnt zu hungern.
Im Frieden nahm der Deutsche pro Tag 320 Gramm
Mehl, 140 Gramm Fleisch und 56 Gramm Fett zu sich.
Im Jahre 1918 bekommt er gegen Karten, nach stun-
denlangem Anstehen vor den Läden, pro Tag noch 116
Gramm Mehl, 18 Gramm Fleisch und 7 Gramm Fett. Der
Mindestbedarf an Kalorien beträgt für einen gesunden
Menschen pro Tag 2.300. 1918 erhält der Deutsche noch
1.000 Kalorien täglich.
Nach Berechnungen des Reichsgesundheitsamtes ster-
ben im Jahre 1916 an den Folgen der Hungerblockade
121.000 Menschen, 1918 297.000, im ganzen Kriege
mehr als dreiviertel Millionen. Die Zahl der Todesfäl-
le an Lungentuberkulose ist 1918 doppelt so hoch wie
1913. Doppel soviel Mütter sterben an den Folgen der
Geburt ihrer Kinder. Blutarmut, Abmagerung, Magen-
und Darmerkrankungen und Hautkrankheiten nehmen
furchtbare Ausmaße an. Eine ganze Generation wird in
ihrem Wachstum so beeinträchtigt, dass die Folgen der
Aushungerung weit über das Kriegsende hinausreichen.
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