Vor 25 Jahren explodierte das Kernkraftwerk in Tschernobyl ... · tor-Katastrophe Tumore in ihren...

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FEUILLETON Freitag, 15. April 2011 13

Pripjat. Das Schlimmste sind diewinzigen Schuhe, die verlassenvor den kleinen Spinden liegen.Die stummen Bilder von der Fluchtaus dem Kindergarten bringen dieMägen der Besucher aus dem fer-nen Westen Europas ins Drehen.

Gerade vorher noch waren dieBesucher direkt vor dem explo-dierten Block 4 des Kernkraft-werks von Tschernobyl gestanden.Hatten mit dem Schichtleiter dis-kutiert, der in der Unglücksnachtvom 26. April 1986 den Reaktorbe-trieb verantwortete – und dafürspäter ins Gefängnis wanderte.Waren durch verlassene Land-schaften und Dörfer gefahren, indenen der Wind Schneewolkenaufwirbelte. Unterhielten sich mitMenschen, die in einem der nachKarbol stinkenden Krankenhäuserin Weißrussland auf ihre Behand-lung warteten, weil die Kernreak-tor-Katastrophe Tumore in ihrenSchilddrüsen entstehen ließ.

Doch erst in dem Kindergartender Stadt Pripjat, drei Kilometervom Tschernobyl-Reaktor entfernt,erstickt der Kloß im Hals jedesWort, weil sie nun die Dramatikdieser Tage so richtig begreifen.Nur die Augen der Besucher bewe-gen sich, starren auf Puppen, diemit verrenkten Gliedmaßen aufKinderbetten liegen. Schauen aufhalbgeöffnete Schubladen, aus de-nen Kinder-Zeichnungen lugen.

Techniker waren blindAm 27. April 1986 informiertendie Behörden die 45.000 Bewohnerder Stadt Pripjat um 11 Uhr Vor-mittag, dass sie ihre Stadt verlas-sen müssen. Die schlimmsten Be-fürchtungen bestätigten sich,schließlich hatten die Einwohner33 Stunden zuvor die Explosionam Horizont gesehen. Um 14 Uhrbegann die Evakuierung mit 1200Bussen, zweieinhalb Stunden spä-ter war die Stadt leer. In drei Ta-gen, hieß es, könnt ihr zurückkeh-ren. Aus den Tagen wurden Jahreund heute beweist eine Birke aufder Tartanbahn des nahen Stadi-ons, dass ein Vierteljahrhundertvergangen ist. Pripjat ist noch im-mer menschenleer, die Stadt ge-hört zum radioaktiven Sperrgebiet.

In der Nacht vom 25. auf den26. April sollte man den viertenBlock des aus vier Kernreaktorenbestehenden Kraftwerks für War-tungsarbeiten abschalten. Gleich-zeitig sollte ein längst fälliger Testdurchgeführt werden: Liefert dieauslaufende Turbine des abge-schalteten Kraftwerks genug Leis-tung für die Kühlpumpen, bis dasNotstromaggregat anspringt?

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete

Der Sarkophag im NaturschutzgebietVor 25 Jahren explodierte das Kernkraftwerk in Tschernobyl, die Folgen sind noch lange nicht bewältigt

■ Ein Besuch derevakuierten Stadt Pripjat,nur drei Kilometer vomUnglücksreaktor entfernt.■ Einige sind in dieSperrzone zurückgekehrt.

Von Roland Knaueraus der Ukraine

der Reaktor mit einer zu niedrigenLeistung. Das ist bei Reaktorendieses Bautyps riskant, da sie mitWasser die Brennstäbe kühlen,während Graphit die Kernreaktionaufrechterhält. Fällt die Wasser-kühlung aus, kann die Kernreakti-on in Ausnahmesituationen rapidestärker werden. Genau das pas-sierte in der Unglücksnacht um1.23 Uhr und 44 Sekunden. Vonweniger als zehn Prozent der nor-malen Leistung schnellte die Kern-reaktion innerhalb von Augenbli-cken auf das 470-Fache hinauf. DieExplosion von Tschernobyl 4 hobdie 3000 Tonnen schwere Deck-platte über dem Reaktor, zerstörtedas Reaktorgebäude und ließschlagartig alle Messinstrumenteausfallen. Ingenieure und Techni-ker waren praktisch blind. Erst einSchritt vor die Tür zeigte ihnendas Ausmaß der Katastrophe.

Glühende ReaktorruineIn nur mit Wasser betriebenen Re-aktoren, wie sie in Westeuropalaufen, könnte eine solche Kata-strophe nicht passieren, betont dieGesellschaft für Anlagen- und Re-aktorsicherheit in Köln. In ihnenkühle das Wasser nämlich nichtnur den Reaktor, sondern es halteauch die Kernreaktion aufrecht.Ohne Kühlwasser ginge der Reak-tor daher einfach aus. Die radioak-tiven Verbindungen können zwareine Kernschmelze auslösen, eineKernexplosion wie in Tschernobylkönne aber nicht passieren. Auchdie Explosionen in den japani-schen Fukushima-Reaktoren seienchemische Reaktionen gewesen:Die nicht gekühlten Brennstäbehätten Wasserstoff entstehen las-sen, der dann explodiert war.

Die Sowjet-Ingenieure hatten ei-nen triftigen Grund, Graphit-Reak-

toren des Tschernobyl-Typs zubauen: Aus ihnen können nämlichbei laufendem Betrieb die Brenns-täbe entnommen werden, um da-raus Plutonium für Atombombenzu gewinnen. Dafür nahmen siesogar ein weiteres Problem inKauf: Einmal gezündet, lässt sichGraphit kaum löschen. Die Hitzewirbelte die radioaktiven Elementeaus dem Reaktorkern in die Luft.

Fieberhaft versuchten Rettungs-mannschaften, die glühende Reak-torruine unter Kontrolle zu brin-gen. In den Tagen nach der Hava-rie warfen Hubschrauberpiloten40 Tonnen Bor-Karbid in die Rui-ne, um die Kernreaktion zu stop-pen, 800 Tonnen Dolomit solltendie entstehende Wärme auffangen,1800 Tonnen Sand und Lehm dieschwelenden Feuer ersticken,

2400 Tonnen Blei die Strahlungabschirmen. Zehn Tage nach derExplosion war Tschernobyl 4 stabi-lisiert. 134 Arbeiter bekamen sehrhohe Strahlendosen ab, 28 von ih-nen starben binnen vier Monaten.

Strahlender SchrottAnschließend begannen tausendeBauarbeiter und Soldaten, einebis zu 15 Meter dicke Beton-Hülleum den Reaktorblock zu bauen.Drei Betonwerke wurden eigenserrichtet. Probleme bereitete dieKonstruktion des Daches, da dieStrahlung dort oben tödlich gewe-sen wäre. Daher wurde die Monta-ge vom Hubschrauber aus durch-geführt. Sonderlich genau konnteaus der Luft aber nicht gearbeitetwerden. Zwischen den Stahlroh-ren klafften Lücken, durch die derRegen tropfte. Da ein Arbeiter innur zehn Stunden auf dem Dacheine tödliche Strahlendosis abbe-kommen hätte, wurden die Löcherferngesteuert gestopft.

In dem Vierteljahrhundert seitder Katastrophe aber haben Windund Wetter den Sarkophag zer-mürbt. Bis 2015 soll daher ein gi-gantisches Stahl-Gewölbe errich-tet werden, unter dem der Sarko-phag ferngesteuert „entsorgt“werden soll. Laut Plan soll das bis2065 dauern. Die Katastrophe wä-re dann fast ein Jahrhundert alt.

Ein paar Kilometer vom Sarko-phag entfernt lagern in zehn De-pots zwölf Millionen Kubikmeterstrahlender Schrott: Feuerwehr-fahrzeuge, Panzer und Busse, diebei der Beseitigung der Havarie-Folgen zum Einsatz kamen, Werk-zeuge und Maschinen, mit denender Sarkophag errichtet wurde.Mit der Zeit spült der Regen dieRadioaktivität ab: Selbst an heik-len Stellen wie unter den Kotflü-

geln gibt es heute kaum nochstärkere Strahlung als in unbelas-teten Gebieten. Auch werden dieSchrotthaufen mit den Jahrenkleiner, weil Plünderer alles klau-en, was verwertbar scheint.

Die Reaktorkatastrophe hat ne-ben Kriminellen einen weiterenGewinner: die Natur. So paradoxes klingt, ihr hat die radioaktiveVerseuchung gut getan. Rund400.000 Menschen wurden ausTeilen der Ukraine, Weißruss-lands und Russlands evakuiert.Die Natur kehrte aber rasch wie-der zurück, heute heulen dort dieWölfe. Weißrussland hat einenTeil der evakuierten Zone daherzum „staatlichen radioökologi-schen Naturpark“ erklärt.

Tiere als GewinnerPflanzen und Tiere kommen miterhöhter Strahlung offenbar gutzurecht. Forscher des Institutesfür Agrarökologie und Biotechno-logie in Kiew haben anhand vonvier im Sperrgebiet eingefange-nen Rindern nachgewiesen, dassderen Kälber zwar mehrere Ver-änderungen im Erbgut zeigten,diese aber bis zur vierten Genera-tion nahezu verschwanden.

Für Menschen ist die Sache an-ders: Die Explosion setzte großeMengen des radioaktiven Jod-131frei, das von der Schilddrüse auf-genommen wird. Dort verändertes das Erbgut der Zellen und lässtTumoren wachsen. Rund 5000solcher Schilddrüsen-Tumore tra-ten nach der Katastrophe in denGebieten auf, in denen das radio-aktive Jod vom Himmel fiel, er-klärt Herwig Paretzke vom Insti-tut für Strahlenforschung desHelmholtz-Zentrums München.Weil die Schilddrüse von Kindernstärker als die von Erwachsenenreagiert, waren zwei Drittel derBetroffenen jünger als fünf Jahre.

Wollen die Wissenschafter er-mitteln, wie viele Krebstote eineKernreaktorkatastrophe wie inTschernobyl insgesamt fordert,stehen sie vor einem Problem.Denn ein durch radioaktive Strah-lung ausgelöster Tumor tritt ofterst Jahrzehnte nach dem Un-glück auf und unterscheidet sichnicht von einem Krebs, der ande-re Ursachen hatte. Laut der Welt-gesundheitsorganisation WHOkönnte Tschernobyl rund 4000zusätzliche Krebstote verantwor-ten – Anti-Atomkraft-Bewegungennennen weitaus höhere Zahlen.

Keine KrebsstatistikenWer im Kindergarten von Pripjatvor den Spinden mit den überhas-tet zurückgelassenen Kinderschu-hen steht, braucht keine Krebs-zahlen, um das Ausmaß der Kata-strophe zu begreifen. Hunderttau-sende mussten ihre Heimat ver-lassen. Zweimal im Jahr dürfensie in ihre Straßendörfer zurück,um Gräber zu besuchen. Einigesind dennoch dauerhaft in dieSperrzonen zurückgekehrt und le-ben dort unter primitiven Bedin-gungen, meist ohne fließendesWasser oder Elektrizität. ■

Vierhunderttausend Menschen mussten nach der Reaktorkatastrophe ihre Häuser verlassen. Fotos: Knauer

Fluchtartig verlassen:der Kindergarten in Pripjat.

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