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1.17 9. Ausgabe 5. Jahrgang Geschichte, Form und Sinnfunktion in Computerspielen Tagungsband zur HiStories 2013, 30.11.2013, Universität Rostock HERAUSGEGEBEN VON UTA BUTTKEWITZ, MARIO DONICK UND WIEBKE SCHWELGENGRÄBER ISSN 1866-8186

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1.17 9. Ausgabe

5. Jahrgang

Geschichte, Form und Sinnfunktion

in Computerspielen

Tagungsband zur HiStories 2013, 30.11.2013, Universität Rostock

HERAUSGEGEBEN VON UTA BUTTKEWITZ, MARIO DONICK UND WIEBKE SCHWELGENGRÄBER

ISSN 1866-8186

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IMPRESSUM wissenschaft in progress ist eine Zeitschrift für aktuelle Gedanken und Forschungsfragen aus den Bereichen Kommunikations- und Medienwissenschaft, Linguistik, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Didaktik, Bildung und E-Learning. ISSN: 1866-8186 (Druckausgabe) und 1866-8194 (Online-Ausgabe) Herausgeber: Dr. Uta Buttkewitz / Dr. Mario Donick / Wiebke Schwelgengräber, M.A. Postanschrift: wissenschaft in progress c/o Mario Donick, Pappelallee 15, D-39106 Magde-burg E-Mail: [email protected] Zitierweise: Sie möchten in einem Text auf Beiträge in wissenschaft in progress verweisen? Dann verweisen Sie bitte nicht auf konkrete Dateinamen, sondern nur die Adresse www.wissenschaft-in-progress.de. Nutzen Sie ansonsten diejenige Zitierweise für Zeit-schriftenaufsätze, die in Ihrem Fachbereich üblich ist. Die Printausgabe kann unter oben angegebener Anschrift kostenlos angefordert werden (solange der Vorrat reicht; max. 2 Exemplare pro Bestellung).

Die Online-Ausgabe finden Sie unter http://wissenschaft-in-progress.de .

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Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Alexander Flegler Narrativ, Kontexte und die Dynamik des Spielens. Chancen für die Erforschung von Historienspielen?

8

Ullrich Klein und Martin Stobbe ‚An den Rädchen der Geschichte drehen‘ Grand strategy games als potenziell-kontrafaktische Geschichtsdarstellung – eine Fallstudie am Beispiel von Victoria II

21

Mai-Anh Boger und Ken Weinand Was kann Sterben schon bedeuten? Zur (In-)Signifikanz des Todes im Videospiel

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Florian Kerschbaumer und Tobias Winnerling Outlaws im Videospiel. Ein Anti-Plädoyer für Anti-Helden

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Christian Klager Spiel der Zeichen. Präsentativ-symbolische und diskursive Zeichen im Spiel

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Dennis Maciuszek Nichtlineare Dramaturgie in digitalen Lernspielen für geis-tes- und sozialwissenschaftliche Fächer. Überblick & Vor-stellung des Spiels „Kabale und Liebe“

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Vorwort

Die in diesem Band versammelten Beiträge wurden am 30.11.2013 auf der Tagung „HiStories 2013: Geschichte, Form und Sinnfunktion in Computerspielen“ im Internationalen Begeg-nungszentrum der Universität Rostock vorgestellt.

Die Darstellung von Geschichte im Computerspiel hat eine lange Tradition. Egal ob Ego-Shooter, Strategiespiel oder ‚Simu-lation‘ – in nahezu jedem Genre finden sich unzählige Beispiele. Insbesondere Spiele mit kriegerischem Hintergrund wurden schon immer auch kritisch hinterfragt („Killerspiel“-Debatte). Seit einigen Jahren werden die Diskussionen jedoch vielschichti-ger.

So wird etwa die Art und Weise, wie geschichtliche Ereignisse in Computerspielen verarbeitet werden, fachwissenschaftlich diskutiert. Medien- und filmtheoretisch werden Vergleiche zu Literatur und Film gezogen. Im Game-based Learning wird ge-fragt, wie Spiele zu Lernzwecken, z.B. im Geschichtsunterricht, eingesetzt werden können. Und in den Games Studies wird ver-sucht, eine ‚echte‘ Computerspielkritik aufzubauen.

Auf der Tagung HiStories 2013 haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Spannungsfeld aus historischem Ereignis, formaler Gestaltung des Ereignisses im Spiel und sinnfunktiona-ler Interpretation des Spiels beispielhaft nachgezeichnet. Dabei war auch die Frage zu klären, was Spielerinnen und Spieler ei-gentlich mit den Angeboten machen, die ihnen in Spielen prä-sentiert werden. Bleibt es beim Spielen? Oder findet ein kreati-ver, womöglich fachlicher Umgang mit den Inhalten statt?

Der Call for Papers schlug als erste Anregung für Beiträge fol-gende Themenfelder vor:

Differenz und Kohärenz: Historischer Fakt und Darstellung im Compu-terspiel

Das Spielen mit Geschichte als Zugang zur Geschichte

Mehr als nur Genres: Formen des Computerspiels

Nach dem Spiel: Spielbezogene Anschlusskommunikation

Gegen das Spiel? Kreativer Umgang mit Spielinhalt und Spielmechanik

Systemtheoretische Modellierung des Verhältnisses von Spielenden zu Spielen

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Die zur Veröffentlichung vorgelegten Texte berühren eine Auswahl der genannten Bereiche1:

Alexander Flegler stellt zunächst einige Grundlagen vor, die für die Beschäftigung mit Historienspielen unabdingbar sind. Er fragt danach, wie Computerspiele überhaupt erzählen und weist darauf hin, dass es für die Analyse von Historienspielen nicht ausreicht, nur die im Spiel enthaltenen explizit narrativen For-men (z.B. beschreibende Texte oder Filmsequenzen zu histori-schen Ereignissen oder Persönlichkeiten) zu untersuchen. Die Erzählung des Spiels entstehe erst im Zusammenspiel mit den spielmechanischen Abläufen, und darauf müsse der Fokus der Analyse gelegt werden, wolle man Historienspielen gerecht wer-den. Flegler verdeutlicht seine Überlegungen anhand des Spiels Age of Empires II (Microsoft).

Ullrich Klein und Martin Stobbe greifen den von Flegler gesetz-ten Ausgangspunkt auf, wenn sie Computerspiele als Geschich-ten generierende Programme begreifen. Ausgehend von Marie-Laure Ryans vierdimensionalem Narrativitätsmodell und unter Einbeziehung von Espen Aarseths Definition des Gameplay-Begriffs legen die Autoren eine detaillierte Analyse einer Fallstu-die vor. Anhand des Grand Strategy-Titels Victoria II (Paradox Interactive) gehen sie zunächst auf im Spiel genutzte Formen (Mechanik, Spielwelt) und Funktionen (Beispielpartie zur In-dustrialisierung im Frankreich des 19. Jahrhunderts) ein, um dann das Zusammenwirken beider Seiten vor dem tatsächlichen historischen Hintergrund einzuordnen. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Spiele wie Victoria II eine Möglichkeit sein können, sich der u.a. von Alexander Demandt vorgeschlagenen kontrafaktischen Perspektive auf Geschichtsschreibung anzunä-hern – also die jeweils denkbaren Alternativen zur ‚wirklich‘ ge-wordenen Geschichte in den Blick zu bekommen.

Während Grand-Strategy-Spiele Geschichte als Globalhistorie begreifen und Einzelschicksale eher irrelevant erscheinen (der Spieler hat eine gottähnliche Perspektive auf die Ereignisse und steuert nicht eine konkrete Spielfigur), sind viele andere Spiel-genres durch die direkte Kontrolle eines ‚Helden‘ gekennzeich-net – und diese Figur ist häufig durch den Tod bedroht. Aber was bedeutet der Tod im Computerspiel überhaupt? Dieser Frage stellen sich Mai-Anh Boger und Ken Weinand in ihrem Beitrag.

1 Auf der Tagung selbst wurden weitere Beiträge vorgestellt, die aber leider – i.d.R. aus zeitlichen Gründen – nicht verschriftlicht werden konnten.

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Sie gehen von den typischen paradoxen Redeweisen aus, die man beim Spielen im Moment des Game Over oft von sich gibt: „Ich bin schon wieder gestorben!“ Die Autoren reflektieren darüber, was solche Aussagen überhaupt bedeuten. Sie stellen zunächst psychoanalytische und interkulturelle Perspektiven auf das Phä-nomen vor. Vor diesen Hintergründen beurteilen sie anschlie-ßend typische spielmechanische Formen des Todes: die Wieder-auferstehung, den erneuten Versuch und die Wiedergeburt. Für alle Formen stellen die Autoren fest, dass das Sterben keineswegs banalisiert oder geleugnet würde, sondern dass Tod im Compu-terspiel eine ernstzunehmende kulturspezifische Reflexionsform auf den Tod ist.

So wie die Banalisierung des Todes eine typischer Vorwurf ge-gen Computerspiele ist, so wird auch die – dem Tod im Spiel in der Regel vorhergehende – Gewalt als Argument gegen Spiele ins Feld geführt. Florian Kerschbaumer und Tobias Winnerling legen dahingehend ein Anti-Plädoyer vor: Sie zeigen, welches Potenzial die Beschäftigung mit gerade nicht ‚guten‘ Helden, sondern im Gegenteil mit Anti-Helden besitzt. Sie zeigen, „warum es gut ist, böse zu sein“, und sie tun dies mit explizit historischem Vorbild: dem von Eric Hobsbawm untersuchten Phänomen der „Sozialre-bellen“, etwa Bauernaufstände, Sozialbanditen und „edle Räu-ber“. Kerschbaumer und Winnerling zeigen an mehreren Bei-spielen, wie Spielnarrative dieses Phänomen aufgreifen, und plä-dieren am Ende dafür, dass man Spiele als Raum begreift, solche und andere eigentlich historische, aber offenbar immer noch wirkmächtige Phänomene zu erleben.

Dieses Erleben kann auch Chancen bieten für den Unterricht, wie Christian Klager in seinem Beitrag aus philosophiedidakti-cher Sicht zeigt. Klager begreift Spiele als „epistemische Chance“, wenn sich an das Spielen Reflexion anschließt. Er legt dar, wel-che Formen im Spiel als Zeichen und Symbole zu solcher Refle-xion anregen und präsentiert mit dem Kugelschreiberspiel ein Fallbeispiel, in dem dieses Potenzial nutzbar gemacht wird. Da-ran wird aber auch deutlich, dass Spiele nicht nur Zeichen ent-halten, die gedeutet werden müssten, sondern dass Spiele Zei-chen hinterlassen und dass Spiele selbst als Zeichen angesehen werden können.

Ein stärker an konkreten Inhalten orientiertes Beispiel für Lernspiele stellt Dennis Maciuszek vor. Nach einer Einleitung, die kontrafaktisches Denken im Geschichtsunterricht als Beispiel konstruktivistischer Didaktik einordnet, berichtet Maciuszek von

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einem Projekt, in dem das Drama Kabale und Liebe von Schülern des Rostocker Erasmus-Gymnasiusm als Computerspiel konzi-piert und umgesetzt wurde. Dieses Spiel kann erstens als Beleg für die einleitenden Überlegungen zur konstruktivistischen Di-daktik und zweitens als Best-Practice-Beispiel für derartige Reali-sierungen angesehen werden.

Die Tagung HiStories wurde von Mario Donick, damals Dok-torand am Bereich Kommunikationsforschung (Prof. em. Dr. Wolfgang Sucharowski) am HIE-RO-Institut an der Universität Rostock, initiiert und organisiert. Vor diesem Hintergrund waren insbesondere Masterstudierende und Promovierende aus den Bereichen Geschichte, Kommunikationswissenschaft, Philoso-phie, Soziologie, Literatur- und Medienwissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Informatik u.a. eingeladen, sich zu beteiligen. Aus diesem Grund erscheint der vorliegende Tagungsband auch in der Rostocker Reihe „wissenschaft in progress“, die seit 2008 in unregelmäßigen Abständen Forschungsarbeiten von Studieren-den und Promovierenden veröffentlicht. Die Beiträge sollen un-kompliziert und kostenfrei zur Verfügung stehen; die Herausge-ber danken den beteiligten Autoren für ihre Unterstützung die-ses Gedankens.

Die Herausgeber

10.02.2017

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ALEXANDER FLEGLER

Narrativ, Kontexte und die Dynamik des Spielens

Chancen für die Erforschung von Historienspielen?

1. Einleitung

Wenn wir danach fragen, wie Historienspiele Geschichte er-zählen, müssen wir zunächst einen Schritt zurück gehen, und uns bewusst machen, auf welche Art und Weise Spiele überhaupt erzählen. Katie Salen und Eric Zimmermann schlagen aufgrund der interaktiven Natur von Spielen und der spielimmanenten Bedeutungsebene vor, die Erzählung eines Spiels anhand von zwei narrativen Strukturen zu charakterisieren:

Eingebettete Erzählungen sind demnach vorgefertigte narrati-ve Elemente wie Videos, Zwischensequenzen, Beschreibungstex-te oder schlicht Bezeichnungen von Spielobjekten. Sie verweisen beispielsweise auf Geschichte als Hintergrund des Spiels.

Emergente Erzählungen werden hingegen spontan durch die Interaktion der Spielenden mit dem Spiel durch dessen Spielme-chaniken, die Geschichte simulieren können, erzeugt (Salen und Zimmermann 2006, 383). Emergente Erzählungen können auch als Narrativierung des Spielerlebnisses verstanden und von Spielenden retrospektiv wiedergegeben werden. Dadurch wird der Spielverlauf ex post zur (Re)konstruktion von Geschichte.

Das Narrativ eines Spiels entsteht durch das Zusammenwir-ken beider Komponenten zu einer Erzählung. Es genügt also nicht, das Geschichtsbild der Spiele nur anhand ihrer eingebette-ten Erzählungen wie Beschreibungstexten oder Zwischensequen-zen zu analysieren. Folglich darf es nicht nur darum gehen, wel-che Ereignisse in einem Spiel abgehandelt werden oder welche historischen Persönlichkeiten vorkommen und wie sie beispiels-weise in Zwischensequenzen dargestellt werden. Vielmehr müs-sen die historischen Strukturen und Prozesse, also Wirtschafts-systeme oder Herrschaftsstrukturen, die anhand von Spielme-chaniken in das Spiel Einzug finden, mehr in den Fokus gerückt werden. Denn gerade die daraus resultierenden emergenten Er-zählungen unterscheiden schließlich Spiele von linearen Erzäh-lungen wie in Film oder Literatur.

Ein möglicher kreativer Umgang der Spielenden mit den Spielmechaniken und Regeln ist ebenfalls nicht zu vernachlässi-gen. Wie wir sehen werden, haben auch unterschiedliche Kon-

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texte des Spiels und des Spielens einen Einfluss auf die Wahr-nehmung der Spielelemente und Mechaniken, die Geschichte referenzieren; das von den Spielen evozierte Geschichtsbild ist kontextabhängig.

Anhand der Strategiespielreihe Age of Empires soll an kon-kreten Beispielen auf diese Aspekte näher eingegangen werden. Die Exempla haben jedoch nicht den Anspruch, absolut für alle Historienspiele zu gelten oder gar vollständig zu sein. Sie sollen vielmehr deutlich machen, dass es bei der Analyse von Spielen weit mehr zu berücksichtigen gilt, als bei bisherigen Untersu-chungen in Angriff genommen wurde.

2. Analyse

2.1 Age of Empires

Age of Empires ist eine Strategiespielreihe von Microsoft, die ursprünglich von den Ensemble Studios entwickelt wurde. Seit der Veröffentlichung des ersten namensgebenden Ablegers der Serie 1997 sind insgesamt zwölf Titel und Erweiterungen er-schienen, die je unterschiedliche Settings von Altertum bis Neu-zeit thematisieren.1

Trotz der Einstellung des Onlineablegers Age of Empires On-line im Juli 2014 ist die Serie immer noch höchst relevant: Die Neuauflage des zweiten Teils, Age of Empires II: Extended Edi-tion befindet sich seit Veröffentlichung kontinuierlich in den Top 50 der aktuell am meisten gespielten Spiele auf der populä-ren Onlineplattform Steam. Ein Spin-Off der Serie, Age of Em-pires: Castle Siege ist erst jüngst erschienen.

In der Reihe übernehmen die Spielenden die Kontrolle eines Volkes indem sie ihren Untertanen per Mausklick befehle geben. Ziel in bisher allen Teilen ist es, eine stabile Wirtschaft zu errich-ten, um dadurch einen Militärapparat unterhalten zu können, mit dem die gegnerischen Völker bezwungen werden können.2 Im Detail lassen Spielende Rohstoffe wie Nahrung, Holz, Gold

1 Ableger für Mobiltelefone oder Handhelds sollen hier unberücksichtigt bleiben. Sofern kein Untertitel explizit genannt wird, sollen stets alle Versionen des Spiels gemeint sein. 2 Dies ist unabhängig davon ob mit den eigenen Truppen die Gegner besiegt, ein Weltwunder verteidigt oder alle Artefakte oder Reliquien auf der Karte erobert werden.

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und Stein von Arbeitern sammeln. Damit wiederum können Ge-bäude errichtet und dort weitere Arbeiter oder Soldaten ausge-bildet werden. Es ist aber auch möglich, Rohstoffe in neue Tech-nologien zu investieren, um die eigene Wirtschaft oder Kampf-kraft zu verbessern.

2.2 Aufstiegs- und Fortschrittsnarrative

Soweit scheint der wirtschaftliche, militärische und technolo-gische Aufstieg eines Volkes aus bescheidenen Verhältnissen während einer Partie einen grundlegenden Teil des emergenten Narrativs auszumachen.

Die Völker der Spielenden können des Weiteren in den na-mensgebenden Zeitaltern (im ersten Teil von der „Altsteinzeit“ bis zur „Eisenzeit“) voranschreiten. Beim Epochenwechsel han-delt es sich spielmechanisch um eine Schlüsseltechnologie: In jedem Zeitalter können weitere Verbesserungen, Gebäude oder Truppentypen freigeschaltet werden. Wie bei regulären Techno-logien beginnt die „Erforschung“ des Zeitalters mit einem einfa-chen Knopfdruck. Nach einer kurzen Wartezeit ist das Zeitalter erreicht. Einmal erforschte Technologien, insbesondere Zeital-teraufstiege, können Spielenden während einer Partie nicht wie-der verloren gehen, was das Narrativ zu unterstützen scheint.

Eine Fortschrittsidee ist aber auch in der eingebetteten Erzäh-lung relativ leicht auszumachen. In den Hinweisen zum Zeital-teraufstieg heißt es, Spielende könnten zum nächsten Zeitalter „voranschreiten“. Durch diese „Weiterentwicklung“ werde deren Volk „verbessert“ (hier Age of Empires II). Hierbei handelt es sich um eindeutig positive Konnotationen.

Abbildung 1: In jedem Zeitalter werden neue Ebenen

im Technologiebaum von Age of Empires freigeschaltet.

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Bisher deuten also alle Indizien darauf, dass die Age of Em-pires-Reihe ein lineares und zugleich kulturoptimistisches Ge-schichtsbild zu Eigen haben müsste. Dies ist eine legitime Be-trachtungsweise, kann aber bei weitem nicht den Anspruch ha-ben, vollständig zu sein.

2.2 Die Spielereihe als Kontext, Geschichte als Kontext

Betrachten wir einzelne Spiele im Kontext der gesamten Spie-lereihe, so wird bereits ein anderes Geschichtsbild impliziert:

Age of Empires II ist als direkter Nachfolger von Age of Em-pires im Mittelalter angesiedelt. Während Spielende am Ende einer Partie von Age of Empires meist eine stattliche Armee und eine blühende Wirtschaft besitzen, sowie „Weltwunder“ wie den Koloss von Rhodos errichten konnten, beginnt Age of Empires II erneut nur mit einer Handvoll „Dorfbewohnern“ und einem „Dorfzentrum“, diesmal jedoch in der „dunklen Zeit“.

In Age of Empires II ist dasselbe Narrativ vom Aufstieg eines Volkes vorhanden, der in Age of Empires erreichte Fortschritt scheint aber zumindest teilweise verloren gegangen zu sein.

Es wird also deutlich, dass ein gravierender historischer Ein-schnitt stattgefunden haben muss, der Geschichtsverlauf nicht linear gewesen sein kann. Das Narrativ vom Aufstieg eines Vol-kes ist folglich nicht mit dem Geschichtsverlauf an sich gleichzu-setzen.

Abbildung 2: Ausgangslage in Age of Empires (links) und

Age of Empires II (rechts)

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Der dritte Teil der Serie behandelt die Zeitspanne von der frü-hen Neuzeit bis zur Industrialisierung. Auch hier beginnt eine Partie serientypisch mit einem „Dorfzentrum“ und wenigen Ar-beitern, wobei ein europäisches Setting laut Sandy Petersen, ei-nem der Designer von Age of Empires III, Probleme bereitet hätte:

“The Europeans at the time didn’t really fit the Age [of Empires – Anm. des Verfassers] concept – it’s ridiculous to have Napoleon’s beginning nation be a town center, an explorer, and a few villagers. But this game start does make sense in the New World.” (Petersen 2009)

Spielmechaniken sind also auch nicht einfach Schemata, de-nen man einfach einen historischen Anstrich verpassen könnte, der nur als Fassade wirkt. Die vom Spiel referenzierte Geschichte und das von der Interaktion mit den Spielmechaniken erzeugte emergente Narrativ müssen zumindest auf die Spielenden kohä-rent wirken, um zu funktionieren.3

2.3 Spielmodi als Kontext

Prinzipiell sorgen auch Spielmodi eines einzigen Spiels für ei-nen spezifischen Kontext, in dem sich die Erzählung des Spiels entfaltet.

Die bisherige Untersuchung beschränkte sich auf den Spiel-modus „Zufallskarte“. Hier können Spielende die Start- und Siegbedingungen, die teilnehmenden Völker und Bündnisse un-tereinander, aber auch das Schlachtfeld frei wählen. Obwohl sich der Spielverlauf kontrafaktisch bis fiktional gestaltet, repräsen-tieren die Zeitalter (mehr oder weniger akkurat) historische Zeit-abschnitte und Epochen, da andere Anker für eine historische Einordnung fehlen. Unterschiedliche Entwicklungsstufen bei den Völkern der Spielenden mögen ein Ausdruck der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sein.

Spielmodi wie die Kampagne oder Szenarien führen mit ihren eingebetteten Erzählungen als Rahmenhandlungen zu einer neu-en Interpretation der „Zeitalter“. Historische Szenarien sind

3 Nicht umsonst lassen sich kaum nach der frühen Neuzeit angesiedelte Spiele finden, die ein ähnliches Narrativ wie Age of Empires besitzen. Ein solches lässt sich erst wieder in futuristischen Titel wie StarCraft II (Blizzard 2010) finden, in denen die Eroberung und Kolonisation des Weltraums eine Rolle spielen.

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meist zeitlich und geographisch konkret verortet, bei den Kam-pagnen handelt es sich um eine chronologische Abfolge solcher Szenarien. Hierbei können sowohl Kampagnen als auch ihre Szenarien unterschiedlich lange Zeiträume darstellen und unter-schiedlich akkurat die historischen Gegebenheiten wiedergeben.

Ihnen ist gemeinsam, dass die Zeitalter nicht mehr die histori-schen Zeitabschnitte oder Epochengrenzen repräsentieren, nach denen sie benannt sind. Dazu soll die Kampagne „Pax Romana“ aus Age of Empires: The Rise of Rome, welche die römische Kaiserzeit zum Thema hat, als Beispiel dienen. Das erste Szena-rio „Aktium“ startet in der „Eisenzeit“ und handelt von der na-mensgebenden Schlacht im Jahre 30 v. Chr., in der Spielende als Oktavian gegen Markus Antonius und Kleopatra kämpfen. Im darauffolgenden Szenario „Das Jahr der vier Kaiser“ werden die innerrömischen Kämpfe während eines ebenfalls kurzen Zeit-raums im Jahre 69 n. Chr. behandelt. Spielende schlüpfen dies-mal in die Rolle des Vespasian, starten aber in der „Altsteinzeit“, müssen sich gegen die Konkurrenten Odoaker, Galba und Vitel-lius behaupten und bis in die „Eisenzeit“ voranschreiten, um ein „Weltwunder“ zu errichten.

Spielende, die die Zeitalter in der Kampagne für Epochenre-präsentationen hielten, müssten das Spiel schlicht für unlogisch und inkonsistent halten. Es scheint also plausibler, dass die Zeit-alter in den Szenarien oder Kampagnen keine historischen Epo-chen repräsentieren wollen, sondern für ein abstrakteres Kon-zept von Progression oder Fortschritt im allgemeineren Sinne stehen. Auch dies soll später einer weiteren Untersuchung un-terzogen werden.

2.4 Erfolgsnarrative

Von einem Spielmodus als Kontext ist ein noch viel grundle-genderes Narrativ abhängig – das von Siegern und Besiegten.

Schon Kampagnen oder Szenarien mit ihren eingebetteten Narrativen zeigen, dass Spiele keinesfalls zwangsläufig nur Ge-schichte der Sieger schreiben: Die Kampagne „Montezuma“ in Age of Empires II: The Conquerors zeigt aus der Sicht der Az-teken eindrucksvoll, dass auch Geschichte aus dem Blickwinkel

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der letztendlich Unterlegenen im Historienspiel erzählt werden kann.4

Abgesehen von Einführungsmissionen ist eine spielimmanen-te Niederlage prinzipiell in den meisten Spielen und ihren jewei-ligen Spielmodi möglich. Selbst im wortwörtlichen „Endlosspiel“ von ANNO 1404 (Ubisoft/Related Designs 2009), in dem ein Sieg nicht zwingend notwendig ist, da sich Spielende selbst Ziele ste-cken, existiert die Möglichkeit der Niederlage beispielsweise durch einen Staatsbankrott.

Das Narrativ eines Spiels muss also weder in eingebettete Rah-menerzählungen wie die der Kampagnen noch in der emergen-ten Erzählung einer Partie ein „Erfolgsnarrativ“ (Schwarz 2014, S.50) sein, zumal ein „Zweck des Siegens“ (ebd.) gar nicht vor-handen sein muss.

Abbildung 3: Die Zeitlinie in Age of Empires veranschaulicht

das Auf und Ab des Spielverlaufs.

Eine Partie von Age of Empires kann auch im Inbegriff der drohenden Niederlage soweit gespielt werden, bis das eigene Volk komplett eliminiert ist. Das zu Beginn genannte Narrativ

4 Ein weiteres Beispiel wäre die indische Kampagne von Age of Empires III: The Asian Dynasties, die den Aufstand von 1857 thematisiert.

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vom Aufstieg eines Volkes stellt sich also als Idealfall des Spiel-verlaufs heraus, der nur selten auch die Realität des Spielens wi-derspiegelt. Vielmehr gestaltet sich der Spielverlauf in Age of Empires als ein dynamisches Auf und Ab, das von nichttrivialen Entscheidungen der Spielenden und ihren Mitspielenden ab-hängt (Abb. 3).

2.5 Entscheidungen und ihre Narrativierung

Die Feststellung, dass ein Spiel als eine Aneinanderreihung von bedeutungsvollen Entscheidungen verstanden werden kann (Meier 2012), hat Auswirkungen auf die Interpretation von Spielmechaniken wie den Zeitalteraufstieg.

Wenn die Erforschung von Technologien, also auch Zeitalter-aufstiegen, immer vorteilhaft für Spielende wäre, bedürfte das Erforschen keiner Entscheidung. Die Entscheidung wäre trivial, die Entwicklung von Technologien wäre als Spielmechanik schlichtweg redundant. Doch das ist sie nicht.

Wie die meisten Strategiespiele ist die Age of Empires-Reihe konfigurationskritisch, das heißt, es erfordert die umsichtige Re-gulation mehrerer, voneinander abhängiger Werte (Pias 2004). In allen Spielmodi der Age of Empires-Reihe treffen Spielende ihre Entscheidungen dabei im Spannungsfeld von Wirtschaft, Militär und Technologie. Spielende haben stets abzuwägen, in welchen dieser Bereiche sie Rohstoffe investieren.

Das sorgt dafür, dass ein Aufstieg in das nächste Zeitalter für Spielende nicht immer vorteilhaft ist. Erfolgt der Aufstieg bei-spielsweise zu früh, könnten Spielende aufgrund der hohen Kos-ten sowohl ökonomisch als auch militärisch ins Hintertreffen ge-raten, zumal Vorteile eines neuen Zeitalters sich erst mittelbar durch weitere verfügbare Technologien, Gebäude und Truppen bemerkbar machen.

Zeitalterwechsel dienen folglich nicht nur dazu, im Spiel ein-fach eine größere Anzahl an Soldatentypen unterbringen zu können (Pasternak 2012, 53) oder als „Spannungsbogen“ (Zwi-schenberger 2014, 264), um Spielenden neue Spielmöglichkeiten zu bieten. Der Wechsel in ein neues Zeitalter muss als bedeu-tungsvoller Teil des Spielsystems gesehen werden, indem Ent-scheidungen Sieg oder Niederlage bedeuten können. Im Kontext des Spielverlaufs vermitteln Zeitalterwechsel also nicht zwangs-

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läufig ein kulturoptimistisches Geschichtsbild, wenn sie gerade den Untergang des Volkes verursacht haben.

2.6 Implizite und ausgehandelte Regeln

Die Spielmechaniken, die bisher maßgeblich betrachtet wur-den, werden durch die Spielregeln konstituiert. Nur weil der Spielcode digital, also formal und diskretisierbar vorliegt (Heinze 2012, 62), dürfen die Spielregeln und der Programmcode jedoch nicht verwechselt werden. Spielende haben nicht nur die Mög-lichkeit, kreativ mit den Spielregeln umzugehen – sie tun es so-gar jedes Mal, wenn sie spielen. Implizite und ausgehandelte Re-geln sind in Spielen allgegenwärtig.

Erstere sind ungeschriebene Regeln sozialer Etikette zwischen Spielenden (Salen und Zimmermann 2004, 148). So ist es in Mehrspielerpartien von Age of Empires II verpöhnt, Wild in der Nähe der gegnerischen Basis zu jagen, nur um es dort verrotten zu lassen und damit dem Kontrahenten die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Spielende können sich jedoch auch selbst (mitun-ter dieselben) Regeln auferlegen, wenn sie nur gegen den Rech-ner spielen. Sie tun dies, weil sie beispielsweise bestimmte Her-ausforderungen suchen, eine bestimmte Spielweise präferieren, oder weil sie Lücken im Programmcode (sogenannte Exploits) nicht auszunutzen wollen.

Des Weiteren können Spielende weitere Regeln untereinander aushandeln. So erfreut sich in der Age of Empires-Reihe der so-genannte „No-Rush“ großer Beliebtheit. Bei diesem Abkommen verpflichten sich die Spielenden auf Vertrauensbasis, sich für ei-ne festgelegte Anzahl an Minuten nach Spielbeginn nicht anzu-greifen. Der „No-Rush“ ist sogar so beliebt, dass er von den Ent-wicklern in den Erweiterungen für Age of Empires III: The Warchiefs, Age of Empires III: The Asian Dynasties und Age of Empires II: The Forgotten als „Treaty“-Modus institutionali-siert wurde. Wer das Spiel im Kontext dieses Spielmodus be-trachtet, wird ein Spielgeschehen vorfinden, das viel mehr auf den Aufbau fokussiert ist, als auf den Kampf.

2.7 Freiheit des Spiels, Spielstile und das Metagame

Neben den Regeln bzw. den Spielmechaniken wird das Spiel-Erleben auch maßgeblich vom Spielstil der Spielenden bestimmt,

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denn es ist ihnen grundsätzlich freigestellt, auf welche Art und Weise oder mit welcher Strategie sie ein Spiel spielen möchten. So ist es durchaus legitim, sich in einer Partie von Age of Em-pires Online beispielsweise das Ziel zu setzen, alle Wälder abzu-holzen und die komplette Karte mit Feldern zu bewirtschaften, statt die Gegner bezwingen zu wollen.

Der Spielstil ist (in kompetitiven Spielmodi) aber nicht nur von den Fähigkeiten oder Präferenzen der Spielenden abhängig, sondern auch von denen ihrer Mitspieler. Dadurch können sich Spielstile verselbstständigen – im Spielerjargon auch Metagame genannt. Dabei handelt es sich um die Sammlung der aktuell po-pulären Spielstile. Das Metagame ist hochdynamisch, da neue oder abgeänderte Spielstile durch das Kopieren und Adaptieren der Verhaltensweise anderer Spielender entstehen (Phil 2013).

Schließlich gestaltet sich der Spielverlauf gänzlich anders, ab-hängig davon, ob die Spielerschaft prinzipiell aggressiv oder pas-siv vorgeht oder sogar vor dem Spielstart ein Nichtangriffsab-kommen schließt. Es kann bisweilen vorkommen, dass Spielge-meinden unabhängig voneinander ein unterschiedliches Metag-ame entwickeln. Dies ist für Entwickler besonders ersichtlich und problematisch, weil sich das Metagame nach der Veröffent-lichung nie genau so wie das Metagame interner Testspiele ent-wickelt.

“While the public metagame generally evolved in a similar fashion to what happened internally, there were a few examples of it following a different path. Internally, we’d play a much more passive early game. What became the most popular strategy among all civilizations was very aggressive play.” (Kieffer Bryant 2013, Zitat aus einem persönlichen Ge-spräch)

Dies kann mitunter dazu führen, dass Spielstile zutage treten, die von den Entwicklern nicht intendiert waren.5

3 Resümee

Spiele aus verschiedenen Standpunkten und in unterschiedli-chen Kontexten zu betrachten bietet gewaltige Chancen:

5 Prinzipiell sorgt die Dynamik des Metagames dafür, dass nach einer gewissen Zeit eine besonders effektive Strategie das Metagame vollkommen dominiert. Nicht selten werden dann Änderungen in der Spielbalance durch Patches vorgenommen. (Phil 2013, 52)

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Es ist festzuhalten, dass sich die Geschichte im Spiel nicht al-lein auf den zugrunde liegenden Programmcode oder die einge-betteten Narrative reduzieren lässt. Sowohl spielimmanente Kontexte wie Spielmodi, als auch externe Kontexte wie eine Spielreihe im Gesamten sorgen für unterschiedliche Rahmen-handlungen, in denen sich die Erzählung des Spiels entfaltet. Die vermeintlich als gegeben präsentierte Geschichte (Schwarz 2014, 50) kann durch die interaktive Natur der Spiele und die Kreativi-tät der Spielenden einen Bedeutungswandel erfahren.

Es ist deshalb keinesfalls so, dass Geschichte in Spielen wie der Age of Empires-Reihe zwangsläufig als „struktureller Prozess und nicht oder nicht primär als Folge menschlichen Entschei-dens und Handelns“ (Schwarz 2014, 31) erscheinen muss. Gerade die Spielenden sind es doch, die mit ihren Entscheidungen maß-geblich für das Auf und Ab des Spielverlaufs verantwortlich sind.

Die Freiheit der Spielenden, mit Regeln und Mechaniken kre-ativ umzugehen und die dynamische Entwicklung des Metaga-mes machen deutlich, dass nur schwerlich von einer „Ideologie des Programmcodes“ (Bevc 2008) gesprochen werden kann.

Spiele gestalten lediglich den Rahmen, in dem sich das indivi-duelle Spielen vollzieht: Sie erzählen etwas anderes, je nachdem, wie wir uns ihnen nähern, in welchem Kontext wir sie betrachten und vor allem wie wir sie spielen. Dass diese unterschiedliche Geschichten sich mitunter sogar zu widersprechen scheinen, ge-staltet sich als enormes Problem für die Suche nach den evozier-ten Geschichtsbildern.

Wir sollten also vorsichtig dabei sein, unsere eigenen Inter-pretationen der Spiele als allgemeingültig anzusehen oder gar von den Intentionen der Entwickler oder deren Geschichtsbil-dern zu reden. Die Untersuchung von Spielen erfordert letztend-lich eine kritische Standortreflexion.

Literatur

Heinze, Carl (2012): Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstel-lung und Modellierung von Geschichte im populären Computer-spiel. Bielefeld: transcript Verlag.

Pasternak, Jan (2012): 500.000 Jahre an einem Tag. Möglich-keiten und Grenzen der Darstellung von Geschichte in epochen-übergreifenden Echtzeitstrategiespielen. In: Schwarz, Angela (Hrsg.): Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte

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Kühe auf Ihre Gegner werfen? Eine fachwissenschaftliche Annä-herung an Geschichte im Computerspiel. Münster: LIT Verlag.

Phil, Nils (2013): On Memes and the Meta-game. In: Making Games, Heft 4/2013, 52–55.

Salen, Katie; Zimmermann, Eric (2008): Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambridge: MIT Press.

Schwarz, Angela (Hrsg.) (2012): Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen? Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im Computer-spiel. Münster: LIT Verlag.

Schwarz, Angela (2014): Narration und Narrativ. Geschichte erzählen in Videospielen. In: Kerschbaumer, Florian; Winnerling, Tobias (Hrsg.): Frühe Neuzeit im Videospiel. Geschichtswissen-schaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag.

Zwischenberger, Anton (2012): Epochengrenzen in Videospie-len. Age of Empires III und Europa Universalis III. In: Kersch-baumer, Florian; Winnerling, Tobias (Hrsg.): Frühe Neuzeit im Videospiel. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag.

Internetquellen

Bevc, Tobias (2008): Gesellschaft und Geschichte in Compu-terspielen. Einsichten und Perspektiven 2008. URL: http://www.blz.bayern.de/blz/eup/01_08/4.asp (Stand 06.09.2014)

Meier, Sid (2012): Interesting Decisions. GDC Vault 2012. URL: http://gdcvault.com/play/1015756/Interesting (Stand 06.09.2014)

Petersen, Sandy: Ask Sandy XXIII. Heaven Games 2009. URL: http://aoe3.heavengames.com/cgi-bin/forums/display.cgi?action=ct&f=1,37630,1200,all (Stand 06.09.2014)

Pias, Claus (2014): Computerspiele. Universität Duisburg-Essen 2004. URL: https://www.uni-due.de/~bj0063/texte/k+u.pdf (Stand 06.09.2014)

Spiele

Age of Empires. Microsoft/Ensemble Studios 1997. Windows.

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Age of Empires: The Rise of Rome. Microsoft/Ensemble Studi-os 1998. Windows.

Age of Empires II: The Age of Kings. Microsoft/Ensemble Stu-dios 1999. Windows.

Age of Empires III. Microsoft/Ensemble Studios 2005. Win-dows.

Age of Empires III: The Warchiefs. Microsoft/Ensemble Studi-os 2006. Windows.

Age of Empires III: The Asian Dynasties. Microsoft/Ensemble Studios/Big Huge Games 2007. Windows.

ANNO 1404. Ubisoft/Related Designs 2009.

Starcraft II. Activision/Blizzard Entertainment 2010.

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ULLRICH KLEIN / MARTIN STOBBE

‚An den Rädchen der Geschichte drehen‘

Grand strategy games als potenziell-kontrafaktische Geschichtsdarstellung – eine Fallstudie am Beispiel von Victoria II

1. Einleitung

Mit dem Titel unseres Beitrages soll explizit eine der Kernfra-gen des Sammelbandes adressiert werden: Wie wird Geschichte durch Computerspiele vermittelt und – so muss man bedingt durch das Medium weiter fragen – welche Rolle nimmt der/die SpielerIn dabei ein? Beide Fragen sollen im Folgenden für das Genre der grand strategy games am Beispiel von Victoria II (Pa-radox Interactive 2010) bearbeitet werden – es handelt sich also explizit um eine Fallstudie. Die im Titel enthaltene Rede vom ‚Drehen an Rädchen‘ deutet dabei metaphorisch bereits zwei Hypothesen an. Erstens, dass es in dem von uns ausgewählten Beispiel möglich ist, virtuell in den dargestellten Verlauf der Re-algeschichte einzugreifen, aber zweitens auch – so soll der Dimi-nutiv ‚Rädchen‘ anstelle von ‚Rad‘ anzeigen – dass die entspre-chenden Eingriffe nur in begrenztem Rahmen möglich sind. Die Beschreibung dieses Rahmens ist dabei das Ziel unseres Beitrags, denn er spielt die zentrale bedeutungskonstitutive Rolle in Bezug auf das im Spiel vermittelte Geschichtsbild.

2. Computerspiele als ‚story-generating programs‘

Dass sich Computerspiele aus konfiguratorisch-ludischen und erzählenden Elementen zusammensetzen, dürfte mittlerweile als Konsens gelten (vgl. zusammenfassend Neitzel 2013). Das Prob-lem, ob sie erzählende Medien sind oder nicht, ist insofern von differenzierten Interessenlagen abgelöst worden, deren Struktur sich eher aus dem jeweiligen Erkenntnisinteresse und dem konk-ret fokussierten Gegenstand oder Genre her bestimmt. Zu den Kernfragen eines narratologisch informierten Zugriffs gehören dann u.a. solche danach, welchen Anteil in einem konkreten Spiel oder Genre die erzählenden gegenüber den ludischen Ele-menten haben und wie sich ihr Verhältnis zueinander genau

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konzipieren lässt. Beide Fragen hängen dabei jeweils eng damit zusammen, was unter ‚Erzählung‘ und ‚Spiel‘ überhaupt verstan-den wird.

Mit Marie-Laure Ryan gehen wir zunächst einmal davon aus, dass ‚Erzählung‘ nur durch eine graduell-dimensionale Definition erfasst werden kann. Das heißt bestimmte Artefakte (Texte, Fil-me, Computerspiele…) können als mehr oder weniger erzählend eingestuft werden. Je mehr Dimensionen eines Prototyps sie er-füllen, desto eher würden LeserInnen (ZuschauerInnen, Spiele-rInnen …) einem Artefakt ‚Narrativität‘ zuschreiben. Diese Proto-typen muss man sich als kulturell geteilte, abstrakt-mentale Konstrukte vorstellen, die ebenso kulturspezifisch sind. Dabei unterscheidet Ryan vier Dimensionen mit mehreren Unterdi-mensionen, die wir hier vollständig zitieren (Ryan 2006, 8):

Spatial dimension 1. Narrative must be about a world populated by individuated existents.

Temporal dimension 2. This world must be situated in time and undergo significant transfor-mations. 3. The transformations must be caused by nonhabitual physical events.

Mental dimension 4. Some of the participants in the events must be intelligent agents who have a mental life and react emotionally to the states of the world. 5. Some of the events must be purposeful actions by these agents, moti-vated by identifiable goals and plans.

Formal and pragmatic dimension 6. The sequence of events must form a unified causal chain and lead to closure. 7. The occurrence of at least some of the events must be asserted as fact for the story world. 8. The story must communicate something meaningful to the recipient.

Ohne jede einzelne Dimension en detail zu adressieren, sei auf zwei übergreifende Aspekte in diesem Modell hingewiesen. Die ersten drei Dimensionsklassen betreffen die in der klassischen Narratologie der histoire zugewiesenen Elemente einer Erzäh-lung, die letzte den discours. Je mehr Elemente mit aufsteigender Ordnungszahl erfüllt sind, desto prototypischer ist in diesem Modell ein fragliches Artefakt narrativ. Das zeigt deutlich, dass

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vor allem Elemente der Semantik zentral für Ryans Definition sind, also solche, die die dargestellte Welt in räumlicher und dann auch zeitlicher Dimension und ihre Bewohner betreffen (oder eben die histoire). Interessant ist daran, dass somit bereits eine irgendwie geartete Abbildung eines Raumes, in dem zeitli-che Veränderungen vorkommen, einen – wenn auch geringen – Grad an Narrativität besitzt. Nun ist es bekannt, dass in der Nar-ratologie durchaus strengere Kriterien behauptet worden sind, wie etwa die Notwendigkeit, dass die Veränderungen in der dar-gestellten Welt auch Bedeutung für Figuren haben müssen (4) und mehr noch, dass sie sogar durch solche Figuren und ihre Zie-le herbeigeführt und motiviert sein müssen (5). Gerade diese Kri-terien dienen in den meisten Fällen der Abgrenzung von Erzäh-lungen im emphatischen Sinne von Betriebsanleitungen und Re-zepten, auf die durchaus auch bereits die ersten Kriterien zutref-fen würden. Mit der Idee einer graduellen Definition ist aller-dings ein wichtiges Grundproblem gelöst: auch Betriebsanleitun-gen sind somit erzählend, nur nicht in einem so vollen Sinne wie es etwa eine Biographie (egal in welchem Medium) ist. Diese Annahme ist auch für die Computerspielnarratologie von großer Bedeutung, weil es hier, besonders in historischer Perspektive, keine Seltenheit ist, dass es keine menschenähnlichen Agenten gibt oder aber die ausgeführten Handlungen keinen Zweck in Bezug auf die Storyworld, sondern nur in Bezug auf einen Ge-schicklichkeitstest haben – dazu unten mehr.

Darüber hinaus – das wäre der zweite erwähnenswerte Aspekt in diesem Narrativitätsmodell – ist es besonders auffällig, dass die Kriterien 6 bis 8, also diejenigen, die der Ebene der Darstel-lung (discours) zugeschrieben werden müssen, erst sehr hochstu-fige Bedingungen sind, um Narrativität zuzuschreiben, denn ge-rade diese Ebene funktioniert in verschiedenen Medien anders. Die Stärke dieses Konzepts besteht deshalb genau darin, dass auch Filme, Comics und andere Medien ohne Weiteres erzäh-lende Gegenstände sein können, da sie zumindest die semanti-schen Eigenschaften mit medial anders verfassten Gegenständen (vor allem natürlich sprachlichen) teilen. Besonders digitale Me-dien wie Computerspiele sind aber von den Unterschieden auf der Darstellungsebene betroffen. Das zeigt sich ganz vorder-gründig in Kriterium 6, das von einer „unified“, also einheitlichen

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und mithin linearen „Kette“ von Ereignissen spricht. Gerade die-se Einheitlichkeit in der Darstellung der Ereignisfolge ist nämlich wegen des interaktiven Charakters von Computerspielen in ei-nem produktiven Sinne problematisch und führt ins Zentrum der Spezifika des digitalen Erzählens. Um diese genau zu fassen, muss aber noch definiert werden, was mit ‚Spiel‘ überhaupt ge-meint ist.

Das bekanntermaßen extrem breite Bedeutungsspektrum die-ses Begriffs schränken wir hier mit Hinblick auf das Computer-spiel deutlich ein. Espen Aarseth fasst ‚Spiel‘ (‚Gameplay‘) als Prozess auf, an dem zwei Ebenen beteiligt sind (Abb. 1).

Abbildung 1: Gameplay nach Aarseth (eigene Übersetzung,

vgl. Aarseth 2011, 59)

Die Ebene der ‚Spielstruktur/Mechanik‘ lässt sich mit Gonzalo Frasca (2003, 233; 2007, 116–120) genauer bestimmen als ein Satz von algorithmisch formulierten Regeln. Diese lassen sich unter-scheiden in Simulations-, Manipulations- und Gewinnregeln. Die Mechanik besteht also im Falle digitaler Spiele aus in Software niedergelegten Strukturen, die die Handlungen von SpielerInnen limitieren aber eben dadurch auch ermöglichen (Juul 2005). Die Spielwelt (original ‚gameworld‘) ist demgegenüber eine semioti-sche Repräsentation, die es SpielerInnen überhaupt erst ermög-licht, in Bezug auf die Regeln zu handeln – im klassischen Sinne handelt es sich dabei um bestimmte Spielfelder (beziehen sich auf Simulationsregeln) und -steine (beziehen sich auf Manipula-tionsregeln). Ganz entscheidend ist an dieser Stelle, dass beide Ebenen sich nicht zueinander verhalten wie Repräsentation zu Repräsentiertem. Die Spielwelt repräsentiert nicht die Spielstruk-tur, sondern sie repräsentiert zunächst einmal irgendetwas, das durch SpielerInnen beeinflusst werden kann – wie genau diese Beeinflussung möglich ist, ist dann durch die mit dieser Reprä-

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sentation verknüpften Regeln bestimmt. Dabei ist es aber voll-kommen offen, was genau durch eine Spielwelt repräsentiert wird. Es ist für das narratologische Verständnis von Computer-spielen sehr zentral, dass das Spektrum der möglichen Repräsen-tation von vollkommen abstrakten Elementen (weiße Striche, Vierecke auf schwarzem Grund) hin zu sehr mimetischen Dar-stellungen (menschliche Figuren in dreidimensionalen Städten oder Landschaften) reichen kann, ohne dass sich an der Spiel-struktur/Mechanik etwas ändern muss.

Egal wie unkonkret oder mimetisch eine Spielwelt aber ist, sie besteht auf einem abstrakten Beschreibungslevel immer aus „WORLD, OBJECTS, AGENTS, and EVENTS“ (Aarseth 2012, 130) und genau diese sind ja auch Bestandteile der ersten fünf (also der semantischen) Narrativitätskriterien nach Ryan. Die Mecha-nik muss sich, so die Annahme, auf etwas beziehen, nämlich auf eine „WORLD“ (als Simulationsregeln), „OBJECTS“ und „AGENTS“ (Manipulationsregeln). „EVENTS“ finden nach diesem Modell genau dann statt, wenn ein/e SpielerIn in die simulierte Welt mittels der ihm/ihr durch die Manipulationsregeln erlaub-ten Eingaben eingreift und Zustände in dieser Welt verändert. Genau dieser Vorgang wäre dann das Gameplay. Durch die Ver-knüpfung der Mechanik mit nun gerade solchen Zeichen, die im-stande sind, die Kriterien 4 und 5 im Sinne der o.g. Dimensionen zu kodieren, wird das Gameplay, je nach Art der Darstellung, selbst mehr oder weniger zum ‚Erzählvorgang‘ oder, um es etwas unverfänglicher auszudrücken, zum Storyplay. Es ist eben ein narrativer, aber kein prinzipiell mechanischer Unterschied, ob man – wie in Pong (Atari 1972) – einen weißen Streifen nach oben und unten bewegt, um zu verhindern, dass ein kleines Viereck den Bildschirmrand berührt, oder ob man – wie in BioS-hock Infinite (Irrational Games 2013) – eine Figur namens Booker DeWitt vor eine andere Figur namens Elisabeth steuert, damit man mit dem Körper Gewehrkugeln auffängt, um ihr Leben zu schützen.1 Im ersten Fall wären lediglich die Kriterien 1 bis 3 er-

1 Dass es dabei weiterhin möglich ist, SpielerInnen die Handlungsfähigkeit zu entziehen und Ereignisse ohne Zutun darzustellen, ändert nichts an der Tatsache, dass theoretisch jede ausgeführte Eingabe zu einer Veränderung in der gleichen (virtuellen) Welt führt, in der auch die passiv angezeigten Ereignisse stattfinden. Genauso sind in diesem Modell alle reinen

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füllt und man würde sich schwer tun, wenn es auch nicht un-möglich ist, dem Vorgang Narrativität zuzusprechen. Im zweiten Fall kann man darüber hinaus aber leicht die Dimensionen 4 bis 5 als realisiert betrachten und dem Geschehen eine höhere Nar-rativität zusprechen. Je nach konkreter Darstellungsstruktur kann es entsprechend sein, dass SpielerInnen mehr oder weniger Story-basierte Entscheidungen treffen. Das heißt, es geht dann eventuell nicht mehr darum, das Spiel zu gewinnen, indem man ein Viereck vom Rand fernhält, sondern darum, die Geschichte auf diese und nicht die andere Weise zu beenden, indem man die Kugeln von Figur X fernhält. Mechanisch betrachtet, wird dabei ein sehr ähnliches Spiel gespielt, narrativ finden jedoch andere Ereignisse statt und können auch als solche wahrge-nommen werden.

Computerspiele dieser Art lassen sich als „story-game amal-gams“ (Aarseth 2012, 130) auffassen, in denen die Spielwelt durch geringere Abstraktion und mimetischere Darstellung auch als Storyworld interpretierbar wird, weil sie mehr Narrativitäts-Kriterien erfüllt. Wir gehen im Anschluss an diese Position, die man mit Marie-Laure Ryan auch „ludo-narratologisch“ nennen könnte, davon aus, dass Spielstruktur und Spielwelt/Storyworld immer nur gemeinsam konstitutiv für die Beschreibung eines konkreten Computerspiels sind (Ryan 2006, 202). In theoreti-schem Einklang mit Aarseth, aber mit einer deutlichen narrato-logischen Aufmerksamkeitsverlagerung, fassen wir Computer-spiele mit Ryan als „story-generating programs“ (Ryan 2006, 188) auf. Gemeint ist damit, dass ein Computerspiel im Sinne des oben Gesagten ein Bündel potenzieller Storyworlds ist (das sich auch als solches beschreiben lässt), aus dem im Gameplay durch SpielerInnen Derivate aktualisiert werden, wobei dieser Aus-wahlprozess durch die Mechanik geregelt ist. ‚Amalgamiert‘ wer-den die Elemente ‚story‘ und ‚game‘ also im Gameplay als Pro-zess, in dem dann erst durch den/die SpielerIn über die discours-Kriterien 6 bis 8 entschieden wird.

Geschicklichkeitstests und rein-ludischen Elemente integrierbar. Das im Hintergrund stehende Konzept, dass sich spielerische und erzählende Phasen im Computerspiel alternierend und eher unvermittelt abwechseln (z.B. in Form von cutscenes und playscenes) darf in diesem Zusammenhang aber für die meisten Beispiele als zu eindimensional gelten.

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Die oben genannte Narrativitätsdimension Nr. 6 und hier be-sonders die Anforderung der Darstellung einer einheitlichen Er-eigniskette muss also überdacht werden. Jeder einzelne Durch-gang durch ein Spiel stellt zwar durchaus so eine Ereigniskette dar, gleichzeitig sind im Spiel als ganzem Artefakt aber ganz ver-schiedene Ereignisverläufe angelegt.2 Es ist vor diesem Hinter-grund unserer Meinung nach für ein konkretes Computerspiel bedeutungskonstitutiv, welche Mechanik zur Auswahl der Story-stränge in einem konkreten Fall implementiert ist, sodass man nicht einfach von mehreren, möglichen Ereignisverläufen spre-chen sollte, sondern eigentlich von einem komplex-multilinearen, interaktiven Ereignisverlauf. Dass es SpielerInnen in manchem Fällen erlaubt ist, zwischen zwei oder mehr Optio-nen zu wählen und in anderen nicht, ist sozusagen eine Stel-lungnahme gegenüber allen denkbaren Entwicklungen an der fraglichen Stelle in der Storyworld. Ein kontrovers diskutiertes Beispiel ist etwa eine Szene im third-person-Shooter Spec Ops: The Line (Yager Development 2012), in der der Protagonist, der gleichzeitig der Avatar ist, von einer Menge Zivilisten lebensbe-drohlich bedrängt wird. Ob man in die Menge feuert oder in die Luft, führt mechanisch gesehen zum gleichen Ergebnis, ändert aber die dargestellte psychische Konstitution der Figur und be-trifft damit die Dimension 4 in Ryans Definition. An späterer Stelle werden Figur und damit auch SpielerIn (im Falle des Wei-terspielens) dazu gezwungen, Zivilisten durch Luftschläge zu ermorden. Hier die Wahl zu entziehen, ist im Kontrast zur vori-gen Situation also eine klare Aussage zu den Folgen eines Kriegs-einsatzes für den einzelnen Soldaten.

2 Dabei muss man noch deutlich unterscheiden, ob man bereits jede Bewegung in einem First-Person-Shooter oder jedes Verlegen einer Straße in einer Aufbausimulation als Ereignis deutet oder erst bedeutende (‚significant‘) Abweichungen, wie etwa das Wählen des rechten statt des linken Weges oder die Detonation eines Atomkraftwerkes. Diese Entscheidung muss für jeden einzelnen Fall getroffen werden und betrifft die bekannte Unterscheidung in Kardinalfunktionen und Katalysen, die Roland Barthes (2007) geprägt hat.

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3. Fallstudie: Victoria II

3.1. Grundelemente von Mechanik & Spielwelt/Storyworld

Im hier untersuchten Fall werden wir zu dem Ergebnis kom-men, dass der Zusammenhang zwischen Spielmechanik und dar-gestellter Welt zu einer bestimmten Ansicht über den Verlauf von Geschichte beiträgt, die sich vor dem Hintergrund einer Theorie der kontrafaktischen Geschichtsdarstellung optimal be-schreiben lässt. Dabei analysieren wir aus methodischen Grün-den nur den Einzelspielermodus und als ersten Schritt gehen wir, entsprechend des Schemas von Aarseth, auf die Spielmechanik ein.

1. Victoria II ist ein Hybrid aus Runden- und Echtzeitstrate-giespiel, da zwar alle (menschlichen und KI-gesteuerten) Akteure gleichzeitig handeln, der/die SpielerIn aber jederzeit beliebig oft und unsanktioniert pausieren und währenddessen Einstellungen vornehmen kann. Die Anzahl der Akteure liegt, je nach Szenario, um die 130.

2. Das Spiel findet grundsätzlich auf einem virtuellen Spiel-brett mit Spielfeldern und Spielfiguren statt.

3. Dabei verzichtet es auf jegliches Mikromanagement, im Ge-genteil besteht die eigentliche Einflussnahme auf das Spielge-schehen darin, abstrakte Faktoren so einzustellen, dass nach ei-ner bestimmten Zeit und mit einer bestimmten Wahrscheinlich-keit ein erwünschter Effekt eintritt. Tritt dieser Effekt nicht oder anders sein, so wird mithilfe von Statistiken und Graphen analy-siert, wo das Problem lag und andere Regler werden eingestellt, um der Störursache entgegenzuwirken. Dieser Vorgang ist dabei rekursiv, bis das gewünschte Ergebnis eintritt.

4. Grundsätzlich gilt das Prinzip: „Who is ahead will get more ahead“.

Im Gegensatz zu abstrakten Spielen ist das Verständnis der Mechanik in Victoria II stark an seine Darstellung und sein Thema gebunden, aber natürlich, im Sinne Aarseths, nicht zwin-gend daran gekoppelt. Es dürfte schwer sein, aus den oben ge-nannten Beschreibungen ein stabiles Bild des gesamten Spiels aufzubauen. Konkret geht es bei Victoria II, wie der Name be-reits andeutet, um nichts Geringeres als die Geschichte der (vor-

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nehmlich westlichen) Welt zwischen 1836 und 1935. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Spieloberfläche genauer be-schreiben.

Der/die SpielerIn bekommt einerseits durch die Weltkarte Zugriff auf das Spiel und andererseits durch Einstellungs- und Infobildschirme (Markierungen 1 und 2 in Abb. 2).

Abbildung 2: Weltkarte und Einstellungsbildschirme in Victoria II

1. Die Weltkarte: Wie schon erwähnt, funktioniert sie prinzi-piell wie das Spielbrett eines analogen Spiels. Als kleinste Ein-heit, also Spielfelder, finden sich sogenannte Provinzen. Die Kar-te lässt sich dabei in diverse, spielrelevante Einheiten aufteilen, das heißt Spielfelder zweiter Stufe, die die Provinzen nach be-stimmten Kriterien ordnen. Beispiele dafür sind ‚Politik‘ (Zu-sammenfassung der Provinzen nach Königreichen, Herzogtü-mern etc.), Infrastruktur (Zusammenfassung der Provinzen nach Ausbau mit Bahnen, Fabriken etc.), Nationalität (Norddeutsch, Süddeutsch etc.) und so weiter. Tatsächlich kann man behaup-ten, dass die Spielwelt in der räumlichen Dimension eine abs-trakte Repräsentation der politischen, wirtschaftlichen und sozi-alen Welt um das Jahr 1836 ist.

2. Einstellungs- und Infobildschirme: Dieses Element hat keine Entsprechung in einem analogen Brettspiel. Im Gegensatz zum Kartenmodus befinden sich hier die Bestandteile der Spiel-welt, die mit dem eigentlichen Kernelement der Spielmechanik

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von Victoria II verknüpft sind. Angewählt werden diese Bild-schirme durch die großen Knöpfe in der oberen, linken Bild-schirmecke. Sie lassen sich grob unterteilen in vier Bereiche: Wirtschaft, Innenpolitik, Außenpolitik und Forschung. Aufgelöst werden diese Bereiche in Victoria durch Einzelbildschirme für Produktion, Haushalt, Technologie, Politik, Bevölkerung, Han-del, Diplomatie und Militär. Im Wesentlichen bestehen diese Bildschirme zur einen Hälfte aus Informationen, zur anderen aus Schiebereglern und Checkboxen. Die Informationen geben dem/der SpielerIn den Stand der Simulation wieder, die Regler ermöglichen ihm/ihr die Manipulation. Weiter unten wird dies an einem Beispiel illustriert werden.

Was so einfach klingt, ist jedoch deutlich komplexer, denn je-des Drehen oder Schieben an einem dieser Regler hat einen mul-tifaktoriellen Einfluss auf die gesamte Simulation, die man sich als mehrfach-vernetzte Kausalstruktur denken muss. Der eigent-liche Clou an der Spielmechanik ist aber, dass die Bevölkerung, das ist die Repräsentation der zu steuernden Größe, scheinbar eigenmächtig handelt und es dem/der SpielerIn nur erlaubt ist, gewünschte Effekte indirekt dadurch herbeizuführen, dass man der Bevölkerung Handlungsweisen nahelegt, sie anregt und un-terstützt, oder aber versucht, sie von etwas abzuhalten.3

Die Bevölkerung wird simuliert durch sogenannte POPs, die im Vergleich zu anderen Spielen das Alleinstellungsmerkmal in der Spielmechanik von Victoria II darstellen. Es handelt sich da-bei um Bevölkerungsgruppen, die sich aus einer Matrix von spielrelevanten Eigenschaften ergeben und die soziologisch be-schreibbare Kategorien repräsentieren. Das sind konkret: Art der Arbeitskraft, Nationalität, Religion, Ideologie und Heimatpro-vinz. Das heißt, ein/e SpielerIn handelt z.B. in Bezug auf süd-deutsche, katholische, konservative, Fabrikbesitzer aus München oder norddeutsche, evangelische liberale Facharbeiter aus Rostock. Auf Basis dieser Eigenschaften wird die Simulation der Bevölkerung modelliert: die jeweiligen POP-Gruppen haben

3 Selbstverständlich sind die Algorithmen, die den ‚Handlungen‘ der POPs zugrundeliegen, nicht im strengen Sinne ‚autonom‘. Die Einflussnahme der Spieler/innen auf dieselben sind aber im höchsten Maße indirekt, insofern Eingaben und ihre Effekte kausal hochkomplex, zeitlich verzögert und zudem intransparent sind.

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grundsätzlich andere Interessen, die sie stets versuchen, durch-zusetzen. Wie oben erwähnt, haben SpielerInnen durch das Ein-stellen bestimmter Regler auf der Ebene der Manipulation ledig-lich die Möglichkeit, eine Gruppe indirekt zu bevorzugen (durch Steuerentlastungen auf die Oberschicht, durch die Erlaubnis freier Wahlen etc.). Insgesamt bedeutet dies, dass man es in Vic-toria gerade mit einem doppelten Gegenüber auf der Ebene der Simulationsregeln zu tun. Erstens mit den anderen Nationen (al-so ca. 130 Stück), zweitens aber auch mit der eigenen Bevölke-rung.

Bevor wir diese recht abstrakte Beschreibung aus Gründen der Nachvollziehbarkeit an einer konkreten Partie illustrieren, sei das bisher Gesagte kurz auf die o.g. Dimensionen von Narrativi-tät bezogen. Es geht dabei vor allem um das Element 1 „must be […] populated by individuated existents“ aus der ersten Dimensi-on. Bei genauerer Betrachtung könnte dieses Element bereits fehlen, denn wie erwähnt, ist die kleinste simulierte und steuer-bare Einheit ja POP und nicht etwa ‚Individuum‘. Gleichzeitig sind POPs in Bezug auf die im Spiel thematisierten Dimensionen (Weltgeschichte) bereits die individuell denkbarste Einheit, inso-fern sie wenigstens Zusammenfassungen von Individuen darstel-len. Man hat es also mit so etwas wie kollektiven Stimmen zu tun, die ihre Bedürfnisse in weltgeschichtlichem Maßstab artiku-lieren, gleichzeitig aber narratologisch gesehen wie Individuen handeln. Damit ist eng die Erfüllung der Bedingungen 4 und 5 verknüpft. Man würde hier weniger zögern, dem Spiel diese Ele-mente zuzusprechen, da sich den POPs als Agenten ein simulier-tes mentales Innenleben zuschreiben lässt, d.h. sie artikulieren sich in Zustimmung oder Ärger bis hin zur Revolution und äu-ßern damit Ziele und Motive. Dass sich darin bereits ein be-stimmtes Geschichtsbild zeigt, ist ohne Frage und deshalb zu be-rücksichtigen.4 So gesehen sind also alle semantischen Dimensi-onen von Narrativität auf eine bestimmte Weise – nämlich in ei-nem eher weltgeschichtlichen Stil – erfüllt.

4 Ganz anders verhält es sich etwa im ebenfalls von Paradox entwickelten grand strategy game Crusader Kings II (Paradox Interactive 2012). Hier handeln vor allem adlige Individuen und versuchen sich gegenseitig zu beeinflussen.

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3.2 Beispielpartie: Industrialisierung im Frankreich des 19. Jahrhunderts

Im Startbildschirm wird der/die SpielerIn aufgefordert, sich für einen Staat zu entscheiden, dessen Schicksal er in den fol-genden Jahren bestimmen soll. Für diese Partie fällt die Wahl auf Frankreich. Nach Partiebeginn wird die Spieloberfläche ange-zeigt, die das historische Jahr 1836 repräsentiert und simuliert. Das bedeutet, es gibt keine Sandbox-Situation im Sinne einer ta-bula rasa, sondern bereits eine strukturierte Story- und Spielwelt mit vorhandenen Ländergrenzen, diplomatischen Konstellatio-nen (beispielsweise befindet sich der Vatikanstaat bereits in der Einflusssphäre Frankreichs), bestehenden Armeen und Flotten und einer Bevölkerung, welche in einem Warenkreislauf konsu-miert und produziert. Innerhalb dieser Struktur können Spiele-rInnen nun entscheiden, wie sie den Status Quo verändern möchten. Der Handlungsrahmen ist im von uns gewählten Bei-spiel die politische und ökonomische Situation Frankreichs, ein Ziel kann es z.B. sein, die Industrialisierung im eigenen Staatsge-biet voranzutreiben. Der Grad der Industrialisierung wird in ei-nen globalen Punktestand und in die Rangfolge unter den Natio-nen einbezogen. Dies ist in der Spielmechanik nicht ganz uner-heblich, da die Rangordnung auch über die Handlungsmöglich-keiten der Akteure entscheidet. Die oberen acht Staaten in dieser Liste haben nämlich den Status einer Großmacht und damit ex-klusive diplomatische Optionen, die den restlichen Staaten nicht offenstehen. Ein Umstand, der sich deutlich an das von Zeitge-nossen im 19. Jahrhundert oft bemühte Konzept der Weltgeltung anlehnt.5

In der Ausgangssituation (1836) gibt es in Frankreich (vor al-lem in der Region um Paris) bereits einige wenige Fabriken. Es gilt nun, die vorhandenen zu stärken und dafür zu sorgen, dass weitere hinzukommen. Die Fabriken werden in Victoria II je-doch, wie erwähnt, im Gegensatz zu anderen Spielen, nicht vom Spieler/der Spielerin, sondern von den besagten POPs gebaut,

5 Vgl. dazu u.a. Warnke, Ingo H.: Deutsche Sprache und Kolonialismus. Aspekte der nationalen Kommunikation 1884 - 1914. Berlin 2009; siehe auch: Wernecke, Klaus: Der Wille zur Weltgeltung, Droste 1970; oder zeitgenössisch: Schäfer, Dietrich: Deutschland und England in See- und Weltgeltung. Leipzig 1915.

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und zwar in dem Fall von Kapitalisten. Die Aufgabe besteht also jetzt darin, dieser gesellschaftlichen Schicht möglichst optimale Bedingungen zu schaffen. Die wichtigsten Schritte dabei sind die folgenden:

Zunächst sollten die Steuern für die Oberschicht gesenkt wer-den, um den zugehörigen POPs genug Kapital zur Verfügung zu stellen. Daneben kann man den sog. ‚Fokus der Forschung‘ vor-geben, um positive Effekte zu erreichen – hier wählen wir eine Konzentration auf Industrie. Außerdem gibt der/die SpielerIn den wirtschaftspolitischen Rahmen vor, innerhalb dessen die Kapitalisten autonom investieren können. Um die Eigendynamik dieses Prozesses zu verdeutlichen, entscheiden wir uns für das Beispiel dafür, die liberale Regierung an der Macht zu lassen. Die Kapitalisten in Frankreich genießen nun einen sehr geringen Steuersatz und können sehr günstig Fabriken bauen.

Der nächste Schritt ist, für die bestehenden Fabriken gute wirtschaftliche Bedingungen zu schaffen, das heißt die Waren-zirkulation so zu beeinflussen, dass die französischen Kapitalis-ten möglichst viel Geld verdienen, welches sie unter anderem dafür verwenden werden, so hoffen wir, neue Fabriken zu bauen.

Bei der Spielmechanik, welche dem Handel in Victoria II zu Grunde liegt, kann man von einem idealisierten Weltmarkt spre-chen. Im Grunde sind alle produzierten Güter für jeden Akteur erreichbar. Der Preis orientiert sich dabei an Angebot und Nach-frage. Ist ein Gut jedoch knapp, hat diejenige Nation vorrangigen Zugang, welche den höchsten Prestige-Rang besitzt. Dieser Rang wird hauptsächlich durch militärische und kulturelle Errungen-schaften bestimmt. Darüber hinaus, was beinahe noch entschei-dender ist, werden die Produkte dieser Nationen auf dem Welt-markt auch als erstes eingekauft. Das heißt, für französische Ka-pitalisten kann und wird auch oft der Fall eintreten, dass ihnen die britischen Kapitalisten beim Import wichtiger Rohstoffe zu-vorkommen oder die französischen Produkte vom Weltmarkt verdrängen.

Die wichtigste Einschränkung in diesem Zusammenhang ist der Zoll. Mit dem Zoll besteuert der/die SpielerIn die Einfuhr von Waren aus dem Weltmarkt. Diese werden also teurer im Vergleich zu den im Binnenmarkt produzierten Produkten. Die Bevölkerung Frankreichs wird bei der Deckung ihrer Konsumbe-

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dürfnisse und der Bewirtschaftung ihrer Industrie immer nach dem günstigsten Produkt suchen und für den Staat bedeutet der Zoll zusätzlich eine attraktive Einkommensquelle. Hohe Zölle machen allerdings auch die Einfuhr der benötigten Rohstoffe aus dem Ausland teurer und senken damit den Grad der Wertschöp-fung der heimischen Industrie.

Folgende zusätzliche Einflussmöglichkeiten stehen dem nun offen:

1. Die Regulierung des Zolls. Um den Binnenmarkt zu stärken und der entstehenden Industrie einen sicheren Absatzmarkt zu garantieren, wird der Zoll auf ein erträgliches, aber spürbares Ni-veau gesetzt.

2. Eine weitere Maßnahme ist die Schaffung von sogenannten Einflusssphären. Dabei handelt es sich eigentlich um einen Be-reich der Diplomatie, der aber hier vor allem dadurch interessant wird, dass er gleichzeitig auch eine Zollunion darstellt. In der Beispielpartie haben vor allem die Betreiber einer Luxusmöbel-fabrik in Paris große Probleme, schwarze Zahlen zu schreiben. Ein Blick in die Statistik der Fabrik verrät, dass es an den Roh-stoffen, in diesem Fall Tropenholz, mangelt. Man könnte jetzt alle diplomatischen Mittel einsetzen, um Brasilien in die Ein-flusssphäre Frankreichs zu bewegen, also eine Zollunion zu er-zielen. In der Zukunft haben nun die französischen Kapitalisten bevorzugten Zugriff auf das brasilianische Tropenholz noch vor den britischen, denn der Binnenmarkt hat ja beim Kauf von Res-sourcen den Vorrang.

Nach einigen virtuellen Jahren zeigt sich dann, dass die Maß-nahmen Früchte tragen und tatsächlich viele Kapitalisten bereit sind, mehr und mehr zu investieren, neue Fabriken zu bauen und auch unsere Luxusmöbelfabrik deutlich in den schwarzen Zahlen steht. Eisenbahnen werden gebaut, und nach und nach arbeiten immer mehr ehemalige Bauern in den Fabriken der In-dustriezentren. Im folgenden Abschnitt soll das eben Dargestell-te kurz mit der historischen Wirklichkeit konfrontiert werden.

3.3. Historischer Hintergrund

Globale Vernetzung / globaler Handel: Die Repräsentation und Simulation des Welthandels im 19. Jahrhundert im Spiel Vic-

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toria II ist verkürzt, aber charakteristisch (vgl. Osterhammel 2009, 1029–1033). Tatsächlich existierten zu Beginn und in Ansät-zen auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch viele unzugängliche regionale Subsysteme des Warentausches. Im Falle des asiati-schen Binnenmarktes stießen die europäischen Händler noch lange an Barrieren, die sich durch das Prinzip des Schutzzolls nicht hinreichend erklären lassen. Auch zwischen Indien und China bestanden intensive Handelsbeziehungen, auf die der eu-ropäische Kapitalismus kaum Zugriff hatte.

Aber das System von nur sporadisch vernetzten regionalen Wirtschaftsräumen war im Rückgang begriffen. Die Dampfschiff-fahrt ermöglichte einen schnellen und zuverlässigen Transport und damit eine ungeahnte Zunahme an globalem Warentransfer. Zwischen 1840 und 1913, also etwa in dem vom vorliegenden Spiel dargestellten Zeitraum, verzehnfachte sich der Welthandel. Für die Wirtschaftspolitik der Großmächte des 19. Jahrhunderts wa-ren daher die Transparenz und die Zugänglichkeit außereuropäi-scher Märkte essentielle Themen. Wenn wir in unserer Beispiel-partie den französischen Besitzern einer Möbelfabrik durch ge-schickte Diplomatie einen exklusiven Zugriff auf brasilianisches Tropenholz verschaffen, dann bewegt sich die Simulation an die-ser Stelle auch ohne konkrete realhistorische Entsprechung in einem realitätsnahen und charakteristischen historischen Mög-lichkeitsrahmen.

Aufstieg des Kapitals: Der erste Schritt, den wir unternom-men haben, um einen Industrialisierungsprozess in Frankreich in Gang zu setzten, bestand ja darin, den Kapitalisten Geld in die Hand zu geben, indem wir ihren Steuersatz massiv gesenkt ha-ben. Karl Marx hätte seine Freude an diesem Mechanismus, spie-gelt er doch, wenn auch selbstverständlich äußerst verkürzt, die marxistische Erklärung für die europäische Industrialisierung wieder. Akkumulation und Konzentration von Kapital in den Händen derer, die es reinvestieren und dadurch weiter Kapital akkumulieren und so weiter. Gleichzeitig treibt diese Dynamik tausende Arbeiter in die freie Lohnarbeit, bei der sie nicht mehr an der Wertschöpfung teilhaben und auf lange Sicht vollkom-men abhängig von denen sind, für die sie arbeiten. Doch das so-ziale Elend der Arbeiter ist in unserer bisherigen Darstellung kaum von Belang. Man möchte diesen Kreislauf befördern, lässt

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er in unserem Beispiel doch auf genau die Dynamik hoffen, durch die Europa und Nordamerika zu solch mächtigen Bal-lungsräumen ökonomischer Kraft wurden (vgl. Kennedy 2005, 229–235; vgl. Bergier 1985, 262–282).

In Victoria II wird der soziale Aspekt der Industrialisierung aber keineswegs vernachlässigt. Spätestens wenn sich Mitte des Jahrhunderts sozialistische oder anarcho-liberale Parteien bilden und permanent Reformen fordern, werden neue Probleme in der Spielmechanik relevant, was sich beispielsweise in der Möglich-keit zeigt, auf Wunsch auch den gesetzlichen Mindestlohn ein-zuführen. Verschiedene, in der Wissenschaft durchaus umfang-reich erforschte, andere Bereiche der Geschichte kommen aber gar nicht oder nur in kleinen Ansätzen vor. So besteht die Bevöl-kerung in Victoria II z.B. ausschließlich aus wehrfähigen Män-nern. Der auf das Thema Wirtschaft fokussierte Bezug zur histo-rischen Wirklichkeit soll im Folgenden abstrakt beschrieben werden.

4. Das Verhältnis von Victoria II zum historischen Hintergrund

In der Beispielpartie wurde ein Industrialisierungsprozess nachgespielt. Aber was genau bedeutet im konkreten Fall und im Rahmen des eingangs vorgestellten methodischen Rahmens ‚nachgespielt‘? Tatsächlich war das Beispiel ziemlich nah an dem, was wir über diese Vorgänge historisch wissen, auch wenn die Industrialisierung Frankreichs erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirklich in Fahrt kam. Der Grund für diese Reali-tätsnähe liegt schlicht darin, dass für die Simulationsregeln auf der Mechanik-Ebene die tatsächliche europäische Wirtschaftsge-schichte Pate steht. Eine für diesen Fall sehr brauchbare Be-schreibung für das Verhältnis zwischen Simulation und Realität liefert nochmals Frasca (2003, 223):

„to simulate is to model a (source) system through a different system which maintains […] some of the behaviors of the original system.“ The key term here is „behavior.“ Simulation does not simply retain the […] characteristics of the object but it also includes a model of its behaviors. This model reacts to certain stimuli (input data, pushing buttons, joy-stick movements), according to a set of conditions.

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Was Victoria II also simuliert, ist nicht ‚die Geschichte‘ son-dern eben nur ein ihr unterstelltes Verhalten. Die von Frasca an-gesprochenen „inputs“ sind dabei die Manipulationen, die Spie-lerInnen aufgrund der erwähnten Regler in den Einstellungsbild-schirmen indirekt vornehmen – erst durch die Regelung der Si-mulation wird also konkrete Darstellung von Geschichte erzeugt. Innerhalb der Simulationsregeln werden der Zeit zwischen 1836 und 1935 somit strukturelle Gesetzmäßigkeiten zugeschrieben, die, wie gesagt, verkürzt aber nachvollziehbar sind. Das durch Victoria II vermittelte Geschichtsbild gründet sich in der Folge also nicht auf eine Darstellung historischer Ereignisketten, son-dern in der simulierten Erfahrbarkeit epochentypischer Gesetz-mäßigkeiten, gewissermaßen den ‚Spielregeln‘ des 19. Jahrhun-derts. Woher wissen SpielerInnen aber, welche Eingaben sie in die Simulation tätigen sollen oder müssen? Diese Frage zielt auf den oben nur erwähnten, aber noch nicht weiter definierten drit-ten Bereich der Mechanik-Ebene. Der Knackpunkt in der Analyse von Victoria II liegt nämlich neben der sehr komplexen, wenn auch gut beschreibbaren Simulation, auch in der Definition der Gewinnregeln.

Salen und Zimmerman (vgl. 2004, 248–265) gehen davon aus, dass das Ziel eines Spiels vor allem dazu notwendig ist, die Signi-fikanz der eigenen Handlungen nachzuvollziehen. Das ist in den meisten Fällen so einleuchtend wie selbstverständlich. Mario bahnt seinen Weg durch Marioland, um zum x-ten Mal die Prin-zessin zu befreien. In der obigen Darstellung des Spiels war be-wusst vorerst nur von kurzfristigen Handlungszielen die Rede. Was aber ist eigentlich das Gesamtspielziel? Weshalb will ein/e SpielerIn zum Beispiel die Industrialisierung in Frankreich vo-rantreiben? Weshalb möchte man, dass es mehr Facharbeiter in Bayern gibt? Mit Zimmerman/Salen und Aarseth würde man also fragen: Was gibt dem Gameplay Signifikanz?

Als mögliche Quellen für Gewinnregeln kommen bei den meisten Spielen (und so auch Victoria II) folgende Orte in Frage: der Startbildschirm, das Tutorial und das Handbuch. Zunächst zum Startbildschirm (Abb. 3):

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Abbildung 3: Auszug aus dem Startbildschirm von Victoria II

Ein „Instrument im Konzert Europas“ zu spielen verweist zwar durch Anzitieren des mehrpoligen Kräfteverhältnisses der euro-päischen Großmächte im 19. Jahrhundert auf die historische Si-tuation, ein Spielziel lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.

Das Tutorial lässt den/die SpielerIn auf ähnliche Weise im Dunkeln. Dort wird zwar beschrieben, welche Triebkräfte nach der Interpretation des Spiels die Geschichte der Welt im 19. Jahr-hundert vorangetrieben haben, lassen das Spielziel aber offen mit der Frage „Welche Rolle werden Sie spielen?“. Im 100-seitigen Handbuch sucht man überraschenderweise ebenfalls vollkommen vergeblich nach etwas, das auch nur ansatzweise nach einer Zielformulierung aussieht.

Auf der Suche nach Gewinnregeln kann man aber selbstver-ständlich auch in das Spiel selbst einsteigen. Als Anhaltspunkt für mögliche „implizite Gewinnregeln“ beziehen wir uns einmal auf den Siegbildschirm, also die Repräsentation eines möglichen Endzustandes der Spielwelt. Ein gewichteter Mittelwert aus den oben schon kurz erwähnten Punkten ergibt hier eine Ranglisten-position der Nationen:

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Abbildung 4: Siegbildschirm von Victoria II

An diesem Bildschirm sind nun drei Dinge auffällig:

1. Er ist nicht überschrieben mit „Sieg“ oder „Niederlage“.

2. Um auf ihn zu gelangen, gibt es keine simulationsinhärente Abbruchregel – stattdessen erscheint er nur, wenn der/die Spie-lerIn das Menü aufruft und gezielt „Partie beenden“ anklickt.6

3. Er enthält mehr Informationen über die eigene Nation, als für die Rangliste nötig sind (Alphabetisierungsgrad, Zusammen-setzung der Regierung u.a.)

Dies legt bereits nahe, dass es nicht das einzige Ziel sein kann, schlicht den ersten Platz unter den Großmächten zu erreichen. Das ist vor allem aufgrund zweier oben bereits beschriebenen Mechaniken der Fall. Erstens, dass das Spiel grundsätzlich nach

6 Hiervon gibt es nur eine Abweichung. Am 31. Dezember 1935 wird die Simulation durch ein Dialogfenster mit der Überschrift „Game Over“ abgebrochen. Dieser Abbruch hängt jedoch gerade nicht von einer spielinternen Bedingung, sondern schlicht von der notwendigen Begrenzung der überhaupt simulierbaren Zeitspanne ab und kann insofern auch hier nicht als Sieg oder Niederlage interpretiert werden.

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dem Prinzip „who is ahead will get more ahead“ funktioniert, es aber zweitens möglich ist, jede beliebige Nation zu wählen. Wel-chen Sinn könnte es also haben, Luxemburg zu spielen, wenn es das Gesamtspielziel wäre, Platz 1 auf der Rangliste der Groß-mächte zu erhalten? Dieses Ziel wäre technisch so gut wie uner-reichbar. Natürlich wird durch das reine Vorhandensein einer Rangliste im Allgemeinen eine Orientierung suggeriert, die in der impliziten Aufforderung besteht, wenigstens den bestmögli-chen, wenn auch nicht den höchsten Platz zu erreichen. Im offi-ziellen Strategieführer, der eine von Paradox lizenzierte Zugabe zum Spiel ist, wird diese Sichtweise jedoch relativiert. Auf S. 55 wird die Frage nach dem Spielziel explizit thematisiert: „[...] much of what you ‘really want’ comes down to your [...] personal goals, which may be quite different from another player’s.“ Wäh-rend die Simulation also das Verhalten der Geschichte model-liert, sind die vielfältigen und kleinteiligen Manipulationen durch den/die SpielerIn von einem Ziel abhängig, das er/sie nur selbst setzen kann.

Es kann in diesem Zusammenhang zwar belohnend sein, die Realgeschichte nachzuspielen, aber nicht im Sinne eines vom Regelsystem vorgesehenen Sieges. Vielmehr sind abweichende Spielarten genauso belohnend und zwar im Sinne eines span-nenden, historischen Experimentes. Man möchte z.B. mit Frank-reich stärker sein als das reale Frankreich es war. Man kann aber auch z.B. sehen wollen, was mit dem Rest der Welt passiert, wenn man mit Frankreich sehr schwach wird. Oder man kann sich Ziele setzen, die sich im Punktestand überhaupt nicht wie-derspiegeln, beispielsweise besonders generöse Sozialsysteme aufzubauen oder ein Jahrhundert komplett ohne kriegerische Auseinandersetzungen zu überstehen. Alle diese (und viele denkbare weitere) sind allerdings unter der Bedingung der feh-lenden Gewinnregeln ausschließlich sinnvoll, ja überhaupt erst als solche anstrebbar, weil die Spielwelt hier gleichzeitig eine ausgeprägte Storyworld ist. Die Realgeschichte wird so im Ga-meplay zur Negativfolie eines Storyplay. Um im Beispiel von oben zu bleiben: die Signifikanz, den Regler X herunterzustellen (Manipulation) besteht eben nicht darin, Wert Y zu erhöhen (Simulation), damit Zustand Z (Gewinnregeln) erreicht wird, sondern darin, Fabriken zu bauen und dann den Wohlstand zu

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erhöhen oder ein großes Heer auszuheben. Man muss dann selbst entscheiden, ob die sozialen Kosten in Kauf zu nehmen sind oder nicht. Wäre die Arbeiterschicht nicht die Arbeiter-schicht, sondern eine abstrakte Entität, würden SpielerInnen oh-ne Gewinnregeln keine Orientierung besitzen – das Spiel wäre narrativ gesehen sinnlos. Auf der Suche nach einem Spielziel könnte man genauso gut fragen: Was ist das Ziel der Geschichte? Und offenbar richtet Victoria II genau diese Frage tatsächlich an seine SpielerInnen.

Unserer Interpretation nach knüpft das Spiel aber an diese Frage direkt eine weitere und noch besser gestellte Frage an. Denn mit jeder Entscheidung, die ein/e singuläre/r SpielerIn trifft, werden andere Möglichkeiten (wie eingangs erwähnt) nicht realisiert und am aller wenigsten eben die real-historischen. Handlungen von vermeintlich historischer Trag-weite werden durch die mikroskopischen Manipulationsregeln in einem massiv verzweigten Entscheidungsbaum geradezu atomi-siert, der Geschichte gleichzeitig in eine Kontingenzerfahrung einlässt. Und diese Erfahrung ruft unmissverständlich die Frage auf: Wie hätte es auch kommen können, was wäre die bessere oder schlechtere Entscheidung zu welchem Zeitpunkt gewesen?

Die Frage, wie es hätte auch kommen können, ist auf den ers-ten Blick kaum relevant für unser Verständnis historischer Pro-zesse, sind doch bereits die tatsächlich stattgefundenen Ereignis-se niemals abschließend erforscht. Auch scheitert ihre Beantwor-tung letztlich an der Überprüfbarkeit. Geschichte ist eine Erfah-rungswissenschaft im Sinne von Referenzierbarkeit und alle Aus-sagen, die wir über das Vergangene treffen, müssen sich anhand von Quellen überprüfen lassen. Der Historiker Alexander De-mandt plädiert dennoch für eine Stärkung der kontrafaktischen Perspektive. Er meint, „[…] dass unser Bild von der Geschichte unfertig bleibt, wenn es nicht in den Rahmen der unverwirklich-ten Möglichkeiten gerückt wird“ (Demandt 2001, 16). Der Zweck einer solchen kontrafaktischen Perspektive kann sein, die Hand-lungsmöglichkeiten der historischen Akteure in den Blick zu nehmen. Es gilt, sich zu vergegenwärtigen, dass „[alle] geschicht-liche Vergangenheit mal menschliche Zukunft [war]. Um die Ge-schichte aus Sicht der Handelnden zu verstehen, müssen wir die

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einzelnen Fakten auch in ungeborenem Zustand betrachten, als bloßen Plan, als pure Möglichkeit“ (ebd., 26).

Durch seine Verfasstheit als detailgenaue Simulation mit feh-lenden Gewinnregeln auf Mechanik-Ebene und als Darstellung konkreter historischer Bezugsrahmen auf Spielwelt/Storyworld-Ebene kann Victoria II die von Demandt beschriebene Umkehr des historischen Blickes von der Retrospektive in die Prospektive im Gameplay in Ansätzen erfahrbar machen.

Literatur

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Aarseth, Espen: A Narrative Theory of Games. In: Proceedings of the International Conference on the Foundations of Digital Games. New York 2012, 129-133.

Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.

Bergier, Jean-François: Das Industriebürgertum und die Ent-stehung der Arbeiterklasse 1700-1914. In: Carlo M. Cipolla et al. (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 3. Die Industriel-le Revolution. Stuttgart, New York: Gustav Fischer 1985, 261-297.

Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn…?. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 2001.

Frasca, Gonzalo: Simulation versus narrative. In: Mark Wolf et al. (Hrsg.): The video game theory reader. New York, London: Routledge 2003, 221-235.

Juul, Jesper: Half-Real. Cambridge: MIT Press 2005.

Kennedy, Paul: Aufstieg und Fall großer Mächte. Ökonomi-scher Wandel und militärischer Konflikt 1500–2000. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005.

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Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Ge-schichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009, 1029–1033.

Ryan, Marie-Laure: Avatars of Story. Minneapolis: University of Minnesota Press 2006.

Ryan, Marie-Laure: Peeling the Onion: Layers of Interactivity in Digital Narrative Texts. 2005. URL=http://users.frii.com/mlryan/onion.htm [zuletzt eingese-hen am 29.08.2014].

Salen Tekinbas, Katie; Eric Zimmerman: Rules of play. Game design fundamentals. Cambridge: MIT Press 2003.

Warnke, Ingo H.: Deutsche Sprache und Kolonialismus. As-pekte der nationalen Kommunikation 1884 - 1914. Berlin 2009.

Wernecke, Klaus: Der Wille zur Weltgeltung, Droste 1970.

Spiele

BioShock Infinite. Irrational Games 2013.

Crusader Kings II. Paradox Interactive 2012.

Pong. Atari 1972.

Spec Ops: The Line. Yager Development 2012.

Victoria II. Paradox Interactive 2010.

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MAI-ANH BOGER / KEN WEINAND

Was kann Sterben schon bedeuten?

Zur (In-)Signifikanz des Todes im Videospiel

Im Gespräch über den Tod im Videospiel findet sich ein Para-dox: Einerseits wird beklagt, dass dieser Tod „unrealistisch“ sei und nicht zu Genüge das reflektiere, was Tod „im echten Leben“ bedeute. Andererseits mag es schon erstaunlich genug wirken, dass überhaupt von „Tod“ gesprochen wird. Man könnte sich schließlich auch auf Begriffe wie „Game Over“ oder „Versagen“ beschränken. Anscheinend aber gibt es ein Bedürfnis im Video-spiel dem Tod zu begegnen und man will ihn „Tod“ nennen: „Ich bin schon wieder gestorben!“, fluchen die Spielenden. Was aber dieser Tod überhaupt symbolisiert und wie er symbolisiert wird, ist in dieser Sprechweise noch offen. Es stellt sich also die Frage, was die Signifier „Tod“ bzw. „Gestorben Sein“ im Kontext von Videospielen bedeuten.

Im Allgemeinen, also unabhängig von Spielen, ist dieses Be-zeichnete (signified), das gestorben Sein etwas, wovon wir nie wissen werden. In den meisten Fällen wird es daher religiös oder spirituell verarbeitet und ist dadurch in jedem Fall kulturspezi-fisch. Es ist eine der großen offenen Fragen des Menschseins, was Tod eigentlich bedeutet und auch Kulturgüter wie Videospiele (zumal, wenn man diese als potentielle Kunstform ernst nimmt) versuchen sich dieser großen Frage anzunähern und produzieren so unsere gelebte Kultur des Todes mit.

Vor diesem Hintergrund ist es umso verwunderlicher, dass im bisherigen Diskurs der Tod im Videospiel vorwiegend ex nega-tivo als „unecht“ oder defizitär und klagend bestimmt wird: Es sei kein echter Tod, kein endgültiger, nur ein virtueller. Es ist gar von Banalisierung (Tisseron 2009), von einer “euphémisation de la figure de la mort“ (Baussant-Crenn 2011) oder von „la fausse mort“ (Gentil 2011) die Rede. Augenscheinlich besteht ein großes Bedürfnis danach zu betonen, dass diese Form von Tod nicht fa-tal ist.

„In games, death is not the fatal end that it is in the world outside […] Death in gaming is not a good reflection of what death means to us in ‘real’ life.“ (Dixon 2008)

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Manche Studien reduzieren den Tod im Videospiel gar auf den Begriff der Strafe im Sinne des operanten Konditionierens oder sehen ihn lediglich als Variation eines unerwünschten quantifizierbaren Outcomes: „player death is related to the idea of risk, payoff and punishment“. (Dixon 2008). In diesem Sinne wird der Tod sodann als Teil der Spielmechanik verstanden, und von seiner symbolischen Darstellung und Funktion entleert:

„it is usually a symbol for certain rules or game mechanics, rather a full realisation of death’s fatal implications.“ (ebd.)

Die Dringlichkeit einer Betrachtung des Videospiel-Todes ergibt sich somit aus der Absenz einer Bestimmung der Bedeu-tung von Tod im Videospiel in den Game Studies. Unser Ziel in diesem Paper ist es also, diese Klage über die angebliche Bedeu-tungslosigkeit des virtuellen Todes gegen den Strich zu bürsten. Dies tun wir, indem wir – wie es alle Hermeneutiken tun – Sinn unterstellen, statt diese Tode als Unsinn oder als bedeutungslos darzustellen; dies bedeutet also nach der Bedeutung des Todes zu fragen, wie er in Videospielen konstruiert wird. Dazu stellen wir zunächst den Forschungsstand dar, erarbeiten dann eine Sys-tematik der Möglichkeiten im Videospiel zu sterben, die von der Bedeutung her und nicht nur von der Mechanik her differenziert, und betrachten so welche Kulturen des Todes durch die ver-schiedenen Sterbevariationen in Videospielen (re-) produziert werden. Zu der Sinnunterstellung gesellt sich also eine Wert-schätzung diesem Medium gegenüber, dass auch das Videospiel ein Teil unserer Kultur ist, in dem und mit dem Menschen sich philosophische Fragen stellen können, die die Sterblichkeit des Menschen in ihrer vollen anthropologischen Dimension reflek-tieren.

1. Forschungsstand

Der relativ karge Forschungsstand zu der Frage, wie Men-schen Tod im Videospiel inszenieren und verstehen, lässt sich untergliedern in eine psychoanalytische und eine (inter-) kultu-relle / kulturwissenschaftliche Perspektive. Der Diskurs um die-ses Thema ist tendenziell französisch dominiert, was vielleicht daran liegt, das dort die Psychoanalyse sowie Philosophen, die

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gerne über Tod und Suizid sprechen (Camus, Sartre und Nach-folger) stärker vertreten sind.

1.1 Psychoanalytische Perspektiven

Baussant-Crenn (2011) arbeitet heraus, inwiefern der Tod im Videospiel zu therapeutischen Zwecken (auf der Palliativ-Station) genutzt werden kann, um mit Kindern und Jugendlichen über den Tod und die Trauer zu sprechen. Als Psychoanalytike-rin konzentriert sie sich dabei auf die Identifikationsprozesse mit dem sterbenden Avatar. So würde der Videospiel-Tod zu einer Form des Sterbens der in diese Identifikation investierten Selbst-anteile, „comme une mort de soi, mort de la part du joueur in-vestie dans le personnage“ (ebd.). Mit Bezug auf Grellier (2006) erläutert sie, dass selbst bei gelungener projektiver Identifikation ein gewisser Abstand zum virtuellen Tod gewahrt wird. Dies ist dadurch bedingt, dass immer nur Partialobjekte sterben, da die Identifikation niemals total ist.

Mit den Fragen, wer genau getötet wird und was genau in ei-nem stirbt, wenn der Avatar stirbt, befasst sich auch Serge Tisse-ron (2009). Er unterscheidet in seinem Aufsatz „Le risque de la mort virtuelle, les jeux vidéo“ was den Tod des Anderen betrifft zwischen dem ödipalen Töten, also dem Vatermord und dem narzisstischen Töten der gesichtslosen Massen. Was den eigenen Tod betrifft spricht er von risikoreichem Verhalten mit Todesfol-ge einerseits und der Inszenierung von Suizidalität als symboli-sches Töten von Partial(selbst-)objekten („la mort des parties d’elle-même dont elle souhaitait se débarasser“ ebd.). Während das ödipale Töten, wie zum Beispiel das Töten eines narrativ reichhaltig mit Eigenschaften versehenen, also eben nicht ge-sichtslosen, Endgegners, als ein „Besiegen einer Übermacht“ im-mer auch bedeutet die eigene Unterlegenheit dahinschwinden zu sehen, ist das narzisstische Töten ein Herbeiführen massenhafter asignifikanter Tode. Bedeutungslos ist hierbei aber nicht das Tö-ten oder der Tod selbst, sondern das Getötete. So ist eine Horde Zombies kein_e signifikante_r Andere_r, sondern eine quantifi-zierbare Masse von Objekten, denen keine Persönlichkeit zu-kommt. Narzisstisch ist dieses Töten, weil es in der rein additi-ven Logik des Quantifizierbaren grandiose Phantasien bedient:

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der Blutrausch erlaubt eine Identifikation als gerade nicht Unter-legene_r, sondern stabil überlegene_r Terminator_in. Hier wer-den Tode gesammelt wie Punkte, oder explizit als Punkte auf der eigenen Erfolgskarte; Tod ist hier eine Quelle der Macht. In bei-den Fällen, dem ödipalen wie dem narzisstischen Töten, wird Tod also mit dem Thema Über- oder Unterlegenheit in Verbin-dung gebracht. Im ödipalen Fall als Kräftemessen mit ernst zu nehmenden, schwierigen Gegner_innen, denen man also einen gewissen Respekt entgegenbringen muss. Dann bedeutet der Tod des Anderen einen hart erkämpften ödipalen Triumph. Im nar-zisstischen Fall als massenhafter Beweis für die eigene Überle-genheit, der den unersättlichen Trieb nach Bestätigung der eige-nen Potenz befriedigt. Dann bedeutet der Tod der Gesichtslosen eine Bestätigung der eigenen Lebens- und Zeugungsfähigkeit, die immer wieder erneuert werden muss. Man „fühlt sich lebendig“, aber nur für einen kurzen Augenblick.

Den eigenen Tod betreffend ermöglichen Videospiele nach Tisseron facettenreiche Varianten des virtuellen Ausagierens der Beziehung zum (eigenen) Leben. Die meisten Spielmechaniken erlauben eine irgendwie geartete Form des Suizids. So stellt das Videospiel uns Fragen wie zum Beispiel: Kann man es so sehr verkacken (anal), dass es besser ist, sich umzubringen und noch mal ganz von vorne anzufangen? Oder versteht man es als Her-ausforderung ein Level zu Ende zu spielen, um sich wieder hoch-zuarbeiten und zu rehabilitieren?

Bei risikoreichem Spielverhalten geht es darum, wie wir im Deutschen sagen würden, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Das Spiel bietet hier eine Möglichkeit auszuhandeln, wie sehr man bereit ist, sich zu riskieren, um mutig gelebt zu haben. Was hier bearbeitet wird ist also vor allem die Angst vor dem Tod. Häufig ist dies gespickt mit Narrationen wie wir sie auch aus der offline-Welt der Krieger_innen und des Militärs kennen: „Der gute Krie-ger fürchtet den Tod nicht“. Keine Angst vor dem Tod zu haben, ist hier mindestens Teil des Spiels, wenn nicht gar implizites Ziel des Spiels.

Diese Betrachtungen psychoanalytischer Studien zeigen ins-gesamt, dass das Spielen von Videospielen nicht irgendein belie-biger Eskapismus ist, sondern ein Spiel, das wie alle Spiele der psychoanalytischen Deutung komplexer Regel- und Symbolspiele

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zugänglich ist. In diesen Spielen lassen sich psychische Konflikte ansprechen und auch inszenieren. In diesem Sinne belegen diese Arbeiten das Wechselverhältnis von Inszenierbarkeit und Deut-barkeit (und somit Bedeutsamkeit) in virtuellen Spielräumen.

1.2 (Inter-)Kulturelle Perspektiven

Vor einiger Zeit kam es zu einem kleinen kulturellen Wandel in der Videospiel-Szene: Die Unterscheidung zwischen „perma-death“ und „minor deaths“ (z.B. bei Dixon 2008) wurde einge-führt, seit es Spiele gibt, in denen das Sterben einen unwieder-bringlichen Totalverlust des Charakters bedeutet. Von einem Permadeath kann man also weder magisch erlöst noch freige-kauft werden, noch gibt es die Möglichkeit einen Speicherstand zu laden. Dies erhöht die Angst vor dem Tod beim Spielen er-heblich. Die emotionale Reaktion auf diese Todesform nähert sich dadurch der des Todes in der nicht-virtuellen Welt an, da sich die Fatalität des Todes dieser annähert. Bei Grellier (2006) wird daher der „kleine Tod“ mit Frustration in Verbindung ge-bracht, wohingegen der permanente Tod – wie zum Beispiel in Online-Role-Playing-Games - von Kohärenz und Realismus ge-kennzeichnet sei (ebd.). Dementsprechend ermöglicht es größe-re Ängste, weniger Risikobereitschaft und Trauer statt Frustrati-on als Erfahrungen. Dies ist ein eurozentrischer Diskurs. So wird bei Grellier das Auftauchen des permanenten Todes in Online-Games in Verbindung gebracht mit einer Integration westlicher Todessymboliken:

„une volonté d’accentuer la cohérence des univers de jeux, et comme un indice d’évolution des représentations, en l’occurence du regard occi-dental sur la mort. Non plus niée et occultée par une éternité concédée par l’imaginaire, la mort s‘intègre progressivement au jeu.“. (ebd.)

Sofern man diese These annimmt, handelt es sich aus einer globalen Perspektive gedacht beim Perma-death um eine “Ver-westlichung” des Todes im Videospiel, die den Tod für die okzi-dentalen Spielenden kohärenter und integrierter macht, indem sich die Bedeutung des Spieltodes der des nicht-virtuellen Todes (der im aufgeklärten Okzident bekanntlich als endgültiges Erlö-schen betrachtet wird) angleicht. Legt man keinen globalen,

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sondern einen historisierenden Rahmen an, so lässt sich Grelliers Analyse verstehen als Beschreibung der Ankunft der Aufklärung im Videospiel. Der aufklärerische Atheismus ist es, der ein Ende des Mythisch-Magischen und des Zirkulären fordert. Die wissen-schaftliche Linearität wird eingeführt und setzt den Maßstab für diesen neuen „Realismus“, der die spirituelle Zirkularität ver-drängt. Dies geht geschichtsphilosphisch gesprochen also mit einer Linearisierung einher. Das Videospiel kennt nun zuneh-mend die historische Abfolge von Ereignissen, deren Irreversibi-lität und versteht die Geschichte eines Videospiels weniger als Wiederholung oder ewige Wiederkehr ab origine gesetzter (Elia-de 1949) Handlungen und Konstellationen.

Ein weiterer kulturtheoretischer Ansatz beschreibt anhand der Todessymboliken im Videospiel eine „zeitgenössische Thana-tologie“ (Coussieu 2011). Dieser Aufsatz stammt aus einem Band aus der Disziplin der Thanatologie, die im Videospiel ebenso das Potential sieht, neue Kulturen des Todes zu entwerfen und alte zu tradieren. Das Verhältnis unserer Gesellschaft zum Tod lässt sich auch über das Medium des Videospiels reflektieren und er-öffnet so die Möglichkeit zu fragen, wie aufgeklärt wir (wirklich) sind. So zeigt sich in der Praxis des Umgangs mit dem Tod oft eine weniger atheistisch-aufklärerische und deutlich spirituellere Weise des Umgangs mit dem Tod als in der aufgeklärten Rede (ebd.).

Insgesamt zeigen diese beiden Forschungsstränge also, dass der Tod im Videospiel sowohl auf der psychoanalytisch-psychologischen Ebene als auch kulturwissenschaftlich betrach-tet, ein hoch bedeutsamer ist, der der interpretierenden Analyse als Tod zugänglich ist. Er lässt sich keineswegs als „Banalisie-rung“ abtun oder auf spielmechanische Aspekte reduzieren. Auch wenn Details dieser Analysen, die aus anderen Disziplinen stammen, für die Game Studies weniger relevant sind, zeigen sie doch auf, wie gehaltvoll die virtuellen Begegnungen mit dem Tod sind. Sie stellen uns die Frage, wie wir als einzelner Mensch (psy-chologische Dimension) und als nicht-virtueller Kulturraum (kulturwissenschaftliche Dimension) mit dem Tod umgehen: Fürchten wir ihn? Provoziert er Trauer oder Frustrationsgefühle? Sehen wir ihn als eine Quelle der Macht? Zeigen wir ihn oder

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schauen wir lieber weg? Mystifizieren wir ihn oder wollen wir weiter aufklären? Wird er zyklisch oder linear verstanden?

2. Übersicht über (Un-)Möglichkeiten des Lebens nach dem Tod

Lässt man sich von dieser Suche nach Bedeutung leiten und nicht nur von der Spielmechanik, gibt es drei Arten von Tod im Videospiel: Resurrection, Retry und Reincarnation. Im Sinne ei-ner „Einheit von Form und Inhalt“ wie man sie aus anderen Künsten kennt, kann die Spielmechanik die Bedeutung des To-des spiegeln.1 Diese kunsttheoretische Hürde überspringen aller-dings die wenigsten.

Resurrection bedeutet eine Wiederbelebung oder ein Wieder-auferstehen des Avatars, bei der, im Gegensatz zum Retry, der Tod willentlich durch im Spiel zu erfolgende Handlungen aufge-hoben wird.

Beim Retry hingegen erhält der Spieler ohne sein Zutun nach Ableben der Spielfigur(en) eine neue Chance, das Spiel fortzu-setzen. Dies geht meist mit „Bestrafungen“ wie dem Verlust von Spielprogression einher.

Reincarnation schließlich umfasst den Verlust der Spielfigur, ohne dass diese wiederhergestellt oder das Spiel mit dieser fort-gesetzt werden kann. Es handelt sich also um einen „perma-death“. Gleichzeitig aber bleibt die Erweiterung der Kenntnis der Spielenden über die Spielwelt bestehen und optional kann eine Übertragung von Eigenschaften der gestorbenen Figur zu ihrer Reinkarnation stattfinden.

Die ersten beiden Todesarten sind wesentlich häufiger zu fin-den als die Reinkarnationsform. Die ästhetische Einheit von

1 Da wir die Gehversuche der Independent-Szene in Sachen „Videospiel als Kunst“ sehr hoch schätzen, sei hier am Rande erwähnt, dass dies eine von vielen Möglichkeiten sein könnte, Analysen nach ästhetischen Kriterien durchzuführen: In welchem Verhältnis stehen Spielmechanik und Inhalt? Schaffen es die Variationen von Spielmechaniken künstlerische Mittel bereitzustellen, die den Inhalt / die Bedeutung der Zeichen (hier die Termini Ihrer Lieblingskunsttheorie einfügen) mitkonstituieren oder spiegeln (wie zum Beispiel auch die Form eines Gedichts die Bedeutung des Inhalts mittransportiert)?

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Form und Inhalt findet sich am stärksten bei der Reinkarnations-form.

2.1 Resurrection

Wiederauferstehung (Resurrection) kommt vor allem in Sin-gle- und Multiplayer-Rollenspielen vor. Diese ist fast immer mit unmittelbaren Kosten verbunden und gelegentlich als taktische Hürde konzipiert. Im Gegensatz einem Figurensterben, das zu Handlungszwecken intendiert ist und daher permanent (z.B. Fi-nal Fantasy 7) geht es hier darum, eine vollständige Unterbre-chung des Spielflusses, wie sie bei den anderen Todesmodi ein-tritt, zu vermeiden. Der Modus der Resurrection erlaubt den Spielenden im typischen Rollenspiel, die Figuren der sogenann-ten Party, einer Ansammlung mehrerer Figuren, die alle zugleich von den Spielenden kommandiert werden, nach dem Tod wie-derzubeleben solange noch eine Figur auf dem Schlachtfeld steht. In Multiplayer-Rollenspielen wird typischerweise nur eine Figur von den Spielenden gesteuert, diese verbünden sich aber häufig mit anderen Spielenden für komplexere Unternehmun-gen. Resurrection in diesem Kontext ist die konsequente Fort-führung der aus Singleplayerspielen bekannten Mechanik und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Party nun aus Figuren besteht, die von mehreren Spielenden gesteuert werden. In bei-den Fällen wird so der Spielfluss erhalten, auch wenn eine Figur stirbt. Dies begründet sich damit, dass die genannten Spiele mehr Ziele für einen Figurentod bieten und konsequenterweise erhöhte Figurensterblichkeit aufweisen, ohne dass dies mit ei-nem regelmäßig pausierenden Spielfluss oder einer reduzierten Spielschwierigkeit erkauft werden muss. Ein historischer Vorläu-fer für dieses Design sind Table Top-Rollenspiele, aus denen die Konzepte der Wiederbelebung und der Partys entliehen wurden.

Typisches Beispiel: In den meisten Spielen der Final Fantasy-Serie (1987 – 2013, diverse Systeme) führt man eine Party aus mehreren Gruppenmitgliedern. Stirbt eine Figur, geht das Spiel ohne Unterbrechung weiter. Man kann die verbliebenen Figuren Gegenstände wie die Phönixfeder oder Zaubersprüche wie „Revi-ve“ benutzen lassen, um die gefallenen Figuren wiederzubeleben. Die Gegenstände kosten Geld und die Zaubersprüche Magie-

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punkte, wobei beide Ressourcen mit wenig Aufwand beliebig oft aufgestockt werden können. Es gibt kein Limit für die Anzahl an Wiederbelebungen. Ein Game Over Screen erscheint nur, wenn alle Figuren gleichzeitig Tod sind.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Tod als Resurrec-tion mechanische Hürden reduziert, und innerhalb des Spieles als Handlung integriert und narrativ erklärt wird. Die Spielenden werden dabei durch den notwendigen Ressourcenaufwand ta-xiert. Der Tod wird als endgültig konstruiert, wenn eine Figur niemanden hat, der sie wiederbeleben kann oder möchte. Moti-visch finden wir in diesen Spielen zahlreiche religiöse Symbole wie das Bild des „Odem Einhauchens“ als Belebungsmaßnahme, magische Vorstellungen von „Mana“ als Lebensenergie, Schutz-engel und ähnliche behütende Gestalten bis hin zur vollständi-gen Jesus-Allusion in Form christlicher Wiederauferstehung. „Wenn noch jemand an dich glaubt, kannst du wiederkommen“, ist eine der Lesarten in diesem Genre. Geschieht die Wiederbele-bung durch andere Mitspielende, trägt sie Elemente einer Anth-ropologie, in der sich Menschen gegenseitig Kraft geben und sich ins Leben rufen. Je nach Spiel changiert diese Todesart also zwi-schen menschlichen und übermenschlichen Rettungs-, Erlö-sungs- und Heilsphantasien. Menschliches Leben einzuhauchen hat hier etwas Magisches.

2.2 Retry

Bei der Todesart in Form des Retry wird der Tod höchstens mit einer Animation gewürdigt, aber das Spiel geht meist direkt weiter. Je nach Spiel gibt es diverse etablierte Formen des Retry; so gibt es häufig einen Lebenszähler. Nach jedem Ableben der Figur wird ein Extraleben abgezogen, bis keine mehr übrig sind. Annähernd immer hat der Spieler die Chance, durch gutes Spiel weitere Extraleben hinzuzuverdienen, sei es durch das Finden versteckter Extraleben oder das Sammeln einer Ressource, die beim Überschreiten einer Grenze den Lebenszähler erhöht. Be-straft wird der Tod in dieser Form, indem das Level vom Anfang an neu oder von einem sogenannten Checkpoint aus wieder in Angriff genommen werden muss. Hinzu kommt häufig ein zwei-ter Retry-Mechanismus in Form von Continues, die es erlauben

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selbst nach Verlust aller Leben am Levelanfang weiterzuspielen, bis auch diese aufgebraucht sind. Erst danach kann es ein Game Over, ein endgültiges todbedingtes Ende des Spiels geben. Ret-ries stammen aus der Anfangszeit der Videospiele, als man noch echtes Münzgeld in den Spielautomaten einzahlen musste, um Extraleben zu erkaufen, und finden sich bis heute in vielen Spie-len.

Es gibt noch eine Reihe Spiele, in denen der Tod fast gar nicht mehr mit Nachteilen verbunden ist, indem die Spielfigur kurz vor dem Moment des Todes nach dessen Eintritt wieder durch den Spieler gesteuert werden kann (FEZ, Prince of Persia [2008]). Dies kann als Spielart des Retry gewertet werden, jedoch ohne dass es jemals zu einem Game Over kommen kann.

Typisches Beispiel: Im Spiel Super Mario Bros. (1985, NES) startet der Avatar mit drei Leben. In den Levels verstreut finden sich Münzen und, besser versteckt, grüngefleckte Pilze. Für je einhundert Münzen oder einen „1-Up-Pilz“ erhalten die Spielen-den ein Extraleben. Weiterhin gibt es eine spezielle Möglichkeit, Gegner zu töten, die ebenfalls Extraleben abwirft, was aber nur selten zu erreichen ist. Stirbt der Avatar, startet man das Level am Anfang erneut. Hat man alle Extraleben verloren, endet das Spiel mit einem Game Over Screen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Tod in Form des Retry bedeutet, dass die Spielenden für „schlechtes“ Spiel, also entgegen der etablierten Regeln, bestraft werden ohne dass der Tod als solcher mehr als mit einer – meist unterhaltsamen – Animation thematisiert wird, denn der Fokus liegt darauf, dem eigentlich klaren Tod doch noch mal von der Schippe zu sprin-gen. Zu sterben bedeutet hier vielmehr noch einmal doch nicht gestorben zu sein: Diese Spiele arbeiten mit einer Simulation der vielen Gelegenheiten, bei denen man hätte sterben können, die nun hinter einem liegen. Durch das Fortsetzen im direkten An-schluss erlangt der Tod fast puren Bestrafungscharakter und setzt zugleich das Sterben in den Konjunktiv: „Wenn du das ge-tan hättest, wärst du jetzt Tod. Überleg’s dir also lieber noch mal!“.

Diese Vorstellung von Tod entspricht der Idee vom Leben als eine Chance. Das Fatale des Todes besteht in diesen Spielen da-rin, keine Chance mehr zu bekommen (oder erkaufen zu kön-

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nen). In diesen Spielen heißt Leben, immer wieder eine neue Chance zu bekommen, es besser zu machen: “Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder wach”; und das so lange immer wieder, bis du nicht mehr wieder wach wirst. Denn irgendwann kommt der Tag, an dem etwas wirklich Fatales passiert und man keine Chance mehr bekommt, es wieder geradezubiegen. Außer man spielt Prince of Persia, dann ist Gott so lieb und gibt dir immer noch eine Chance bis du deinen Auftrag auf Erden erfüllt hast. Wer sich im Leben bemüht, hat außerdem die Chance, seine Chancen weiter zu erhöhen.

Exkurs “Sein Leben sichern”

Dieser Mechanismus, verschiedene Anläufe für dasselbe Le-ben zu wagen und zu sehen, wie es diesmal endet, kann spielme-chanisch auch über das Speichern installiert werden. Neben den Mechanismen des Ablebens der Spielfigur gibt es in Form von Speichersystemen auch solche, die es ermöglichen, die Gegen-wart einer Figur zu sichern. Im simpelsten Gewand zeigen sich solche Mechanismen in Form der Initialen der Spielenden, ver-knüpft mit dem durch sie erreichten Highscore nach dem Tod der Figur; als symbolischer Grabstein und Ehrenmal einerseits und andererseits als Wegmarker, der zum Überholen beim nächsten Anlauf auffordert. Das entgegengesetzte Ende des Spektrums verfügbarer Systeme wird durch beliebig hinterleg- und abrufbare, separate Speicherstände für den Zustand der Spielfigur und den Zustand der Welt, die durch die Handlungen der Spielenden verändert wurden und der somit eine ihr eigene historische Dimension verliehen wird, markiert. Speichersysteme können passiv oder aktiv sein; sie können automatisch an vor-hergesehenen Stellen greifen oder von den Spielenden jederzeit genutzt werden, um für jede getroffene Entscheidung eine alter-native Spielrealität zu konservieren und beliebig abrufbar zu hal-ten. Weitere Variationen ergeben sich beispielsweise aus der Verfügbarkeit von Speicherslots; manche Spiele sehen nur eine begrenzte Anzahl konservierbarer Spielstände vor, andere hinge-gen erlauben unbegrenzte Poly-Linearität. Es lässt sich somit von Systemen des Wieder- oder Weiter-Lebens sprechen, die ermög-lichen verschiedene Variationen seines Lebens durchzuspielen:

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“Wo hätte ich die andere Abzweigung nehmen müssen, damit es nicht so endet?”. In Kombination mit diesen Sicherungsmecha-nismen ermöglichen Spiele Simulationen ungenutzter, noch nicht genutzter und vor allem unsicherer Chancen innerhalb ei-nes Lebens.

2.3 Reincarnation

Reincarnation als Todesart kommt im Videospiel selbst ext-rem selten vor. Wir haben tatsächlich nur zwei Ausnahmen ge-funden, in denen Reincarnation als mechanischer Teil des Spieles auftritt und als solche gerahmt wird (Omikron: The Nomad Soul, Makai Kingdom).

Etwas häufiger wird Reincarnation im eigentlichen Sinne als Element der Erzählung genutzt; gerne sind die Protago-nist_innen zu Spielbeginn Reinkarnationen legendärer Held_innen oder sogar von Gottheiten (Legend of Zelda-Serie, Summoner 2: A Godess Reborn). Die Reinkarnation selbst findet dabei off screen statt, bleibt statisch und wird den Spielenden als Teil des Setups bekannt gemacht, ohne dass es im Spielverlauf eine mechanische Entsprechung zu diesem narrativen Element gibt.

Die Reinkarnation findet nicht im Spiel selbst, sondern auf der Metaebene durch das mit jeder Iteration des Spieles wachsende Spielerwissen statt. Dies wird vor allem im Genre der „Rogueli-kes“ sichtbar, die meist die Elemente des Permatodes der Spielfi-gur („tot“ = kompletter Verlust der Progression, weder Retry noch Ressurrection möglich) und der Randomisierung der Spielwelt (Spielwelt wird bei jedem Neustart neu generiert mit zufälliger Platzierung und Zusammenstellung der Elemente) ver-binden. Kennzeichnend für dieses Genre ist, dass sich den Spielenden die Spielmechanik nur durch Trial & Error erschließt, der wiederholte Figurentod also notwendig ist, um nach und nach die Regeln des Spiels zu erschließen. Es ist praktisch un-möglich, mit der ersten Spielfigur zu gewinnen und Teil des Konzepts, aus den bisherigen Fehlern zu lernen um Fortschritte zu machen. Das sich vermehrende Spielerwissen ergibt sich aus den gelernten Lektionen früherer Versuche; es geht in diesen Spielen nie um Reflexe und immer um eine Mäßigung intuitiver

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Impulse, um nicht in verdeckte Fallen zu laufen, Gefahren früh-zeitig als solche zu erkennen und kurzfristigen Vorteilen als fata-len Verlockungen zu widerstehen. Dabei wird das Konzept der Reinkarnation nie expliziert, es ergibt sich als Resultat des Spielens.

Typische Beispiele: Im Spiel Omikron: The Nomad Soul (1999, Diverse) werden die Spielenden selbst von einer Figur angespro-chen, doch ihren Körper zu übernehmen. Von da an steuern die Spielenden einen Polizisten und müssen eine Serie von Mordfäl-len aufklären. Stirbt die Figur, ist es möglich, eine Reihe anderer Figuren zu übernehmen, um die Investigation fortzusetzen. Die verstorbenen Figuren sind unwiederbringlich verloren. Die Spielenden verkörpern also eine „Seele“, die beim Figurentod ei-ne neue Figur übernehmen kann. Sind alle verfügbaren Figuren verstorben, endet das Spiel.

Daneben sei noch das Roguelike Dungeon Crawl Stone Soup (Diverse Computer, 2006) genannt. Die Spielenden erstellen hier aus einer großen Auswahl verschiedener Klassen und Rassen ei-ne individuelle Figur, die beliebig benannt werden kann. Sie star-tet niedrigstufig in einem zufällig erstellten Kerker, und muss diesen erkunden. Dabei gibt es unzählige Gefahren und Hand-lungsoptionen, deren Auswirkungen nur durch wiederholte Fi-gurentode abzuschätzen sind. Jedesmal, wenn die Figur stirbt, ist sie unwiederbringlich verloren; auch das Neuladen eines Spei-cherstandes ist nicht erlaubt. Die nächste Figur muss wieder von Grund auf erstellt werden und startet in einem neuen, zufallsge-nerierten Kerker. Die Spielenden haben dann jedoch eine umfas-sendere Vorstellung der Auswirkungen verschiedener Handlun-gen und der möglichen Gefahren, die auftreten können. Durch diese Erfahrungen haben sie nun eine größere Chance, Fort-schritte zu machen2.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Tod in Form der Reincarnation bedeutet, dass jeglicher oder annähernd jeglicher

2 Ein interessantes Randphänomen in diesem Kontext ist die Möglichkeit, dieses Wissen zu kollektiveiren, indem man es in Internetforen und anderen Plattformen oder einfach unter Freund_innen teilt. Durch diese „spoilers“ oder „guides“ wird es sodann möglich, auch aus den Fehlern anderer Menschen zu lernen. Danke an Mario Donick für diesen Hinweis.

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Spielfortschritt in der aktualen Präsenz verloren geht, aber das erhaltene Wissen den Spielenden für alle kommenden reinkar-nierten Präsenzen zur Verfügung steht und über wiederholte Tode erst das Gewinnen ermöglicht. So hat bekanntlich selbst Buddha hunderte Reinkarnationen gebraucht, um die Erleuch-tung zu erlangen. Das Leben zu meistern ist eine Aufgabe, für die es mehrere Anläufe braucht. Und der letzte Tod – der Eintritt ins Nirwana – findet statt, wenn ich das Spiel weglege, meine Anhaf-tung an diese Spielwelten löse in der ruhigen Gewissheit, das Leid dieser Welten nun verstanden zu haben. Denn das „Ziel des Spiels“ ist hier eben nicht zu überleben, sondern den Tod als Teil des Spiels zu akzeptieren und loszulassen. Leben wollen heißt noch einmal sterben wollen.

3. Fazit

Die drei Todesarten im Videospiel sind unseres Erachtens also keine Banalisierungen geschweige denn Leugnungen des Ster-bens, sondern vielmehr Symbolisierung verschiedener Konzepte des Kreislaufs des Lebens. Statt einer entwertenden Analyse als „falschem“ oder „nur virtuellem“ Tod, möchten wir dazu anre-gen, die Darstellung von Tod im Videospiel – wie bei jedem an-deren Massenmedium auch – als kulturspezifische Reflexionen der größten Frage des Lebens todernst zu nehmen:

Tod als… Fallstruktur

Resurrection Aufheben des Todes durch Spielerreaktion, Reaktion an-derer Spielender und/oder „göttliche Intervention“

Leben ist Mana, Energie oder Odem, der eingehaucht wird. Sterben heißt, von nichts und niemandem mehr belebt zu werden.

Retry direkte Fortsetzung mit variie-rendem Progressionsverlust (negativer Pay-Off möglich, aber nicht notwendig)

Leben heißt Chancen zu haben. Sterben heißt, keine Chance mehr zu bekommen.

Reincarnation irreversibles Sterben des Avat-ars (i.d.R. mit Totalverlust des Erarbeiteten), aber Erhalt von Erfahrung und Wissen über die Welt in den Spielenden

Leben ist Leiden und Ler-nen. Sterben heißt, es in diesem Leben nicht ge-schafft zu haben, aber viel-leicht im nächsten Leben zur Erleuchtung zu gelan-gen.

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Von christlichen Erlösungs- und Heilsphantasien über bud-dhistischen Reinkarnationsglauben bis hin zum nüchternen Atheismus des „Tod = Ende“ lassen sich zahlreiche kulturelle Glaubensmuster im Videospiel wiederfinden. Der Tod im Video-spiel lässt sich also weder auf seine spielmechanische Funktion reduzieren, noch lohnt es sich zu diskutieren, ob und wie „realis-tisch“ er ist. Unsere Vorstellungen von Tod sind niemals „realis-tisch“, auch in der analogen Welt nicht. Wer glaubt, dass zum Beispiel Reinkarnation eine Banalisierung des Todes sei, ist von seinem christlichen Weltbild ein wenig zu sehr überzeugt. Hier-bei handelt es sich um einen klassischen eurozentrischen Fehl-schluss: Eine Sache wird nicht richtiger, wahrer oder realisti-scher, indem man sie europäisch macht. Es ist ein Gebot der To-leranz gegenüber und zwischen allen Kulturen, Religionen und Glaubensrichtungen, sich nicht anzumaßen einen dieser drei Modi für realistischer oder echter zu halten als den anderen, ge-schweige denn dies für ein objektives Urteil zu halten. Wir wis-sen nicht, was nach dem Tod passiert und wie oft wir schon (fast) gestorben sind. Und in allen Kulturen der Welt sind ver-schiedenste Formen von Kunst, sowie von Religion und Spiritua-lität damit befasst, diese „Lücke“ zu füllen, mit ihr umzugehen und sich zu ihr zu verhalten. Spiel und Kunst liefern zudem per-sönliche Erfahrungsräume, in denen die Spielenden auch in ihrer eigenen Identität und ihrem Bezug zu ihrem eigenen Leben und Sterben angesprochen werden können. In jedem Fall gibt es auf beiden Seiten – der Spiele entwickelnden und der spielenden – bewusste und unbewusste, kulturell geprägte und individuelle Weisen, die Begegnung mit dem Tod und deren Bedeutung zu inszenieren und mit ihr zu spielen. Dadurch sind sie der Analyse und Deutung zugänglich und können nicht als bloßer “Unsinn” abgetan werden.

Da gibt es Videospielkünstler_innen, die inszenieren, dass man vom Tod erlöst werden kann, dass eine magische Instanz uns von diesem Zustand befreit und heilt oder die hoffen, dass unsere Mitmenschen uns immer wieder ins Leben zurückrufen.

Und da gibt es Videospielkünstler_innen, die inszenieren, dass die Begegnung mit dem Tod eine Strafe sei, die einen zu-rückwirft in das Geworfensein, dass das Leben eine Chance ist, die man geschenkt bekommt und nutzen sollte.

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Andere wiederum inszenieren, dass die tausend Tode, die wir sterben, eine Bereicherung sind, die uns hilft das nächste Leben als erfahrenere, weisere Menschen auszugestalten.

Und wieder andere inszenieren, dass der Tod das Ende ist.

Literatur

Baussant-Crenn, Camille; Doré-Pautonnier, Delphine: Le jeu vidéo: un media adapté pour aborder la mort avec les plus jeu-nes?. In: L’esprit du temps – Études sur la mort, Heft 1/2011 – n.139, 67-78.

Coussieu, Wilfried: La mort dans les fictions video-ludiques, analyse d’un imaginaire thanatique contemporain. In: L’esprit du temps – Études sur la mort, Heft 1/2011 – n.139, 67-78.

Dixon, Dan: Death, A minor annoyance or an invitation to play? In: Breaking the Magic Circle. University of Tampere. 2008.

Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte. Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 1949.

Gentil, Philippe: L'experience de la mort virtuelle: les jeux vi-deo ou la fausse mort. In: L’esprit du temps – Études sur la mort, Heft 1/2011 – n.139, 67-78.

Grellier, Delphine: La figuration de la mort dans les jeux vidéo de rôles et d’aventures. De la fonction euphémisante de l’imaginaire. http://www.OMNSH.org/spip.php . 2005.

Grellier, Delphine: Réel et virtuel : l’état des frontières. Castelvecchi: Mondi Virtuali 2006.

Tisseron, Serge: Le risque de la mort virtuelle, les jeux vidéo. In: L’esprit du temps – Topique, Heft 2/2009 – n.107, 107-117.

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FLORIAN KERSCHBAUMER / TOBIAS WINNERLING

Outlaws im Videospiel

Ein Anti-Plädoyer für Anti-Helden

1. The Computer Rage

I am a surprise Even to myself I’m a genius

Superhero of the computer rage In plastic I’ll bury

I am what you fear I’ve been chosen

The world as you know it just died It’s the end of all time

Everything you say is denied I’ll be the devil on this ride

– In Flames 2004,

Superhero of the Computer Rage

Der Titel dieses Beitrages ruft automatisch gewisse Assoziati-onen hervor: Videospiele. Helden. Gewalt. Verbrechen. Dinge, die Helden nicht tun, aber SpielerInnen schon; und die Spielfigu-ren transformieren, wenn sie geschehen. Von Helden zu Out-laws, zu Anti-Helden; subversiv, abgründig, gesellschaftskritisch, gesellschaftsgegnerisch, vielleicht sogar gefährlich.1

Videospiele sind zwar ein verhältnismäßig neues Medium und bieten neuartige Möglichkeiten der Unterhaltung, gleichzeitig bedienen sie sich – vor allem auf der Ebene der Narration – bei Elementen, denen eine lange historische Tradition zugrunde liegt. Die Möglichkeit, als Spie-lerIn in die Rolle eines Charakters zu schlüpfen, der sich jenseits gängiger Werte- und Moralvor-stellungen bewegt, sprich, das Kokettieren mit dem Bösen bzw.

1 Viele der hier dargebotenen Überlegungen ließen sich wohl auch auf Heldinnen anwenden, dennoch halten wir eine gesonderte Genderperspektive auf die Thematik für notwendig. Da wir diese hier nicht leisten können, beschränken wir uns daher bewusst auf Helden.

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dem Anderen, ist dabei ein gängiges Motiv menschlicher Erzähl-kultur (Bostic u.a. 2003, 54). Wenig verwunderlich daher, dass es eine Vielzahl von Spielen gibt, in deren Mittelpunkt nicht ein glänzender, strahlender Heros steht, sondern ein Outlaw oder Antiheld. Ein Umstand, der einerseits von psychologischen und pädagogischen Perspektiven immer wieder diskutiert worden ist, insbesondere wenn es um die Gewalt-Frage in Videospielen geht (vgl. Kunczik 2013), anderseits von den SpielemacherInnen schon seit den frühen Tagen des Mediums (wie noch gezeigt wird) kal-kulierend berücksichtigt wurde. Wenn bekannte Spieleentwick-lerInnen und -produzentInnen wie Leslie Benzies für Bestseller wie Grand Theft Auto das Ziel ausgeben „ein Universum zu schaf-fen, in dem moralische Grenzen auf ein Minimum reduziert wer-den und jeder tun und lassen kann, was er sonst nicht machen würde“ (Der Standard 2013, 22), dann lässt im Regelfall der Erfolg nicht auf sich warten. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft standen Anti-Helden im Videospiel bislang nur selten im Ram-penlicht; dabei erscheint die Analyse derselben als lohnendes wissenschaftliches Unterfangen, vor allem mit Fokus auf die je-weils zugrunde liegenden historischen Erzähltraditionen, die hier ihre Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung erfahren.

2. Schöne brutale Welt

2.1 Sozialrebellen oder: Warum es gut ist, böse zu sein

Unter den frühesten Studien des bekannten englischen Histo-rikers Eric Hobsbawm firmieren innovative Auseinandersetzun-gen mit dem von ihm als „Sozialrebellen” benannten Phänomen, zu denen er revolutionäre Bauernbewegungen, ländliche Ge-heimgesellschaften usw. zählt (Hobsbawm 1962). Diese Arbeiten mündeten in weiterer Folge in einer intensiven Beschäftigung mit Banditen. Dabei sind es vor allem „Sozialbanditen”, also Räuber, „die nach Ansicht der öffentlichen Meinung nicht, oder nicht nur gemeine Verbrecher sind”, deren die besondere Auf-merksamkeit des großen Historikers zuteil wurde (Hobsbawm 2007, 31). Viele der von ihm erarbeiteten Aspekte wurden zwar heftig kritisiert, aber Hobsbawm gelang es so, die Aufmerksam-keit auf ein bislang wenig beachtetes Forschungsfeld zu lenken und durchaus innovative Ansätze zu etablieren, deren An-

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schlussfähigkeit (nicht nur für die Geschichtswissenschaft) gege-ben ist und die immer noch zum Weiterdenken anregen (vgl. Bo-ris 2013, 83–87). So zum Beispiel beschreibt Hobsbawm unter-schiedliche Typen von Sozialbanditen, die als Charaktere uns auch in gängigen Videospielen recht häufig begegnen. Der wohl eindringlichste Typus seiner vorgestellten Riege an Outlaws ist der „edle Räuber“, der sich unter anderem in der berühmten Fi-gur von Robin Hood wiederfindet (Ebd., 59–76). An diesem Bei-spiel lassen sich gleichzeitig zwei wichtige Merkmale des Sozial-banditen manifestieren. Auf der einen Seite die Vermischung von historischen Fakten mit sich sukzessive um den Protagonisten bildenden Mythen und Legenden (vgl. Holt 1991). Die daraus entstehende „Geschichte“, die mit zunehmender Rezeption im-mer facettenreicher wird und in der Regel mit der Realität nur sehr wenig zu tun hat, bildet das Fundament des Konzepts vom „edlen Räuber“. Auf der anderen Seite verdeutlicht die Figur des Robin Hoods sowie viele andere regionale Beispiele,2 dass die deutsche Sprache, die in diesem Kontext gerne von „Gesetzlosen“ spricht, die duale Bedeutung dieser Position nicht so klar erfas-sen kann, wie es das englische Pendant „Outlaw“ tut. Ein „Out-law“ ist nicht nur eine Person, die sich einerseits nicht an das Ge-setz hält bzw. es ignoriert, sondern andererseits auch jemand, der nicht dessen Schutz genießt, also außerhalb („out“) der gän-gigen Rechtsnorm agiert, sei es freiwillig oder durch Zwang. Dass aus einem normalen Banditen ein „edler“ und „gerechter“ Räuber wird, der eine breite Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft bzw. im kollektiven Gedächtnis genießt, bedarf mehrerer grundlegen-der Faktoren bzw. Motive, die sich immer wieder beobachten lassen. Diese Aspekte hat Hobsbawm anhand seiner Studien zum neuzeitlichen Banditenwesen dargelegt. Dazu gehören unter an-derem (Hobsbawm 2007, 60f.):

1. Der „edle Räuber“ fängt „seine Banditenkarriere nicht mit einem Verbrechen” an, „sondern als das Opfer einer Unge-rechtigkeit oder weil ihn die Obrigkeit für eine Tat ver-folgt, die zwar von den Behörden als verbrecherisch ange-

2 Für ein Beispiel aus Kärnten, der Wirkungsstätte eines der Autoren, vgl. Weingand 2010.

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sehen wird, dem Brauchtum seines Volkes jedoch nicht widerspricht.”

2. Er möchte „begangenes Unrecht wieder gut” machen. 3. Er stiehlt „von den Reichen, um die Armen zu beschen-

ken.” 4. Gewalt, insbesondere das Töten von Menschen, erfolgt

„nur zur Selbstverteidigung oder in berechtigter Rache.” 5. Es besteht theoretisch die Möglichkeit, „falls er überlebt,

als ehrenwerter Bürger und als Mitglied der Gemeinschaft wieder zu den Seinen” zurückzukehren.

6. Dem „edlen Räuber” ist die „Bewunderung, Hilfe und Un-terstützung” des Volkes gewiss.

7. Wenn er stirbt, dann „ist sein Tod ausschließlich die Folge eines Verrates, denn kein anständiges Mitglied der Ge-meinde würde je der Obrigkeit gegen ihn beistehen.”

Verknüpft man diese Aspekte – von denen uns manche sehr häufig in Videospiel-Narrationen begegnen – noch mit dem wei-ten und dynamischen Feld der Gerechtigkeitsdiskurse (vgl. Höffe 2007), dann lässt sich die Popularität des „edlen Räubers“ sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart leicht nachvoll-ziehen. Es verwundert daher auch nicht, dass eine der „weltweit bekanntesten Figuren des europäischen Mittelalters“ (Johnston 2013, 7), der bereits erwähnte Robin Hood und seine Geschichte, als Videospiel bereits sehr früh ihren Weg auf die Bildschirme fanden. Bereits für die ersten Heimcomputer und Spielekonsolen gab es Adaptionen, bis heute werden laufend neue Spiele rund um den Mythos aus dem Sherwood Forest produziert (vgl. o. A. 2014). Kennzeichen des von Hobsbawm beschriebenen „edlen Räubers” finden sich jedoch auch in vielen weiteren Videospie-len, so auch im bereits erwähnten Grand Theft Auto. Der Serien-titel GTA: San Andreas (Rockstar North/Rockstar Games 2004, 2010; Rockstar North/War Drum Studios/Rockstar Games 2014) zog schnell die Kritik auf sich, denn seine (afroamerikanischen) Charaktere seien

hyperviolent and criminal. The player inhabits the character of Carl Johnson, a Black man who, having left his home to escape the violence engulfing his life and community, returns to San Andreas to attend his slain mother’s funeral. Immediately upon returning to San Andreas, Carl

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is accosted by the police, framed for a crime he did not commit, and warned that he had better stay out of trouble (DeVane u. Squire 2008, 267).

Im Spielverlauf haben die SpielerInnen nicht nur die Möglich-keiten, die virtuelle Welt mehr oder weniger frei zu durchstrei-fen, sondern

[t]he game’s quest-based storyline takes the player on a violent, but heavily satirical, trip to becoming a criminal kingpin [...]. Players are in-vited to try on the personae of an inner-city gang member [...] (ebd.).

2.2 Verarbeitung, oder: Warum es gut ist, Böses zu tun

Carl Johnson weist durchaus auch Charakteristika eines ande-ren der von Hobsbawm beschriebenen Typen auf, der zwar oft-mals viele Gemeinsamkeiten mit dem „edlen Räuber” aufweist, sich in einem Punkt jedoch deutlich unterscheidet: In der Frage der Gewalt. Während der „edle Räuber” in der Anwendung von Gewalt zurückhaltend ist respektive sich stärkeren moralischen Kodexen unterworfen sieht, zeichnet sich der von Hobsbawm als „Rächer” titulierte Typus gerade durch exzessive Brutalität aus:

Nicht trotz aller Angst und Abscheu, welche durch ihre Taten erregt werden, sondern gewissermaßen gerade weil sie solche Taten begehen, werde diese Banditen als Helden angesehen. Sie sind nicht so sehr Män-ner, die verübtes Unrecht gutmachen wollen, sondern sie sind Rächer und Machtvollstrecker. Sie finden nicht als Agenten der Gerechtigkeit Anklang – doch lasse sich Rache und Vergeltung in Gesellschaften, in denen Blut nach Blut schreit, nicht von der Gerechtigkeit trennen –, sondern als Männer die beweisen, daß auch Schwache und Arme Schre-cken verbreiten mögen (Hobsbawm 2013, 77f.).

Die Grenzen zwischen „edlem Räuber” und „Rächer” sind flie-ßend, was besonders deutlich wird, wenn man nach ihren Pen-dants in Videospielen sucht. Fündig wird man dabei vor allem im Genre der Wild-West-Spiele:

1997 veröffentlichte LucasArts einen 3D-Western-Shooter mit dem treffenden Titel Outlaws (LucasArts 2014b). Der Titel konn-te die Kritiker durchaus überzeugen und erfreute sich einer treu-

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en Fangemeinde. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein gieriger Unternehmer versucht für den Bau einer Eisenbahnlinie das Grundstück eines ehemaligen Marshalls zu kaufen. Als dieser sich weigert, seinen Grund und Boden zu verlassen, wird seine Frau getötet und seine Tochter entführt. Daraufhin schlüpft der Spieler in die Rolle des Marshalls Anderson und ein blutiger Ra-chefeldzug bzw. eine dramatische Rettungsaktion beginnt. Die Hauptfigur, die selbst einmal ein Vertreter des Gesetzes war, nimmt dieses nun selbst in die Hand und begibt sich dabei in einen rechtsfreien Raum. Doch das ihm widerfahrende Unrecht und der Wunsch, dieses wieder gut zu machen, also seine Toch-ter zu retten, und den Tod seiner Frau zu rächen, legitimiert sei-ne Entscheidung moralisch und gesellschaftlich – und damit auch das darauffolgende Handeln, sprich das Spielvergnügen ei-nes 3D-Shooters in Wild-West-Atmosphäre (JamesInDigital 2013, 6:02–9:43).

Dass dieses Konzept auch nach den 1990ern weiterhin attrak-tiv ist und bleibt, zeigt beispielhaft Ubisofts Call of Juarez-Reihe, die seit dem gleichnamigen ersten Teil (Techland/Ubisoft/Focus Home Interactive/Ascaron 2006) bereits drei Nachfolgeteile her-vorgebracht hat, Bound in Blood (Techland/Ubisoft 2009), The Cartel (Techland/Ubisoft 2011) und Gunslinger (Tech-land/Ubisoft 2013) – wobei hier die Rolle des außerhalb von Recht und Gesetz agierenden Revolverhelden noch deutlicher gezeichnet wird und die SpielerInnen explizit die Möglichkeit genießen müssen, sich anders verhalten zu dürfen als üblicher-weise sozial akzeptabel: “You earn experience by killing enemies. You need it for levelling up and gaining extra abilities.” (Tech-land/Ubisoft 2013, Kap. 1, Mission 1). Einfach gesagt: Ohne Töten wird das hier nichts.

Dieses hier remedialisierte Konzept des Outlaws bedient sich also bei Erzählstrukturen und Motiven, die auf eine lange histo-rische und diskursive Tradition zurückblicken. Sie bauen dabei auf grundlegenden Komponenten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Misstrauen gegen „die da oben“ und Stereotypisierungen traditi-oneller Männlichkeit auf. Damit stellt sich bereits die erste nöti-ge und unausweichliche Frage: Sind diese Titel also nun Killer-spiele von Männern, die sich nicht richtig ausleben können, für andere Männer, die sich ebenfalls nicht traditionellen Männlich-

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keitsstereotypen gemäß verhalten (können) und das am Bild-schirm kompensieren? Wer spielt diese Spiele eigentlich?

2.3 Wer tut denn so etwas?

Das Segment der Spielenden, für das die hier verhandelten Phänomene relevant sind, lässt sich nach der Typologie von Kal-lio, Mäyrä und Kaipainen relativ eindeutig identifizieren: Von den neun dort vorgeschlagenen Spieler-Mentalitätsprofilen fallen drei in unseren Bereich (Kalio u.a. 2011, 335). Interessant dabei ist, dass damit die gesamte dritte und höchste Stufe der üblichen Spielintensität vollständig abgebildet ist – und sonst keine. Das muss zwar nicht die Realität der Spielenden abbilden, die durch-aus auf andere Weise kreativ mit diesen Titeln interagieren kön-nen (DeVane/Squire 2008, 273f.), zeigt aber die Erwartungshal-tung der Produzenten auf. Spiele, in denen Outlaws, Sozialban-diten, Antihelden auftreten, sind damit tendenziell solche, die auf einer hohen Intensitätsskala konsumiert werden (sollen). Das macht sie zu spannenden Untersuchungsobjekten, da wir mit einer zwar empirisch noch nicht hinreichend abgesicherten (das sei zugegeben), aber intuitiv und arbeitshypothetisch hohen Plausibilität davon ausgehen können, dass mit den hier präsen-tierten Inhalten und Narrativen eine entsprechend hohe Ausei-nandersetzung einhergehen kann. Oder, wenn man so will, mög-licherweise eine entsprechend hohe Beeinflussung. Was unter-schwellig und unbewusst an diskursiven Transfers beim Spielen tatsächlich abläuft, wissen wir nicht: Das bitten wir bei allem Folgenden zu bedenken. Anzunehmen, hier liefe ein irgendwie entschlüssel- und aufschlüsselbarer Automatismus ab, sobald man die Any-Key drückt, um das Spiel zu starten, führt in die Irre – wir können nur Skizzen möglicher Prozesse anbieten. Klar ist jedenfalls, dass diese Spiele ihre Verkaufserfolge vornehmlich nicht dadurch erzielen, dass sie dazu anregen, die in ihnen ver-handelten Inhalte kritisch zu reflektieren.

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That never lasts more than a flash, because the world rarely leaves room for uncommon intensity, being in large measure an entropic trashbin of outworn modes that refuse to die (Massumi 2013, xiii).

So Brian Massumi in seinem Vorwort zur Übersetzung von Deleuzes und Guattaris „Mille Plateaus“. Übertragen auf unseren Gegenstand hieße das, dass diskursive Systeme, deren Nachvoll-zug einen erhöhten intellektuellen Aufwand erfordert, ver-gleichsweise selten aufgerufen werden (können), während einfa-chere Zeichenmatrizen wie das Sozialbanditenmotiv sich zähle-big halten. So weit, so kulturkritisch kalter Kaffee – diese Argu-mentationsstruktur lässt nur zu sich leicht mit sich selbst kriti-sieren. Dennoch scheint es nach dem bereits Gesagten plausibel, manifestiert sich das einfache Muster des Sozialbanditen doch offenbar erfolgreich im Diskurs des Videospiel-Westernhelden. Wir bitten das Abschweifen zum „Helden” zu entschuldigen, wo sich dieser Beitrag doch gerade mit deren Gegenbildern zu befas-sen versprach. Allerdings ist es gerade im Videospielbereich nur allzu leicht, in eine derartige Begriffsverwirrung zu verfallen. Schließlich ist jede vom Spieler steuerbare Figur theoretisch als „Held“ ansprechbar. Und Anti-Helden erfüllen, wie gerade gese-hen, offenbar Funktionen für ihre Anhängerschaft – oder Spieler-schaft –, die sie innerhalb eines gewissen Spektrums zu vorbild-haften Figuren machen. Das lässt es uns angeraten erscheinen, ihre Heldenhaftigkeit etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

3. Helden vs. Antihelden

3.1 Man spielt nicht, was man ist

Um überprüfen zu können, ob sich das oben skizzierte Muster tatsächlich auch in weiteren Fällen beobachten lässt, wäre als nächster Schritt eine genauere Bestimmung des hier ja zunächst intuitiv genutzten Terminus „Anti-Held“ nützlich. Der erste Schritt hierzu wiederum läuft unseres Erachtens nach über eine genauere Herausarbeitung der Bedingungen für „Heldenhaf-tigkeit“: Was ist es, das den Helden zum Helden macht? Folgt man dem Ansatz Jan Philipp Reemtsmas, so liegt es nicht an der moralischen Qualität der Helden-Taten, sondern vielmehr an einer emotionalen Sympathie, die über bestimmte Faktoren aus-gelöst wird:

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Der Held ist jemand, der seinen Narzissmus in einem Maße auslebt, das der Alltag normalerweise nicht zulässt. Dennoch erhält er Anerkennung, Bewunderung, Liebe, ja findet sich zum Übermenschen (‚Heros‘) ver-klärt. Nicht trotz, sondern wegen seines Narzissmus, dessen Ausleben wir in unschuldiger Bewunderung ansehen. So bringt der Held in uns die besagte Saite zum Klingen, weil er einen a-sozialen Trieb als Antrieb für Handlungen nützt, die sozialen Tugenden entsprechen. (Reemtsma 2009, 13).

Demzufolge ergeben sich zwei mögliche Inversionen zur Anti-typisierung des Heldenhaften: Inversion, Typ_1: Jemand, der sei-nen narzisstischen Trieb übermäßig auslebt und dabei dazu nutzt, sozialen Tugenden entgegenstehende Handlungen zu be-gehen; und andererseits Negation, Typ_2: Jemand, der sich we-der durch besondere Eigenschaften noch durch übersteuerten Narzissmus von uns abhebt. Beide Formen erscheinen in der medialen Darstellung, und beide, wie wir später noch ausführen möchten, funktionieren vor allem dadurch, dass sie als Signifi-kanten ohne Referenten durch das Zeichenuniversum der Popu-lärkultur irrlichtern (vgl. Deleuze/Guattari 2013, 131f.).

Die bereits geschilderten Sozialbanditen entsprechen dabei leicht erkennbar dem Typ_1, den wir in Anlehnung an psycholo-gische Forschungen auch weiterhin als „Anti-Helden“ bezeich-nen möchten (Bostic u.a. 2003, 55). Sie leben ihren Narzissmus übermäßig aus, um Verbrechen zu begehen, und appellieren damit an die Instinkte in uns, die wir selbst normalerweise un-terdrücken – um Büchner zu zitieren, an das, „was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet“ (Büchner 1972, 33). Der zweite Typ ist offensichtlich weniger anti-heldisch als vielmehr un-heldisch, also ganz und gar nicht heldenhaft, weshalb wir ihn im Folgen-den als „An-Helden“ bezeichnen wollen. Der An-Held verfügt nicht über den übersteigerten Narzissmus der Helden und Anti-helden, oder er lebt ihn nicht aus; und da er auch keine beson-ders attraktiven – in welche Richtung auch immer – Eigenschaf-ten zu haben scheint, dürfte er für Videospiele ebenso wie für diese Argumentation kaum interessant sein.

3.2 Man ist nicht, was man spielt

Betrachten wir als nächsten Vergleichsfall also nun eine Vide-ospielfigur, die sich in einem anderen chronospatialen Zusam-

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menhang bewusst aufmacht, aus den gesellschaftlichen Zusam-menhängen auszutreten, um ein prototypischer Sozialbandit zu werden: Ein Pirat. Um genau zu sein, “a fierce, swashbuckling, bloodthirsty Pirate [Hervorh. i.O.]” (Telltale/LucasArts/Elec-tronic Arts 1990b, 3). Es handelt sich um eine Figur, die wir auf-grund des enormen Erfolges der Monkey Island-Serie durchaus als repräsentativ betrachten; mittlerweile erstreckt sich diese über fünf gleichermaßen gut verkaufte Teile, der letzte, Tales of Monkey Island, von 2009 (Telltale Games/Daedalic Entertain-ment). Wesentlichen Anteil an diesem Erfolg hat unbestritten besagte Figur, Guybrush Threepwood, mittlerweile aufgestiegen zum „Mighty PirateTM.“ (Telltale Games/Daedalic Entertainment, Epis. 1, Intro). Threepwood ist allerdings auch die perfekte Ver-körperung des Typ_2 unserer gerade eingeführten Skala: Der prototypische An-Held. Wieso funktioniert er dennoch?

Hier ist nun ein Rückgriff nötig auf die versprochene nähere Erläuterung der Videospielhelden, Antihelden und Anhelden als irrlichternde Signifikanten im Zeichenuniversum der Populärkul-tur. Dabei handelt es sich um eine Folgerung aus dem von De-leuze und Guattari vorgeschlagenen „paranoid-despotischen Zei-chenregime“ (Deleuze/Guattari 2013, 131). Darunter verstehen sie eine Symbolstruktur, ein Semioma, das im weitesten Sinne zirku-lär fungiert: Seine Zeichen bezeichnen nichts als wieder andere Zeichen, sie haben sich von jeder konkreten Referenz abgelöst und schlagen einen weiten Kreis durch das gesamte Zeichensys-tem der Symbolkultur, innerhalb deren sie verwendet werden. Ihr Verständnis und ihre Interpretation sind nur möglich unter Bezug und durch Verweis auf andere Zeichen dieses Gesamtsys-tems, die in anderen diskursiven Formationen beheimatet sind; und diese wiederum verweisen auf wieder andere Zeichen zu ih-rem Verständnis, und so weiter, ad infinitum. (Ebd., 133). Die Hyperironisierung des Videospiels wie auch der Figur des Video-spielhelden, die mit Monkey Island paradigmatisch vorexerziert wird und die darauf beruht, dass jedes Spielelement als Anspie-lung und Verweis auf andere populärkulturelle Diskursfragmente gelesen werden kann, wird durch diese theoretische Matrix er-schreckend gut abgebildet. Vielleicht erinnert sich der oder die eine oder andere LeserIn an die Szene aus dem dritten Teil der Serie, The Curse of Monkey Island (LucasArts/Funsoft/THQ/

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Softgold 1997), in der Threepwood gänzlich unerwartet, weil ge-gen die impliziten Genrekonventionen sowohl des Point-and-Click-Adventures wie auch der meisten LucasArts-Spiele versto-ßend, tatsächlich stirbt, nachdem ihm der Barkeeper Gift verab-reicht hat. Zwischen dem Barkeeper und dem herbeigeschlurften Totengräber entspinnt sich daraufhin folgender Dialog:

Barkeeper: Guess he’s dead now. Well, I guess that’s the end of the game, then?

Totengräber: What with him being the main character and all. It’s funny, I didn’t think you could die in LucasArts games.

Barkeeper: Well, maybe they are trying something different, then. (pmaz35 2007, 0:30–1:00)

Im weiteren Verlauf dieser Cutscene, die den Spielzusammen-hang unterbricht, beschwert sich der nunmehr zum Begräbnis vorbereitete Threepwood lautstark aus seinem Sarg heraus über den über ihm laufenden Abspann (vgl. ebd., 1:00-1:42) – worauf-hin er tatsächlich wieder ins Leben zurückkehrt und das Spiel weitergehen kann. Hier ist selbst der Tod nur noch zum abstrak-ten Verweiszeichen auf andere Diskursfragmente geworden und damit ohne konkrete Referenz: Es ist Tod ohne Sterben, ohne folgendes Tot-Sein. Ähnliches ereilt Threepwood erneut in Tales of Monkey Island, als er nach seinem diesmal längerfristigen Ab-leben als Geist herumschweben muss, bis es dem Spieler gelingt, die getrennten Teile Threepwoods wieder zu vereinen (vgl. Tell-tale Games/Daedalic Entertainment 2009, Epis. 4 u. 5).

Das gutmütige Gelächter, mit dem Spieler diese Vorgänge üb-licherweise begleiten, macht es damit schwer, davon zu spre-chen, dass die bislang erwähnten helden- und antiheldenma-chenden Umstände hier einträfen. Um noch einmal Reemtsma zu zitieren:

Dass wir von den Taten eines Helden bewegt werden (und sie nicht nur abstrakt anerkennen), ist eine wesentliche Erweiterung unseres […] Akts der Zuschreibung von Heldentum, denn auf diese Zuschreibung kommt es an […], kann jemand auf einer einsamen Insel doch tun, was er will, zum Helden wird er nie, und wer nichts als Hohn erntet, muss zumin-dest die Bewunderung späterer (oder, noch gewagter, vergangener) Ge-schlechter fantasieren, um sich in der Gegenwart als Held zu fühlen. (2009, 10).

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Und dennoch funktioniert die Figur Threepwood offenbar. Und er steht damit auch keineswegs allein. Um exemplarisch ei-nen weniger humoristischen Charakter aufzurufen: auch Niko aus Grand Theft Auto VII: Liberty City Stories (Rockstar Leeds/Rockstar Games 2005) passt in dieses Schema:

Not only is Niko a nonhero because of his criminal past, but he is not even that remarkable a criminal. His unremarkable character is typical of a modernist protagonist. (Ruch 2012, 343).

Das liegt, um einen Schritt weiter zu gehen, unserer Ansicht nach darin begründet, dass Videospielhelden und -antihelden tatsächlich anders funktionieren als die uns bisher vertrauten medialen Repräsentationen solcher Gestalten, und das wiederum wegen ihrer spezifischen, nämlich videospiel-spezifischen Media-lität. Im Gegensatz zu Antagonisten aus Literatur, Film, Funk und Fernsehen dienen sie nicht primär als Projektionsflächen für unsere emotional kodierten Affekte und Sehnsüchte.

Niko is remarkable in one way that must move this discussion from nar-rative content to the structural form of video games. Niko is the play-er/character, and as such, differentiated particularly from the masses of NPCs that wander the streets of Liberty City. (Ebd.)

Sie sind keine hingeträumten Hirngespinste, in denen wir uns passiv verlieren können. Sie sind vor allem Expansionsflächen für unsere unterdrückten Ich-Aspekte, sie sind aktive Vollzugsme-chanismen und affizieren uns so auf eine andere Art und Weise – es geht nicht mehr darum, sich vorstellen, was geschehen könn-te, sondern zu erleben, was in diesen „possibility spaces” nun-mehr geschieht (DeVane/Squire 2008, 280). Dementsprechend beruht ein Großteil der Kraft dieser Figuren nicht auf ihrer dis-kursiven Passung zum tradierten Heldennarrativ, sondern auf den Expansionsangeboten, die sie SpielerInnen machen, also den Aktionsmöglichkeiten, die sie ihnen bieten (Reemtsma 2009, 10; Richard 2003, 97). Die schiere Vielfalt der Angebote, die sowohl der An-Held Threepwood wie auch die bereits erwähnten Wes-tern-Anti-Helden machen, erlaubt es SpielerInnen hierbei, um Jeff Bostic zu zitieren, zu

[…] embrac[e] uncomfortable issues such as death and mutilation, and in doing so confron[t] difficult issues with drama and outrageous behavior rather than avoi[d] them. These antiheroes provide […] a forum for con-

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sidering anxiety-provoking issues, but in a way that is displaced and even exaggerated, much as riding a roller coaster allows one to face fears of speed or heights. (Bostic u.a. 2003, 56).

4. Historie vs. Spielraum

Nun festgestellt zu haben, dass sowohl An-Helden wie Anti-Helden in Videospielen für die SpielerInnen psychisch attraktive Angebote machen und daher beide in den hier beschriebenen Settings funktionieren, ist beruhigend, weil es den Widerspruch auflöst, der ein Loch in unsere hübsche These zu reißen drohte. Es beantwortet aber zwei wesentliche und miteinander verbun-dene Fragen noch nicht, denen wir uns abschließend stellen wol-len: Was bedeutet es in letzter Konsequenz, wenn das Schema von Deleuze und Guattari hier so schön passt (und immerhin scheint es uns ja unsere These gerettet zu haben)? Und zu guter Letzt: Warum ist das speziell für Historiker überhaupt relevant?

Um zunächst zur ersten Frage überzugehen, behaupten wir weiter oben, es handele sich um eine geradezu erschreckende Passung von Theorie und Gegenstand. Das war nicht nur leicht dahingesagt, sondern als Verweis auf eine real existierende Refe-renz gemeint: Folgt man der Theorie bis zum Ende, ergibt sich eine Konsequenz, die uns erschreckt. Denn das „paranoid-despotische Zeichenregime“ wird dort begriffen als Ausformung und stabilisierendes Herrschaftsmedium der imperialen Systeme, der Staaten, Religionen und anderer symbolischer Gemeinschaf-ten, in denen ein inneres Zentrum Gewalt und Macht über alle anderen TeilnehmerInnen ausübt (Deleuze/Guattari 2013, 134f.). Die instinktive Reaktion ist – bei Ihnen wahrscheinlich auch – Ablehnung: Das ist doch Überinterpretation, „Überkodierung“, echte Paranoia. Gilt nicht und kann nicht gelten für Videospiele, dieses widerständige, subkulturelle, gegenkulturelle Medium, das immer noch bei den tonangebenden kulturellen Schichten verschrien ist. Denkt man jedoch die hier präsentierten Beispiele zu Ende, wäre vielleicht diese Ablehnung noch einmal neu zu werten als der Schmerz, der entsteht, wenn der Finger in die Wunde gelegt wird. Sowohl das Sozialbanditennarrativ, das Hobsbawm aufgeschlüsselt hat als akute Strategie ländlicher Ge-sellschaften zur Bewältigung von Anpassungsschwierigkeiten an eine kapitalistische Wirtschaftsweise (Hobsbawm 1979, 22), als

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auch das Piratennarrativ, das Monkey Island zugrunde liegt, in dessen Zeichenkosmos das Spiel seine zirkulären Referenzen ent-faltet, sind in ihrer hier auftretenden Form letztlich Konstruktio-nen des 19. Jahrhunderts. Das populärkulturelle Piratenbild speist sich – immer noch und unproblematisch – hauptsächlich aus Robert Louis Stevensons Roman Treasure Island (1883). Und der britische Schriftsteller Stevenson reproduzierte damit eine diskursive Formation, die am Ende des 18. und vor allem am An-fang des 19. Jahrhunderts in Kreisen der britischen Administrati-on aufkam, das Bild vom überzeitlich konstanten Piratentum, das als Chiffre für Gesetzlosigkeit, Unzivilisiertheit und Anarchie diente – und das nicht ohne Grund verwendet wurde. Eignete es sich doch vorzüglich, um darüber die imperiale Beherrschung auch der Weltmeere und der an sie angrenzenden Küstengebiete durch die britische Flotte zu begründen, die mit den Piraten und allem, was sie chiffrierten, gründlich aufzuräumen versprach (Layton 2011, 83). Treasure Island – fasst man den Plot kompri-miert zusammen – erzählt von nichts anderem. Jedem Historiker ist die Unhaltbarkeit einer solchen chronospatial völlig undiffer-enzierten Konstruktion klar – weshalb Simon Layton erst kürz-lich forderte, dass “‘Piracy’ can no longer be employed to de-scribe a normative model or phenomenon, as historically it has functioned as a criminalising category in service of particular structures of imperial authority.” (Ebd., 92) Ohne jetzt in noch weitere Beispiele ausufern zu wollen, verwirrt es uns doch – wie wir bereits an anderer Stelle gezeigt haben (Kerschbau-mer/Winnerling 2014) – wie viele Videospielnarrative so wie die hier verhandelten letztlich dem 19. Jahrhundert entstammen, und zwar vor allem denjenigen Akteuren dieses wahrlich imperi-alen Jahrhunderts, deren historischen Beispiel nachzueifern wir heutzutage eigentlich für wenig erstrebenswert halten. In der vir-tuellen Welt des Videospiels werden sie dynamisiert erlebbar; die Historie wird zum Möglichkeitsraum, zum Spielraum. Und das sollte uns auch den Schlüssel zur Antwort auf die zweite Frage liefern. Roger Chartier bemerkte völlig richtig:

In a time when our relationship to the past is inhabited by the powerful temptation of imagined and imaginary histories, a reflection on the con-ditions that make it possible to consider a historical discourse as an ade-quate representation and explanation of reality seems to me an essential and urgent task (Chartier 2011, 8).

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Anti-Helden-Erzählungen genauer unter die Lupe zu nehmen kann dabei ein probates Mittel sein, wie wir glauben, hier im An-satz gezeigt zu haben. Denn gerade hier müssen wir anscheinend zustimmen, die Videospiel-Welt sei “[i]n large measure an ent-ropic trashbin of outworn modes that refuse to die.” (s.o. S. 59). Wir müssen daher überlegen, welche Arten von Spiel-Räumen wie mit unserer Historie zusammengehen können, und wie.

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CHRISTIAN KLAGER

Spiel der Zeichen

Präsentativ-symbolische und diskursive Zeichen im Spiel

1. Das Spiel als epistemische Chance des Unterrichts

Als epistemisch kann das Spiel gelten, wenn es in der Lage ist, Erkenntnisse zu vermitteln oder zu evozieren, die nicht nur durch die Spielkonstitution, sondern durch den Prozess des Spielens hervorgebracht werden. Klassische Gedankenexperi-mente der Philosophie können hierfür ein gutes Beispiel sein: Der Versuchsaufbau und die Beschreibung der Ausgangssituati-on von Gedankenexperimenten bestimmen zwar einen Teil des Weges, jedoch nicht deren Ende und Ergebnis (vgl. Engels 2004, 16).

Epistemisch bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass Spiele philosophische Strömungen und Positionen einer kanoni-schen Epistemologie, wie sie an Schulen und Universitäten ge-lehrt wird, vermitteln1. Der hier weit gefasste Begriff steht viel-mehr für ein Begreifen oder das Verständnis eines Sachverhaltes, eines Zusammenhangs, einer Sinnzuschreibung oder einer Quali-tät mittels einer spielimmanenten oder einer dem Spiel ange-schlossenen Reflexion oder der Erfahrung einer Evidenz, deren weitere methodische Untersuchung obsolet ist. Dafür wird nicht zwischen philosophischen und psychologischen Erkenntnissen unterschieden, sodass der subjektiven Erkenntnis im Spiel die prüfende Instanz einer methodischen Reflexion und Vergewisse-rung folgen muss, um intersubjektive Wahrheit zu behaupten2. Allein die Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Erkennen verweist auf mögliche Problemfelder, die wiederum in einer Theorie perzeptiver Identifikationsvorgänge differenziert oder ig-

1 Generell wird in diesem Aufsatz darauf verzichtet, die Vermittlung von Wissen im Sinne des Erlernens von Fakten als Erkenntnis zu begreifen. 2 Exemplarisch sei auf alle Arten der Sinnestäuschung und der sich darauf ergebenden Folgen für eine Erkenntnis verwiesen. Da Spiele vielfach durch Sinne erfahrbar sind, muss die Möglichkeit, dass diese Sinne fehlbar sind, in der Behauptung einer Erkenntnis durch das Spiel bedacht werden.

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noriert werden (vgl. Prinz 1972, 662-681). Von einigen Ausnah-men abgesehen, sind die Erkenntnisvorgänge im Spiel am besten mit einer intuitiven Erkenntnis zu vergleichen, die eine unmit-telbare Erkenntnis des Objekts beschreibt, welche einer metho-dischen und abstraktiven Erkenntnis gegenüberzustellen ist, die-ser jedoch qualitativ nicht nachsteht.

Darüber hinaus lässt sich eine Vielzahl von Vorgängen im Spiel als narrativ beschreiben und mit entsprechendem Reper-toire der Narratologie hermeneutisch erfassen. Mit ähnlicher Konzeption, jedoch auf komplexerer Ebene, ist das Spiel über-greifend als Zeichen, Symbol oder als Kumulation von Zeichen und Symbolen zu verstehen, die es wahrzunehmen und zu deu-ten gilt.

Die Erkenntnis durch Spiel muss wenigstens durch folgende Dimensionen systematisiert werden, die sich als hermeneutisch (1, 2 und 3) und intuitiv (4, 5, 6 und 7) unterscheiden lassen.

1. Zeichen und Symbole in Spielen

2. Spiele als Zeichen/Symbole

3. Narration im Spiel

4. Evidenz(-erlebnisse) im Spiel

5. Ästhetische Erkenntnis im Spiel

6. Philosophische Kontemplation im Spiel

7. Epiphanie im Spiel

Dass die Erkenntnis im Spiel in dieser Differenzierung gleich-bedeutend mit einer scharfen Trennung verschiedener Modi des Verstehens und der Sinnzuschreibung ist, muss bezweifelt wer-den; das Spiel ist mehr als die Summe seiner Teile.

In den folgenden Ausführungen sollen zunächst die ersten drei Aspekte der Erkenntnis im Spiel betrachtet werden.

2. Zeichen und Symbole im Spiel

2.1 Diskursive Zeichen

Die meisten Spiele – insbesondere die klassischen Gesell-schaftsspiele, Computer- und Konsolenspiele sowie Gedanken-

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experimente oder Gedankenspiele – weisen einen nicht unerheb-lichen Anteil von Texten auf, die als Spielanleitung zur Spielkon-stitution beitragen oder als Element des Spiels gelten. Darunter sind, in Abhängigkeit vom Spielgenre, unterschiedliche Textsor-ten zu subsumieren, die allenfalls exemplarisch kategorisiert werden können und diffuse Übergänge erkennen lassen: Neben Spielaufgaben/Quests, die einen Spielregelcharakter haben und – anders als die Regeln selbst – im Spiel zu verorten sind, sind vor allem Texte der simulierten oder realen Spielerkommunikation3 sowie Detailbeschreibungen vorzufinden – wobei erstere und letztere in einer kommunikativen Situation dargestellt werden können.

Die Texte der Spielanleitung oder Spielelemente – ganz gleich ob sie konstitutiv für das Spiel sind, indem sie die Regeln erklä-ren, bestimmen oder verschärfen oder nur als Detail und Kolorit auftreten, bestehen aus Zeichen, die (produktiv) geschrie-ben/gesprochen oder (rezeptiv) gelesen/gehört und gedeutet werden.

Eine Differenzierung der Zeichen in diskursive und präsenta-tiv-symbolische Formen, wie sie auch in der Fachdidaktik der Phi-losophie üblich geworden ist, ist notwendig, um zwei grundsätz-lich verschiedene Wege der Erkenntnis zu kennzeichnen. Diese Unterscheidung behauptet jedoch nicht, dass es Texte gäbe, die in einer Reinform genannter Zeichen auftreten. Insbesondere für die Deutung komplexer Sinnzusammenhänge kann dies Schwie-rigkeiten bereiten, da Methoden spezifisch angewendet werden und nicht notwendig global funktionieren.

Diskursive Zeichen sind in diesem Verständnis sprachliche Zeichen mit einem klar abgegrenzten und rekonstruierbaren Be-deutungsrepertoire, das, zum Beispiel in Wörterbüchern, in-tersubjektiv kodifiziert ist, so dass eindeutige Aussagen und Be-schreibungen möglich sind. Obwohl damit der Weg für eine missverständnislose Kommunikation denkbar ist, bereiten der Variantenreichtum der Sprache und die Kombinationsmöglich-keiten diskursiver Zeichen die Grundlage für eine Interpretation

3 Besonders Computerspiele, die von nur einem Spieler gespielt werden, simulieren – zum Beispiel im Rollenspiel-, Adventure- oder Actiongenre – die Kommunikation mit anderen Mitspielern, die der Rechner steuert.

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und Hermeneutik von Texten, die kontext- und referenzabhän-gig aus den gleichen sprachlichen Zeichen unterschiedliche In-halte erlesen können. Die philosophische Bemühung um Weis-heit und die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit münden in dem Bestreben um klare, nachvollziehbare und eindeutige Texte, die aus differenzierbaren diskursiven Zeichen bestehen, aber auch literarische Texte und die Alltagskommunikation beruhen auf Diskursivität, wenngleich sie weitere Elemente im Bereich der präsentativ-symbolische Formen oder nonverbaler Kommuni-kation einbeziehen.

Auch die Texte in (Computer-)Spielen bestehen zu einem großen Teil aus diskursiven Zeichen, welche vor und/oder wäh-rend des Spiels in ihrem Bedeutungszusammenhang begriffen und interpretiert werden müssen, um das Spiel spielen zu kön-nen. Wenn jemand eine Spielanleitung oder die Kommunikation im Spiel nicht verstehen kann, weil er der Sprache nicht mächtig ist oder der Grammatik nicht folgen kann, dann kann er durch Beobachtung zwar Spielzüge imitieren und zufällig Ereignisse auslösen, aber nicht eigenständig regelgemäß agieren.

Darüber hinaus können die Texte eines Spiels eine breite Basis für philosophische Interpretation und Reflexion bieten. Abgese-hen von Texten, die reines philosophiehistorisches Fachwissen vermitteln, wie es im PC-Spiel zum Buch „Sofies Welt“ von Jo-stein Gaarder (vgl. Howard/Hyde 1998) geschieht, sind die dis-kursiven Zeichen eines Spieles mit denen anderer philosophi-scher Medien wie Büchern, Gesprächen oder Filmen vergleichbar und in analoger Weise zu beschreiben und zu deuten. Im Kon-text der Fachdidaktik der Philosophie können sie wenigstens nach hermeneutischen, phänomenologischen, analytischen, dia-lektischen, spekulativ-kreativen, konstruktivistischen und de-konstruktivistischen Aspekten untersucht und erarbeitet (vgl. Martens 2003, 54-56; Steenblock 2002, 134-136; Rohbeck 2008, 77-88) bzw. produktiv überarbeitet werden (vgl. Rohbeck 2008, 163-174 und 189-211). Entsprechend dieser methodischen Großformen oder Denkstile sind Erkenntnisse und Ergebnisse im Spiel allein auf der diskursiven Textebene möglich, indem man die geschrie-benen oder gesprochenen Texte auf ihre Aussagen hin prüft, de-ren Zusammenhänge aufzeigt und deren Deutung heraus- und in einen Bedeutungskontext stellt, wobei intertextuelle und inter-

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mediale Referenzen wahrscheinlich und wünschenswert sind4. Der Text im Spiel führt somit in die philosophische Auseinander-setzung.

2.2 Präsentativ-symbolische Formen

Über die konkrete Textebene und die diskursiven Zeichen hinaus, zeigen Spiele vornehmlich und auf verschiedenen, nicht hierarchischen Ebenen präsentativ-symbolischen Formen.

Die Überlegung zu einem erweiterten Zeichenbegriff, der „die Grenzen der Rationalität über den Verbalismus der diskursiven Sprache hinaus weiter in andere Bereiche verschoben“ (Nordh-ofen 1998, 128) hat, geht von Ernst Cassirer aus. Dieser entwickelt einen erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt, der geistige Ausdrucksformen unterschiedlicher Herkunft einschließt (vgl. Nordhofen 1998, 129). Ihren Ausgang nimmt diese Theorie in der in der Gewissheit:

Alle Erkenntnis geht zuletzt, so verschieden auch ihre Wege und Weg-richtungen sein mögen, darauf aus, die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des „Satzes vom Grunde“ zu unterwerfen. Das Einzelne soll nicht als einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem Zusammenhang einreihen, in dem er als Glied eines sei es logischen, sei es teleologischen oder kausalen ‚Gefüges‘ erscheint. Auf dieses wesentliche Ziel: auf die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungs-form bleibt die Erkenntnis wesentlich gerichtet. Aber neben dieser Form der intellektuellen Synthesis, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt, stehen im Ganzen des geistigen Lebens andere Gestaltungsweisen. Auch sie lassen sich als gewissen Weisen der ‚Objektivierung‘ bezeichnen: d.h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; aber sie erreichen dieses Ziel der Allge-meingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als auf dem des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes. Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis denen einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ich eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbstständige Energie des Geistes in sich, durch die das

4 Das Spiel als eines von vielen Medien, parodiert und zitiert andere Texte und Medien ebenso wie es selbst in anderen Medien zitiert und parodiert wird. Im Versuch eines Methoden- und Medienpluralismus zur multiperspektivischen Betrachtung der Welt, ist dies wünschenswert und methodisch notwendig.

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schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ‚Bedeutung“, einen ei-gentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gege-benes einfach widerspiegelt, sondern vielmehr nach einem selbstständi-gen Prinzip hervorbringen (Cassirer 1994, 8-9).

Die so geschaffenen symbolischen Formen sind den genann-ten intellektuellen Symbolen nicht gleichartig, aber in ihrem geistigen Ursprung und Anspruch gleichwertig (vgl. Cassirer 1994, 9) und sollten nicht mit spontaner Bedeutungszuschrei-bung verwechselt werden, deren Motiv oder Grund nicht nach-vollziehbar ist. Vielmehr zeigt sich, dass „alle diese Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertan-spruch auftreten“ (Cassirer 1994, 21) und ein konkretes Verhält-nis zur Welt haben, welches bewusst gestaltet wird. Für die In-terpretation symbolischer Formen bedeutet dies, dass jedem identifizierbaren Symbol ein bestimmtes Wirklichkeitsverständ-nis zugrunde liegt, sofern dies nicht willkürlich, sondern weitest-gehend intentional hergestellt wurde5.

Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird (Cassirer 1997, 175).

In den Bereichen der Kunst, der Religion, des Mythos, der Sprache, der Wissenschaft, Technik und Philosophie sind symbo-lische Formen zu finden, die sich auch in weiteren Aspekten von diskursiven Zeichen unterscheiden, indem sie sich nicht in den kanonischen Dualismus einbetten lassen, sondern „diese Ge-gensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorie“ ent-stammen, überwinde[n]“ (Cassirer 1990, 447).

So konstituiert die Sprache, der Mythos, die Kunst je ein selbstständiges und charakteristisches Gefüge, das seinen Wert nicht dadurch erhält, daß in ihm ein äußeres und jenseitiges Dasein irgendwie ‚abgespiegelt‘ erscheint. Ihr Gehalt wird ihnen vielmehr dadurch zuteil, daß sie, je

5 Im Bereich der Kunst und Literatur sind auch Formen denkbar, die willkürlich oder nichtintentional gestaltet werden – zum Beispiel dann, wenn das Arrangement von Farben oder Wörtern dem Zufall überlassen wird.

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nach einem eigenen ihnen innewohnenden Bildungsgesetz, eine eigen-tümliche und selbstständige, in sich geschlossene Welt des Sinns auf-bauen (Ebd.).

Die Cassirer-Schülern Langer relativiert und präzisiert die Ge-schlossenheit des Symbolgefüges im präsentativen Symbol (vgl. Langer 2002, 77-90), welches mehrfach semantisierbar ist, da zur Subjekt-Zeichen-Objekt-Relation das Glied Vorstellung in der Form von Subjekt-Symbol-Vorstellung-Objekt in diese Beziehung eingefügt wird (vgl. Nordhofen 1998, 130). Der in der Fachdidak-tik der Philosophie etablierte Terminus präsentativ-symbolische Form fasst diese Ansätze zusammen und ist insbesondere im Phi-losophieren mit Kindern zu einer bedeutsamen legitimatorischen und methodischen Größe geworden.

In der Zusammenfassung Nordhofens lassen sich die genann-ten Aspekte thesenartig wiederfinden:

1. Die Grenzen des Verbalismus sind die nicht Grenzen der Vernunft.

2. Die Rationalität nicht-sprachlicher geistiger Ausdrucksformen ist nicht defizitär, sondern anders.

3. Präsentative Symbole verweisen über sich selbst hinaus und erlauben vielfältige Semantisierungen. […]

4. Präsentative Symbole treten als Objektivationen von Sinn neben das Sprachsymbol. Auf diese Weise wird deutlich, daß es verschiedene Modi gibt, eine Sache zu Ausdruck zu bringen.

5. […]

6. […]

7. […]

8. Die non-verbalen Rationalitätsformen sind, so gesehen, keine bloßen Turnübungen auf einer Treppe, die zum Tempel der Philosophie hin-führt. Man ist schon mittendrin (Nordhofen 1998, 132).

Insbesondere in den methodischen Ansätzen des Philosophie-rens mit Bildern (vgl. Steenblock 2003; Wiesen 2003), Filmen (vgl. Steenblock 2013; Peters/Peters/Rolf 2006; Peters/Bernd 2003), Fabeln und Märchen (vgl. Calvert/Calvert 2001; Brüning

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2007; Viole 2007) und im theatralen Philosophieren (vgl. Gefert 2007; Gefert 2002; Maurer 2005) sind präsentativ-symbolische Formen entscheidende Wegbereiter eines Philosophieunter-richts, der sich nicht nur auf diskursiv-argumentative Texte stützt. Der darin herausgearbeitete Symbolbegriff – etwa in der Erweiterung durch Münnix auf performative Akte (vgl. Münnix 1997) - konstatiert: „Zeichen sind keine Naturphänomene“ (Münnix 2001, 312); vielmehr schreibt der Mensch Bedeutungen zu, die es zu interpretieren und zu hinterfragen gilt.

Zu finden sind entsprechende präsentativ-symbolische For-men zum Beispiel auf Gemälden, Bildern, Fotos, in Filmen und Theateraufführungen, Texten, Comics, Collagen und Filmen als Sätze und Wörter, Redewendungen, Metaphern oder Neologis-men – und als Gemälde, Bilder, Filme, Fotos und Theaterauffüh-rungen, Texte, Comics, Collagen und Filme oder kurz in allen Bereichen der menschlichen Kultur mit einer medialen Basis6. Der Unterschied zwischen einer präsentativ-symbolischen Form in einem Medium oder als ein Medium ist diffus und für diese Untersuchung marginal; entscheidend ist eine mögliche diffe-renzierte Wahrnehmung und Interpretation dieser Zeichen. So steht das medial dargestellte Gerippe – womöglich mit Sense o-der Pfeil und Bogen versehen – als Zeichen für einen individuel-len Toten und gleichzeitig für den überindividuellen allegori-schen Tod während das entsprechende Medium wie das Mär-chen Gevatter Tod der Gebrüder Grimm oder die mittelalterli-chen Totentänze7 als komplexe präsentativ-symbolische Form für die Unausweichlichkeit aber auch Gerechtigkeit des Todes stehen, der keine Standesunterschiede oder besonderen Bezie-hungen kennt, ohne dass der Text oder die Collage dies wörtlich

6 Als mediale Basis ist die Gebundenheit eines Zeichens an ein Element zu verstehen, dass sinnlich wahrgenommen werden kann und so zum Vermittler des Symbols wird. 7 Dadurch, dass individuelle Vertreter aller mittelalterlichen Stände – vom Papst bis zum Mönch, vom Kaiser bis zum Bettler – gleichermaßen sterben müssen, zeigt sich in der Gesamtschau, dass vor dem Tod alle Menschen gleich sind. Diese Erkenntnis lässt sich jedoch nicht mit dem Blick auf eines der Bilder gewinnen, vielmehr muss man einen ganzen Totentanz mit der Vielzahl der vom Tod fortgeführten allegorischen Vertreter sehen, um das zugrunde liegende Prinzip zu verstehen, welches die Menschen des Mittelalters im Wirken der Pest beobachten haben. - (vgl. Kaiser 1982)

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beschreibt. Die Schwierigkeit besteht, wie bereits erwähnt, allein in der methodischen Bearbeitung dieser ineinander verwobenen Zeichen – zum Beispiel in der Schule – mit einem angemessenen Methodenrepertoire.

Das Spiel wurde von Cassirer in der Philosophie der symboli-schen Formen nicht explizit untersucht und in der Fachdidaktik der Philosophie wird bisher kein Bezug zum symbolischen Philo-sophieren im Spiel hergestellt, sieht man von Geferts theatralem Philosophieren ab, welches einen deutlichen Spielcharakter hat, aber dennoch nicht als ein Spiel beschrieben wird.

Da im (Computer-)Spiel die genannte mediale Basis ebenso vorhanden ist wie beim ephemeren theatralen Philosophieren oder in jahrhundertealten philosophischen Texten und die ge-nannten Elemente Gemälde, Bilder, Filme, Fotos, Theaterauffüh-rungen, Texte, Comics, Collagen in unterschiedlicher Konzentra-tion im Spiel wiederzufinden oder in ähnlicher Weise zu entde-cken sind, gleicht das Spiel den bereits erläuterten Formen des präsentativ-symbolischen Philosophierens nicht nur und tritt mit analogem symbolischen Potenzial auf, es verbindet vielmehr eine Vielzahl der beschriebenen Medien und eröffnet eine größere Dimension philosophischer Betätigung in der Zuweisung und Deutung der Objektivationen von Sinn. Letztlich kann das ge-samte Spiel als eine präsentative-symbolische Form gedeutet werden.

Die hier dargestellte Multiperspektivität und Multimedialität des Spiels ist im Gesamten gesehen ein Vorzug, der jedoch für das konkrete Spiel relativiert werden muss. Es ist richtig, dass Spielfilme im Vergleich mit klassischen Gemälden weitere Di-mensionen präsentativ-symbolischer Formen aufweisen: Gemäl-de zeigen Bilder innerhalb eines bestimmten Rahmens und bie-ten hinsichtlich bestimmter Merkmale – wie Farbe, Größe, Per-spektive, Licht – Interpretationsraum; Filme ergänzen diese Momentaufnahmen um bewegte Bilder mit einem bestimmten Arrangement, Tempus und Schnitt sowie Sprache, Ton und Mu-sik mit jeweiligen weiteren Merkmalen. Das Spiel kann hingegen alle diese Elemente und Merkmale aufweisen; ein konkretes Spiel ist aber auch ohne ein einziges der genannten Beispiele vorstell-bar.

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In einer exemplarischen Untersuchung kann das folgende Spiel verdeutlichen, wie präsentativ-symbolische Formen im Spiel wirksam sind.

Das nachfolgende Beispiel, das als Kugelschreiberspiel die Verteilung knapper Ressourcen und die damit verbundene not-wendige Kooperation oder Eskalation in der Beziehung von Menschen und Staaten simuliert, wird unter folgenden Parame-tern gespielt:

Kugelschreiberspiel

Teilnehmerzahl

Das Spiel ist ab zwei Spielern möglich. Bei einer großen Teil-nehmerzahl ist eine Durchführung in Gruppen empfohlen.

Material

Die Spielmaterialien sind denkbar einfach zu beschaffen: Notwendig ist ein Kugelschreiber (oder ein ähnliches Schreibge-rät, welches zerlegt werden kann) und ein Blatt Papier.

Spielverlauf

Der Stift wird auseinandergebaut und die Einzelteile – übli-cherweise eine Mine, eine Feder, ein vorderer und ein hinterer Teil des Stiftes – werden an zwei oder mehr Gruppen verteilt, die die Aufgabe erhalten, das Wort „Macht“ auf das Blatt Papier zu schreiben – und zwar nur mit dem wieder zusammengesetzten, vollständigen Originalstift. Das Spiel ist beendet, wenn es einer Gruppe (oder ggf. mehreren) gelungen ist, das Wort zu notieren. Gegebenenfalls kann eine Gewinnergruppe gekürt werden, die die Macht zuerst hatte.

Hinweis

Die Mittel zur Erlangung der Stiftbestandteile sind den Grup-pen völlig frei überlassen und es liegt gerade im Ziel und in den Möglichkeiten dieses Spiels, Ideen auszuloten, die zum Erwerb des Stiftes und zum Schreiben des Wortes führen. Das Spiel birgt

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dadurch erhebliches Gewaltpotenzial; nicht jede Gruppe ist gleichermaßen in der Lage, das Spiel ohne Handgreiflichkeiten zu beenden. Dies ist aus philosophischer Sicht völlig unproble-matisch und mit dem Spielziel durchaus vereinbar – hat aber Grenzen im zwischenmenschlichen Umgang der Spielteilnehme-rInnen und im pädagogischen Auftrag der Lehrenden.

Bei mehreren Durchführungen kamen folgende Verhand-lungskünste argumentativ und tätlich, häufig in einer ähnlichen Reihenfolge, nacheinander oder seltener gleichzeitig zum Ein-satz:

1. Angebot: Geld oder Gegenstände zum Tausch gegen Stiftfragmente

2. Gewaltandrohung zur Erzwingung einer Herausgabe der Stiftteile

3. Versuch: Überredung (Einschmeicheln) zum Überlassen der Teile

4. Argumentation „Zusammenschluss oder Kooperation“, um gemein-sam zu gewinnen

5. Versuch: Stehlen der Stiftbestandteile (häufig nicht geglückt)

6. Argumentversuch „wir sind mehr als ihr, daher sollten wir den Stift haben“

7. Argumentversuch „wir haben mehr Teile, also sollte uns gleich der ganze Stift gehören“

8. Opferbereitschaft einer gegnerischen Gruppe gefordert „der Klügere gibt nach; ihr seid klüger“

9. Abschließend (in 14 von 15 Fällen): Kooperation und gemeinsames Aufschreiben des Wortes (vgl. Klager 2011, 200-203).

Für gewöhnlich löst das Spiel wegen seiner Offenheit erst einmal Ratlosigkeit unter den Teilnehmerinnen und Teilneh-mern aus8. Die angegebenen Lösungsstrategien sind dann die Folge von geheimen oder laut ausgesprochenen Überlegungen in

8 Das Spiel wurde 2011-2014 in mehreren Durchgängen im Rahmen von Philosophieseminaren und -fortbildungen mit Schülern, Studenten und Lehrern mit gleichem Aufbau ausprobiert.

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den Gruppen, der eine Kommunikation mit den Gegenspielern folgt, wobei einige Gruppenmitglieder – gewollt oder ungewollt – die Führung der Gruppe übernehmen oder auf eigene Faust han-deln. In einer anschließenden Reflexion im Metagespräch ist den Spielteilnehmern oft nicht bewusst, ob die Gleichzeitigkeit ver-schiedener Agierender und Aktionen beabsichtigt war. So er-scheinen die Argumentationsversuche zum Erreichen des Spiel-ziels mit dem Blick auf die diskursiv-argumentative Zeichenebe-ne rationale Überzeugungsversuche darzustellen, die an bekann-te kulturelle und historische Muster anknüpfen. Versuche einer Analogie zur Demokratie (hier: die Mehrheit sollte die Macht haben) oder zur Plutokratie (hier: die mehr Stiftfragmente besit-zenden Personen sollten die Macht inne haben) sind ebenso zu beobachten wie die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mit-teln“ (Clausewitz 1832-1834, Kap. 1/24). Durch die Gleichzeitig-keit der Handlungen geschieht es jedoch häufig, dass während der rational geführten Argumentation einige der Spielteilnehmer versuchen, der gegnerischen Gruppe Stiftfragmente zu entrei-ßen, um das Spiel zu eignen Gunsten zu entscheiden. Hierdurch werden die Argumentationsversuche – vollkommen unabhängig wie gut oder richtig die vorgebrachten Gründe sind – als Ablen-kungsmanöver wahrgenommen, die nicht inhaltlich überzeugen, sondern lediglich die Aufmerksamkeit auf eine unwesentlichere Handlungen ziehen sollten, so dass der Gegner ungehindert sein Plan durchführen und das Spiel gewinnen kann. Die auf der ei-nen Ebene als diskursiv-argumentativ erscheinenden Texte der Spielerkommunikation und -diskussion, werden so auf einer an-deren Ebene zu komplexen präsentativ-symbolischen Formen, die sich am ehesten mit der These Argumentation ist nur Ablen-kung, die wahre Macht liegt in der Tat zusammenfassen lassen und eine besondere Wirkung im Zusammenhang mit dem ohne-hin zu beobachtenden Einschmeicheln entwickeln. Dass im Fazit des Spiels nicht allein der Eindruck bestehen bleibt, Politik oder Argumentation sei Camouflage einer kriegerischen Absicht, ist dem Umstand geschuldet, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewöhnlich zu einer Kooperation entschließen, die im gemeinsamen Gewinnen des Spiels ihr erfolgreiches Ende fin-det. Von den Spielern wird im anschließenden Reflexionsge-spräch jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Koope-ration nicht als die beste der Möglichkeiten erschien, sondern

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erst im Angesicht der möglichen Niederlage oder der offensicht-lichen Pattsituation erwogen wurde, da Gewalt zwar angedeutet aber letztlich doch nicht im möglichen Maß umgesetzt wurde. Nach der Deutung der Argumentation als Ablenkungsmanöver wird auch der Kooperationsvorschlag argwöhnisch diskutiert und kritisiert und als Trick oder Finte interpretiert. Die meisten beo-bachteten Gruppen lassen folglich ihre Stifteile bis zum Schluss nicht aus den Fingern, so dass der Stift von mehreren Händen zusammengebaut und das Wort mit mehreren Händen notiert wird.

Mit Bestürzung wird oft in der Reflexionsphase festgestellt, wie schnell die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereit waren, vermeintlich unmoralische Mittel zu nutzen und dass ein Ver-gleich mit realen historischen und aktuellen Verteilungs- und Gewinnungssituationen von knappen Rohstoffen ähnliche Mus-ter aufzeigt. Der Versuch, Stiftfragmente gegen andere Gegen-stände oder Münzen zu tauschen erscheint global betrachtet wie der Handel von Rohstoffen zwischen verschiedenen Ländern, wobei den Spielern bewusst wird, dass derjenige, der die Roh-stoffe weggibt, zwar eine Bezahlung erhält, nicht notwendig je-doch das Spiel gewinnt und die Macht hat. Gleiches gilt für die Androhung oder Umsetzung von Gewalt; die Eroberung von roh-stoffreichen Gebieten wie Öl- oder Gasquellen oder die Beherr-schung von Ländern und Bevölkerungen zum Abbau seltener Mineralien oder Erzen ohne adäquate Entschädigung der be-troffenen Nationen ist ein in der Geschichte der Menschheit im-mer wieder zu beobachtendes Phänomen.

In der rückblickenden Betrachtung des gesamten Spiels wer-den die unterschiedlichen, erdachten und/oder umgesetzten, Strategien zum Gewinn der Macht mit realen Methoden der Machtsicherung und des Machtausbaus von Nationen in der Ge-schichte verglichen und gleichgesetzt. Das Spiel ermöglicht die Sinnzuschreibung und Deutung verschiedener präsentativ-symbolischer Formen, die mit bereits bekannten Situationen und Phänomen parallel und vereinbar sind. Schließlich zeigt das Spiel – wie auch die Totentänze – im globalen Zugang, dass die Deu-tung der einzelnen Vorkommnisse und Strategien im Gesamtzu-sammenhang mehr bedeuten als die Summe der beschriebenen Elemente.

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Das Spiel zeigt auf präsentativ-symbolischer Weise, wie mit dem Besitz und der Gewinnung knapper Ressourcen umgegan-gen werden kann: Weil das Zeichen Argumentation in diesem Spiel nur Ablenkung bedeutet, bleiben schließlich die Formen Handel, Gewalt und Kooperation als mögliche Lösungsstrategien relevant.

Da das Spiel äußerst wenige Spielregeln aufweist und sich dadurch nur geringfügig von der realen Welt unterscheidet – und die Möglichkeit des Einsatzes von Gewalt erlaubt – be-schreiben die Teilnehmer zumeist die Erkenntnis, dass die be-kannte normierende Handlungseinschränkung Gewalt ist keine Lösung offensichtlich und besonders historisch keine Gültigkeit hat und eine lediglich naive Behauptung darstellt, der eine Be-gründung fehlt. Zudem verstehen sie jedoch auch, dass Koopera-tion im vorliegenden Spiel die einzige Möglichkeit bietet, mit recht großer Wahrscheinlichkeit das Spiel zu gewinnen: Wenn Gewalt Gegengewalt auslöst, besteht die Gefahr, das Spiel trotz Anfangsvorteil zu verlieren9, während in der Option des Han-delns – im Tausch von Stiftfragmenten gegen Geld oder Gegen-stände – ohnehin nur für eine Gruppe ein Vorteil liegt, während die die anderen Gruppe mit Sicherheit zwar wertvolle Güter aber nicht das Spiel gewinnt.

Zur Auswertung präsentativ-symbolischer Formen sind ver-schiedene Ebenen des Spiels zu betrachten: Zum einen (a) mani-festieren sich Zeichen während des Spiels und zum anderen (b) liegen sie nach dem Spiel in Form einer Dokumentation oder in Form des Spielergebnisses vor.

Auf die Zeichen, die sich (a) im Spiel in der Form von Bild, Text, Gestik, Mimik oder Handlung äußern, wird auch im Spiel mit entsprechenden Zeichen reagiert. Dazu müssen die symboli-schen Formen wahrgenommen, als solche erkannt und gedeutet werden, damit eine nicht nur willkürliche Reaktion erfolgen kann. Hierfür kann in eine Mikro-, Meso- und Makroebene un-terschieden werden: Kulturell erlernte Mikrozeichen wie das Runzeln der Augenbrauen als Symbol für Unzufriedenheit oder die entgegengestreckte, leere Hand als Zeichen für ein friedliches

9 Nur einmal ist das durch besondere Schnelligkeit im Stehlen der Stiftfragmente gelungen.

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Angebot sind durch gemeinsame Objektivationen von Sinn er-gänzbar und über die Mesoebene in eine Makroebene transfor-mierbar, auf der schließlich komplexe Symbole wie Kooperation oder freundliches Entgegenkommen mit entsprechenden Mikro-zeichen wahrgenommen werden. Nach der Beendigung eines Spiels (b) liegen diese Zeichen entweder als komplexe Erinne-rung an das Spiel oder in Form von Dokumentationen vor. Im beschriebenen Beispiel bleiben die Aktionen und Kommunikati-onsvorgänge der Gruppen für einige Zeit greifbar im Gedächtnis und können entsprechend in einem Metagespräch reflektiert werden. Auch die Gegenstände des Spiels oder durch Handlun-gen versuchten Veränderungen im Raum können als Dokumente des Spielgeschehens aufgegriffen und als Zeichen interpretiert werden. Das zurückgewiesene Geld, das noch auf dem Tisch liegt, zeigt den Fehlschlag des Handels: Dem Zahlungsmittel ist kein angemessener Gegenwert angeboten worden, so dass ein Kauf der Stiftfragmente nicht gelungen ist. Ein umgestoßener Stuhl steht für den Versuch, Teile des Stiftes durch Diebstahl an sich zu nehmen und dafür auch körperliche Gewalt einzusetzen. Schließlich ist das Blatt Papier, auf dem von einer oder von meh-reren Gruppen Macht notiert wurde, das eindeutige Zeichen für den erfolgreichen Abschluss des Spiels für eine oder mehrere Gruppen. Darüber hinaus ist die Dokumentation in Form von Video- und Tonaufzeichnungen oder durch das Führen von Pro-tokollen durch Beobachter ebenfalls möglich, so dass im An-schluss an das eigentliche Spielgeschehen eine umfangreiche Be-schreibung und Interpretation des vorhandenen Materials mög-lich ist.

Die Umsetzung didaktischen Anschlusshandelns zur Fortset-zung und Auswertung von Spielsituationen ist im entsprechen-den Kapitel ausgeführt. Im Hinblick auf die Theorie der präsen-tativ-symbolischen Formen bleibt jedoch die Frage, ob eine dis-kursiv-argumentative Reflexion des Spiels überhaupt notwendig ist10. Diese Diskussion findet analog ihren Höhepunkt im Bilder-streit (vgl. Tiedemann 2011, 78-80; Tichy 2001, 244-251; Dege 2011,

10 Im Anschluss an das Spiel sind auch Methoden und Aufgaben mit präsentativ-symbolischem Charakter möglich, diese führen jedoch wieder zurück zur eigentlichen Frage: Müssen präsentativ-symbolische Formen in diskursiv-argumentative Formen überführt werden?

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241-243; Gefert/Tiedemann 2012, 152-159) der Philosophiedidaktik um das angemessene Philosophieren mit Bildern, ist jedoch schon länger in didaktischen Debatten und Lehrplänen präsent. Kurz gefasst lässt sich die Problematik mit dem Rahmenplan zum Philosophieren mit Kindern des Landes Mecklenburg-Vorpommern einleiten. Hier heißt es zur Beschreibung mögli-cher Methoden:

Präsentative Formen der Auseinandersetzung sind in ihrer Erschlie-ßungskraft und Wirkung ganzheitlich, wie z. B. Bildproduktion und -rezeption, theatrales Philosophieren und Gedankenreisen. Letztlich müssen aber auch diese Formen der Auseinandersetzung sprachlich ge-deutet werden. Daher kommt dem Gespräch eine besondere Bedeutung zu (Rahmenplan Grundschule zum Philosophieren mit Kindern o. J., 16).

Die hier unbegründete Norm, präsentativ-symbolische in dis-kursiv-argumentative Formen zu übertragen widerspricht den Thesen Cassirers und Nordhofens, die postulieren, dass „[d]ie Rationalität nicht-sprachlicher geistiger Ausdrucksformen nicht defizitär, sondern anders [ist]“ (Nordhofen 1998, 132). Warum sollten folglich gleichwertige und nur anders konstruierte Zu-schreibungen von Sinn transformiert werden? Sofern die Gleich-wertigkeit beider Ausdrucksformen nicht in Frage gestellt wird, ist der Grund allein in der Tradition der Philosophie zu suchen, die sich vornehmlich der diskursiv-argumentativen Formen be-dient, die die Arbeit an Begriffen, logischen Analysen und argu-mentativen Texten ermöglicht und verlangt. Aus dieser Tradition haben sich ein Fachverständnis und eine Fachkultur entwickelt, die dem geschriebenen und gesprochenen Wort in Form einer wissenschaftlichen Argumentation mehr oder allein richtige Aussagekraft und Dignität zuschreibt als anderen Ausdrucksfor-men.

Die Polemik Mal mir was Tiedemanns im Bereich des Philoso-phierens mit Bildern zeigt exemplarisch, wie sich diese Tradition einschränkt:

Wir können in Bildern denken, aber nicht philosophieren. Schon gar nicht können wir gemeinsam in oder gar mit Bildern philosophieren. Ein Bild ist ein Bild, ist ein Bild. Erst dann, wenn ein diskursiver Akt hinzu-kommt, kann Philosophie entstehen. Warum? Weil Philosophie die Abs-traktion von Konkretem enthält, weil sie immer auch das sokratische

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Rechenschaftablegen kultiviert. Hierfür bedarf es Kriterien wie ‚richtig‘, ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, die das Bild nicht besitzt (Tiedemann 2011, 80).

Zwar ist die Konzentration auf Aufsätze und Essays dieser Art philosophiegeschichtlich nicht zu übersehen, Tiedemann schränkt den Philosophiebegriff jedoch unverhältnismäßig ein, wenn er ihn auf analytische Kriterien und Argumentation redu-ziert. Die literarischen Formen des Dialogs, der Erzählung, des Romans oder des Aphorismus‘ sind der Philosophie ebenfalls ak-zeptiert und entsprechen dennoch nicht den genannten Anfor-derungen an Klarheit. Camus‘ Roman Der Fremde (vgl. Camus 1992) ist beispielsweise nicht allein in der hermeneutischen Erar-beitung der Satzbedeutungen zu erschließen; die Theorie des Absurden lässt sich vielmehr zwischen den Zeilen im Metaphori-schen erkennen.

Zudem übersieht diese Kritik, dass präsentativ-symbolische Formen ebenfalls als Abstraktionen von Konkretem zu betrach-ten sind – die Gebundenheit an sinnliche Zeichen – Cassirer be-tont die „untrennbare Verknüpfung zwischen Bedeutungsgehalt und sinnlichem Zeichen“ (Gefert 2002, 71) schließt einen abstrak-ten Begriff nicht aus; vielmehr sind auch diskursive Formen an konkrete Buchstaben oder gesprochene Wörter gebunden.

Richtig und verständlich ist hingegen das Streben nach wis-senschaftlicher Klarheit und Argumentation, als ein Teil der Phi-losophie, das vom Philosophieren mit präsentativ-symbolischen Formen nur einschränkt geleistet werden kann. Die Tradition der diskursiv-argumentativen Formen wird von der Eindeutigkeit ihrer Ausdrucksformen bestimmt, so dass die Forderung nach einer sprachlichen Deutung symbolischer Formen als Versuch der Übersetzung verstanden werden kann: Wenn nicht alle Men-schen des Zeichenrepertoires der präsentativ-symbolischen For-men mächtig sind und sich diese in besonderen Fällen durch ephemere Situativität auszeichnen, ist Übersetzung in eine ge-meinsame Sprache der Philosophie ein nachvollziehbares Anlie-gen, das Verständlichkeit und Eindeutigkeit schaffen soll. Beson-ders, wenn um die nachvollziehbare Bewertung von Schülerleis-tungen gestritten wird, scheint dieses Argument wichtig zu sein (vgl. Tiedemann 2011, 80).

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Die Transformation symbolischer Formen in diskursive Zei-chen hat jedoch notwendig ein Übersetzungsproblem11: Da beide Varianten der Objektivierung von Sinn als unterschiedliche Ver-fahren von Sinnzuschreibung zu betrachten sind, ist es unwahr-scheinlich, dass den komplexen Zeichen der einen Art qualitativ-adäquate Zeichen der anderen Art entsprechen. So ist eine Über-setzung nur unter Bedeutungsverlust und Bedeutungsverschie-bung möglich, die bedingt zu kompensieren ist. Für das Philoso-phieren mit präsentativ-symbolischen Formen und insbesondere für das Philosophieren in der Form von Spielen ist dieses Prob-lem jedoch nicht so brisant, wie es scheinen mag.

Die Formen des Philosophierens mit Bildern, Filmen, Comics, literarischen Texten, theatralen Formen oder Spielen behaupten nicht, dass dies die einzig richtige Art des Philosophierens sei und die traditionelle Form der Arbeit mit einem philosophischen Sachtext oder sokratischen Gespräch obsolet wäre. Vielmehr be-ziehen sich die didaktischen Entwürfe – beispielsweise das theat-rale Philosophieren Geferts – konkret auf diskursive Formen, die in allen Medien und Methoden – mit Ausnahme einiger Gemäl-de, Fotos oder Musikstücke – zentral sind. Selbst in der defizitä-ren Situation der Übersetzung symbolischer in diskursiv-argumentative Formen liegt eine philosophisch interessante und anspruchsvolle Aufgabe vor, die keine der beiden Formen dis-kreditiert.

Für das Spiel kommt hinzu, dass es selten in einer Reinform auftritt, in der die Sinnzuschreibungen beim Spielen allein in präsentativ-symbolischer Form vorgenommen werden oder an-schließend ausschließlich als solche dokumentiert vorliegen. Spiele können verschiedene Arten von Zeichen aufweisen und sowohl vornehmlich diskursiv-argumentativ – zum Beispiel in einem Debattierwettstreit oder in einer gespielten Podiumsdis-kussion – als auch dezidiert präsentativ-symbolisch – etwa in der gemeinsamen Zeichnung einer Stadt der Zukunft – wirksam wer-den. In allen drei Beispielen ist die gleichzeitige Manifestation von Sinn in Form beider Arten von Zeichen ebenfalls erkennbar. Die Zeichnung einer Stadt der Zukunft wird nicht gänzlich ohne

11 Dies gilt auch umgekehrt für die Übertragung diskursiver Zeichen in präsentative Formen.

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diskursive Kommunikation und didaktisches Anschlusshandeln auskommen, in dem die Zeichnung präsentiert und gegebenen-falls erklärt wird. Gleichermaßen steht die Darstellung eines phi-losophischen Streits als Debatte oder Podiumsdiskussion selbst als ein präsentativ-symbolisches Zeichen für eine kulturell tra-dierte Form der Argumentation und des Wettstreits, die sich am besten mit Diskursfähigkeit übersetzen lässt und bedeutet, dass ein argumentativer Streit in der Philosophie durch differenzier-bare Voraussetzungen und Einstellungen bestimmt wird. So be-deutet ein philosophischer Streit zum Beispiel nicht, dass die Parteien mit unterschiedlichen Positionen sich mit Waffengewalt auseinandersetzen oder es ablehnen, miteinander zu sprechen, wie es aus anderen Konflikten bekannt ist. Hinzu kommen for-male Kriterien der Redezeit oder der Argumentation, die be-stimmte Gründe und Verweise – wie das ist eben so – für zulässig oder unzulässig erklären. Die Zeichen Debatte und Podiumsdis-kussion bilden dies bereits ab.

3. Spiele als Zeichen und Symbole

In der Zusammenfassung der Punkte 2.1 und 2.2 lässt sich konstatieren, dass Zeichen nicht nur in Spielen vorhanden sind und gedeutet werden können, sondern dass Spiele auch komple-xe Zeichen hinterlassen, die als Objektivationen von Sinn präsen-tativ-symbolischen oder diskursiv-argumentativen Charakter ha-ben. Für eine Hermeneutik des Spiels lassen sich einige dieser Formen differenzieren und mit unterschiedlichen Methoden analysieren und interpretieren; aus dem gemeinsamen Auftreten und einer inhaltlichen und strukturellen Einheit kann jedoch auch folgen, präsentativ-symbolische oder diskursiv-argumentative Formen zusammen zu erfassen und auszulegen.

Darüber hinaus können Spiele selbst als Zeichen betrachtet werden, die kontextabhängig12 Bedeutung tragen. Auf zwei Ebe-nen können (a) konkrete Spiele und (b) Spiele im Allgemeinen als Symbolisierung aufgefasst werden. Die (a) konkreten Ausprä-gungen von Spiel zeigen in ihrem Einsatz globale Bedeutungen auf, indem sie einen Teil der uns umgebenden komplexen Reali-

12 Kontextabhängigkeit bedeutet nicht Willkür.

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tät in das vergleichsweise unterkomplexe Bezugssystem Spiel transformieren und dennoch in der Lage sind, wesentliche Struk-turen, Zusammenhänge oder Qualitäten im Schein abzubilden oder nachzubilden; die Wirklichkeit wird auf einige bestimmen-de Eigenschaften begrenzt und zeigt damit, welche Eigenschaf-ten die in diesem Kontext die bestimmenden sind. Die Redukti-on kriegerischer, strategischer Auseinandersetzungen auf Spiele wie Schach oder Halma übergeht die individuellen Interessen von Kriegsherren, Soldaten oder Verfassungen und tilgt geografi-sche, klimatische, historische oder technologische Besonderhei-ten bis letztlich nur zwei abstrakte Heere auf einem Spielbrett aufeinandertreffen, welches beiden Konkurrenten die gleichen Chancen und Voraussetzungen jenseits ihrer geistigen Konstitu-tion und Kompetenz gibt. In der strategischen Auseinanderset-zung zeigen Schach und Halma, dass ein Gewinnen der Partie zwangsläufig nur mit dem Opfern eigener Figuren zu erreichen ist, wobei im Schach die unterschiedlichen Fähigkeiten der Figu-ren Anlass dazu geben, den Verlust weniger bedeutsamer Spiel-steine als Bauernopfer billigend in Kauf zu nehmen, um das Spielziel zu erreichen. Eine Übertragung auf die Realität findet sich in modernen Kriegen und Kriegssimulationen (vgl. Klaus 1968, 227-312) wieder, die den Verlust von Einheiten als mathe-matische Größe und strategische Notwendigkeit betrachten, um den Sieg davonzutragen.

Das Kugelschreiberspiel ist in seiner Offenheit und in seinen wenigen Spielregeln zwar noch beschränkter als die Möglichkei-ten, die sich in der Realität zur Erlangung von knappen Ressour-cen und der damit verbundenen Macht bieten, steht jedoch in der spielerischen Offenheit für die vielen Optionen, die in der Realität zur Durchsetzung eigener Interessen vorhanden sind und versinnbildlicht diese übergreifend.

Somit wird der Fakt, dass es (b) im Allgemeinen Spiele gibt, die die Realität nachbilden und simulieren zu einem eigenen Zeichen, welches Aussagen über die Wirklichkeit und Spielwirk-lichkeit zulässt und den spielerischen Zugang zur Welt geeignet abzubilden im Stande ist. Versuche, die Welt im oder als Spiel zu verstehen, nehmen dieses Prinzip zur Grundlage (vgl. Basieux 2008; Eigen/Winkler 1975).

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Literatur

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Calvert, Charles; Calvert, Kristina: Philosophieren mit Fabeln. Heinsberg 2001.

Camus, Albert: Der Fremde. Übertragen ins Deutsche von Georg Goyert und Hans Georg Brenner. Reinbek bei Hamburg 1992.

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. 9. unveränderte Auflage. Darmstadt 1990.

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache. 10. unveränderte Auflage. Darmstadt 1994.

Cassirer, Ernst: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. 8. Auflage. Darmstadt 1997.

Dege, Martina: Befremdliche Polemik. Zu Markus Tiedemann: „Mal mir was“. In ZDPE 3/2011. S. 241-243.

Eigen, Manfred; Winkler, Ruthild: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. München 1975.

Engels, Helmut: „Nehmen wir an…“ Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht. Weinheim, Basel 2004.

Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Dres-den 2002.

Gefert, Christian: Philosophieren in theatralen Formen. In: Barbara Brüning, Ekkehard Martens (Hgg.): Anschaulich philo-sophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Weinheim, Basel 2007. S. 137-155.

Gefert, Christian; Tiedemann, Markus: Diskursive und präsen-tative Symbole. Eine Kneipendiskussion. In: ZDPE 2/2012. S. 152-159.

Gevatter Tod. In: Grimm (Hg.): Kinder- und Hausmärchen. 19. Auflage. Düsseldorf/Zürich 1999. S. 247-250.

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Howard, Ken; Hyde, Robert: Sofies Welt. Das Spiel. Kosmos Verlag 1998.

Kaiser, Gert (Hg.): Der tanzende Tod. Frankfurt am Main 1982.

Klager, Christian: Gerechte Verteilung – spielend leicht? In: ZDPE 3/2011. S. 200-203.

Klaus, Georg: Spieltheorie in philosophischer Sicht. Berlin 1968.

Langer, Susanne: Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt am Main 1984.

Martens, Ekkehard: Methodik des Ethik- und Philosophieun-terrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hanno-ver 2003.

Maurer, Christian: Szenische Umsetzung als Beispiel für eine Methode der intensiven Texterarbeitung. In: ZDPE 3/2005. S. 225-230.

Münnix, Gabriele: Bildlichkeit. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Praktische Philosophie. Aspekte ihrer Didaktik und Methodik. Soest 1997.

Münnix, Gabriele: Zur Hermeneutik des Bildes. ZDPE 4/2001. S. 310-318.

Nordhofen, Susanne: Didaktik der symbolischen Formen. In: ZDPE 2/1998. S. 127-132.

Peters, Jörg; Peters, Martina ;Rolf, Bernd: Philosophie im Film. Bamberg 2006.

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Prinz, Wolfgang: Erkennen, Erkenntnis. In: Historisches Wör-terbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Rudolf Eisler. Band 2. Basel, Stuttgart 1972. S. 662-681.

Rahmenplan Grundschule des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Philosophieren mit Kindern. Schwerin o. J.

Rohbeck, Johannes: Didaktik der Philosophie und Ethik. Dresden 2008. S. 77-88.

Steenblock, Volker: Das Eigene in einem Fremden finden. Bil-dung mit Bildern als hermeneutischer Prozess. ZDPE 2/2003.

Steenblock, Volker: Philosophieren mit Filmen. Tübingen 2013.

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Steenblock, Volker: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophiedidaktik und Handbuch Praktische Philosophie. Münster 2002.

Tichy, Matthias: Bilderdenken. Zu Tiedemanns Kritik an der Verselbstständigung präsentativer Formen im Philosophieunter-richt. In: ZDPE 3/2011. S. 244-251.

Tiedemann, Markus: „Mal mir was!“. Ein Zwischenruf. In: ZDPE 1/2011. S. 78-80.

Viole, Uwe: Fabeln als Spiegel der Gesellschaft. In: Barbara Brüning, Ekkehard Martens (Hgg.): Anschaulich philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Weinheim, Basel 2007. S. 62-88.

von Clausewitz, Carl: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Hrsg. von Marie von Clausewitz. Band 1. Berlin 1832–1834. Kapitel 1, Unterkapitel 24.

Wiesen, Brigitte: Bilder zeigen den ganzen Menschen. In: Bar-bara Brüning, Ekkehard Martens (Hgg.): Anschaulich philoso-phieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Weinheim, Basel 2007. S. 90-108.

Wiesen, Brigitte: Mit Bildern philosophieren – aber wie? ZDPE 2/2003. S. 130-137.

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DENNIS MACIUSZEK

Nichtlineare Dramaturgie in digitalen Lernspie-len für geistes- und sozialwissenschaftliche Fä-cher

Überblick & Vorstellung des Spiels „Kabale und Liebe“

1. Einleitung

Digitale Lernspiele sind Computerspiele, die nicht rein der Unterhaltung oder ästhetischen Zwecken dienen, sondern die zusätzlich dem Spieler – in der Regel Schülern – Lerninhalte vermitteln. Lernspiele sollen spielerisches Ausprobieren fördern: Die Schüler treffen Entscheidungen und sehen direkt die Aus-wirkungen in der simulierten Spielwelt. Sie können Hypothesen entwickeln und diese verifizieren oder falsifizieren, ohne negati-ve Konsequenzen in der realen Welt befürchten zu müssen. So gesehen sind digitale Lernspiele besonders geeignet, konstrukti-vistische Lehr- und Lerntheorien umzusetzen. Die Spieler bilden individuelle mentale Modelle aufgrund eigenen Handelns und dessen Konsequenzen heraus, statt vom Lehrer lediglich Fakten vorgesetzt zu bekommen.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften haben Lernspiele und didaktische Simulationen eine lange Tradition. Das Teilge-biet der Wirtschaftswissenschaften nutzt Planspiele schon we-sentlich länger als es PCs gibt. Die Digitalisierung solcher inter-aktiver Wirtschaftssimulationen ermöglichte es dann, Züge am Computer einzugeben und die Auswirkungen auf das Wirt-schaftssystem anhand mathematischer Modelle automatisiert berechnen zu lassen (für eine Analyse des Genres Wirtschaftssi-mulationsspiel siehe Neef u.a. 2011). Aus dem Fach Geschichte stammen zwei Klassiker digitaler Lernspiele: The Oregon Trail (Entwickler: Rawitsch/MECC, 1971) über die europäische Besied-lung Nordamerikas und Where in Time Is Carmen Sandiego? (Brøderbund, 1985), ein Zeitreise-Adventure.

Damit beim Lernenden persönliche Konstrukte entstehen, ermöglichen schon diese frühen Spiele ein Ausprobieren und entsprechende Rückmeldung. In The Orgeon Trail soll der Spie-ler einen Siedlertreck möglichst unversehrt in den nordamerika-

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nischen Westen führen. Dazu kann er oder sie an verschiedenen Zwischenstationen Ausrüstung erwerben und muss Entschei-dungen treffen, z.B. wie ein Fluss überquert werden soll. Die Si-mulation wertet dies aus und präsentiert die berechneten Aus-wirkungen, etwa ob Ausrüstung verloren geht oder ob Tiere oder Siedler sterben. Derartige Interaktivität ist das entscheidende Merkmal, weswegen Computerspiele für den konstruktivisti-schen Unterricht interessant sind. Damit Interaktivität mit un-terschiedlichen Rückmeldungen zu unterschiedlichen Spieler-entscheidungen möglich ist, müssen die Inhalte nichtlinear strukturiert sein. Das Geschehen in der virtuellen Welt muss sich an den Entscheidungspunkten in verschiedene Richtungen ent-wickeln können. Dabei sind unterschiedliche Strukturen denk-bar. Wählt der Spieler eine aus vier Gesprächsoptionen mit ei-nem Nichtspielercharakter (NSC) im Adventure Where in Time Is Carmen Sandiego?, dann kann sich der Erzählstrang in vier Richtungen verzweigen. Bei einem simulationsbasierten Spiel mit vielfältigen Eingriffsmöglichkeiten (z.B. einem Flugsimula-tor) kann deutlich mehr passieren. Statt eines verzweigten „Ge-sprächsbaums“ entwickelt der Spieldesigner ein mathematisches Modell, etwa in Form von Differenzialgleichungen mit veränder-baren Parametern.

Aber: Passen nichtlineare Geschichten in den Geschichtsun-terricht, wo doch Geschichtsschreibung per definitionem linear verläuft? Ein Zeitstrahl mit historischen Ereignissen hat keine Abzweigungen. In der Realität kann ein Historiker keine Zeitrei-se unternehmen und mal eben ausprobieren, was für Konse-quenzen einträten, würde eine historische Persönlichkeit eine andere politische Entscheidung treffen. Der Verlauf von Ereig-nissen, die Schulklassen im Geschichtsunterricht behandeln, ist größtenteils geklärt. Ursache und Wirkung sind bekannt. Gerade in einem Geschichts-Lernspiel wäre es – gegenüber Unterhal-tungsspielen mit historischer Thematik – doch besonders wich-tig, Geschichte unverfälscht darzustellen, so wie sie sich tatsäch-lich abgespielt hat?

Andererseits findet auch im herkömmlichen Geschichtsunter-richt ständig individuelle Konstruktion statt. Die Schüler studie-ren Quellen, d.h. sie lesen historische Texte oder sprechen sogar mit Zeitzeugen, sie interpretieren die Quellen, bewerten sie indi-

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viduell und diskutieren sie in der Klasse. Schließlich bilden sie sich ihre eigenen Vorstellungen und Meinungen. Rezeption von Medien beinhaltet immer Konstruktion. Liest man einen Roman oder hört eine Sportreportage im Radio, dann läuft bei vielen Menschen ein inneres „Kopfkino“ ab, das Lücken füllt und sich von den Vorstellungen anderer Leser, Hörer, des Autors oder des realen Geschehens unterscheiden wird. Welche Farbe haben die Trikots der Mannschaften? Wer spielt in welche Richtung? Was für ein Kleid trägt die Hauptfigur, und warum handelt sie so? Sollten nicht also auch Schüler in interaktiven Lernspielen mit eigenen Interpretationen von Geschichtsverläufen experimentie-ren dürfen?

Kontrafaktisches Denken als didaktische Methode bejaht das. Statt einer Klassenarbeit zum Thema „Wie kam es zum Ersten Weltkrieg?“ könnte man auch fragen: „Wie hätte der Erste Welt-krieg verhindert werden können?“ Wir schreiben das Jahr 2014, in welchem verschiedenste Kriege scheinbar unvorhergesehen ausgebrochen sind, und die Politik findet keine Lösung. Sollten wir der Jugend nicht kreativeres Problemlösen beibringen, als die Fehler der Geschichte zu wiederholen? In einem Lernspiel ist es möglich, alternative Szenarien durchzuspielen. Damit das didak-tisch funktioniert, müssen die Spiel- und Instruktionsdesigner einige Dinge abwägen: Ein gewisses Grundwissen muss durchaus via Instruktion weitergegeben und verankert werden. Wie viel Freiheit kann man den Schülern darüber hinaus beim Experi-mentieren zugestehen, damit sie die Interaktionsmöglichkeiten nicht überfordern? Und wie weit darf man es mit der Spekulation treiben? Schließlich hat kein Geschichtswissenschaftler – und schon gar kein Lehrer – jeden nichtlinearen Geschichtsverlauf perfekt durchdacht und könnte sagen, was bei einer anderen Entscheidung wirklich passiert wäre. Geistes- und sozialwissen-schaftliche Themen stehen eben nicht auf eindeutigen mathema-tischen Fundamenten. Das Verändern eines einzigen Parameters kann ganz unterschiedliche Auswirkungen haben.

Es ist also ein Balanceakt zwischen linearem und nichtlinea-rem Geschichtenerzählen zu leisten. Wie stark sollen die Spieler Geschichte(n) verändern dürfen? In der Interaktiven Dramatur-gie (Interactive Storytelling) spricht man vom Narrativen Para-doxon (Narrative Paradox, z.B. Louchart/Aylett 2003). Auf der

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didaktischen Ebene ist ein Konflikt zwischen ermöglichter Kon-struktion (Interaktivität) und erforderlicher Instruktion (Lineari-tät) aufzulösen (Martens/Maciuszek 2013). Schulmeister (2002) hat eine Taxonomie aufgestellt, nach der man den Grad der In-teraktivität in multimedialen Lernumgebungen bemessen kann. Mit steigendem Grad sind dies die Stufen:

1. Objekte betrachten und rezipieren

2. Multiple Darstellungen betrachten und rezipieren

3. Die Repräsentationsform variieren

4. Den Inhalt der Komponente modifizieren

5. Das Objekt bzw. den Inhalt der Repräsentation konstruie-ren

6. Den Gegenstand bzw. Inhalt der Repräsentation konstruie-ren und durch manipulierende Handlungen intelligente Rückmeldung vom System erhalten

Es gibt bereits Überlegungen, wie sich der kontrafaktische An-satz im Gamedesign von Geschichts-Lernspielen umsetzen lässt.

Bonsignore et al. (2012) haben Entwurfsmuster zusammenge-tragen, mittels derer sich Fiktion in Fakten einweben lässt. Eini-ge Muster regen an, dass man zu faktischen Elementen fiktionale Elemente derselben Kategorie hinzufügt oder dass man mehrere faktische Elemente, die inhaltlich korrelieren, fiktional ver-knüpft. Andere Muster erfinden für ein historisches Ereignis eine fiktionale Begründung oder, falls eine faktische Begründung exis-tiert, ein fiktionales Beweisstück. Der Designer muss sich fragen, wie er/sie durch das Füllen von Lücken und das Ergänzen von Fakten einen Möglichkeitsraum erzeugt.

Vowinckel (2010) hat sich das Lernspiel PeaceMaker (Impact-Games, 2007) über den Nahostkonflikt vorgenommen. Der Spie-ler übernimmt darin die Rolle eines israelischen oder palästinen-sischen Politikers und muss strategische Entscheidungen treffen, die zur Lösung des Konflikts führen. Die Autorin zeigt, dass Ge-schichtliches nur als interaktiv betrachtbarer Zeitstrahl präsen-tiert wird, während sich simulierte Auswirkungen in Folge von

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Spielerentscheidungen auf gegenwärtige und zukünftige Ereig-nisse beschränken.

Angesichts einer solchen Aufteilung von Linearität und Nicht-linearität sollte man PeaceMaker vielleicht eher als Politikspiel, nicht als Geschichtsspiel einordnen. Anders als die Geschichts-wissenschaft ist die Politikwissenschaft in die Zukunft gerichtet. Der Ausgang von Ereignissen ist offen. Problemlösungsdenken ist erwünscht. Weitere verwandte Disziplinen wären die Geogra-phie und die Wirtschaftswissenschaften. Diese nutzen von vorn-herein mathematische Modelle, um alternative und zukünftige Entwicklungen vorauszusagen. Geographie grenzt bereits an die Naturwissenschaften. Im Sinne der angerissenen Problematiken sind vielleicht die Literaturwissenschaften der Geschichtswissen-schaft am ähnlichsten. Hier hat man es ebenfalls mit linear vor-gegebenen Überlieferungen zu tun. Allerdings sind zu untersu-chende literarische Werke bereits fiktional, d.h. ihre Inhalte in der Regel fiktive Geschichten. Eine Inszenierung von Literatur – d.h. Dekonstruktion und Rekonstruktion durch einen Theater- oder Filmregisseur – ist ein erwünschter Vorgang.

Der nun folgende Hauptteil des Beitrags ist zweigeteilt. Ab-schnitt 2 verwendet die vorgestellten Konzepte, um ein Korpus geistes- und sozialwissenschaftlicher Lern-Computerspiele auf ihre nichtlineare Dramaturgie hin zu analysieren. Dies verschafft einen Überblick über im Spiel- und Instruktionsdesign verbreite-te Trends. Abschnitt 3 stellt ein selbst entwickeltes Literatur-Lernspiel vor. Einige Trends finden sich darin wieder. Wie sich getroffene Entscheidungen bezüglich Konstruktion und kontra-faktischer Dramaturgie in der Praxis bewährt haben, untersucht ein Test im Deutschunterricht einer neunten Klasse.

2. Analyse von Lernspielen

2.1 Studiendesign

Bevor man wissenschaftliche Aussagen über Designfragen trifft, lohnt sich ein Blick in die Praxis: Wie haben Lernspielent-wickler die inhärenten Konflikte des Erzählens interaktiver Ge-schichten aufgelöst?

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Das Korpus bilden vornehmlich kommerziell verbreitete Lern-Computerspiele für das Fach Geschichte – so viele, wie sich fin-den ließen. Als Blick über den Tellerrand ergänzen es Ge-schichtsspiele, die Forscher entwickelt haben, sowie Lernspiele für andere geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer. Die kommerziellen Spiele wurden angespielt, bis die Mechanismen klar waren. Für die Spiele aus der Forschung dienten die entspre-chenden Publikationen als Material. Vier Aspekte sollten von vornehmlichem Interesse sein.

Das Genre eines Spiels bezüglich der Spielmechanismen (also nicht ein literarisches Genre wie Krimi oder Fantasy) gibt bereits einen Rahmen für die Interaktivität vor. Adventures verwenden vom Autor vorab gescriptete Geschichten, die der Spieler inner-halb gewisser Variationen nachspielt. Der Spieler kann die Re-präsentation der Geschichte höchstens modifizieren (Stufe 4 der Schulmeister-Skala), etwa wenn er oder sie bei einem Rätsel zwei Gegenstände zusammenbaut. Ein Simulationsspiel vertraut auf emergente Geschichten, die sich beim Spielen erst ergeben. Hier wird sehr häufig konstruiert (Stufe 5 oder 6), etwa wenn der Spieler in einer Aufbausimulation eine Stadt neu entwirft.

Eine spannende Geschichte kann entstehen, wenn z.B. der Spieler die Stadt über mehrere Spielwochen erfolgreich gegen eine Naturkatastrophe verteidigt. Ist er oder sie dem nicht ge-wachsen und die Stadt wird am ersten Tag zerstört, gibt es keine Geschichte. Die Skala von gescripteten zu emergenten Geschich-ten ist aus Designsicht fließend (z.B. Kickmeier-Rust 2009) und in ihrem ansteigenden Freiheitsgrad mit der Schulmeister-Skala vergleichbar. Man kann sich aber auch für einen Mittelweg ent-scheiden: Computer-Rollenspiele etwa betten gescriptete Quests, die Mini-Adventures ähneln, in eine simulierte Spielwelt ein. Si-mulationsspiele kennen neben freiem Spiel auch strukturierte Missionen.

Ein Genre bringt meist gewisse Aktivitäten mit, d.h. Dinge, die der Spieler – oder dessen Spielfigur – tun kann. Typisch für ein Adventure sind Kombinationsrätsel, für deren Lösung man eingesammelte Gegenstände aufeinander oder auf die Umgebung anwendet, sowie Single-Choice-Gespräche mit NSCs. Typisch für eine Simulation ist das Planen wie in einem Planspiel. Man trifft

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strategische Entscheidungen, deren Auswirkung die Simulation berechnet.

Besonders für Geschichtsspiele ist es interessant, welche Rolle der Spieler einnimmt. Da das Geschehen nicht in der natürlichen Erlebniswelt des Spielers stattfindet, stellt sich die Frage, wen er/sie in der Vergangenheit verkörpert. Einen Herrscher? Jeman-den aus dem Volk? Spielinhalt und Lerngegenstand wären kom-plett unterschiedlich.

Schließlich sollte die Analyse aufzeigen, was für Designstrate-gien die Spiele anwenden, um das narrative Paradoxon aufzulö-sen, hier Chancen versus Gefahren des kontrafaktischen Den-kens. Zum Teil resultiert dies aus den getroffenen Entscheidun-gen bezüglich der vorherigen Aspekte. Spielübergreifend wieder-kehrende Strategien könnte man als Muster im Sinne von Bon-signore u.a. (2012) notieren.

2.2 Fach Geschichte

Als eines der ersten Computerspiele für das Fach Geschichte entstand 1971 The Oregon Trail. Anfangs noch komplett textba-siert, ist das Spiel später in Form vieler Remakes erschienen, die auch Grafiken enthalten (gespielte Version: 1985). Der Spieler zieht mit einem Siedlertreck Richtung Westen. Dabei muss er oder sie als Aktivitäten vor allem planerische Entscheidungen treffen und Züge ausführen: das Schritttempo ändern, eine Route oder Bewegungsform über ein Hindernis wählen, Handel treiben usw. Abhängig vom Wetter, der Gesundheit der Siedler, noch vorhandener Ausrüstung und anderen Faktoren berechnet das Spiel aus dem Genre Simulation das Ergebnis des Zuges. So kann Ausrüstung verloren gehen, ein Tier oder ein Siedler sterben, man aber auch ein Etappenziel erreichen. Jedes neue Spielen führt zu einer einzigartigen Geschichte. Der Spieler übernimmt dabei die Rolle des Anführers. Er oder sie ist nicht bloß Beobach-ter, sondern nimmt an geschichtlichen Ereignissen als Zeitgenos-se teil, um zu lernen, wie diese lebten. Die Strategie, um lineare Geschichtsschreibung interaktiv erlebbar zu machen, ist hier, sich nicht mit historischen Berühmtheiten zu befassen, sondern den Alltag fiktiver Personen aus der Zeitperiode als Lebenssimu-lation zu präsentieren.

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Where in Time Is Carmen Sandiego von 1989 (gespielt: Remake 1997), ist als Adventure deutlich linearer konzipiert. Genretypisch gibt es verschiedene Arten von interaktiven Rätseln sowie Single-Choice-Gespräche, deren Bearbeitung in einer ort- und zeitumspannenden Schnitzeljagd eine gescriptete Geschich-te vorantreibt. Diese sieht vor, dass man in der Rolle eines Zeit-reisenden Szenen aus verschiedenen Epochen durchspielt, die man dabei kennenlernt. Der Clou: Verbrecher haben den Ge-schichtsverlauf beschädigt und man muss ihn reparieren. Zusätz-lich gibt es eine interaktive Enzyklopädie.

Auch das Adventure Genesys (Cybèle/Wanadoo, 2000) bietet epochenübergreifend interaktive Szenen dar. Dabei abstrahiert es von einer Rolle. Stattdessen greift der Spieler von außen in die Geschichte ein, um ihren Verlauf zu beschleunigen. In Kombina-tionsrätseln vollzieht der Spieler, beginnend mit der Steinzeit, Erfindungen nach, indem er oder sie Gegenstände aufeinander oder auf die Umgebung anwendet. Gespräche mit Menschen aus der jeweiligen Zeitperiode sind eine weitere Aktivität, um die Story voranzubringen und etwas über die geschichtlichen Bege-benheiten zu erfahren. Auch Genesys verwendet eine interaktive Enzyklopädie.

Die Reihe Historion (Braingame, 2002/03) hat es auf zwei Tei-le gebracht, die jeweils mehrere antike Zeitperioden (Griechen, Babylon usw.) abdecken. Wie in Carmen Sandiego spielt man einen Zeitreisenden, der den außer Kontrolle geratenen linearen Geschichtsverlauf reparieren soll und dabei auf fiktive und histo-rische Personen trifft. An einigen wenigen Stellen greift der Spie-ler allerdings selbst in die Geschichte ein, z.B. wenn er eine Eu-romünze zurücklässt oder das Abbrechen der Nase der Sphinx von Gizeh verursacht. Gemäß der Entwurfsmuster von Bonsigno-re et al. (2012) liefert der letztere Fall eine fiktionale Begründung, wo keine faktische bekannt ist. Es gibt eine interaktive Enzyklo-pädie, die sich auch über Links in der Spielgrafik aufrufen lässt. Zu adventuretypischen Rätseln kommen hier Gespräche (nur In-teraktionsgrad 1) und actiongeladene Kämpfe, wie man sie eher in einem Rollenspiel erwarten würde.

Willi wills wissen: Bei den Römern (Quadriga Games 2010; auch Wikinger 2009) konzentriert sich auf eine antike Zeitperio-de, ist dafür aber ein echtes, für ein Lernspiel recht aufwändiges

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Rollenspiel mit Quests in einer simulierten (und sehr schön ge-stalteten) 3D-Welt. Der Spielercharakter ist ein Jugendlicher, der im Römischen Reich lebt, also wie bei Oregon Trail ein Zeitge-nosse. Dabei ist der Junge oder das Mädchen aber nicht nur eine Identifikationsfigur für die junge Zielgruppe, die Autoren haben so geschickt eine Begründung geschaffen, warum der Avatar so viel über die Welt zu lernen hat. Um die Quests zu lösen, muss man wie in einem Adventure Gegenstände sammeln und Gesprä-che mit NSCs führen, dazu Quizfragen beantworten. Wie in ei-ner Simulation sind aber auch Situationen als Actionsequenzen und Minispiele umgesetzt (z.B. Speerwerfen auf eine Zielschei-be). Die Strategie ist wieder, Alltag in einer Lebenssimulation erlebbar zu machen.

Das Nintendo-DS-Spiel Willkommen in der Steinzeit (Tivo-la/RockAByte, 2010) macht noch einen Schritt weiter in Richtung Rollenspiel. Neben Quests in einer simulierten Welt kann man die Fertigkeiten seines jugendlichen Steinzeit-Helden bzw. -Heldin (Rolle: Zeitgenosse) weiterentwickeln. Er/sie kann sogar Berufe erlernen: Jäger, Erfinder, Schamane, Handwerker, Heiler und Künstler. Aktivitäten sind oft als Minispiele umgesetzt: Ge-spräche, Sammeln, Jagen, Tauschhandel, Handwerk, Musizieren, mit Tieren kommunizieren usw. Dies wäre eine umfangreiche Lebenssimulation mit Erfindungen (Beschleunigen des linearen Geschichtsverlaufs), wäre der Ton des comichaften Spiels ernster und nicht voller Brüche mit den geschichtlichen Gegebenheiten. Man erfindet sehr früh im Spiel das Paddel, spielt auf einem vermeintlich steinzeitlichen Dudelsack und sammelt Münzen, die verschiedene Tugenden repräsentieren.

Von der Steinzeit in die DDR: Hawlitschek (2010) hat in einem Forschungsprojekt das Lern-Adventure 1961 über den Mauerbau in Berlin entwickelt und evaluiert. Genretypisch gibt es Rätsel mit Gegenständen und Single-Choice-Gespräche. Teilweise sind unterschiedliche Lösungswege möglich. Man ist wieder ein Zeit-reisender, aber in einem weniger epischen Handlungsbogen. Als Journalisten-Praktikant gerät man eher zufällig in die Vergan-genheit. Solch eine Rolle begründet auch gleich, warum man in dem Spiel ermittelt und lernt. Statt eines Musters „Zeitgenosse“ kommt hier ein Muster „Zeitzeuge“ zum Einsatz. Man nimmt e-her als Beobachter an der Geschichte teil, hier sowohl an histori-

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schen Ereignissen wie der Errichtung der Mauer, als auch an de-ren Auswirkungen auf den Alltag. In 1961 soll der Zeitreisende nichts verändern, sondern einen Rückweg finden.

Im Gegensatz zum obigen Adventure ist Hanse 1380 von Kö-nigschulte u.a. (2010) eine Simulation. Der Spieler absolviert Ac-tionsequenzen, plant und treibt Handel. Das klingt nach Auf-baustrategie, ist mit der eingenommenen Rolle eines Kapitäns (Zeitgenossen) designstrategisch aber wieder eine Lebenssimula-tion.

2.3 Verwandte Fächer

Die Serie Global Conflicts (Serious Games Interactive, ab 2007) bereitet für den Bereich Politik aktuelle Brennpunkte als Adventures mit Rollenspiel-Elementen auf. Im ersten Teil Pales-tine spielt man einen Journalisten oder eine Journalistin, der/die in einem virtuellen Jerusalem über den Nahostkonflikt recher-chiert. Dabei kann sich die eigene Figur zu einem Unterstützer Israels oder Palästinas entwickeln oder versuchen, neutral zu bleiben. Es gibt auch Nebenquests statt nur einer stringenten Handlung. Die neueren Episoden sind kürzer, verfügen aber ne-ben adventuretypischen Rätseln über ein ausgeklügeltes Ge-sprächssystem. Zu Anfang ist dieses noch Single-Choice (Interak-tivitätsgrad 2). In der finalen Gesprächs-Konfrontation konstru-iert man aber aus den gesammelten Informationen via graphi-schem Interface, dem Notizbuch des Charakters, eine Argumen-tation (Grad 5). Entsprechend unterschiedlich ist der Verlauf des anschließenden Single-Choice-Gesprächs, in das die Argumente einfließen. So klagt man in der Episode Sweatshops einen Fab-rikbetreiber in Bangladesh an, dass bei ihm Kinder unter lebens-gefährlichen Bedingungen arbeiten. Vielleicht schafft man es nicht, die Kinderarbeit zu unterbinden, aber er sagt mehr Kon-trollen im Umgang mit Chemikalien zu. Die Rolle „Journalist“ ähnelt der in 1961. Allerdings wäre es in dem Geschichts-Adventure seltsam, könnte ein Praktikant den Mauerbau verhin-dern. Im Politik-Adventure ist Einflussnahme erwünscht.

Politik-Simulationen bieten noch mehr Freiheiten. In einer Aufbausimulation wie Genius: Im Zentrum der Macht (Hahn Film u.a. 2007) ist der Spieler tatsächlich Politiker und konstru-

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iert eine Stadt. Es kommt wieder die Aktivität Planen zum Ein-satz (neben einigen eingestreuten Lernaufgaben im Single-Choice-Stil). Die Simulation berechnet, wie sich z.B. die Arbeits-losigkeit verändert, wenn man mit seinen Ressourcen eine neue Fabrik errichtet hat (Grad 6). Diese Strategie der freien Kon-struktion kann durchaus auch im Fach Geschichte Anwendung finden. Es gibt Unterhaltungsspiele, in denen man eine römische Stadt managt: die Caesar-Reihe (Impressions Games u.a., ab 1992) oder CivCity: Rome (Firefly/Firaxis, 2006). Die Aufbausi-mulation Aufschwung Ost (Sunflowers) war 1993 ein aktuelles Politik-Spiel, kann inzwischen aber als geschichtlich gelten.

Mission: Amazonas (Braingame, 2004) ist eine interessante, graphisch recht aufwändige Geographie-Lernsimulation. Man übernimmt die Rolle des Leiters einer Amazonas-Expedition. Dabei plant man zunächst auf der Basis instruktionaler Lerntex-te, u.a. welche Mitarbeiter man anheuert oder was für Ausrüs-tung man mitnimmt. Nicht zuletzt von diesen Entscheidungen hängt der Spielerfolg der anschließenden Actionsequenzen im 3D-Urwald ab. Schon in der ersten Mission setzt man Moskito-spray ein, fällt einen Baum und errichtet ein Zelt. Die Designstra-tegie ähnelt damit geschichtlichen Lebenssimulationen wie Willkommen in der Steinzeit oder Willi wills wissen – mit dem Unterschied, dass hier Berufsalltag simuliert wird.

Der literaturwissenschaftliche Teil des Deutsch- und Fremd-sprachenunterrichts sollte für Lernspiel-Umsetzungen prädesti-niert sein. Klassische Dramen und im Unterricht behandelte Ge-genwartsromane sind Geschichten. Es gibt Forschungsprojekte, jedoch noch nicht so recht kommerziell erhältliche Lernspiele. Das bekannte deutsche Adventure-Studio Daedalic hat immer-hin zwei Unterhaltungsspiele in der Reihe The Chronicles of Shakespeare, Romeo & Julia (2010) und Ein Sommernacht-straum (2011), auf den Markt gebracht. In der Rahmenhandlung des Sommernachtstraums ist man eine Assistentin Shakespea-res, die ihm beim Schreiben helfen soll. Im eigentlichen Spiel führt man dann Handlungen der Figuren in dem Stück aus, die dieses vorantreiben. In der ersten Szene schickt man als Lysan-der Hermia in der Akropolis eine Nachricht mit einer Nachtigall, weil die Wache einen nicht einlässt. Lysander teilt Hermia mit, dass er mit ihr in die Wälder außerhalb Athens fliehen will. Im

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Stück gibt es diesen Plan, aber nicht den Brief. Die beiden spre-chen direkt miteinander. Das Spiel orientiert sich also am Plot und der Figurenkonstellation, nimmt sich aber viele Freiheiten, um Aufgaben zu erfinden. Diese beinhalten Wimmelbild-Suchrätsel, aber auch Kombinationsrätsel mit Gegenständen. Hat man ein Rätsel vollständig gelöst, geht der Plot weiter. Inte-ressant ist, dass die Autoren selten Sprache aus dem Shake-speare-Stück übernehmen, stattdessen aber eigene Texte in Vers- und Reimform kreiert haben. Analog zur Designstrategie in Ge-schichtsspielen, einen linearen Geschichtsverlauf zu reparieren, ist der Erzählansatz in dem Literaturspiel, den Spieler als Assis-tentin und Dramenfigur den linearen Verlauf des Stückes rekon-struieren zu lassen.

2.4 Schlussfolgerungen

Einige typische Rollen und damit Blickwinkel auf nichtlineare Erzählstrukturen haben sich herauskristallisiert: Zeitreisender, Zeitgenosse, Journalist und verschiedene Formen von Entschei-dungsträgern.

Die Erzählstrategie kann beinhalten, einen ursprünglich linea-ren Verlauf zu beschleunigen, zu reparieren oder neu zu kon-struieren. Ein alternativer Ansatz ist, auf bekannte Verläufe zu verzichten und stattdessen durch die Spielaktivitäten Alltag zu simulieren: das Leben in einer Zeitepoche oder Berufstätigkeiten. Welche Konventionen man für sich nutzen möchte, hängt natür-lich von den Lernzielen ab.

Rollenspiele haben begonnen, sich als alternatives Genre zu etablieren, ohne Erfolgsrezepte zu verwerfen. Sie stellen eine Synthese aus Simulation und Adventure dar. Als Lebenssimulati-on können sie den Fokus auf Zeitgenossen in ihrer Alltagsumge-bung legen und damit ein Erleben, z.B. einer Epoche, quasi aus erster Hand ermöglichen. Es geht dann gar nicht mehr darum, kontrafaktisches Denken didaktisch auszunutzen, sondern um die Konstruktion von Lebenswelten beim Schüler, die er/sie sich sonst schwer vorstellen könnte.

Die zweite Hälfte des Beitrags behandelt ein Literaturspiel für den Deutschunterricht, das ich an der Universität Rostock ent-wickelt habe. Die Grundfrage ist, ob sich der Trend zu rollenspie-

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lerisch konstruierbaren Lebenswelten mit kontrafaktischem Denken als didaktischem Ansatz vereinen lässt. Lässt sich ein klassisches Drama als Computer-Rollenspiel adaptieren, in dem alternative Handlungsverläufe und Erzählperspektiven möglich und didaktisch sinnvoll sind?

3. Entwicklung eines Lernspiels

3.1 Studiendesign

Um ein Spiel zu entwickeln, das der Zielgruppe zusagt, ist es sinnvoll, von Beginn an Schüler und Lehrer zu involvieren. Nachdem zum Zweck der Entwicklung eines Literaturspiels der Kontakt zu einer Deutschlehrerin an einem Gymnasium ge-knüpft war, wählte diese ein Drama für die Adaption aus, das sie in der neunten Klasse behandelt: Kabale und Liebe von Friedrich Schiller (1784). Das Stück erzählt die Liebesgeschichte zwischen der Bürgerlichen Luise Miller und dem Adligen Ferdinand von Walter. Da deren Umfeld die Beziehung über Standesgrenzen nicht akzeptiert, führen verschiedene Intrigen („Kabale“) zu ei-nem tragischen Ende, in dem Ferdinand Luise und sich selbst vergiftet. Eine Schülerin und zwei Schüler meldeten sich freiwil-lig, während des Schuljahrs 2012/13 im Projektunterricht am Nachmittag (einmal in der Woche) an der Entwicklung des Lern-spiels mitzuwirken. Als Entwicklungswerkzeug kam das Aurora Toolset zum Einsatz, mit dem sich für das Rollenspiel Neverwin-ter Nights 1 (BioWare, 2002) eigene Module in 3D-Grafik erstel-len und per Scriptsprache programmieren lassen. Am Ende des Schuljahrs führten wir das Ergebnis dem Rest der Klasse vor. Die interaktive Spielsitzung in der Gruppe stellte gleichzeitig eine Evaluation des Spiels dar.

Ein nichtlineares Gamedesign ließ sich vor allem dadurch um-setzen, dass nicht der von Schiller erzählte Plot das vorrangige Lernziel sein sollte, sondern Verständnis und individuelle Inter-pretation von Motiven der Dramenfiguren (warum handeln sie so?) sowie die Figurenkonstellation (wer steht zu wem wie in Be-ziehung?). Beides sollte das Spiel möglicht unverfälscht darstel-len, während wir den Plot nichtlinear aufbereiten würden. Ähn-lich einer Lebenssimulation war die Designstrategie, statt einer feststehenden Handlung einen offenen Handlungsrahmen zu

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schaffen: mehrere mögliche Subplots (Quests) in einer simulier-ten, lebendigen Stadt als Umgebung mit Figuren und Gegenstän-den, teilweise aus Schillers Stück, teilweise sinnvoll ergänzt. Der Designansatz mit den vier Elementen entstammt Howard (2008), der selbst in Studien Spieladaptionen literarischer Werke entwi-ckeln ließ und auch das Toolset von Neverwinter Nights einsetzt.

Der Plan für Kabale und Liebe war, eine verzweigende Hand-lung vornehmlich mit der Aktivität Single-Choice-Gespräch (In-teraktionsgrad 2 in Bezug auf den Plot) umzusetzen. So würden die Spieler unserer Version der Dialoge des Dramas folgen kön-nen, aber auch bewusst nach einem Was-wäre-wenn-Prinzip ei-ne Entscheidung für eine alternative Abzweigung im Gesprächs-baum treffen können. Die jeweilige Spielfigur sagt dann etwas, das zu anderen Konsequenzen führt.

Wie es sich für ein Rollenspiel gehört, sollte der Spieler zwi-schen mehreren Hauptfiguren wählen können (Interaktionsgrad 2 in Bezug auf die Erzählperspektive). Damit das Spiel nicht zu sehr vom Original abweicht, sollte man aber nicht das Aussehen (Grad 3) oder die Charaktereigenschaften (Grad 4) der Figur ver-ändern oder gar einen eigenen Charakter (Grad 5–6) erstellen können. Die Wahl fiel auf die Bürgerliche Luise Miller, die ei-gentliche Protagonistin, und die Adlige Lady Milford, die auch Ferdinand von Walter begehrt und damit die Spielwelt mit ähn-lichen Zielen beschreitet. Eine kleine Pilotstudie zu Shakespeares Hamlet hatte gezeigt, dass es eine gute Idee wäre, in jenem Stück die Nebenfigur Ophelia zur Protagonistin zu machen. Allerdings sollte diese noch eine Detektivin sein, die den Mord am König aufklärt. In Kabale und Liebe behalten die Figuren ihre Rollen als Zeitgenossen mit den natürlichen Motiven aus ihrem Lebensall-tag.

Die folgenden Forschungsfragen und Methoden boten sich an:

1. Was für konstruktivistische Erzählformen wünschen sich die Schüler? Die drei Schüler in der Entwicklerrolle gestal-teten dazu aktiv an der Tafel verzweigende Plots mit. Sie durften jederzeit während des Designprozesses Aktivitäten vorschlagen, die über Single-Choice-Gespräche hinausge-hen.

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2. Wie konstruieren Schüler die Lerninhalte narrativ? Dazu sollten die Entwickler-Schüler in jeder Sitzung die Einträge des Quest-Tagebuchs für die aktuelle Aufgabe aus Sicht des aktuellen Charakters als Prosa aufschreiben (auf Papier). Die Texte ließen sich später einer Analyse unterziehen. Für das Ingame-Tagebuch erarbeiteten wir für jeden Eintrag gemeinsam eine Synthese der besten Ideen und Formulie-rungen.

3. Welche instruktionalen Eingriffe helfen bei der narrativen Konstruktion? Dazu bekamen die Schüler Prompts (Leit-fragen) für ihre Schreibaufgaben. Linke Tagebuchseite: „Was ich herausgefunden habe...“ Rechts: „Was ich tun könnte...“

4. Wie konstruieren Schüler die Lerninhalte strukturell? Hier kam die Schulklasse in der Abschlussveranstaltung ins Spiel. Wir hatten den Klassenraum für interaktives Spielen in der Gruppe hergerichtet: Auf einem PC lief Kabale und Liebe, das die Schülerin im Entwicklerteam bediente. Die Jungs lasen die Gesprächstexte vor. Der Bildschirm war für die Klasse sichtbar an die Wand projiziert. Ich moderierte. Wann immer eine Single-Choice-Auswahl anstand, zeigten die 21 Probanden mit einem farbigen Kärtchen ihre bevor-zugte Wahl an. Was die Mehrheit wollte, wurde ausge-wählt. So spielten wir jede der vier Quests einmal durch. Auf vorbereiteten Arbeitsblättern vervollständigten die Schüler eine graphische Figurenkonstellation: Figuren stichwortartig beschreiben und miteinander verknüpfen (ein Aufgabentyp, mit dem die Klasse vertraut war). Um den Lernerfolg zu messen, gab es ein Arbeitsblatt vor dem Spielen (das Stück war bereits kurz Unterrichtsthema ge-wesen) und eins für danach.

5. Wie kommen der nichtlineare Ansatz und das kontrafakti-sche Denken an? Dazu gab es für die Klasse einen Fragebo-gen mit vorwiegend offenen Fragen. (Auch anwesende Leh-rer sollten Fragebögen ausfüllen, jedoch fielen aus organi-satorischen Gründen nicht genügend Daten an.)

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3.2 Konstruktivistische Erzählformen

Zuallererst entstand ein Drehbuch. Wir zeichneten eine abs-trakte Karte der Stadt und definierten Schauplätze (Haus des Musikus, Villa, Palais, Kirche, Marktplatz, Straße). Außerdem bekam jeder Schüler die Aufgabe, einen Protagonisten des Thea-terstücks zu beschreiben.

Schnell wurde klar, dass wir das Stück themengerecht als in-teraktive Liebesgeschichte umsetzen wollten. Typisch für ein Adventure wäre eher eine Detektivgeschichte gewesen. Wie bei Hamlet den Tod des Königs hätte man Luises und Ferdinands Tod untersuchen lassen können. Durch ein solches „Post-Mortem-Szenario“ würde man Schillers Originaltext aus dem Weg gehen und hätte als Designer größere Freiheiten. Nachdem die Schüler aber anhand des Verhaltensskripts einer Trauung er-klärt bekommen hatten, wie man verzweigende Plots graphisch darstellen kann, waren wir uns schnell einig, dass wir, ausgehend von den Personenbeschreibungen, eine Liebesgeschichte wie im Spielgenre Dating Simulation schreiben wollten.

Abbildung 1 zeigt das Plotdiagramm aus dem Drehbuch für Luise Miller.

Abbildung 1: Verzweigendes Plotdiagramm für die wählbare Spielfigur Luise

Sie kann Romanzen mit drei Charakteren eingehen. Daraus wurden drei Quests, die parallel ablaufen und sich bedingen können. Eine Romanze mit dem Marschall – ehrlich oder vorge-

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täuscht – kann z.B. nur aus der Intrige des Sekretärs Wurm her-aus entstehen.

Der „Wahrsager“ auf dem Marktplatz war eine Idee der Schü-ler, um Spieler direkt mit Tipps zu Charakterzügen und Motiven versorgen zu können.

Darüber hinaus bekam Ferdinand zwei Quests (die wir aus Zeitgründen nicht umsetzten) und Lady Milford eine. Unten links sieht man noch, dass wir wie in einer Simulation mit Beliebtheitswerten bei potenziellen Partnern arbeiten wollten. Dies vertrug sich aber nicht mit dem gescripteten Plot. In das lineare Original zusätzlich Abzweigungen einzuweben, strapa-ziert dessen Plot schon genug. Mehr als ein verzweigendes Buch – wie Campbell Webster (2007), das die Jane-Austen-Romane interaktiv aufbereitet – stellt unser Spiel eine simulierte Alltags-welt zur Verfügung. Parallel zu den verzweigenden Gesprächen kann die Spielfigur ihre Kleidung wechseln, Stadt und Gebäude erkunden, auf dem Markt Geschenke kaufen oder Türen auf-schließen, wenn der Spieler den Schlüssel im Inventar hat.

Die Quests können unterschiedlich enden. So enthält das fer-tige Spiel vier unterschiedliche Enden, die sich wie folgt vertei-len:

Quest „Luise und Ferdinand“

o Ende „Ferdinand vergiftet Luise“ (mit Limonade)

o Ende „Luise rettet ihre Eltern“ (nach Hochzeit)

Quest „Luise und Wurm“

o Ende „Ferdinand vergiftet Luise“

Quest „Luise und Marschall“

o Ende „Ferdinand vergiftet Luise“

o Ende „Ferdinand rettet Luise“ (während Trauung)

Quest „Lady und Ferdinand“

o Ende „Lady und Ferdinand fliehen“ (auf Pferden)

Wenn ein Ende erreicht ist, spielt das Spiel eine Schlussse-quenz ab, in die der Spieler nicht mehr eingreift. Abbildung 2 zeigt die Animation für das Ende „Ferdinand vergiftet Luise“, das

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eintritt, wenn man „Luise und Ferdinand“ so spielt, wie im linea-ren Stück vorgesehen.

Abbildung 2: Originalgetreues Ende (Spielgrafik in Neverwinter Nights)

Durchkreuzt man Wurms Intrige, indem Luise einen falschen Brief schreibt, darf sie nach einer Plotabzweigung kontrafaktisch heimlich Ferdinand heiraten, im sozialen Stand aufsteigen und Wurm befehlen, ihr den Schlüssel zum Kerker auszuhändigen, in dem er Vater und Mutter Miller als Geiseln gefangen hält. Mit dem Schlüssel im Inventar muss Luise dann erst einmal den Ker-ker finden.

Die jungen Designer gaben sich also nicht mit Single-Choice-Gesprächen zufrieden. Wir flochten in die Quests weitere rollen-spieltypische Aktivitäten ein: Gegenstandsrätsel, Handel treiben, Diebeskünste, Musizieren – und Reiten. Wenn Lady Milford als Dekoration vor ihrem Palais schon ein Pferd stehen haben sollte, dann sollte sie auch darauf reiten können. Andere Ideen fügten sich nahtlos in die Handlung des Theaterstücks ein. Wenn Fer-dinand Luise zu Anfang einen Brief schickt, weil er sie heimlich sehen möchte, kommt man nur in unauffälliger Kleidung in die Präsidenten-Villa.

Dabei war es nötig, den Drang zum Ausprobieren immer wie-der zu bremsen. Das Magiesystem von Neverwinter Nights passt nicht in Schillers realistische Welt. Ein Kampf wäre möglich ge-wesen, fand am Ende aber keinen Platz.

Trotz der Verzweigungen des nichtlinearen Möglichkeits-raums sollte noch etwas von Schillers Sprache erhalten bleiben. In den längsten Dialogzeilen im Spiel (Abbildung 3) haben wir dies versucht (zugegebenermaßen war bei diesem Text der Bei-trag der Schüler gering).

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Abbildung 3: Gesprächstext, angelehnt ans Original

(Spielgrafik in Neverwinter Nights)

3.3 Narrative Konstruktion

Neverwinter Nights 1 stellt ein Quest-Tagebuch zur Verfü-gung, das den Spielfortschritt dokumentiert. Zusätzlich zu den vom Quest-Autor vorbereiteten Einträgen kann der Spieler selbst ins Tagebuch schreiben – wenn auch nur freie Notizen, ohne die-se einer Quest zuzuordnen. Ein Lernspiel könnte ein solches Qu-est-Tagebuch als Lerntagebuch nutzen – ein didaktisches Refle-xionswerkzeug, mit dem Lernende ihre Gedanken ordnen, nach-dem sie sich mit den Inhalten befasst haben. Schreibt ein Schüler ein Lerntagebuch in einem Literaturspiel aus der Sicht einer Dramenfigur, sind wir bei der Unterrichtsmethode Produktives Schreiben aus der Deutsch-Didaktik: Schüler interpretieren lite-rarische Texte, indem sie diese zu eigenen fiktionalen Texten o-der anderen Medienprodukten verarbeiten. Die Design-Arbeit der drei Schüler ist ebenfalls eine Art Produktives Schreiben. So

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ergab sich die Idee zu untersuchen, wie zukünftige Spieler Ein-träge in einem Lernspiel-Tagebuch verfassen könnten. Die drei Entwickler sollten nach dem Design einer Quest-Aufgabe selbst den zugehörigen Tagebucheintrag verfassen. Für die Studie wur-den die Texte einzeln analysiert, für das Spiel fügten wir sie zu einem Eintrag zusammen.

In der Analyse wurden aus den Texten die gehaltvollsten Zita-te herausgeschrieben: Textstücke, die Drameninhalte reflektie-ren, interpretieren und produktiv verarbeiten. Ein Zitat wurde entweder dem Lernziel Motiv (einer Figur) oder dem Lernziel Konstellation (Beziehungen zwischen Figuren) zugeordnet. Nach Durchsicht der Zitate ließen sich einige Thesen formulieren. Da-bei ist einzuschränken, dass Belege für Thesen bei nur drei Teil-nehmern und einer überschaubaren Menge an Tagebucheinträ-gen lediglich Indizien für Trends sein können. Im Folgenden sei auf die einzelnen Thesen eingegangen.

Die Schüler zeigen sich in den Schreibaufgaben kreativ und arbeiten an ihrem individuellen Stil. Derselbe Inhalt kann sich in den Worten verschiedener Schüler sehr unterschiedlich gestal-ten. Eine Person favorisierte detaillierte Prosa: „Ich habe Herrn Hofmarschall von Kalb getroffen und musste feststellen, dass er sehr eingebildet ist. Er hält sich für was Besseres, nur weil er von einem höheren Stand ist. Allerdings schien er sehr an mir inte-ressiert zu sein. Ich sollte ihm beweisen, dass ich eine gute Musi-kerin bin.“ Dem steht ein lebhafter Stil gegenüber, der Inhalte kurz und knapp auf die Spitze treibt: „Was ein egoistischer, ein-gebildeter Affe. Als ob ich mit dem eine Beziehung eingehen könnte. Aber er sah schon fabulös in der Uniform aus *_* [Smiley: erstaunt, entzückt]“. Es erscheint in jedem Fall loh-nenswert, kreatives Schreiben im Deutschunterricht zu fördern.

Ein Verständnis der Motive ist größtenteils vorhanden. Zwei Einträge desselben Verfassers zeigen einen inneren Konflikt: „Aber ich kann Ferdinand nicht hintergehen, nicht einmal, wenn es um meine Eltern geht“ gegenüber „... wurde mir klar, dass es das Beste für mich und meine Familie wäre, ihn zu heiraten, auch wenn ich dann meine große Liebe Ferdinand von Walter aufgeben muss.“ Ein anderer Verfasser schrieb aus der Sicht von Lady Milford: „Er ... er war der Erste, dem ich meine traurige Le-bensgeschichte erzählt habe. Ich will hier nicht mehr sein. Ich

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will weg hier! Ich weiß auch schon genau, wie ich es mache.“ Das ist zwar nicht besonders konkret, aber eindeutig die Schilderung eines Motivs.

Ein Verständnis der Beziehungen ist größtenteils vorhanden. Manche Einträge deuten komplexe Konstellationen an:

Dieser dreckige Wurm! ... Ich kann meine Eltern nicht in Gefangenschaft lassen, aber ich will Ferdinand nicht hintergehen. Dennoch ist mir mei-ne Familie wichtiger als meine große Liebe.

In unserem Spiel kann Luise den Konflikt lösen, indem sie die Intrige des Sekretärs abwehrt und Ferdinand heimlich heiratet, was bewirkt: „Außerdem bin ich nun über Wurm gestellt.“ Es gibt aber fragwürdige Interpretationen:

Ich [Lady] hoffe, er versteht meine Lage und fängt an, mich zu lieben. Ich werde um jeden Preis Ferdinands Liebe erobern. Sein Vater könnte mir aber dazwischenfunken. Ich sollte am besten mit Ferdinand weg-rennen.

Dabei hat der Präsident die Hochzeit selbst eingefädelt.

Die Schüler interpretieren das Stück eher auf einer persönli-chen als auf einer sozialen Ebene: „Ich freue mich schon auf un-ser gemeinsames Leben. Endlich bin ich ein Teil von Ferdinands Familie.“ Statt konkret „Adel“ oder „Bürgertum“ heißt es oft nur „höherer Stand“.

Als kurze Textbausteine für das Spiel neigen die Einträge da-zu, Drameninhalte zu vereinfachen oder zu überinterpretieren: „Der Marschall ist eine nette Person und wird sich schon gut um mich kümmern. Außerdem hat er das Geld.“ Beides muss man so nicht unbedingt aus dem Stück herauslesen, auch wenn von Kalb aus Sicht der Musikustochter sicher vermögend ist.

Wie viel Spekulation ist in einem kontrafaktischen Szenario erlaubt? Interpretation ist ja gewollt im Produktiven Schreiben. Nur machen wir vielleicht einen Schritt zu viel: Die Entwickler-Schüler interpretieren Schillers Stück für ihr Spiel, welches wie-derum die Spieler-Schüler interpretieren. Durch einen doppelten Konstruktionsprozess wird für die Spieler das Spiel zur Sekun-där- und das Quest-Tagebuch zur Tertiärquelle.

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3.4 Instruktionale Leitfragen

Prompts sind ein übliches didaktisches Mittel, um Schüler beim Schreiben von Lerntagebüchern zu unterstützen. Die zwei Fragen „Was ich herausgefunden habe...“ und „Was ich tun könnte...“ sind dabei schon sehr zurückhaltend, was instruktio-nales Anleiten betrifft. Dazu kommt, dass hauptsächlich die erste Frage eine Reflexion von Gelerntem wie beim Spielen des Lern-spiels bewirken sollte. Die zweite Frage zielt eher darauf ab, praktische Spieltipps zu formulieren.

Trotzdem kann man sagen, dass die Schüler die Fragen grund-sätzlich verstanden haben. Sie konnten mit ihnen arbeiten, aller-dings kam immer wieder die Frage auf, was denn nun grob auf die linke (erste Frage) und die rechte Buchseite (zweite Frage) sollte. Es war also mehr ordnende Instruktion nötig, als nur Fra-gen vorzugeben.

Ein Beispiel: In unserem Spiel kann man ausprobieren, was passieren könnte, wenn Luise statt des unerreichbaren Ferdi-nand den „leicht zu kriegenden“ Wurm ehelicht. Sie kann wäh-rend der Trauung aber noch „nein“ sagen. Die Schüler wussten nicht recht, wie sie im Tagebuch diesen ungewöhnliche Erzähl-strang beschreiben sollten. „Ich brauche nur den ersten Satz“, beteuerte die Schülerin. Ich improvisierte: „Es hätte der schönste Tag meines Lebens sein sollen.“ Und schon schrieben die Schü-ler.

In einem laufenden Lernspiel wäre ein Tagebuch angebracht, das proaktiv je nach Situation Prompts anbietet, die der aktuelle Spieler gerade braucht. Solch adaptive Hilfe könnte Gegenstand eines Forschungsprojekts im Bereich Intelligente Tutorsysteme sein.

3.5 Schematische Konstruktion

Insgesamt nahmen 21 Schüler (neben den drei Designern) an der interaktiven Vorführung teil und zeichneten einmal vor, einmal während und nach dem Spielen Figurenkonstellationen. Vorgegeben waren nur neun Kästchen mit den Namen der wich-tigsten Figuren. Denen fügten die Schüler stichpunktartige Cha-

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rakterisierungen sowie Beziehungen als beschriftete Gra-phenkanten oder Pfeile hinzu.

Jedes Faktum (Charaktereigenschaft, Beziehung), das ein Schüler auf dem zweiten Arbeitsblatt, aber nicht auf dem ersten vermerkt hatte, stellt eine gewonnene Erkenntnis dar. Dazu wurden in seltenen Fällen auch eindeutig falsche Fakten auf dem ersten Arbeitsblatt gezählt, die der betreffende Schüler sichtbar aufgrund eines verbesserten Verständnisses auf dem zweiten Blatt nicht mehr eingetragen hatte.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Spiel bei jedem Schüler zu Erkenntnisgewinn und besserem Verständnis des Stücks Kabale und Liebe geführt hat. Vor allem geht es dabei um grundlegendes „Leseverständnis“. Tiefere In-terpretationen fanden nicht statt. Bei der narrativen Konstrukti-on im vorherigen Abschnitt sind die Schüler deutlich tiefer in den Stoff vorgedrungen.

Als „korrekte“ Erkenntnisse sollen diejenigen gelten, die man auch aus Schillers Originaltext herauslesen könnte. Damit hat gemäß der Auswertung der zweimal 21 Arbeitsblätter ein Schüler im Schnitt 7,95 korrekte Erkenntnisse gewonnen (arithmetisches Mittel). Diese beziehen sich auf die wichtige Eigenschaft ad-lig/bürgerlich, Persönlichkeitszüge (Wurm ist hinterhältig, Mar-schall von Kalb eingebildet, Frau Miller gesprächig – zumindest nach Einschätzung ihres Ehemanns), Liebesbeziehungen – und wer etwas dagegen hat – als Motive, sowie Berufe, Angestellten- und familiäre Beziehungen.

0,48 Erkenntnisse pro Schüler ließen sich nicht eindeutig als korrekt oder falsch klassifizieren.

Von besonderem Interesse sind dagegen die durchschnittlich 1,00 falsch gewonnenen Erkenntnisse pro Schüler. Sie drücken Fakten oder Ansichten aus, die man aus unserem nichtlinearen, kontrafaktischen Spiel durchaus herauslesen (oder herausspie-len) kann, die aber nicht mit der Vorlage vereinbar sind. So nahmen Schüler von uns erdachte Plotelemente in ihre Figuren-konstellationen auf (verschiedene Hochzeiten; 5 Vorkommen), schrieben Dramenfiguren Persönlichkeitszüge zu, die sie im Stück nicht haben (sauer, lustig, musikbegeistert; 3), wiesen Lui-se und ihrer Mutter ebenfalls den Beruf Herrn Millers zu (Musi-kus; 3), trugen eine Liebesbeziehung zwischen dem Marschall

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und Luise ein (die aber immerhin die Schülerin mit den meisten Erkenntnissen von allen als Scheinhochzeit entlarvte; 6) oder kamen nicht mit der historischen Standesordnung zurecht (Lui-ses Familie als „arm“ eingeordnet, Ferdinand den falschen Titel „Fürst“ verliehen).

Obwohl die Probanden das Theaterstück schon in groben Zü-gen kannten und durch das viermalige Durchspielen die nichtli-neare Natur des Computerspiels ersichtlich war, nahmen also Schüler Möglichkeiten als Fakten in ihre mentalen Konstrukte auf. Sie nahmen Dinge wörtlich statt sie als Indikator für Motive und Beziehungen zu rezipieren. Daraus lassen sich zwei Lehren ableiten: (1) Verwende ein Literatur-Spiel nur als Ergänzung, um die eigentliche Lektüre vor- oder, besser noch, nachzubereiten. (2) Mache in dem kontrafaktischen Spiel deutlich, ab wann der Spieler den Pfad der Spekulation betritt.

3.6 Akzeptanz

Man kann sagen, dass die Schüler – zumindest dieser neunten Gymnasiumsklasse – den nichtlinearen Ansatz und das kontra-faktische Denken – unabhängig vom oben dokumentierten Lern-erfolg – überwiegend akzeptieren. Die 21 abgegebenen Fragebö-gen enthalten hierzu aber auch kritische Stimmen. Thematisch sortiert und entsprechend der Meinungsäußerungen kodiert, ergibt sich das folgende Bild.

Ein erhöhter Interaktionsgrad kommt an. Neun Schüler loben von sich aus, dass das Spiel viele Handlungsoptionen bietet. Zwei bemängeln dagegen zu viel Freiheit. Ähnlich sieht man die Nichtlinearität der erzählten Geschichte. Acht Schülern gefällt es ausdrücklich, dass es viele Handlungsstränge mit mehreren mög-lichen Enden gibt. Drei Schülern dagegen gefällt genau das nicht.

Drei Schüler schrieben, dass ihnen die lebendige Umgebung gefällt. Es hat sich also für ein paar Spieler gelohnt, die Lebens-welt der Dramenfiguren in einer Rollenspielwelt nachzubilden statt bloß ein Adventure zu erstellen. Zwei Schülern gefiel gerade dies nicht.

Sechs Schüler gaben an, dass ihnen das Spiel besser gefällt als das Buch – nicht, dass das unser Ziel war. Deshalb sind hier auch die kritischen Stimmen interessanter: Sieben Schüler bemängeln

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zu lange Texte. Nun waren die meisten deutlich kürzer als die in Abbildung 3, und eine Adaption soll die Sprache des klassischen Werks ja auch würdigen. Eine Vertonung der Dialoge mit Schau-spielern könnte hier Abhilfe schaffen.

Vier Schüler hätten sich mehr Action gewünscht. Wir hätten ein Fechtduell einbauen können, aber auch die Liebesszenen und manche Rätsel könnte man dramatischer inszenieren. Ein Prob-lem dabei ist, dass hier eine Game-Engine von 2002 auf eine jun-ge Generation traf. Die Entscheidung für das Aurora Toolset war darin begründet, dass es vergleichsweise einfach zu handhaben ist. Der moderne Nachfolger aus Dragon Age kam nicht infrage, weil das Spiel erst ab 18 freigegeben ist. Inszenierung ist von ent-scheidender Relevanz, bei nur einem Treffen pro Woche mit ein paar Stunden Nachbereitung durch den Versuchsleiter muss man aber Abstriche machen.

Interessant war der Kommentar der anwesenden Referenda-rin, dass so ein Spiel gut zum Lernen der Figurenkonstellation sei, aber weniger für das Textverständnis. Das passt zu den ver-folgten Lernzielen. Nach der Vorführung diskutierte die Klasse noch einmal kurz mit ihrer Deutschlehrerin allein über die Er-fahrung. Dort wurde wohl noch einmal angesprochen, dass sich in einem Literatur-Lernspiel die Originalhandlung deutlicher wiederfinden sollte. Dies ist in zukünftigen Projekten zu beden-ken, besonders wenn eine Klasse das Stück noch nicht im Detail behandelt hat und das Spiel Interesse wecken soll.

4. Diskussion

Das Genre Computer-Rollenspiel als Kompromiss zwischen Simulation und Adventure gewinnt im Game-based Learning an Bedeutung, wie der Überblick gezeigt hat. Man kann in einer si-mulierten Alltagswelt, z.B. einer geschichtlichen Epoche, Adven-ture-Szenen platzieren und mit den gescripteten, gleichzeitig in-dividuell erlebten Geschichten potenziell bedeutsame Erfahrun-gen vorbereiten.

In der Entwicklungsstudie begrüßten es die Schüler in Desig-nerrolle, dass sie einen Vorrat an Aktivitäten zur Verfügung hat-ten. Welche man nimmt, ist fachdidaktisch zu entscheiden. Im Literaturunterricht bieten sich textbasierte Gespräche an, wäh-

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rend für das Thema Erfindungen Kombinationsrätsel bzw. Handwerk (Crafting) vermutlich Konstruktionslernen begünsti-gen können.

Geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer, besonders Ge-schichte und Literaturwissenschaft, bringen linear strukturierte Inhalte mit sich, die die kontrafaktische Didaktik bewusst auf-bricht. Der Schulklasse in der Entwicklungsstudie gefiel eine of-fene Welt mit vielen Möglichkeiten überwiegend. Ein nichtlinea-res Spiel scheint helfen zu können, Grundkonstellationen leich-ter zu verstehen. Details verstehen Schüler aber unter Umstän-den falsch, weil sie einen Spielinhalt als Faktum hinnehmen und nicht weiter hinterfragen.

Um diesem Problem vorzubeugen, könnte man die kontrafak-tischen Anteile als Spekulation kennzeichnen. Eine andere Mög-lichkeit wäre, zuerst nur den originalen, linearen Pfad zu präsen-tieren. Der Spieler dürfte Kabale und Liebe zuerst nur als Luise spielen, die unausweichlich am Ende von der vergifteten Limo-nade trinkt. Dann stellt man die Frage: Was hat zu der Tragödie geführt, und wie hätte man sie verhindern können? Oder als Spielherausforderung: Kannst du Luise retten? Weitere Ge-sprächs- und Charakteroptionen würde man erst dann freischal-ten. Fortgeschrittene Schüler könnte man so motivieren, das Spiel mehrmals zu spielen (Wiederspielwert) und das eigene Verständnis (mentale Modell) sowie die Befähigung zur Interpre-tation und kritischem Denken auszubauen.

Rein methodisch müsste man sehen, ob sich aus den gesam-melten Daten noch mehr herausholen lässt. Auch in den Tage-bucheinträgen stecken mentale Modelle, die man extrahieren und schematisch als Graph zeichnen könnte. In folgenden Stu-dien kann es interessant sein, auch den Designprozess näher zu untersuchen. Ein Lernspiel zu designen, bedeutet, eine Umge-bung für spätere mentale Konstruktion zu entwerfen. Wie laufen hier kreative Prozesse von Lehrenden und Lernenden nebenei-nander her, ineinander oder sogar gegeneinander?

Danksagungen

Mein herzlicher Dank gilt den Mitentwicklern des Literatur-spiels Bettina, Erik und Tim, der ehemaligen Klasse 9.1 des Eras-

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mus-Gymnasiums Rostock, sowie der betreuenden Deutschleh-rerin Frau Neumann, dem Schulleiter Herrn Schröder, schließ-lich Heike Cantow vom Dybuster-Lernzentrum MV, die den Kontakt hergestellt hat.

Das Modul für Neverwinter Nights gibt es auf www.storyautor.de.

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Louchart, Sandy und Aylett, Ruth: Solving the narrative para-dox in VEs – Lessons from RPGs. In: Rist, Thomas, Aylett, Ruth, Ballin, Daniel und Rickel, Jeff (Hrsg.): Intelligent Virtual Agents.

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Inhalt dieser Ausgabe

Die Darstellung von Geschichte im Computerspiel hat eine lange Tradition. Egal ob Ego-Shooter, Strategiespiel oder ‚Simulation‘ – in nahezu jedem Genre finden sich unzählige Beispiele. Insbesondere Spiele mit kriegerischem Hinter-grund wurden schon immer auch kritisch hinterfragt („Killerspiel“-Debatte). Seit einigen Jahren werden die Diskussionen jedoch vielschichtiger.

So wird etwa die Art und Weise, wie geschichtliche Ereignisse in Computer-spielen verarbeitet werden, fachwissenschaftlich diskutiert. Medien- und film-theoretisch werden Vergleiche zu Literatur und Film gezogen. Im Game-based Learning wird gefragt, wie Spiele zu Lernzwecken, z.B. im Geschichtsunterricht, eingesetzt werden können. Und in den Games Studies wird versucht, eine ‚echte‘ Computerspielkritik aufzubauen.

Auf der Tagung HiStories 2013 am 30.11.2013 (Universität Rostock) haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Spannungsfeld aus historischem Ereignis, formaler Gestaltung des Ereignisses im Spiel und sinnfunktionaler Interpretation des Spiels beispielhaft nachgezeichnet. Der vorliegende Band enthält eine Aus-wahl dieser Beiträge.

WISSENSCHAFT IN PROGRESS ist eine Zeitschrift für aktuelle Gedanken und For-schungsfragen aus den Bereichen Kommunikations- und Medienwissenschaft, Lingu-istik, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Didaktik, Bildung und E-Learning. Ins-besondere laden wir auch Studierende und Doktoranden dazu ein, sich mit Aufsätzen, Exposés und Hausar-beiten an der Zeitschrift zu beteiligen. Mehr Informationen fin-den Sie im Internet unter WISSENSCHAFT-IN-PROGRESS.DE.