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KRISE 10 Neue Räume für Politik 1€

Ausgabe 10: Krise

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Powision ist ein Magazin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig

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Page 1: Ausgabe 10: Krise

KRISE

10

Neue Räume

für Politik

1€

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Die Krise ist allgegenwärtig. Täglich grüßt sie aus der Atomhavarie, aus der Erderwärmung, aus Wahlergebnissen, aus der Selbstwahr-nehmung, dem Wechselkurs oder ganz all-gemein aus der Natur des Kapitalismus. Als Nahtoderfahrung scheint sie in diesen „inter-essanten Zeiten“, um Slavoj Zizeks Beitrag in diesem Heft zu folgen, nicht nur ein Begriff für das Debakel des Alltäglichen zu sein, son-dern verweist auf Geschichte und Zukunft. Im grenznahen Niemandsland zwischen die-sen Zuständen entsteht eine eigentümliche Spannung aus Stagnieren und Entstehen, Re-signation und Hoffnung: früher oder später ist vielleicht alles besser (gewesen). Diese Si-tuation des Dazwischen sein schafft den Aus-gangspunkt für viele der Beiträge dieser Aus-gabe. Dabei handelt es sich nicht um gänzlich unterschiedliche Brüche, Vergangenheiten und Zukünfte, denn die Finanzkrise beein-flusst den politischen Gestaltungsraum, sie verändert die Wahrnehmung und wird selbst beeinflusst durch die Demographiekrise, die Medienkrise, die Parteienkrise und Andere. Nicht zuletzt, weil die Krise des Einen, häu-fig auch die Chance des Anderen ist. In dieser Weise kommunizieren die einzelnen Beiträge miteinander und bilden multiple Verknüp-fungsmöglichkeiten. Daher haben wir uns in dieser Ausgabe dazu entschieden, das In-haltsverzeichnis durch eine Netzdarstellung zu ersetzen, die die Verbindungen der Artikel zueinander erfasst. Dieses Netzwerk beein-flusst auch das Ordnungssystem im Heft. Die Artikel stehen scheinbar zusammenhangslos aneinandergereiht, lassen sich aber durch ihre Artikelnummer in der Netzdarstellung wieder finden. Die Artikel ordnen sich so-zusagen selbst. Sie haben daher in dieser Krisenausgabe die Fessel der Seitenzahlen abgeworfen und sind im Heft fortlaufend nummeriert1. Im Netz der Artikel gelten al-ternative Lesarten, es suggeriert andere und neue Zusammenhänge und verbildlicht das für dieses Heft geschaffenen „Feld der Krise“.

Gleichzeitig bilden diese Zuschreibungen ein Ordnungsprinzip, das neue Schubladen öffnet und vielleicht auch den einzelnen Beiträgen nicht hinreichend gerecht wird: „So schwebt der Zweifel über dem, was wir angeblich zu-sammen tun. Der Sinn für Zugehörigkeit ist in eine Krise geraten“ (Bruno Latour, 2007). >Diese Krise der Zugehörigkeit existiert nun schon seit fünf Jahren und zehn Ausga-ben. Powision entstand als Kritik an Grenz-ziehungen, ohne diese kategorisch auflösen zu wollen. Ansatz war und ist es, durch ein Nebeneinander Bezüge zwischen einzelnen Ordnungseinheiten darzustellen, ohne ihre Existenz gleich in Frage zu stellen. Begriffe formen Netzwerke, die auf unterschiedli-che Weise in verschiedene Bereiche diffun-dieren. Folgt man diesen Begriffen – Krise, Identitäten, Frieden, Räume und Grenzen, Liebe, Europa usw. – ist es problemlos mög-lich, Physiker mit Soziologen sprechen zu lassen. Manchmal sind die Anschlussstellen offensichtlich, manchmal öffnet sich aber erst durch das Nebeneinander eine interes-sante Verbindung oder eine neue Idee. Dies gilt für die horizontalen „Zugehörigkeiten“ des Diskursraumes. Auf der vertikalen Ebe-ne versucht Powision Stimmen zusammen zu bringen, die sonst auf diese Weise nicht miteinander kommunizieren würden: Stu-dierende, Nachwuchswissenschaftler, Akade-mia aber auch Journalisten, Praktiker und ab und an auch Betroffene – immer im Glauben, dass das qualifizierte Miteinander vielleicht nicht die „Krise der Zugehörigkeit“ überwin-det aber ihr doch neue festigende/ordnende Stimmen verleihen kann. >Wir danken den bisherigen und jetzigen Autoren, den – über die Jahre – zahlreichen helfenden Händen, unseren Unterstützern und vor allem den Lesenden für die Unter-stützung die sie diesem Magazin über die Jahre entgegen gebracht haben und wün-schen viel Spaß mit der Jubiläumsausgabe.Das Powisions-Team

1 Um das Zitieren der Texte nicht zu verunmöglichen, befindet sich ne-ben den Autorenbeschreibungen ein Index der Artikel am Ende des Heftes – mit Seitenzahlen.

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Finanzen

Politikwis-senschaft

Politik

Sozialstaat

StadtMedien

21 > A. Lorenz

19 > W. Fach

20 > O. D’Antonio

5 > G. Vobruba

3 > P. Spahn

11 > A. Jahnel

10> R. Richter

9 > A. Dölemeyer

16 > M. Künzler

15>G. Wiedemann

4 > J. Preunkert

2 > D. Palm

12 >R. Krätschmar-Hahn

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Rezensionen

Subjekt

Gesellschaft

Frieden

Klima

Subaltern

Souveränität

KR ISE

17 > G. Spivak

1 > D. Baecker

18 > S. Žižek

23 > A. Mitterle

25 > T. Heim

24 > J. Kiess

22 > M. Fischer

13 > P. Zima

14 > U.J. Schneider

8 > H. Scheck

7 > P. Kuzev & A. Trültzsch

6 > A. Wieland-Karimi

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Die moderne Gesellschaft ist auch hierin eigentümlich.1 Kannten die alten Griechen die krísis als Moment der Entscheidung, der eher zu vermeiden war, weil man ab diesem Moment seinem von den Göttern gelenkten Schicksal nicht mehr aus dem Weg gehen konnte, so hat man es in der modernen Ge-sellschaft mit einer regelrechten Krisenwis-senschaft zu tun, die vor allem herauszufin-den versucht, woher die Unordnung kommt (nicht mehr von den Göttern), in der man steckt, wenn man in einer Krise steckt. Die politische Ökonomie zunächst und dann die Wirtschaftswissenschaften sprechen von ei-ner Krise, wenn Arbeits-, Güter- und Kapi-talmärkte im Ungleichgewicht sind. Entwe-der werden Arbeit, Güter und Kapital nicht in dem Maße nachgefragt, wie sie vorhanden sind, dann drängen ungenutzte Ressour-cen auf eine Verwendung, die es nicht gibt, oder es werden mehr Arbeit, mehr Güter und mehr Kapital nachgefragt, als vorhanden sind, dann entstehen Mangelsituationen. Beide Ungleichgewichte führen zu Krisen, da im Fall des Angebotsüberschusses bereits geleistete Produktivität frustriert wird und im Fall des Nachfrageüberschusses Produk-tionspläne, Konsumwünsche und Investi-tionsabsichten unbefriedigt bleiben. Die Krise ist hier identisch mit dem Auftreten eines Ungleichgewichts, das heißt identisch mit der Störung eines Gleichgewichts, von dem klassische Ökonomen glauben, dass es sich von alleine wieder herstellen wird, wenn man nur allen auftretenden Kräften ihren Spielraum lässt. >Vielleicht schaut man hierbei jedoch zu schnell auf den Zustand eines wiederherge-stellten Gleichgewichts und achtet zu wenig darauf, was diesen Kräften einfällt, die in-nerhalb einer Krise darauf drängen, sie zu überwinden. Immerhin müssen jetzt reihen-weise Entscheidungen getroffen werden, die entweder dort eine Nachfrage schaffen, wo im Moment keine ist, oder dort ein Angebot

aufbieten, wo im Moment keines zu finden ist. Wer sagt denn, dass die je aktuellen Ar-beits-, Güter- und Kapitalmärkte für diesen Ausgleich irgendeinen Spielraum haben? John Maynard Keynes war nicht der einzige Ökonom, der den klassischen Gleichgewichts-ökonomen vorwarf, sie würden die Trägheits-kräfte einmal gefundener Ungleichgewichte unterschätzen. Woher sollen die Arbeitsplät-ze kommen, wenn keine Güternachfrage auftritt, die bedient werden kann, und daher auch kein Investor gefunden werden kann, der bereit ist, Kapital bereitzustellen? Und wie soll das Kapital verwendet werden, das auf einen Markt drängt, auf dem alle Pro-duktivitätsreserven bereits ausgeschöpft sind und niemand mit neuen Produktideen aufwartet, auf deren Erfolg man spekulieren könnte? >Krisen sind jetzt schon deshalb Krisen, weil man nicht weiß, wie man herauskommt und unter Umständen Entscheidungen trifft, die keine nachhaltige Abhilfe schaffen, son-dern die Lage eher noch verschlimmern. Je mehr Gewicht hinter solche Entscheidungen gelegt werden kann, etwa weil der Staat mit seiner unvergleichlichen Wirtschaftskraft als Arbeitgeber, Konsument und Schuldner sie unterstützt oder sogar zu seinen eigenen Entscheidungen macht, desto hartnäckiger können die Ungleichgewichte werden, wenn sie Wetten auf eine Entwicklung enthalten, die nicht eintritt. >In der modernen Gesellschaft muss man sowohl den Krisenzustand als auch den möglichen Ausweg aus der Krise eigenen Entscheidungen, eigenen Verantwortungen zurechnen, deren Reichweite zugleich kaum noch überblickt wird. Gab es in der Stam-mesgesellschaft nur die Verfehlung, die ge-sühnt werden musste und in der Antike nur die Entscheidung, die sich so oder so nur in ein bereits beschlossenes Schicksal einfädeln konnte, so hat man es in der Moderne mit einer unklaren Gegenwart, einer unbekann-

1 Gekürzter Wiederabdruck aus: Revue für Postheroisches Management, Heft 7 (2010), S. 30–43.

dirk baecker Wie in einer Krise

die Gesellschaft funktioniert

1gesellschaft

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ten Zukunft und mit einer Vergangenheit zu tun, deren Lehren, da aus jeweils anderen Situationen stammend, nur begrenzt zu ge-brauchen sind. Und mittendrin stehen wir und sollen unsere Entscheidungen treffen, für die wir verantwortlich gemacht werden, obwohl jeder weiß, dass wir für ihre Voraus-setzungen und für ihre Folgen nur in einem sehr begrenzten Umfang verantwortlich sein können. >Eine Krise ist in der modernen Gesell-schaft das Signal, dass wir nicht mehr weiter wissen. Wir gestehen unsere Mitschuld ein. Ohne unsere eigenen Fehlentscheidungen gäbe es die Krise nicht. Zugleich jedoch ver-weisen wir auf eine Dynamik im Zeitablauf, eine Komplexität in der Sache und eine Di-versität in der sozialen Einschätzung, die unseren Verständnishorizont allesamt über-schreiten, obwohl sie eine Welt beschreiben, in der wir die wichtigsten, wenn nicht die einzigen Akteure sind. Wir überfordern uns selbst. Die moderne Gesellschaft ist jene Ge-sellschaft, die einen Normalzustand kennt, in dem der Mensch das seiner selbst und seiner Welt mächtige Subjekt ist, und einen Krisenzustand, in dem der Mensch entdeckt, dass er mit sich etwas anstellt, was er selbst nicht versteht. Oder versteht er es doch, ver-steht er es nur allzu gut? >Eine Krise ist der Zustand einer Gesell-schaft, in der bestimmte Dinge nicht mehr, andere dafür jedoch noch sehr gut funktio-nieren. Zum Beispiel war es im Herbst 2007 verblüffend, wie schnell es den Massenmedi-en gelang, durchaus differenzierte Beschrei-bungen und Erklärungen des Ausbruchs der Finanzkrise nach dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehmann Brothers & Co. zu lie-fern. Wer auch immer durch die Finanzkrise in eine Krise geriet, die Massenmedien waren es zunächst einmal nicht, so sehr sie dann auch unter dem Ausfall von Werbeeinnah-men zu leiden hatten. Qualitätszeitungen wie die New York Times nutzten ihre Online-seiten und deren Möglichkeit, Leserkom-mentare einzuladen, dazu, in Windeseile Zu-schriften etwa von Risikomanagern großer und kleiner Bankhäuser einzusammeln, die sehr genau beschrieben, wie es so weit kom-men konnte. Auch die Politik befand sich in keiner Krise. Ganz im Gegenteil, sie begrüß-te den Handlungsdruck, weil man jetzt ent-weder zeigen konnte, wie schnell man kluge Entscheidungen treffen konnte oder wie klug man abzuwarten und keine Entscheidungen zu treffen in der Lage war. Besorgte Mienen

zu gefährlichen Zuständen der Gesellschaft bedeuten nicht, dass man überfordert ist. Im Gegenteil, man war ganz bei sich und machte sich nur Sorgen, die falschen Entscheidungen zu treffen und dafür vom Wähler irgendwann die Quittung ausgestellt zu bekommen. Doch diese Sorgen macht man sich immer; sie sind zentraler Bestandteil der Politik. >Eine Krise ist ein Hinweis darauf, dass andere Teile der Gesellschaft funktionieren. Mehr noch: Eine Krise ist ein Hinweis darauf, dass die Gesellschaft insgesamt funktioniert, denn sie nimmt zur Kenntnis, dass sie in ei-ner Krise ist, und sie reagiert auf die Krise. Das heißt nicht, dass sie – und wer soll das sein? – sofort oder auch nur langfristig das Richtige tut. Aber es heißt, dass die Gesell-schaft das tut, was sie am besten tut, näm-lich ihre eigenen Zustände zu beobachten, zu kommentieren und schon im nächsten Schritt in eine gewisse Vielzahl von Meinun-gen auseinander zu fallen, was man jetzt tun könne, wann man es tun solle und wer es am besten tue. >Eine Krise ist ein Ereignis, von dem man nicht sicher sein kann, ob überall aus ihm die-selben oder auch nur ähnliche Konsequenzen gezogen werden. Davor schützt uns, positiv formuliert, die Differenzierung der Gesell-schaft. Die Massenmedien sorgen dafür, dass sich die Kunde von der Krise rasend schnell um den gesamten Globus verbreitet. Aber die Politik, so sehr sie auf die Massenmedi-en reagieren muss, wird anders reagieren als diese, von Kunst und Wissenschaft, Religion und Erziehung zu schweigen. Denn in allen diesen modernen Funktionssystemen sitzen Organisationen, die große Mühe hatten, ihre Routinen sicherzustellen und die schon durch die Kleinformatierung ihrer Entscheidungen und durch die Entmutigung von kritischen Nachfragen innerhalb der Hierarchie sich da-vor schützen, sofort auf Veränderungen ihrer Umwelt zu reagieren. Auch das ist ziemlich paradox. Organisationen sind Einrichtungen, die Entscheidungen treffen müssen und die laufend Entscheidungen treffen müssen. Sie könnten also jederzeit andere Entscheidungen treffen und somit auf Veränderungen reagie-ren. Aber gerade weil sie laufend Entscheidun-gen treffen müssen und hier eine Entscheidung die eine voraussetzt und in die andere greift, sind Organisationen auf Routinen angewie-sen, die nur ausnahmsweise und in der Regel mit erheblichem Aufwand geändert werden können. Organisationen schützen sich davor zu lernen. Nur so sind sie arbeitsfähig.

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>Eine Krise ist ein Ereignis, das noch lan-ge nicht jeden betrifft. Noch schärfer formu-liert: Eine Krise ist ein Ereignis, das von vie-len Positionen der Gesellschaft systematisch ignoriert wird, ja werden muss. Das bringt eine enorme Trägheit ins Spiel, von der man nicht sicher sein kann, ob sie die Krise nicht verschlimmert und verlängert, da allzu lange so getan wird, als gäbe es keinen Handlungs-bedarf. Das bringt jedoch auch eine Trägheit ins Spiel, die heilsam ist, weil sie im Unter-schied zur Krise jene Normalität produziert, auf die sich jeder Ausweg aus der Krise ja wird stützen müssen. Umgekehrt heißt dies jedoch, dass unser von den Massenmedien produzierter Eindruck, dass die Krise über-all ist, auf einer optischen Illusion beruht, nämlich darauf, dass wir im Moment dieses Eindrucks nicht darauf achten, wie viele Be-reiche der Gesellschaft ganz normal weiter-funktionieren. >Die Krise regt nur auf, um gleich an-schließend zu beruhigen, dass man zu einem dynamischen Gleichgewicht zurückfände, in dem zwar Vieles neu, aber nichts wirklich un-vertraut ist. Denn letztlich hat die Vernunft sich durchgesetzt; und mit der kennt man sich aus. >Mit diesem Muster bricht erst die nächste Gesellschaft, mit der wir es seit der Einführung der Elektrizität und der deren Möglichkeiten ausbeutenden Computer zu tun haben. >Man kann darüber spekulieren, ob der 1. Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und der 2. Weltkrieg noch zu den Krisen der moder-nen Gesellschaft oder bereits zu den Krisen der nächsten Gesellschaft gehören. Immer-hin beutelt die Elektrizität seit 1900 unsere Gesellschaft und immerhin hat Hugo von Hofmannsthal bereits zu diesem Zeitpunkt jenes „nervöse Zeitalter“ ausgerufen, von dem andere glauben, es sei erst mit der New Eco-nomy der 1980er Jahre ausgebrochen. Ohne Frage jedoch ist es die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, die uns zeigt, dass wir es nicht mehr mit den Krisen der modernen Ge-sellschaft zu tun haben. Mit Sicherheit waren bereits die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts Beispiele für hoch unwahr-scheinliche Entwicklungen im statistischen Extrembereich des nicht mehr Normalen. Aber ebenso sicher ist auch die Blasenöko-nomie der vergangenen 15 Jahre ein Beispiel für Krisenphänomene der nächsten Gesell-schaft. Die Krisen des 20. Jahrhunderts sind keine Gleichgewichtsstörungen mehr und sie

sind auch keine Rückschläge mehr auf dem mehr oder minder gleichgewichtigen Pfad des Fortschritts, den das 18. und 19. Jahr-hundert beschworen hatten. Die Krisen des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts sind Zusammenbrüche von Extrementwicklungen, aus denen es uns nur auszusteigen gelingt, wenn wir gleichzeitig in andere Extrementwicklungen einsteigen. Wir haben es mit einem Stichwort von Phi-lip Ball nur noch mit "kritischen Massen" zu tun. Das Gesetz dieser Krisen ist die Wahr-scheinlichkeit, mit der sich unscheinbare Ab-weichungen über positive Rückkopplungen zu Blasen entwickeln, die nur platzen, wenn die nächste Blase die überschüssigen Spe-kulationen aufzufangen verspricht. Krisen sind keine Störungen von Gleichgewichten mehr, sondern Zusammenbrüche von Kom-plexitäten. Und Komplexitäten sind wie in der Mathematik Konstellationen oder auch Konjunkturen des Zusammentreffens von reellen und imaginären Entwicklungen, von Phantasie und Wirklichkeit, die für eine ge-wisse Zeitlang einen Trend beschwören kön-nen, denen viele zu folgen bereit sind, bis auch dieser Trend seine Attraktivität verliert und der nächste Trend sich aufbaut. >In den Sozialwissenschaften verwendet man seit einiger Zeit wieder den Begriff des Regimes. Regime sind hoch unwahrschein-liche Konstellationen von Organisationen, Leuten, Milieus, Technologien, Symbolen und Emotionen, die ihre Anfangsplausibili-tät aus einer überzeugenden Geschichte, ei-ner gelungenen Problemdiagnose oder auch aus einem innovativen Produkt gewinnen und aus dieser Anfangsplausibilität eine Kar-riere spinnen, die genau so lange hält, wie sie hält. Kein Mensch beschäftigt sich noch mit der Frage, woher diese Regime kommen und wohin sie gehen. Jeden interessiert nur noch die Frage, wie stark sie sind, für wen sie welche Art von Attraktivität haben und wie lange sie wohl dauern werden. Die meisten dieser Regime haben einen Eigennamen und für alle lässt sich ein Zeitraum nennen, in dem sie sich gegenüber mehr oder minder gleichplausiblen Rivalen durchsetzen konn-ten und geherrscht haben. Eine Krise mar-kiert den unbegründeten Zusammenbruch eines unbegründeten Regimes und damit die Eigendynamik einer sozialen Komplexität, in der es nur unwahrscheinliche Kombina-tionen gibt und jede Unwahrscheinlichkeit sich auch irgendwann zu erkennen gibt. Nur Nostalgiker glauben, dass es irgendwann ge-

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lingen wird, zu einer normalen Wirklichkeit zurückzufinden. Realisten wissen, dass wir in ein Zeitalter eingetreten sind, in dem es nur noch Regime gibt, von denen einige für eine Zeit die Lufthoheit gewinnen und ande-re bereits darauf warten, sie abzulösen. Jede Krise ist eine Totenglocke für das eine und eine Geburtsglocke für das nächste Regime. Die Zeichen der Zeit erkennt daher nicht der, der nach den Ursachen einer Krise und nach den Möglichkeiten ihrer Behebung fragt, sondern der, der sich fragt, was nach der Kri-se kommt.

>LITERATURBaecker, D. (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a.M. Ball, P. (2004): Critical Mass: How One Thing Leads to Another, Being an Enquiry into the Interplay of Chance and Necessity in the Way that Human Culture, Customs, Institutions, Cooperation and Conflict Arise, Arrow Books, London.Keynes, J. M. (1973): The General Theory of Employment, Interest, and Money, Macmil-lan, London.McLuhan, M. (1968): Die magischen Kanä-le, Econ, Düsseldorf.

Finanzen

Medien

J. Preunkert

M. Künzler

4 16

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Die Ereignisse um den Zusammenbruch von Lehmann Brothers sind von einer Kritischen Theorie weitestgehend umgangen worden. Wirtschaftstheorie scheint ihre Analyse maß-geblich mit der Intention der Wiedererschaf-fung des status quo ante betrieben zu haben, während sich die kritischeren Texte eine hin-derliche Häme kaum verkneifen konnten: „In der Krise zeigt sich erst die Wahrheit dieser Gesellschaft.“ (Dornis, 2009) >Beide dieser zugegebenermaßen recht pauschalen Typen der Reaktionen auf das, was sich als „Finanzkrise“ in den Schlagzei-len und Lebenswelten niederschlug, werden dem Anspruch einer Kritischen Theorie nicht gerecht. Während sich bei dem kritischen Ab-klopfen ihrer Prämissen in der Wirtschafts-theorie kein rechter Wille zu einer rückhalt-losen Analyse zeigen will, verharrt externe Kritik an dem, was „Finanzkrise“ genannt wird zu gern in moralischen Kategorien oder im Vorhof der Ideologiekritik. Einer explizit Kritischen Theorie der Finanzkrise gälte aber nach Link: „Es geht nicht darum, Theorie zu-gunsten der Wirklichkeit mit aller Macht zu retten, sondern unerträgliche Zustände auf den Begriff zu bringen, um sie verändern zu können.“ (Link, 1976: 19) >Der Rückzug von Kritik auf das Feld der Ideologiekritik ist beim Begriff der Finanzkri-se sowenig hinreichend wie seine moralische Abqualifizierung. Gerade bei der moralischen Bewertung der Ereignisse zeigt sich eher eine nur zu bequeme Haltung zu den bestehenden Verhältnissen: „Der oft demagogische Kampf gegen die Gier der Bankmanager gefällt. Ka-pitalismus ist amoralisch, nicht notwendig unmoralisch – um die Freiheit der Wahl der moralischen Maßstäbe zu gewährleisten.“ (Elsenhans, 2010: 92). Spätestens die Plura-lität der moralischen Maßstäbe verhindert hierbei einen Konsens zur Veränderung. >Während solche eher bürgerlichen1 An-näherungen an eine Negation der Finanzkri-se sich in ihrer Pluralität selbst verhindern,

1 Bürgerlich, weil von von (post-)kapitalistischen Gesellschaft(en) geprägten Subjekten ausgehend.

2 Hier zu argumentieren, dass jegliche Erscheinung des Tauschwertes bloßes Glied in der „Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise [sei], die man sich als eine katastrophische Kette von Enteignungsprozessen vorzustellen hat“ (Dornis, 2009 D.P.) lässt ein „Elend des Historizismus“ (Popper, 1971: 83-102) durchscheinen.

daniel palm Wanted:

Kritische Theorie der Finanzkrise

versucht die selbsternannte „ideologiekri-tische“ Seite mit einer abstrakten Negation von „Tauschwert“ qua „materialistischer Gesellschaftskritik“ den Spagat sowohl „an-archistisch [...] als auch kommunistisch“ (Dornis, 2009) zu sein. „Sie ist bestrebt, die gewaltförmige Vergleichung von Produkten zu Waren durch den Wert und von Indivi-duen zu Subjekten durch den Staat zu be-enden.“ (Ebd.). Doch die durch Tauschwert durchdrungene Gesellschaft ist eben nicht zwingend als eine kapitalistische zu begrei-fen und somit erscheint die bloße Negation von „Tauschwert“ als zu allgemein zur Kritik der bestehenden Verhältnisse. Die Abstrak-tion von Nutzwerten der Ware auf ihren Tauschwert als relevantes Merkmal kann in den verschiedensten Gesellschaftsformen beobachtet werden.2

>Durch die Allgemeinheit der Kritik wird verpasst, Kapitalismus „auf den Begriff zu bringen“, also eine Theorie über die Bedin-gungen der kapitalistischen Produktionswei-se zu entfalten. „Philosophische Sachverhalte aus den ökonomischen Zusammenhängen zu entwickeln heißt, die Ursachen geistiger Er-fahrungen und Bewusstseinsursachen in den Tausch und Eigentumsverhältnissen zu su-chen und sie klar zu benennen.“ (Link, 1976: 21). Erst mit einer solchen ökonomischen Theorie ließe sich dann auch erkennen, wel-che Phänomene als kapitalistisch zu werten sind – und welche eben nicht. Nun kann in diesem Rahmen kein Kapitalismusbegriff entwickelt werden,3 doch die Betrachtung der folgenden zwei Aspekte der Finanzmärk-te bricht wohl mit intuitiven4 Einordnungen der Finanzkrise unter vorherrschende Kapi-talismusbegriffe. >Zum einen kann kaum aufrecht be-hauptet werden, dass „der Finanzmarkt“ ei-nen idealtypischen Markt darstellt und als solcher dann als kapitalistisch zu begreifen sei. Der (Wirtschafts)Theorie nach, hätte ein Markt von frei wirkender Konkurrenz um

2finanzen

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4 Auch mit durchaus theorienge-leiteten Kapitalismusbegriffen. Diese Diskussion kann hier aber nicht geleistet werden.

5 Emanzipation von Kapitalismus selbst bedarf der Vorherr-schaft von selbigem, ob und inwiefern es einer solchen Emanzipati-on von Kapitalismus überhaupt noch bedarf, (weil es vielleicht schon gar nicht mehr das bestimmende System ist) ist eine Diskussion, die hier nicht geleistet werden kann.

3 Eine mögliche Annäherung bei Hartmut Elsenhans (Elsenhans, 1983; 2000; 2007) und im speziellen als Reaktion auf die soge-nannte Finanzkrise bei Elsenhans, 2010.

die „optimalen“ Preise geprägt zu sein. Hei-ner Flassbeck, Autor des „Trade and Develop-ment Report“ der United Nations Conference on Trade and Development (UNCATD) ist ei-ner unter jenen, die argumentieren, dass die-ses vom „Finanzmarkt“ gerade nicht geleistet wird. In seiner Studie zu den Prozessen an „Finanzmärkten“ kommt er zu dem Schluss, dass dieses auch nicht ernsthaft erwartet werden kann: „They are not able to evaluate the future of societies and to find a reasona-ble price for the risk of default or any other severe shock. What makes us believe that anonymous herds on the financial markets should be able to generate knowledge that even the best an brightest brains are not able to produce?“ (Flassbeck, 2010: 30). >Der andere Aspekt betrifft eine Argu-mentation, welche als Grundlage verschie-denster Politiken, über alle Parteigrenzen hinweg, vor allem auch in der Bundesrepu-blik Deutschland, diente und noch immer dient. Gemeint ist die angebliche Ordnung der Gesellschaft durch „das Kapital“, also ei-nes vermeintlichen Anpassungszwangs der Gesellschaft(en) an die Vorgaben des seit einer „Globalisierung“ weltweit mobilen Ka-pitals. Das, was als Finanzkrise zu begreifen ist, negierte die Notwendigkeit solcher (An-passungs-)Politiken: „In der Krise ‚haute‘ das Finanzkapital nicht ab. Es brach einfach zusammen. Und als es zusammengebrochen war, sah man, dass es – in der Form wie be-hauptet – gar nicht notwendig gewesen war: Man konnte ‚ohne‘ und konnte sogar die Banken wieder beleben.“ (Elsenhans, 2010: 99) >Die Kritik an der „Krise“ der Finanz-märkte muss solche „nichtkapitalistische“ Aspekte mit reflektieren, um zu einer Kritik der bestehenden Verhältnisse zu kommen. Erst mit dem Begriff von der Finanzkrise wird sich von dieser emanzipiert werden können.5 Abstrakter Negation wie auch mo-ralischer Abqualifizierung ist entgegenzuhal-ten, dass sie die oben genannten Aspekte gar nicht mehr aufnehmen und somit unter dem Etikett der Kapitalismuskritik kaum mehr Konkretes zu reflektieren vermögen. Mit der Enthaltung einer politökonomischen Analy-se wird auch die Voraussetzung für eine be-stimmte Negation der Verhältnisse verpasst: „Das Überschreiten der Praxis versteht sich in der kritischen Theorie stets als bestimm-te Negation, als permanentes reflektiertes Distanzieren von einer sich stabilisierenden Praxis, die natürlich nicht ignoriert werden darf, sondern um ihrer möglichen Verände-rung willen analysiert werden muß, jedoch ohne dass es eine Anpassung zur Folge hätte.“

(Link, 1976: 17). Diese bestimmte Negation der Finanzkrise ist umso nötiger zu leisten, weil es wohl nicht allzu spekulativ ist, zu be-haupten, dass sie von der institutionalisier-ten Wirtschaftstheorie nicht geleistet wer-den wird.

>LITERATURDornis, M. (2009): „K wie Krise“, in: Cee Ieh, H. 161, Link: http://www.conne-island.de/nf/161/15.html (aufgerufen: 25.03.2011).Elsenhans, H. (1983): „Rising Mass Inco-mes as a Condition of Capitalist Growth: Implications for t he World Economy“, in: International Organization, Jg. 37, H. 1, S. 1-39.Elsenhans, H. (2000): „Die Globalisierung der Finanzmärkte und die Entstehung einer neuen Rentenklasse“, in U. Menzel (Hg.): Vom Ewigen Frieden und vom Wohl-stand der Nationen. Dieter Senghaas zum 60. Geburtstag, Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 518-542.Elsenhans, H. (2007): Geschichte und Öko-nomie der europäischen Welteroberung. Vom Zeitalter der Entdeckungen zum Ersten Welt-krieg, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig.Elsenhans, H. (2010): „Finanzkrise als Chance. Die Entstehung fiktiven Reich-tums“, in: Welt Trends, H. 71, S. 92-101.Flassbeck, H. (2010): “The wisdom of the herd – What the financial markets can tell about sovereign risk”, in: Swiss Derivates Review, Jg. 42, S. 28-30.Link, J. (1973): Theorie der Gesellschaft. Kritische und historische Einführung, Raith, Starnberg.Popper, K. (1971): Das Elend des Histori-zismus, Mohr, Tübingen.

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Den Menschen in Europa geht es relativ gut. In Deutschland ist der historisch einmalige Wirtschaftseinbruch um 5% im Jahr 2009 nahezu ohne Folgen geblieben. Der Arbeits-markt wurde durch eine kluge Kurzarbeiterre-gelung von der Krise abgekoppelt und erholt sich weiter. Deutsche Unternehmen bewegen sich erfolgreich auf den Weltmärkten. >Gleichwohl befinden sich Deutschland und die Länder Europas in einer tiefen Krise. Sie besteht in einer Inkonsistenz zwischen vereinbarten Normen und institutionellen Regelungen einerseits und vom Finanz-marktgeschehen ausgehenden Handlungs-zwängen andererseits. Krise heißt nicht zwingend: Einbußen an wirtschaftlichem Wohl stand, sondern: die Erfahrung, dass gesellschaftliche Regeln, die zur Vermeidung von Problem lagen getroffen wurden, nicht beachtet worden sind oder möglicherweise gerade die Ursache plötzlicher Störungen sind. Im ersten Fall ist die mangelnde Ver-bindlichkeit getroffener Vereinbarungen das Problem, was langfristig den Bestand der Normen und den Zusammenhalt einer Ge-sellschaft gefährden kann; im zweiten Fall haben verantwortliche Stellen offenbar einer falschen Weltsicht angehangen. >Die Gründung der Europäischen Wäh-rungsunion (EWU) war ein historisches Ex-periment: die Schaffung einer gemeinsamen Währung ohne eine politische Union. Es gab durchaus Stimmen, die sich gerade von diesem Integrationsmodell (das bei frühe-ren Versuchen in der Wirtschaftsgeschichte stets gescheitert war) eine Lösung politisch-ökonomischer Schwachpunkte erhofften: Re-gierungen, die über einen Zugang zu „ihrer“ nationalen Zentralbank verfügen, waren in der Vergangenheit des Öfteren in die Versu-chung gekommen, den Staatshaushalt durch einen zinslosen Notenbankkredit zu finan-zieren. Der Europäischen Zentralbank (EZB) ist jedoch jeder direkte Staatskredit verbo-ten. Zudem haben EWU-Teilnehmerstaaten

peter spahn Die Krise

des Euro

bei staatlichen Schuldenproblemen auch nicht mehr die Möglichkeit einer Währungs-abwertung, welche die Last einer in eigener Währung aufgenommenen Staatsschuld ent-wertet und über vermehrte Exporte höhere Steuereinnahmen einbringt. >Mit dem Übergang zur EWU geriet die Haushaltspolitik in den Mitgliedsländern so-mit in eine starke Abhängigkeit von der An-lagebereitschaft privater Gläubiger. Dies hätte einen mar kanten Disziplinierungsdruck auf die Finanzpolitik ausüben müssen. Tatsächlich war davon wenig zu spüren. Die Bemühungen zur Konsolidierung der Haushalte (ablesbar an der Entwicklung der Primärsalden, d.h. Budgetsalden abzüglich Zinskosten) ließen nach Eintritt in die EWU nach. Dies lässt sich zum einen damit erklären, dass die nationalen Finanzminister nun Zugang zu einem erwei-terten Anlagepotential auf dem großen Euro-Kapitalmarkt hatten. Zum anderen gingen die Kreditgeber offenbar davon aus, dass einzelne Länder durch ihre EWU-Mitgliedschaft gleich-sam ein Soliditätssiegel verdient hätten (oder im Krisenfall auf Unterstützung der Gemein-schaft zählen könnten). Jedenfalls sanken die Zinsen für Staatsschuldtitel südeuropäischer „Problemländer“ auf das deutsche Niveau; griechische und deutsche Staatspapiere galten als gleichwertig. >Dieses Geschenk niedriger Zinsen hat die Staatshaushalte in den „Südländern“ zu-nächst entlastet und zugleich im Privatsektor einen kreditfinanzierten Investitions- und Konsumboom angetrieben. Platzende Immo-bilienblasen brachten die Banken in Probleme, ihre Rettung und die konjunkturpolitischen Kosten zur Bekämpfung der von den USA ausgehenden Weltwirtschaftskrise stürzten die europäischen Staatshaushalte tief in die Defizite. Der Rückzug von wieder stärker risi-kobewussten Anlegern, zunächst aus griechi-schen Staatsanleihen, ließ die Zinsen steigen; schnell wurde die Zahlungsunfähigkeit Grie-chenlands deutlich.

3finanzen

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>Ein effektiver Bankrott Griechenlands wäre finanzwirtschaftlich kein unmittelbar systemisches Problem gewesen. Die Banken als wichtigste Kreditgeber hätten allerdings nach der Verlustabschreibung (und auch nach einer teilweisen Übernahme der Ver-luste durch heimische Fiskalbehörden) die Risikoeinschätzung anderer Staatspapiere angepasst. Ein Verkauf von nun kritischer bewerteten Papieren hätte den Zinsendienst in den betreffenden Staaten verteuert. Vor al-lem aber wäre die Neukreditvergabe knapper und teurer ausgefallen. Für die europäischen Finanzminister wäre dieses Szenario –nach dem Zugang zu ihren Notenbanken auch die Geschäftsbanken als willige Kreditanbieter zu verlieren – ein Desaster gewesen. Es gab deshalb zur Griechenlandrettung, zumindest aus ihrer Sicht, keine Alternative. Nachdem Irland, Portugal und Spanien in den Strudel von Bankrottvermutungen geraten sind, ist ein großer Rettungsschirm aufgezogen wor-den, mit dem sich die europäischen Finanz-minister wechselseitig ihre Staatsschulden garantieren. Das ist historisch ein einmaliger Vorgang. Die Glaubwürdigkeit dieses Ret-tungsschirms ist denn auch zweifelhaft, ab-lesbar an den immer noch großen Zinsdiffe-renzen zwischen den Anleihen „solider“ und „gefährdeter“ Staaten. Sie könnte verbessert werden, wenn die erste Staatengruppe, allen voran Deutschland, im Zweifelsfall wirklich für die Schulden der zweiten Gruppe einste-hen würde. Dies ist jedoch, allen Ankündi-gungen zum Trotze, kaum vorstellbar: Ers-tens wären die finanziellen Lasten bei einer Schuldenkrise großer Südländer so erheblich, dass eben auch die soliden Länder nicht län-ger solide wären. Zweitens hat man in diesen Ländern die Zustimmung der Bevölkerung zur EWU nur durch die Versicherung erhal-ten, dass derartige Finanzgarantien ausge-schlossen sind. >Geist und Buchstabe des Maastrichter Vertrages und des Stabilitäts- und Wachs-tumspaktes sehen aus ordnungs- wie eu-ropapolitischen Gründen ein striktes Bail-out-Verbot vor: Rettungsoperationen bei zahlungsunfähigen Schuldnern bringen die Gefahr des Moral Hazard mit sich, die strategische Ausnutzung erwarteter Hilfs-bereitschaft anderer. Dagegen gerichtete institutionelle Vorkehrungen sind mit ho-hem Überwachungsaufwand verbunden und beschädigen das wechselseitige politische Vertrauen. Potentielle Geberländer müssen im Interesse ihrer Steuerzahler auf Kontrol-

len und Sanktionen bestehen, die weit in die politische Autonomie der Schuldnerländer hineinreichen und dort Abneigung gegen die „Retter“ und die europäische Idee überhaupt provozieren. Garantien für die Finanzen un-tergeordneter Körperschaften kann es in fö-derativen Bundesstaaten geben, nicht jedoch in einem Staatenbund, in dem die Bevölke-rung keine politische Union i.S. eines fiskali-schen Gesamthaushalts wünscht. >Die Beteiligung privater Gläubiger (durch einen anteiligen Forderungsverzicht) an den Rettungskosten ist aus der Perspektive fi-nanzwirtschaftlicher und polit-ökonomischer Prinzipien selbstverständlich, erzeugt aber jetzt den fatalen Anreiz, gefährdete Papiere frühzeitig abzustoßen, wodurch weitere Län-der über steigende Marktzinsen unter den Schirm gezwungen werden – ein Beispiel für das Dilemma interventionistischer Marktein-griffe: das für den Kapitalismus unverzichtba-re Prinzip des Gläubigerrisikos erscheint als Störfaktor! Mitt ler weile muss die EZB aushel-fen und Papiere besonders gefährdeter Staa-ten aufkaufen, um deren Kurse nicht noch mehr abstürzen zu lassen. Damit wird das re-gulative Dilemma vollkommen, weil auch die strikte Trennung zwischen Finanz- und Geld-politik, die den Grundstein der EWU bildet, ausgehebelt wird. >Die Sparpolitik der überschuldeten Staa-ten wirkt hilflos, weil sie zwar die notwendi-gen Schritte zum Ausgleich des laufenden Haushaltsvollzugs einleitet aber nicht das Problem eines überhöhten Schuldenstandes löst. Eine Grundregel des Kapitalismus lau-tet, dass uneinbringbare Forderungen abge-schrieben werden müssen, d.h. irgendjemand muss den Vermögensverlust übernehmen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden es die Deutschen sein, als Kunden deutscher Ban-ken und Versicherungen, die große Bestände ausländischer Staatsschulden halten. Damit würden sich die Gewinne aus permanenten Exportüberschüssen z.T. in Luft auflösen.

Sulbatern

G. Spivak

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Seit sich abzeichnet, dass einige Staaten Probleme haben, ihre Schulden auf den Fi-nanzmärkten zu refinanzieren, ist in der Öf-fentlichkeit von einer Eurokrise die Rede. Es wird vor einer Inflationsgefahr gewarnt und diskutiert, ob der Euro als Gemeinschafts-währung eine Zukunft hat. Unklar bleibt jedoch meist, was die Eurokrise ausmacht. Im Folgenden wird argumentiert, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise zwar die Sta-bilität der europäischen Währungsunion er-schüttert hat, jedoch wenig dafür spricht, die Turbulenzen als Eurokrise zu bezeichnen. Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass der Euro institutionell gestärkt aus seiner soge-nannten Krise hervorgehen wird.

Gibt es eine Eurokrise?

Von einer Krise ist aus institutioneller Per-spektive dann zu sprechen, wenn eine in-stitutionelle Ordnung durch interne oder externe Schocks so destabilisiert wird, dass ihr Fortbestand gefährdet ist, ohne dass dies von den Akteuren intendiert oder gewollt ist. Was also ist eine Währungskrise? Vereinfacht gesprochen: Eine Währung ist dann in einer Krise, wenn ihr Austauschwert intern (im Tausch gegen Güter, Dienstleistungen) oder extern (gegenüber anderen Währungen) so instabil ist, dass sie ihre primäre Funktion als ein territorial begrenztes Zahlungsmittel nicht mehr erfüllen kann. Der Euro war da-gegen trotz einiger Schwankungen im Lauf der Finanz- und Wirtschaftskrise immer re-lativ stabil. Wenn es aktuell eine Krise gibt, dann muss von einer fiskalpolitischen Krise einiger Euro-Mitglieder gesprochen werden, da es diesen Staaten nicht mehr bzw. nur unter sehr schwierigen Bedingungen mög-lich ist, Geld auf den Finanzmärkten aufzu-treiben. Eine Krise ist dies deshalb, weil das Ausbleiben einer Refinanzierung der Staats-schulden die staatliche Ordnung nachhaltig erschüttern und im schlimmsten Fall in ei-

jenny preunkert Krisengewinner:

Währung

nem Bankrott eines Staates münden kann. Eine solche Krise kann bisher jedoch nur in Griechenland und, mit Abstrichen, in Irland beobachtet werden. Eine Krisengefahr kann man dagegen in Spanien, Portugal und Itali-en sehen. Für den Euro bedeutet diese Krise bzw. Krisengefahr für seine Mitglieder, dass die internen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten wachsen und so die Gefahr einer destruktiven Eigendynamik innerhalb der Währungsunion zunimmt. Der Euro als Gemeinschaftswährung ist also in keiner Krise, jedoch durchaus einer Krisengefahr ausgesetzt.

Stabilisierung des Euro

Warum der Euro trotz der tiefgreifenden Probleme einiger seiner Mitgliedsstaaten bisher noch nicht in eine akute Krise geraten ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Ein Faktor waren si-cher die europäischen Maßnahmen zur Sta-bilisierung der nationalen finanziellen Hand-lungsfähigkeit. Denn die nationalen Krisen zeigten, dass die bisherige institutionelle Ordnung der Eurozone ungenügend auf sol-che Krisen eingestellt war bzw. die Präven-tionsmaßnahmen zur Vermeidung solcher Probleme im aktuellen Fall nicht griffen. Die Gefahr einer Eurokrise erhöhte ferner auch die Reformbereitschaft der beteiligten Staa-ten und ist daher ein „window of opportuni-ty“, um die institutionelle Ordnung der Wäh-rungszone zu stärken und neu zu gestalten. >Vor der Krise beruhte der Euro auf ei-ner institutionellen Ordnung, die erstens vom Prinzip der Aufgabenteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene geprägt war (Dullien/Schwarzer, 2009). Während die Geldpolitik zentral auf europäischer Ebene organisiert wurde, lagen Fiskal- und Wirt-schaftspolitik dezentral in den Händen der Mitgliedstaaten. Koordiniert wurden die na-tionalen Politikbereiche durch gemeinsame

4finanzen

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Ziele, deren Umsetzung mittels Benchmar-kingverfahren kontrolliert und gegebenen-falls sanktioniert werden sollten. Ein zweites Prinzip war die Betonung der nationalstaat-lichen Eigenverantwortung, d.h. eine Trans-ferunion wurde prinzipiell ausgeschlossen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt nun, dass die nationalen Wirtschaften stärker als bisher gedacht miteinander verwoben sind. Deshalb fürchteten die Euromitgliedstaa-ten, entgegen anders lautender Rhetorik, dass der Bankrott eines Staates die Gemein-schaftswährung in nicht kalkulierbarer Wei-se destabilisieren würde (Hodson, 2010). >Um die Gefahr eines griechischen Staats-bankrotts abzuwenden, entschieden sich die Euro-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme der Slowakei) dafür, Griechenland Kredite zur Verfügung zu stellen. Der bilaterale Ansatz erlaubt es den Staaten, das Transferver-bot zu umgehen. Als später weitere Staaten Probleme bekamen, Schulden zu tragbaren Zinsen auf den Finanzmärkten zu refinan-zieren, entschlossen sich die Euro-Staaten, den sogenannten Europäischen Stabilisie-rungsmechanismus einzuführen.1 Verein-facht gesprochen, können im Rahmen dieses Rettungsansatzes Staaten Kredite von der EU bekommen, deren Zinssatz unter dem liegt, den sie auf den Finanzmärkten zahlen müssten. Unter den „Rettungsschirm“ ist bisher nur Irland geschlüpft. Andere Staaten halten sich dagegen zurück, da die Hilfen mit massiven Auflagen und Eingriffen in den staatlichen Handlungsspielraum verbunden sind. Zwecks unmittelbarer Bewältigung der akuten Refinanzierungsprobleme einiger Eu-rostaaten waren die Euromitglieder somit bereit, nicht nur den rechtlichen Rahmen der Eurozone neu zu definieren sondern auch selbst Kredite bzw. Garantien zur Verfügung zu stellen. >Neben diesen Ad-hoc-Maßnahmen geht es zurzeit auch um die Frage, wie der bisher nur temporär eingerichtete Krisenbewälti-gungsmechanismus dauerhaft gestaltet wer-den kann. Entscheidend für meine Ausgangs-these ist dabei, dass die Einrichtung eines solchen Mechanismus an sich nicht mehr in Frage steht, sondern nur noch ausgehandelt wird, zu welchen Konditionen er eingeführt werden soll. Parallel dazu begann auch eine Diskussion, wie die Währungsunion künftig zu gestalten sei (De Grauwe, 2010). Trotz un-terschiedlicher Standpunkte der Regierungen zeichnet sich hierbei ab, dass die europäische Kontrolle der Fiskal- und Wirtschaftspolitik

gestärkt wird. Am Ansatz der weichen Koor-dinierung wird somit zwar festgehalten, na-tionale Souveränität soll möglichst geschont werden, die europäischen Handlungsspiel-räume sollen aber ausgebaut werden.

Fazit

Der Euro ist bisher in keine akute Krise gera-ten. Vielmehr wurde die Krise einiger seiner Mitglieder als eine Krisengefahr für die Ge-meinschaftswährung wahrgenommen. Diese Krisengefahr löste politische Reaktionen aus, welche die institutionelle Ordnung der Ge-meinschaftswährung nachhaltig verändern. So wurde erstmals ein EU-Management nationaler fiskalpolitischer Krisen betrie-ben, wobei freilich noch nicht klar ist, wie es langfristig institutionalisiert werden soll. Des Weiteren wurde offensichtlich, dass der bisherige Koordinierungsansatz nicht aus-reicht, um die nationalen Haushalte stabil zu halten und die wirtschaftliche Konvergenz innerhalb der Eurozone voranzutreiben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigte jedoch nicht nur Lücken in der bestehenden ins-titutionellen Ordnung auf, sondern führte auch dazu, dass die Regierungen versuchen, diese zu beheben. Zwar kam es nicht zu ra-dikalen Innovationen, doch wurden beste-hende Handlungsansätze weiter entwickelt. Im Ergebnis kam es zu einem Integrations-schub innerhalb der Eurozone, der so vor der Krise nicht denkbar gewesen wäre. Als Reak-tion auf die Krise wurde die institutionelle Ordnung des Euros ausgebaut und gestärkt. Also: Der Euro ist ein Krisengewinner.

>LITERATURDe Grauwe, P. (2010): “The Fragility of the Eurozone’s Institutions“, in: Open Econo-my Review, Vol. 21, S. 167–174.Dullien, S./Schwarzer, D. (2009): “Brin-ging Macroeconomics into the EU Budget Debate: Why and How?”, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 47, No. 1, S. 153–174.Hodson, D. (2010): “The EU Economy: The Euro Area in 2009”, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 48, S. 225–242.

1 Dieser Stabilisierungsmechanismus beruht auf drei Säulen: Erstens gewährt die Europäische Kommission Kredite, zweitens stellen die europäischen Staaten freiwillig Kredite zur Verfügung bzw. Sicherheiten zur Gewährung der Kredite und drittens werden durch den Internationalen Währungsfond Kredite bereit gestellt.

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IDer Wohlfahrtsstaat ist eine national-staatliche Angelegenheit. Der National-staat wird von der Globalisierung unter-

spült, und die Europäische Integration ist eine Erscheinungsform der Globalisierung. Die Europäische Integration war von Anfang an ein ökonomisches Projekt. Im Kern ging es immer schon darum, großflächige Märkte mit möglichst einheitlichen Marktregeln zu schaffen. Also führt die Europäische Integra-tion zur Erosion des Wohlfahrtsstaats (vgl. Münch, 2010). >Das ist die allgemein übliche Argumen-tation. Dazu kommt, dass durch die Finanz- und Euro-Krise der Druck auf die nationalen Wohlfahrtsstaaten verstärkt wird. Die Argu-mentation ist so überzeugend, dass es sich lohnt, den Spieß umzudrehen und zu fragen: Löst sich der nationale Wohlfahrtsstaat tat-sächlich auf? Vollzieht die Finanzkrise am Wohlfahrtsstaat wirklich das, was in der Europäischen Integration ohnehin schon immer angelegt war? Oder erweist sich der Wohlfahrtsstaat auch unter verschärften Bedingungen als irreversibel (Therborn/Roe-broek, 1986; Vobruba, 2005)? Und falls dies nicht der Fall sein sollte: Gibt es Anzeichen, dass der Wohlfahrtsstaat durch eine supra-nationale, europäische Sozialpolitik schritt-weise ersetzt wird?

IISoziale Sicherheit auf der europäischen Ebene sehen nur jene entstehen, die einen extrem weiten Begriff von Sozi-

alpolitik verwenden (vgl. Leibfried/Pierson, 1995). Dehnt man den Begriff von Sozial-politik auf Arbeitsschutz, Gleichstellung der Geschlechter, Initiativen zur Verlängerung des Elternurlaubs, Strukturhilfen und Agrar-subventionen aus, so findet man tatsächlich deutliche Ansätze einer europäischen Sozial-politik. Aber von großzügigen Definitionen kann man nicht leben. Arbeitssuchende, de-nen das Arbeitslosengeld gekürzt wird oder Krankenversicherte, für die der Zugang zu Gesundheitsleistungen immer kostspieliger

georg vobruba Krisenverlierer:

Wohlfahrtsstaat

wird, haben von solchen Erfolgen im Defini-tionskampf nichts. In den Kernbereichen der Sozialpolitik ist nicht zu erkennen, dass der nationale Wohlfahrtsstaat durch Institutio-nenbildung auf der europäischen Ebene ab-gelöst würde (vgl. Ganßmann, 2010). Weder greifen die Ansätze weicher Regulierung, die Offene Methode der Koordination, in der So-zialpolitik (vgl. Preunkert, 2009), noch sind die nationalstaatlichen politischen Eliten bereit, mit der Kommission ihre Steuer- und Beitragshoheit zu teilen. Im Übrigen sind auch nur Angehörige solcher Länder für ei-nen sozialpolitischen Verantwortungstrans-fer vom Nationalstaat auf die europäische Ebene, in denen die Sozialpolitik des eigenen Landes als leistungsschwach einschätzt wird (vgl. Mau, 2005). Das sind genau jene Län-der, deren Sozialpolitik durch die internatio-nale Finanzkrise unter Druck geriet.

IIIDer Abbaudiskurs begleitet die Entwicklung der Wohlfahrtsstaa-ten schon seit dreißig Jahren. Ihre

tatsächliche Entwicklung steht dazu bisher freilich in einem merkwürdigen Kontrast. Zwar gibt es eine breite politische Dauer-debatte, die auf Individualisierung und Re-privatisierung von Verantwortung für so-zialpolitische Problemlagen, auf die aktive Mitwirkung der Sozialstaatsklientel bei der Bewältigung sozialpolitischer Probleme und auf private Beteiligung an sozialpolitischen Kosten zielt (vgl. Vobruba, 1983; Lessenich, 2008). Aber die Sozialleistungsquoten sind in den meisten Ländern über Jahrzehnte konstant, allenfalls leicht rückläufig. In meh-reren Mitgliedsländern der EU findet man zwar eine Verschärfung von Zugangsbedin-gungen zu Lohnersatzleistungen und eine Absenkungen der Transferniveaus, zugleich aber werden in einigen die familienbezoge-nen Leistungsarten ausgebaut (vgl. Bleses/Seeleib-Kaiser, 2004). >Mit all dem ist freilich nicht gesagt, dass die Qualität der sozialpolitischen Versorgung

5sozialstaat

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5

konstant geblieben ist. Es sind zwei Entwick-lungstendenzen, die zu ihrer deutlichen Ver-schlechterung geführt haben. Zum einen hat der administrative Aufwand zugenommen, der mit der Vergabe wohlfahrtsstaatlicher Leistungen verbunden ist. Das ist die unmit-telbare Folge der Individualisierung von so-zialpolitischen Problemen und der Reprivati-sierung von Verantwortung. Beides führt zu erhöhtem Verwaltungsaufwand und zu er-weiterten administrativen Ermessensspiel-räumen mit der Konsequenz, dass Leistungs-versprechen weniger verlässlich werden. Und zum anderen muss mit gleichbleibenden oder leicht abnehmenden Sozialleistungs-quoten ein deutlich zunehmender Problem-anfall abgedeckt werden. Im Ergebnis hat die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung also dazu geführt, dass die Sozialtransfers pro Fall we-niger und weniger verlässlich wurden. Alles in allem gab es also Verluste von sozialer Si-cherheit in quantitativem und qualitativem Sinn. Wie wirkt dabei die Finanzkrise?

IV Im Zuge der internationalen Fi-nanzkrise hat sich das Gläubiger-vertrauen in die Mitgliedsländer

der Euro-Zone stark differenziert. Bis zum Jahr 2008 war man offensichtlich von etwa der gleichen Bonität aller Euro-Länder oder von einer de facto Ausfallshaftung der rei-chen für die ärmeren Länder ausgegangen. Dies ist daran zu erkennen, dass sich die langfristigen nominalen Kapitalmarktzin-sen in den einzelnen Euro-Ländern kaum voneinander unterschieden (vgl. Sachver-ständigenrat, 2010: 82). Die Finanzkrise zer-störte diese „Illusion eines homogenen Euro-Kapitalmarktes” (Spahn, 2011), steigerte das Risikobewusstsein und machte die (Re-)Finanzierungsprobleme der Staatsschulden einzelner Länder manifest. Die geforderten Zinsen innerhalb der Euro-Zone entwickel-ten sich stark auseinander und verstärkten die Finanzierungsprobleme der schwachen Euro-Schuldnerländer massiv. >Die internationale Finanzkrise wirkt – vermittelt über die Staatsschuldenprob-leme in der Euro-Zone – in zweierlei Weise destruktiv auf die Wohlfahrtsstaaten. Zum einen geraten die sozialen Sicherungssys-teme der ärmeren Euro-Länder durch die Versuche, ihre exzessive Staatsverschul-dung zurückzufahren, unter Druck. Zum anderen müssen die reichen Euro-Länder für Rettungsaktionen für Banken und gan-ze Volkswirtschaften Mittel aufwenden, die für sozialpolitische Zwecke fehlen. Also sind

auch die Wohlfahrtsstaaten der reichen Eu-ro-Länder Krisenverlierer. Diese Effekte für die reichen Euro-Länder (in der Praxis vor allem für Deutschland) könnten allerdings deshalb milder ausfallen, weil durch den aktuellen Rückgang der Arbeitslosigkeit der Problemdruck auf den Wohlfahrtsstaat ab-nimmt. Dagegen besteht kein Zweifel, dass die Aussichten der Wohlfahrtsstaaten in den ärmeren, hoch verschuldeten Euro-Ländern schlecht sind. >Im politischen Diskurs über die aktuelle finanzielle Rettung der ärmeren Euro-Län-der und über die langfristige Absicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Währung geht es einerseits um Maßnah-men zur Wiederherstellung des Gläubiger-vertrauens, andererseits um die Verteilung der damit verbundenen Kosten. Kurzfristig spricht dabei alles dafür, dass sich die ärme-ren Schuldnerländer der Regulierung durch die reichen fügen müssen; dass sie also den Löwenanteil der Kosten zu tragen haben und dass die Finanzsparzwänge ihre Wohlfahrts-staaten schwer beschädigen. Es könnte aber sein, dass sich dieses Bild ändert, wenn man die fiskalischen Erwägungen in eine weitere Konfliktkonstellation stellt.

V Die Austerity-Politik in den ärme-ren Euro-Schuldnerländern an der Peripherie der Europäischen Union

stößt jedenfalls dann an Grenzen, wenn der Abbau ihrer Wohlfahrtsstaaten soziale Un-ruhe erzeugt, die vom reichen EU-Kern als Stabilitätsproblem wahrgenommen wird. Dieser Mechanismus, der sich aus den In-teressenverflechtungen zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb der Europäischen Union ergibt (vgl. Vobruba, 2007), könnte durch die gegenwärtigen Entwicklungen in Nordafrika noch verstärkt werden. Denn in dem Maße, in dem die Peripherie außerhalb der EU durch soziale Revolten an Stabilität verliert, gewinnen die peripheren Staaten in-nerhalb der EU als Stabilitätspuffer für den reichen EU-Kern an Bedeutung. Damit ak-tualisiert sich der politische Tausch, der das Verhältnis zwischen Kern und Peripherie der EU immer schon bestimmt hat: Finanztrans-fers von reich an arm für Stabilitätsgarantien von arm an reich. >Versteht man die Zukunft der sozialen Sicherheit als nur von Finanzierungsproble-men bestimmt, so ist der Wohlfahrtsstaat klar Krisenverlierer. Rekonstruiert man ein umfassenderes politisches Kalkül, das darüber hinaus auch Probleme politischer

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Stabilität einbezieht, sieht die Zukunft der Wohlfahrtsstaaten der ärmeren Euro-Län-der weniger düster aus. Es könnte sein, dass sich die soziale Stabilität der Peripherie der EU nur mit wohlfahrtsstaatlichen Mitteln halten lässt, und dass sich der reiche Kern der EU dies etwas kosten lassen muss. Das ist nichts anderes als der aktuelle Ausdruck einer alten konflikttheoretischen Einsicht (vgl. Alber, 1982): Um zu sozialer Sicherheit zu kommen, haben die Armen nichts anzu-bieten, als ihren Verzicht auf Revolte.

>LITERATURAlber, J. (1982): Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, Campus, Frankfurt a. M./New York. Bleses, P./Seeleib-Kaiser, M. (2004): The Dual Transformation of the German Welfa-re State, Palgrave, Mcmillan Basingstoke, New York.Ganßmann, H. (2010): „Soziale Sicher-heit durch die EU? Staatstheoretische und europasoziologische Perspektiven“, in: Eigmüller, Monika/Mau, Steffen (Hrsg.): Gesellschaftstheorie und Europapolitik, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesba-den, S. 329-352.Leibfried, S./ Pierson P. (Hrsg.) (1995): European Social Policy: Between Fragmen-tation and Integration, Brookings Institute, Washington D. C..Lessenich, S. (2008): Die Neuerfindung des Sozialen, Transcript, Bielefeld.Mau, S. (2005): “Democratic Demand for a Social Europe? Preferences of the Euro-pean Citizenry”, in: International Journal of Social Welfare, Vol. 14, S. 76-85.Münch, R. (2010): European Governmen-tality. The Liberal Drift of Multilevel Gover-nance, Routledge, London.Preunkert, J. (2009): Chancen für ein sozi-ales Europa?, VS Verlag für Sozialwissen-schaften, Wiesbaden.Sachverständigenrat (2010): Sachverstän-digenrat zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2010/11. Chancen für einen stabilen Auf-schwung. Spahn, P. (2011): Die Schuldenkrise der Europäischen Währungsunion. Verv. Ms., Link: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07686.pdfTherborn, G./Joop, R. (1986): “The Irre-versible Welfare State. Its Recent Matu-ration, its Encounter with the Economic

Crisis, and its Future Prospects”, in: Inter-national Journal of Health Services, Vol. 16, No. 3, S. 319-338.Vobruba, G. (1983): Politik mit dem Wohl-fahrtsstaat, Suhrkamp, Frankfurt am Main.Vobruba, G. (2005): “The Irreversible Wel-fare State Within the Globalization Dilem-ma”, in: Cantillon, Bea/Marx, Ive (Hrsg.): International Cooperation in Social Security. How to Cope With Globalization?, Intersen-tia, Antwerpen/Oxford, S. 81-91.Vobruba, G. (2007): Die Dynamik Europas, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wies-baden.

Rezension

A. Mitte

rle

23

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Dr. Almut Wieland-Karimi zur Frage, was die Finanzkrise für die Zukunft der UN-Frie-denseinsätze bedeutet, über Alternativen zu UN-Truppen und die UN-Mission in Afgha-nistan. >Wieland-Karimi promovierte in den neunzi-ger Jahren zu Afghanistan und leitete von 2003 bis 2005 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul. Seit 2009 ist sie Direktorin des Ber-liner Zentrums für Internationale Friedensein-sätze (ZIF), einer Vorfeldorganisation des Aus-wärtigen Amtes, die für die Rekrutierung von deutschen zivilen Experten für Missionen der internationalen Organisationen, wie etwa der UN, zuständig ist. >Powision: Sind umfangreiche Einsät-ze der UN und anderer internationaler Organisationen, angesichts unter Druck geratener Haushalte überhaupt noch fi-nanzierbar? >Wieland-Karimi: Die Krisen und Kon-flikte, die entstehen, orientieren sich natür-lich nicht an den Finanzen, die zur Verfügung stehen. Aber die Finanzkrise bewirkt natür-lich schon, dass den internationalen Organi-sationen und damit auch dem Peacekeeping weniger Mittel zur Verfügung stehen. Trotz-dem ist UN-Peacekeeping im Verhältnis zu allen anderen Instrumenten, die wir kennen, um sich mit gewaltsamen Auseinanderset-zungen zu beschäftigen, ein kostengünstiges Mittel. Und es gibt auch keine wirklichen Al-ternativen dazu, außer hohen ökonomischen und humanitären Kosten, die entstehen, wenn man die Konflikte nicht bearbeitet. Wir brauchen deshalb trotz Finanzkrise antizy-klische Investitionen in die UN und die UN-Friedensmissionen. Diese These wird gerade überrollt durch die aktuelle Entwicklung im Nahen Osten, wo ganz klar ist, dass es inter-nationale Unterstützung für diese Transfor-mationsprozesse braucht. Ich bin sicher, dass es trotz Finanzkrise Investitionen in die Kon-fliktregion geben wird, weil es einfach von immanentem Interesse ist, diese Konflikte

almutwieland-

karimi

„Ist der politische Wille da, werden auch die Mittel

bereitgestellt, um ihn umzusetzen“

ohne Gewalt zu transformieren und weiter-hin auch Nachbarstaaten zu haben, in denen es Stabilität gibt und möglichst auch einen demokratischen Prozess. >Powision: Wie sieht es mit laufenden UN-Operationen aus? Ist da ein schrump-fendes Engagement von Deutschland oder etwa Japan zu erwarten, also den großen Beitragszahlern bei UN-Friedensmissio-nen? >Wieland-Karimi: Da gibt es natürlich Verpflichtungen, welche die Länder schon eingegangen sind. Diese Verpflichtungen werden Staaten wie Deutschland oder Japan auch einhalten. Aber im Sudan zum Beispiel hat jetzt das Referendum stattgefunden und die UNMIS1 wird im Juli auslaufen. Dann werden die Finanzen sicherlich auch eine Rolle spielen bei der Überlegung, ob es eine Anschlussmission geben und wenn ja, ob die-se nur im Süden Sudans oder auch im Norden durchgeführt wird. >Powision: Und wie sehen Sie die Rolle der emerging powers, wie China, Brasilien und Indien, die ja inzwischen durchaus die ökonomischen Möglichkeiten hätten, sich zu beteiligen, finanziell aber noch immer kaum zu UN-Missionen beitragen? >Wieland-Karimi: Da gibt es große Hoff-nung, dass diese Länder sich stärker betei-ligen werden. Die Chinesen haben ja auch schon einige konkrete Schritte unternom-men, einen größeren Beitrag zu leisten. Davon versprechen sich auch diejenigen, die bis jetzt die Hauptlast tragen, also Länder aus dem Westen und Japan, dass es in Zukunft eine größere Lastenverteilung geben wird. Was in dem Zusammenhang wichtig ist zu über-legen: Es gibt einerseits die finanzielle Betei-ligung der Mitgliedsstaaten und andererseits die Frage, woher die Truppen kommen. Hier ist es so, dass bestimmte Länder die Truppen stellen und andere ausschließlich finanzielle Beiträge leisten. Das ist ein – vorsichtig aus-gedrückt – ungesundes Verhältnis.

1 United Nations Missions in Sudan

6frieden

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>Powision: Inwiefern? >Wieland-Karimi: Weil die Truppen vor allem aus Südasien, Indien, Pakistan, Nepal kommen und sich zum Teil über die Beiträ-ge finanzieren. Wir hingegen bezahlen die-se Truppen, haben aber keine boots on the ground, wie das so schön heißt. Wir können also kaum verfolgen, was genau vor Ort pas-siert und verlieren so Gestaltungsmöglich-keiten. Zudem gibt es ebenso Länder, die sich beschweren, dass immer nur südasia-tische Truppen eingesetzt werden, die zum Teil gut, zum Teil aber auch weniger gut aus-gebildet sind. >Powision: Welche Alternativen gibt es denn zu kostspieligen militärischen Ein-sätzen? >Wieland-Karimi: Neben den Peace-keeping-Missionen gibt es die politischen Missionen und es gibt Integrated Peacebuil-ding Offices. Beide Modelle funktionieren aber nicht in der sogenannten „heißen Pha-se“, denn Gewalt kann man nicht mit zivilen Experten unterbinden, sondern nur mit Mili-tärs die sich zwischen rivalisierende Gruppen stellen. Aber es gibt Situationen, in denen politische Missionen eine sehr positive Rolle spielen können, beispielsweise das Integra-ted Peacebuilding Office in Sierra Leone. >Powision: Wo sehen Sie die Vorteile gegenüber „traditionellen“ Blauhelm-Missionen? >Wieland-Karimi: Der Vorteil, der auf der Hand liegt, ist natürlich die Frage der Kosten. Häufig kosten solche politischen Missionen drei bis fünf Prozent von einer Peacekeeping-Mission, die eben sehr aufwendig ist. Ich glaube aber nicht, dass man Peacekeeping-Missionen und politische Missionen gegenüber stellen kann, denn es kommt auf die Rahmenbedin-gungen in dem Land an, in dem eine Mission stattfinden soll. Es gibt Situationen, in denen es keine offene gewalttätige Konfrontation gibt. Dann machen politische Missionen sehr viel Sinn. Manchmal braucht man also die mi-litärische Komponente von vornherein nicht. Aber es gibt kein Patentrezept dafür. Wenn ir-gend möglich, würden wir eine politische Mis-sion bevorzugen, ohne die teure militärische Komponente, aber letztlich hängt alles von der Situation im Konfliktland ab.

„Es ist ein Mythos, dass alle Soldaten 2014 aus Afghanis-tan abziehen werden.“

>Powision: Wie ist das denn zum Bei-spiel mit UNAMA, also der UN-Mission in Afghanistan, die keine eigene militärische Komponente hat und mit rund 500 Milli-onen Euro im Jahr vergleichsweise güns-tig ist? Ist diese Mission denn überhaupt eigenständig handlungsfähig? Immerhin profitiert sie von der Präsenz anderer aus-ländischer Militärs. >Wieland-Karimi: Natürlich kann UNA-MA nur deshalb eine politische Mission sein, weil die NATO mit der ISAF-Truppe vor Ort ist. Gäbe es die ISAF nicht, welche die mili-tärische Verantwortung übernommen hat, könnte die UNAMA auch keine politische Mission sein. Da existiert eine Arbeitsteilung zwischen beiden Missionen. Was die Hand-lungsfähigkeit angeht, ist das eindeutig eine Herausforderung, wenn der militärische und der politische Zweig nicht unter einem Dach sind. Denn klassischerweise ist der militäri-sche Zweig viel stärker, weil er über viel mehr Menschen, viel mehr Logistik und viel mehr finanzielle Mittel verfügt als der politische. Über diese Komponenten hinaus ist so eine militärische Mission natürlich auch mächtiger. UNAMA hat zwar ein anderes Mandat, näm-lich die Koordinierung des Aufbauprozesses in Afghanistan, aber da sie für die Sicherheit vor Ort nicht selbst sorgen kann, ist sie nicht immer ein gleichberechtigter Partner mit der ISAF. Die große Herausforderung in Afghanis-tan ist ganz klar die Koordination zwischen den vielen internationalen Akteuren. >Powision: Bereits jetzt ziehen Teile der ISAF ab. Braucht UNAMA, wenn die-ser Abzug einmal abgeschlossen ist, eine eigene militärische Komponente? >Wieland-Karimi: Es gibt ja die Vorstel-lung, dass der Abzug bis 2014 erfolgen soll. Ich bin fest davon überzeugt, dass nicht alle Soldaten abziehen werden, sondern dass, analog zum Irak, diejenigen, die mit Trainings befasst sind, dort bleiben werden und der Schutz internationaler Einrichtungen weiter von Seiten internationaler Militärs gewähr-leistet wird. Ich kann mir aber nicht vorstel-len, dass aus der politischen Mission UNAMA eine Peacekeeping-Mission wird. Ich kann mir eher vorstellen, dass die bisherige Arbeitstei-lung weiter bestehen bleibt, nur in einem sehr viel kleineren Rahmen. Es ist ein Mythos, dass alle Soldaten 2014 aus Afghanistan abziehen werden. Das wird nicht passieren. Die ISAF wird kleiner, die UNAMA wird, unter diesem Mandat oder unter einem anderen, wohl noch eine ganze Zeit lang im Land bleiben.

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>Powision: Kann die Finanzkrise trotz-dem eine Chance für die zivile Lösung des Konflikts in Afghanistan sein? Wenn eini-ge Truppensteller aus Kostengründen aus Afghanistan abrücken, könnte das nicht die Handlungsfähigkeit der UNAMA er-höhen und politische Lösungen in den Vor-dergrund stellen? >Wieland-Karimi: Im Moment ist es so, dass die Kanadier abziehen, die Holländer dafür wieder zurück kommen und insgesamt die Truppenzahl trotz der Finanzkrise nicht geringer wird. Es gibt eine Planungszahl der NATO, die von der militärischen Situation vor Ort ausgeht. Dass diese Zahlen herunter-gehen werden, ist eine politische Entschei-dung. Ich wäre vorsichtig, ob die Finanzen tatsächlich eine so große Rolle spielen. Wenn man sich die Fälle ansieht, also Holland und Kanada, dann sind das ganz politische Dis-kussionen, genau wie bei uns in Deutsch-land. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, ob das Militär die Situation stabilisieren kann. Ist der politische Wille da, werden auch die Mittel bereitgestellt, um diesen umzusetzen. Insgesamt glaube ich aber, dass der Höhe-punkt von Friedensoperationen mit allein 120.000 Truppen im Einsatz für die UN über-schritten ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Zahlen – global gesehen – noch weiter ansteigen. >Powision: Lassen Sie uns noch kurz über die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten spekulieren: Können Sie sich vor-stellen, dass die UN Missionen dorthin entsendet? >Wieland-Karimi: Das ist in der Tat sehr spekulativ. Ich könnte mir vorstellen, dass relativ viel Regionalexpertise durch die Afri-kanische Union und die Arabische Liga mit einbezogen wird. Sicher wird sich auch die EU in der einen oder anderen Form beteili-gen. UN-Truppen sehe ich dort keine. >Powision: Wie ist es denn mit politi-schen Missionen? Die würden sich doch anbieten? >Wieland-Karimi: Für Tunesien, die Golf-staaten oder Ägypten wären politische Mis-sionen sinnvoll. Ich glaube aber nicht, dass das passiert. Ob politische oder militärische Mission hängt wie gesagt immer davon ab, wie die Situation vor Ort ist. >Powision: Vielen Dank für das Ge-spräch.Die Fragen stellte Toni Kaatz-Dubberke.

Finanzen

Souveränität

P. Spahn

A. Trültz

sch

P. Kuzev

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Ein mazedonischesStimmungsbildDie Abschaffung des Visa-Regimes für die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedo-nien (FYROM)1 fiel 2009 mit dem zwanzig-jährigen Jubiläum des Mauerfalls zusammen. Wohin aber steuert der Staat, der als erster in der Region das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (EU) unterzeichne-te? Die Antwort ist eindeutig: Während die anderen Balkanländer Fortschritte machen, ist das Land mit einer Situation konfrontiert, die es seit 20 Jahren in einer Art Dauerkrise gefangen hält – dem Streit mit Griechenland über den Namen Mazedonien. Dieses Prob-lem ist einzigartig und für unabhängige Be-obachter schwierig nachvollziehbar. Grund-sätzlich wird um den verfassungsmäßigen Namen des Landes, das sich selbst „Maze-donien“ nennt, gerungen. Durch historische, nationalistische aber auch machtpolitische Erwägungen hat sich der Streit mit dem Nachbarn Griechenland soweit verfestigt, dass eine konstruktive Einigung momentan kaum möglich erscheint. Abstrakt betrachtet könnte der Namensstreit in einer stabilen geopolitischen Umgebung ignoriert werden. Das ist aber in der konkreten Situation nicht der Fall. Mazedonien ist ein multiethnischer Staat, der von weit mächtigeren Nachbarn umkreist und wirtschaftlich abhängig ist. >Erstaunlich dabei ist, dass in dieser kom-plizierten Situation Mazedonien die einzige Republik des ehemaligen Jugoslawiens ist, welche ihre Unabhängigkeit auf friedliche Art und Weise erlangte. Außerdem unter-streicht die in der bürgerlichen Verfassung Mazedoniens gefundene Einigung das Prin-zip der Inklusivität der unterschiedlichen ethnischen Gemeinschaften.2 Zwar wirkten sich die Entwicklungen der Kosovo-Krise indirekt auf das Land aus und führten zeit-weilig zu innenpolitischer Destabilisierung. Diese gipfelte in kriegerischen Auseinander-

setzungen mit der lokalen albanischen UÇK im Jahre 2001, doch gelang es dem Land, deutliche Fortschritte zu machen, trotz der sichtbaren Spuren des Krieges. Das Rahmen-abkommen von Ohrid (2001) bezeugt diese Bestrebungen: Als einziges in allen Teilen funktionales Abkommen in einem ehemali-gen Krisengebiet legte es den Grundstein für eine multikulturelle Gesellschaft und kann als Modell auch für die Mitgliedsländer der EU gelten. Unabhängig betrachtet gab es also nicht nur positive Voraussetzungen für einen EU-Beitritt in der Reihe weiterer ost-mitteleuropäischer Länder 2004, sondern es wäre auch ein unterstützender Schritt zur innenpolitischen Stabilisierung gewesen. >Dass dies nicht geschah, lag zum einen an der völkerrechtlichen Isolierung und dem Widerstand Griechenlands (vgl. Kofos, 1999), die sich beide aus der Namensproblematik er-geben. Historisch betrachtet musste Mazedo-nien 1991, als Bedingung für die Aufnahme in die Vereinten Nationen (UNO), auf seinen verfassungsmäßigen Namen verzichten und seitdem die Referenz Former Yugoslav Re-public of Macedonia (FYROM) verwenden, solange keine Lösung gefunden wird. Im Prinzip handelte die UNO gar indirekt gegen geltendes Völkerrecht in Form des Artikels 4 ihrer eigenen Charta, indem sie ein zusätzli-ches Kriterium (Änderung des Namens) für die Anerkennung eines Staates schuf. >Für Mazedonien war diese Übergangs-lösung allerdings der einzige Weg, interna-tionale Anerkennung zu erlangen. Einer der Kernpunkte des bilateralen Interimsabkom-mens, das im Jahre 1995 mit Griechenland geschlossen wurde und die Beziehungen weitgehend normalisierte, war die Verpflich-tung, den Beitritt Mazedoniens zu interna-tionalen Organisationen unter der temporä-ren Bezeichnung nicht zu blockieren. >Mit dem Beschluss des NATO-Gipfels 2008, der unterstrich, dass Mazedonien alle Beitrittskriterien erfülle, zeigte sich aller-1 Während eine völkerrechtliche Klärung des Namensstreits

noch auf sich warten lässt, haben 121 Staaten (darunter Russ-land, die USA und China, nicht aber die Mitgliedsländer der Eurpäischen Union) sich darauf geeinigt FYROM in bilateralen Verhandlungen als „Republik Mazedonien“ zu bezeichnen. Im folgenden wird der Einfachheit halber die Bezeichnung „Mazedonien“ geführt – siehe auch Fn. 5.

2 In Mazedonien leben neben ethnischen Mazedoniern (ca. 60%) vor allem Albaner (ca. 30%), Türken (ca. 4%), Serben (1%), Roma und Sinti (3 %) sowie romanischsprachige Aromunen (ca. 1%), die alle als staatstragendeNationalitäten anerkannt sind. Daher ist der Begriff der Minderheit an sich ungeeignet, um ihren rechtlich-politischen Status zu beschreiben.

pencho kuzevarno

trültzsch

Die griechisch-mazedonische

Dauerkrise: ein spannender Frieden

7souveränität

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dings die relative Machtlosigkeit Mazedoni-ens, selbst wenn es sich den auferlegten Kri-terien beugen würde: Sowohl auf dem Gipfel als auch in der eigentlich positiv beschiede-nen EU-Beitrittsfrage nutzte Griechenland seine Position, um den Beitritt unter der Re-ferenz FYROM zu blockieren. >Das Verhalten Griechenlands zeigt, dass eine Zustimmung dafür, dass im neuen Na-men das Wort „Mazedonien“ enthalten sein dürfe, als äußerster Kompromiss zu verste-hen ist. Die griechische Politik fordert dabei einen komplexen Namen mit einer geogra-fischen Differenzierung. Hauptargument in dieser Positionierung ist das griechische Empfinden, der nördliche Nachbar würde illegitimerweise einen Teil der griechischen Geschichte für sich beanspruchen. Die grie-chische Argumentation folgt hierbei der Begründung, dass die Bezeichnung „Maze-donien“ ihren Ursprung in der griechischen Hochkultur der Antike habe, während die Population der FYROM auf „rein“ slawische Wurzeln zurückgehe.3 Somit könne nur die nordgriechische Region Makedonien4 als Trä-ger dieses Namens und Erbes gelten. Außer Acht bleibt in dieser Argumentation, dass die heutigen Nationen – inklusive der griechi-schen – erst im 19. Jahrhundert entstanden sind und die (Teil-)Region erst seit 1913 zum griechischen Staat gehört. Von daher scheint es fragwürdig, eine ethnisch-kulturelle Kon-tinuität der Völker aus dem vierten Jahrhun-dert v. Chr. bis zum heutigen Zeitpunkt zu ziehen. Ebenso unberücksichtigt bleibt die Frage, wieso das Gebiet der heutigen Repu-blik Mazedonien in osmanischer Zeit ebenso zur Großregion Makedonien gehörte. >In den letzten Monaten wurde ein mög-licher neuer Name immer häufiger genannt: Northern Republic of Macedonia. Auch hier scheinen die griechischen Bedingungen nicht erfüllt, da Griechenland - neuerdings wieder nachdrücklicher - fordert, dass weder Spra-che noch Nationalität des Nachbarn als „ma-zedonisch“ definiert werden dürften, und der neue Name erga omnes verwendet werden solle. Vielmehr unterstreicht die griechische Seite ihre Exklusivität über die Antike als Erbe der heutigen Griechen und fordert von Mazedonien den Gebrauch von (neu-)grie-chischen Ortsnamen in der griechischen Re-gion Makedonien (statt der bisher üblichen historischen mazedonischen oder türkischen Bezeichnungen). >Progressive und pragmatische Stimmen in Mazedonien sehen eine mögliche Na-

mensänderung als einen schmerzhaften aber nötigen Kompromiss an. Die Bezeichnung der Sprache und der Nationalität werden je-doch als sogenannte „rote Linien“ definiert, die unter keinen Umständen zur Disposition stehen. Die verweigerte Mitgliedschaft in der NATO rief dabei Enttäuschung hervor, weil weniger die staatsbildenden Leistungen und Anstrengungen entscheidend waren, sondern das Selbstempfinden der meisten Bürger des Landes als „Mazedonier“ negativ quittiert wurde. Paradoxerweise führte gerade die griechische Blockadehaltung dazu, dass sich die albanischen mit den ethnisch mazedo-nischen Bürgern des Landes solidarisierten. Dieser kurzfristige positive Kohäsionseffekt spiegelte sich auch in den Verlautbarungen einiger albanischer Politiker in Mazedonien wider. Sie verurteilten die Ergebnisse von Bukarest und verteidigten die mazedonische nationale Identität. Alle anderen Ergebnisse des Gipfels in Bukarest geben Anlass zur Sor-ge, denn seit jenem April 2008 ist eine Reihe negativer Reaktionen auf die griechische Blo-ckade zu beobachten (vgl. Trueltzsch, 2010). Diese lassen sich wie folgt diagnostizieren: 1) das Erstarken der rückwärtsgewandten Kräf-te im Lande und 2) eine neuerliche Blüte des Nationalismus. >Durch die ungelöste Namensfrage wur-den des Weiteren die EU-Beitrittsverhand-lungen eingefroren, was die Situation zusätz-lich dramatisierte. Obwohl das NATO-Veto Griechenlands allgemein einen kohäsiven Effekt auf die Bürger Mazedoniens hatte, spaltete die Tatsache, dass vorerst auch kei-ne Verhandlungen mit der EU aufgenommen wurden, nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die Meinungen der Bürger. Dies geschah mehr als je zuvor entlang ethni-scher und religiöser Trennlinien. Die Schuld an dieser scheinbar ausweglosen Situation ist auch bei der mazedonischen Regierung zu suchen. Das liegt vor allem an ihren Re-aktionen auf die Problematik. So legitimiert beispielsweise die sogenannte „Antikisie-rung“ (antikvizacija) 5 zum Teil die griechi-sche Blockade vor der europäischen Öffent-lichkeit. Unter der Maske des Patriotismus werden megalomane Projekte realisiert, die das nationale Selbstbewusstsein stärken sol-len. Diese reichen von der Errichtung neuer Denkmäler antiker Helden über orthodoxe Kirchenneubauten bis hin zur Finanzierung von patriotischen Liedern. Selbst das Projekt „Skopje 2014“ schließt unter anderem ein gi-gantisches Denkmal Alexanders des Großen

3 Diese Position wird mehr oder weniger akzentuiert vertreten; Grundkonsens ist aber, dass der nördliche Nachbar möglichst nicht den Namen „Makedonien/Mazedonien“ führen sollte (vgl. Zahariadis 1994 sowie Kofos 2005).

4 Im Deutschen kann man sehr hilfreich zwischen „Mazedo-nien“ als Staat und „Makedonien“ als historischer (und heute zum Teil griechischer) Region unterscheiden. In den jeweiligen Landessprachen oder auf Englisch ist das aber nicht möglich.

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sowie einen Triumphbogen ein. Zwar hat je-des Volk ein legitimes Recht darauf, gefun-dene historische Artefakte zu präsentieren, Denkmäler zu bauen und unterschiedliche Einrichtungen nach eigener Wahl zu benen-nen. Jedoch stellt sich die Frage nach Um-fang und Zweckmäßigkeit sowie der Wahl der richtigen Zeitpunkte für eine solche Po-litik. Schließlich verpflichtete sich das Land im Interimsabkommen von Maßnahmen abzusehen, die für den Verhandlungsprozess schädlich sind. Und dachte man gerade, das Land befinde sich bei den interethnischen Beziehungen auf dem richtigen Kurs, be-unruhigt jener Antike-Trend auch noch die ethnischen Albaner des Landes, die wieder-um eine Majorisierung und ethnozentrische Dominanz erkennen wollen. Als Antwort stellen die Albaner nun eigene Forderungen nach neuen religiösen und Heldendenkmä-lern aus ihrer Geschichte, einschließlich der Würdigung von UÇK-Kämpfern. Dies sorgt für neue Spannungen zwischen den Ethnien. Dass die Situation stabil ist, dem widerspre-chen die neusten Entwicklungen. Mit den im Juni anstehenden Neuwahlen wird immer deutlicher, dass die Loyalität der albanischen Minderheit beim Namensstreit nachlässt. >Die Enttäuschung in der mazedonischen Öffentlichkeit ist so groß, dass sogar manche national gesinnte Journalisten und Wissen-schaftler wie Aleksandar Damovski bereits von Alternativen für die Mitgliedschaft in der EU und NATO gesprochen haben, ohne dabei zu erklären, was diese Alternativen wä-ren (vgl. ebd., 55–60). Dies geht einher mit einem Wiederaufleben des Nationalismus. Diese Art des Nationalismus kann man in-sofern als „verspätet“ bezeichnen, als er in dieser zunehmend aggressiven Form typisch für die anderen ehemals jugoslawischen Re-publiken in den neunziger Jahren war, nicht aber für Mazedonien. >Außerdem wird erneut Kriegstermi-nologie im politischen Diskurs verwendet. Während die albanische Partei in der Regie-rung eher mildere Töne anschlägt, sendet ihr Kontrahent aus der Opposition drohende Signale. Nach dem politischen Bypass des Rahmenabkommens6 kann sich Mazedonien jedoch keinen zweiten in so kurzer Zeit leis-ten. Eine Mitgliedschaft in der NATO und die Aussicht auf einen Platz in der EU könnten dabei helfen, die Stabilität des Staates abzu-sichern. Eine eventuelle neue Destabilisie-rung könnte jedoch regionale Domino-Effek-te auslösen. Von kleineren Zwischenfällen im

Süden Serbiens, über Unruhen im Kosovo, bis hin zur allgemein angespannten Situati-on im Dayton-Bosnien zeugt die Region von keiner sonderlichen Stabilität. Es bleibt abzu-warten, wie sich die Position des derzeit arg krisengeschüttelten Griechenlands und der anderen europäischen Staaten entwickelt. Mit einer unter allseitigem Einverständnis herbeigeführten Lösung würde in jedem Fall ein nachhaltiger Beitrag geleistet, um eine dauerhafte Sicherung des Existenzrechts Mazedoniens zu gewährleisten. Die Lösung des Namensstreits, oder zumindest ein vorü-bergehender beidseitiger Kompromiss bis zu einer profunden bilateralen Klärung, würde der ganzen westlichen Balkanregion eine po-sitive Perspektive bieten. >Bislang allerdings, fern einer Lösung dieses Problems, also ohne eine (ehemals jugoslawische) Republik Mazedonien in EU und NATO, zeichnet sich für die ganze Regi-on ein spannungsvoller und krisenbehafteter Frieden ab.

>LITERATURKofos. E. (2005): „The Unresolved ‚diffe-rence over the name’ – a Greek perspec-tive“ in: ders. u. V. Vlasidis (Hrsg.): Athens-Skopje: An Uneasy Symbiosis 1995-2002, Hellenic Foundation for European and Foreign Policy, Athens , pp. 125-223.Kofos, E. (1999): „Greece’s Macedoni-an Adventure: The Controversy over FYROM’s Independence and Recogniti-on“, in: J.Pettifer (Ed.): The New Macedoni-an Question, Palgrave Macmillan, Hounds-mills/New York.

6 Das Rahmenabkommen räumte den ethnischen Gemeinschaften (nicht „Minderheiten“) sehr weitgehende politische und kulturelle Autonomie auf lokaler wie gesamtstaatlicher Ebe-ne ein, vor allem den Albanern. Es sollte einen historischen Neuanfang im gleichberechtigten Zusammenleben aller Ethnien geben. Daher rührt die drastische Bezeichnung „Bypass“.

5 Seit dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten N. Gruev-ski 2006, mit Nachdruck aber eben seit 2008, nimmt der Einfluss dieses geschichtspolitischen Phänomens, scherzhaft auch bukefalizam (nach Bukephalos, dem Pferd Alexanders des Großen) zu, speziell in Form monumen-taler neoklassizistischer Bauten, sowie der anachronis-tischen Annahme historischer Verbindungen zwischen den antiken Makedonen und den heutigen Mazedoniern. Solcher „Neomakedonismus“ hat seinen Kern im griechi-schen Nationalismus um 1900, um die Bevölkerung des osmanischen Makedonien über eine angebliche Herkunft von den antiken Makedonen zu hellenisieren. Das wird aber bewusst ausgeblendet, da damit Verluste aus dem Zusammenbruch Jugoslawiens, welches für ein geeintes, sozialistisches Südslawentum stand, mit der Zugabe eines antiken Kontexts zum eigenen Makedonismus kompen-siert werden sollen. Diese unglücklichen Anmaßungen provozieren die griechische Seite, aus der diese Kontex-tualisierung der Antike ja stammt, und überschatten seitdem jeden Lösungsversuch des Namensstreits. – vgl. Trültzsch 2010: 38.

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Trültzsch, A. (2010): Territorium, Nation, Identität: Mazedonien und Griechenland im Namensstreit – eine Diskursanalyse anhand ausgewählter mazedonischer Tageszeitungen, unveröff. B.A.-Arbeit, Halle/Wittenberg.Zahariadis, N. (1994): “Nationalism and Small State Foreign Policy: The Greek Re-sponse to the Macedonian Issue” in: Poli-tical Science Quarterly, Vol. 109, No. 4, pp. 647–668.>ZUM WEITERLESENTroebst, S. (2007): Das Makedonische Jahr-hundert: Von den Anfängen der Nationalre-volutionären Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893 – 2001, München, Oldenburg.

Gesellschaft

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Wetterextreme wie Dürren und Über-schwemmungen, eine Erwärmung der Mee-re, schmelzende Gletscher und Polkappen und ein dadurch ansteigender Meeresspiegel: Dies sind nur einige Beispiele dessen, was der Globus angesichts der globalen Erwärmung zu erwarten hat. Zwar ist ein Wandel des Kli-mas für das Ökosystem Erde zunächst nichts Neues – Klimaerwärmungen und Eiszeiten gab es in den vergangenen Jahrtausenden zu Genüge. Heutzutage erweist sich die Menschheit jedoch gegenüber politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aus-wirkungen als ausgesprochen verwundbar. >Beim Problem des Klimawandels geht es für die Menschheit um nichts weniger als die Frage der Gerechtigkeit im Treibhaus (Ott & Brouns, 2004; Santarius, 2007). Die Definition einer nachhaltigen Entwicklung wie sie die Brundtlandt-Kommission 1987 formuliert hat, macht diesen Gerechtig-keitsaspekt deutlich. Wir müssen die globale menschliche Entwicklung so gestalten, dass die „Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt [werden], ohne zu riskieren, daß zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ 150 Jahre Industriali-sierung und der damit verbundene Anstieg der Treibhausgasemissionen führten in den industrialisierten Staaten zu Wachstum und Wohlstand. Gleichzeitig trifft der mit dieser Wohlstandsentwicklung verbundene Klima-wandel und dessen Folgewirkungen – z.B. der Anstieg des Meeresspiegels – in erster Linie besonders verwundbare Entwicklungsländer wie z.B. tiefer gelegene Küstengebiete wie Bangladesch oder Inseln wie die Mitglieder der Alliance of Small Island States (AOSIS). Die Menschen in diesen Ländern konnten an der Wohlstandsentwicklung der industria-lisierten Welt aber bis dato nicht teilhaben. Für eine global nachhaltige Entwicklung, die auch der Bevölkerung in Entwicklungs- und Schwellenländern angemessene Lebensbe-dingungen ermöglicht, wird angesichts der

hanna scheck

Klimakrise! – oder einfach nur „Das

Ende der Welt, wie wir sie kannten“?

natürlichen Grenzen des Wachstums immer stärker deutlich, dass die in den westlichen Industrienationen eingeschlagenen Entwick-lungspfade nicht globalisierbar sein werden. Der Aufholbedarf in Entwicklungsländern wird – verfolgen sie ähnliche Entwicklungs-pfade – zwangsläufig auch zu einer Verschär-fung des Klimawandels und zur Knappheit von Ressourcen führen. >Drei in der Nachhaltigkeitsdebatte ver-ankerte Prinzipien müssen für die Realisie-rung einer global nachhaltigen Entwicklung handlungsleitend sein: Das Verursacherprin-zip, das Vorsorgeprinzip und das Prinzip der gemeinsamen aber differenzierten Verant-wortung. Sie erfordern das Aufzeigen nach-haltiger Entwicklungspfade in den indus-trialisierten Staaten, die als Leitbild dafür dienen können, dass Wohlstand auch ohne eine exzessive Inanspruchnahme und Belas-tung von Klima und Ressourcen möglich ist. >In der internationalen Klimadiplomatie anerkannt ist seit dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen das Zwei-Grad-Ziel, d.h. eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 2° Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Dies ist das Minimalziel, um die Folgewir-kungen des Klimawandels für die Mensch-heit beherrschbar zu halten. Die Einhaltung dieses Ziels bedeutet nach den Berechnungen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundes-regierung für globale Umweltveränderungen für die Reduktion der anthropogenen Treib-hausgasemissionen: ◊ Ein globales Budget von 750 Mrd. Tonnen CO2 für die Jahre 2010-2050 ◊ und daraus folgend ein pro Kopf-Budget von jährlich 2,7 Tonnen CO2, und das zu-nächst ohne Berücksichtigung des Bevölke-rungswachstums(!) (WBGU, 2009) Das bedeutet für einen Durchschnitts-Deut-schen eine Reduktion seiner pro Kopf-Emis-sion auf weniger als ein Viertel dessen, was er heute an CO2 verursacht – nämlich 12 Tonnen. Ein US-Amerikaner müsste seinen

8klima

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pro-Kopf-Ausstoß auf ein Neuntel – von heu-te etwa 23,5 Tonnen pro Kopf – senken. Ein Chinese müsste seine heutigen 5,5 Tonnen halbieren, ein Inder hätte noch 1 Tonne zur Verfügung. Diese Zahlen machen deutlich, dass wir zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels vor einem einschneidenden Transformati-onsprozess stehen. >Diese Transformation kann unter an-derem durch klimafreundliche und effizi-ente Technologien erleichtert werden – z.B. durch den Einsatz erneuerbarer Energien. Die Vision einer 100% erneuerbaren Ener-gieversorgung wird aber nur im Verbund mit Energieeffizienz und -einsparungen realisier-bar sein. Das Problem hierbei ist, dass die in vielen Bereichen erzielten Effizienzerfolge in der Vergangenheit auf Grund eines erhöhten Konsums oder der Verlagerung des Konsums in weniger klimafreundliche Bereiche nur unzureichend abgeschöpft werden konnten. Motoren werden zwar effizienter, die Autos insgesamt aber größer und steigen in der Anzahl; dadurch wird das Potenzial absolu-ter Einsparungen wieder „aufgefressen“ (so genannter Rebound-Effekt). Hinzu kommt, dass mit vermeintlich klimafreundlichen Technologien Problemverschiebungen in an-dere Bereiche stattfinden, die ebenfalls ne-gative Auswirkungen haben. Beispiel hierfür sind Biokraftstoffe, deren Nachhaltigkeitsbi-lanz auf Grund drohender verschärfter Land-nutzungskonkurrenzen mit der Nahrungs-mittelproduktion berechtigterweise in Frage gestellt wird. Und auch die „saubere“ Kern-energie stellt langfristig – das führen uns die aktuellen Ereignisse in Japan, 25 Jahre nach Tschernobyl, erneut schmerzlich vor Augen – keine nachhaltige Option für eine klima-freundliche Energieversorgung dar. >Rebound-Effekte und nicht nachhaltige Problemverschiebungen in andere Umweltbe-reiche machen deutlich, dass systemoptimie-rende Lösungen wie Energieeffizienz durch gänzlich innovative Gesamtsystem-Lösungen ergänzt werden müssen. Grundlegende Inno-vationen – wie z.B. urbane Mobilitätskonzepte, die auf elektrobasiertes Car Sharing, Fahrrad-verleihsysteme und öffentlichen Nahverkehr setzen – sind aber immer eingebettet in gesell-schaftliche Strukturen. Diese „radikalen“ Neue-rungen entfalten ihre Nachhaltigkeitswirkung immer erst in ihrem Zusammenspiel mit der „gesellschaftlichen Akzeptanz und Nutzung [...], sowie entsprechenden Konsum- und Ver-haltensmustern.“ (Grunwald, 2003: 13). Die Konsequenz ist, dass Wandel nicht mehr rein

technologisch gedacht werden kann, sondern im Verbund mit gesellschaftlichen Entwick-lungen als sozio-technischer Wandel begriffen werden muss. >Diese gesellschaftspolitische Seite des für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels not-wendigen, tiefgreifenden sozio-technischen Wandels bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen Kulturwandel (Leg-gewie & Welzer, 2009). Die Vision eines blauen Himmels über der Ruhr, wie sie Willy Brandt im Bundestagswahlkampf von 1961 formulierte, konnte durch von einem „star-ken“ Staat ordnungsrechtlich vorgegebene Regelungen und vergleichsweise einfache, nachgeschaltete Technologien wie z.B. Filter-anlagen realisiert werden. Die Vision einer postkarbonen Gesellschaft – einer Low Car-bon Society – erfordert auf Grund ihrer sub-stanziellen Reichweite „radikal veränderte soziale, politische und kulturelle Parameter“ (Leggewie & Welzer, 2009: 13). >Grundlegende Nachhaltigkeitslösungen beinhalten klima- und ressourcenfreundli-che Produktions- und Konsummuster sowie ein Wohlstandsmodell, das nicht nur auf ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts setzt. Hierfür gibt es keine universellen Blaupau-sen. Um diesen fundamentalen Werte- und Kulturwandel herbeizuführen, kommt die Politik nicht um ein verändertes Selbst-verständnis herum, denn die Einflussmög-lichkeiten und Machtressourcen für diesen Wandel sind gesamtgesellschaftlich verteilt: Jeder einzelne Konsument entscheidet über das, was er kauft, Unternehmensstrategi-en können klimafreundlich oder – feindlich ausgerichtet sein, die Politik kann mehr oder weniger ambitionierte Ziele verabschieden oder bestimmte Forschungsbereiche und Technologien fördern. Es wird deutlich, dass rationale politische Steuerung die Kohärenz dieser Einzelfaktoren nicht wird leisten können. Die Politik kann aber den Rahmen schaffen für eine interaktive Strategieent-wicklung, die Betroffene und Beteiligte aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivil-gesellschaft integriert (Voß, 2008). >Der Weg ist nicht einfach und er ist nicht vorgezeichnet. Das zeigt auch die in Deutschland wieder aufgeflammte Atomdis-kussion nach den Ereignissen in Japan. Die Ausgestaltung unserer zukünftigen Ener-gieversorgung braucht einen gesamtgesell-schaftlichen Diskurs – über Energieeffizienz und – einsparungen in Industrie und Haus-halten, über den Mix von zentralen und de-

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zentralen Energieversorgungsstrukturen, über Pumpspeicherkraftwerke und Hoch-spannungsleitungen. Das bietet die Chance für eine „Demokratisierung der Demokratie“ (Leggewie & Welzer, 2009: 14), die wir er-greifen sollten. Denn so oder so bedeutet der Klimawandel das Ende der Welt, wie wir sie kannten.

>LITERATURGrunwald, A. (2003), „Nachhaltigkeit und Schlüsseltechnologien. Ein ambivalentes Verhältnis“, in Ökologisches Wirtschaften, H. 6, S.13–14.Leggewie, C. und H. Welzer (2009), Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, S. Fischer, Frankfurt a.M. Ott, H. E. und Brouns, B. (2004), „Ge-rechtigkeit im Treibhaus. Dialog zwischen Nord und Süd für den Klimaschutz“, in Po-litische Ökologie, H. 87/88, S.34–37.Santarius, T. (2007), „Klimawandel und globale Gerechtigkeit“, in Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 24, S.18–24.Voß, J. P. (2008), „Nebenwirkungen und Nachhaltigkeit: Reflexive Gestaltungsan-sätze zum Umgang mit sozial-ökologi-schen Ko-Evolutionsprozessen“, in Lange, H. (Hg.), Nachhaltigkeit als radikaler Wan-del: die Quadratur des Kreises, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 236-260.Wissenschaftlicher Beirat der Bundesre-gierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2009), Der WBGU-Budgetansatz, Factsheet Nr. 10/2009, Link: http://www.wbgu.de/fileadmin/templates/dateien/veroeffentlichungen/factsheets/fs2009-fs3/wbgu_factsheet_3.pdf (aufgerufen: 25.02.2011).

Gesellschaft

Stadt

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Als Ende August 2005 ein auf den Namen Katrina getaufter Hurrikan die U.S.-ameri-kanische Golfküste erreichte, war dies der Beginn einer offensichtlichen Katastrophe: breitflächige Zerstörungen, mehr als 1.400 Tote allein in Louisiana und über eine Million zumindest vorübergehend Evakuierte in der Golfküstenregion (GNOCDC, April 2010). Der monetäre Schadenswert wurde auf 135 Milliarden Dollar beziffert (ebd.). Nicht nur der Hurrikan selbst verursachte ernsthafte Destabilisierungen, auch das Katastrophen-management und die mittelfristige staatli-che Organisation der Erholungs- und Wie-deraufbauphase wurden als unzureichend wahrgenommen. Vorwürfe von Korruption und Missmanagement sowohl in Bezug auf verpasste und unzureichende Präventions-maßnahmen als auch im Hinblick auf die unmittelbaren Rettungseinsätze und die an-schließenden Aufräum- und Wiederaufbau-anstrengungen wurden laut (u.a. U.S. House of Representatives, 2006). Die krisenhaften Zustände endeten nicht mit der Evakuierung der Stadt nach dem Hurrikan, sondern dau-erten an – in einigen Hinsichten bis heute. >Letztendlich bestehen Krisen in De-stabilisierungen bisheriger Routinen und Strukturen (Stallings, 2003: 45). Katastro-phen bilden eine besonders drastische und folgenreiche Krisenform. In der Situation eines akuten katastrophalen Ereignisses ist eine weitgehende Entkoppelung zu beobach-ten: Aus „Interagierenden und ihren Inter-aktionen werden Agierende und Aktionen, die nichts mehr miteinander zu tun haben.“ (Dombrowsky, 2004: 181). In akuten Kata-strophensituationen ist kein Verlass darauf, dass bisher selbstverständliche Netzwerke und Mechanismen auch weiterhin stabil funktionieren, die Lage wird unkontrollier-bar. In der Zeit der Erholung restrukturieren und stabilisieren sich Routineabläufe und Beziehungen erneut. Ob dies nach altem Muster geschieht oder ob eine (partielle)

anne dölemeyer

Disconnected. Katastrophen und die kleinen Dinge des alltäglichen

Regierens.

Neuordnung erfolgt, ist einzelfallabhängig, ebenso wie die Bewertung der eventuellen Veränderungen. >Die Entkoppelung im Augenblick der akuten Krisensituation betrifft Interaktio-nen zwischen Menschen, zwischen Menschen und Artefakten sowie zwischen verschiede-nen Artefakten. Auch Bereiche, die auf den ersten Blick durch rein soziale Beziehungen bestimmt scheinen, bleiben auf eine Vielzahl nichtmenschlicher Artefakte angewiesen, die diese Beziehungen erst ermöglichen und dauerhaft stabilisieren (Callon & Latour, 2006; Latour, 2006a; Latour, 2007). Norma-lerweise arbeiten diese soziotechnischen Ak-teurs-Netzwerke lautlos. Erst in Momenten der Destabilisierung zeigt sich, wie wichtig Artefakte für das gesellschaftliche Funktio-nieren sind. Krisen lassen eine große Menge sonst unsichtbarer „nichtmenschlicher Ak-teure“ deutlich in Erscheinung treten. Dass gesellschaftliches Zusammenleben von ih-nen abhängt und wie sehr gerade Behörden moderner Staaten (und nicht nur sie – auch die betroffenen BürgerInnen) auf das Funk-tionieren dieser nichtmenschlichen Elemen-te angewiesen sind, zeigte sich auch in New Orleans in dem Moment, als mit Katrina der Flutschutz versagte, das Wasser in die Stadt kam, das Kommunikationssystem zusam-menbrach, Verkehrswege und Autos nicht mehr nutzbar waren und die verbliebene Bevölkerung weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten wurde. Mittelfristig wurde auch der Verlust von Dokumenten zu einem nicht zu vernachlässigenden Problem. Dies will ich in thesenartiger Form anhand dreier Aspekte etwas ausführen: der Behauptung, dass die Katastrophe 2005 das Ergebnis ei-ner ca. 300jährigen Entwicklungsgeschichte war, einer näheren Betrachtung des akuten Krisenmanagements im Spätsommer 2005, und einem Blick auf längerfristige Krisen des Regierens in den ersten Monaten nach Katrina.

9stadt

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1Diverse KommentatorInnen verwei-sen darauf, dass die Katastrophe 2005 eine lange Vorgeschichte hatte. Einige

lassen diese Vorgeschichte mit der ersten europäischen Siedlung Anfang des 18. Jahr-hunderts beginnen (z.B. Campanella, 2007; Colten, 2006; Turner, 2007). New Orleans liegt im Flussdelta des Mississippi und ist zu einem großen Teil auf ehemaligem Sumpfge-biet gebaut. Seit deren Trockenlegung sinkt der Boden aufgrund von Verdichtung, und dort, wo der Anteil organischer Stoffe wie Blätter noch relativ hoch ist, zusätzlich auch aufgrund von Verrottungsvorgängen. Dieser Prozess beschleunigt sich bei Bebauung und dem damit verbundenen Gewicht, das auf den Boden drückt. In der Folge sinken die betroffenen Stadteile um mehrere Zentime-ter pro Jahr. Trocken gehalten werden sie durch ein System von Entwässerungskanä-len und Pumpen, die Grund- und Regenwas-ser in den Mississippi bzw. in den im Norden gelegenen Lake Pontchartrain leiten. Von außen ist New Orleans durch Dämme und Flutwälle gegen Hochwasser geschützt. Als jener Sturm im August 2005 auf die Stadt traf, vor sich eine große Flutwelle herschie-bend und jede Menge Niederschlag mit sich bringend, war er es also nicht allein, der die Katastrophe ausmachte; Letztere war u.a. das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen Sturmflut, Bodenbeschaffenheit, Höhen-lagen, Flutschutzanlagen und dem System der Trockenlegung, das in diesem Moment versagte. Auch die Bebauungsgeschichte und die Entwicklung der sozialen Geographie von New Orleans spielten hier mit hinein, von den Bauweisen der Wohnhäuser bis hin zur sozialen und ethnischen Verteilung der Be-völkerung. Diese Aufzählung ließe sich sicher noch erweitern. All diese stabilisierten Be-ziehungsgeflechte, die fest etablierten Hyb-ride – Produkte menschlichen Handelns und nichtmenschlicher, „natürlicher“ Elemente – wurden wieder sichtbar, als dieses scheinbar solide Gefüge aufbrach. New Orleans wurde buchstäblich in seinen Fundamenten durch-einander gewirbelt.

2Die Entkoppelung bzw. Zerstörung der Infrastruktur machte sich auch im staatlichen Krisenmanagement beme-

rkbar. Jedes Regieren ist auf Techniken der Wissensgenerierung, der Vernetzung und der Steuerung angewiesen, die wiederum nur mithilfe nicht-menschlicher Bindeglieder bzw. „Übersetzer“ und „Vermittler“ möglich sind: Dokumente, Tabellen, Straßen, Com-

putersysteme, Kommunikationswege, Büros, Transportmittel, u.v.m. (Latour, 2007; Rose & Miller, 1992). Erst mithilfe dieser langen Netzwerke ist das Regieren größerer Ein-heiten, auch in westlich-liberalen Staaten, überhaupt möglich (Latour, 2006a). Genau diese Netzwerke brachen mit Katrina (wie in jeder Katastrophe) in New Orleans zu-sammen. Unmittelbar deutlich wurde dies in Bezug auf Kommunikations- und Transpor-twege: Daten zu Wasserpegeln, in der Stadt befindlichen Menschen, Versorgungssitua-tion, Sicherheit, Todesfälle etc., selbst wenn sie vor Ort erfasst wurden, drangen aufgrund zusammengebrochener Telekommunika-tionsnetzwerke nur schwer in die Zentralen des Katastrophenmanagements durch. Hilfe von außen kam wegen der z.T. zerstörten Transportwege nur unter erschwerten Be-dingungen in die Stadt. Schwierigkeiten ganz anderer Art brachte es mit sich, dass z.B. Strafregister, Dateien mit Listen der in New Orleans zum Zeitpunkt der Flut in den Ge-fängnissen Inhaftierten oder Patientenkar-teien durch das Wasser zerstört wurden. Die üblichen Praktiken der Verwaltung dieser (aus staatlicher Sicht) „Problempopulatio-nen“ konnten ebenso wenig greifen wie die für den Notfall vorgesehenen Evakuierungs-programme.

3Auch mittelfristig zeigte sich, dass die Strukturen und Netzwerke, auf denen die (auch vor Katrina schon keinesfalls

nach Lehrbuch funktionierende) staatliche Steuerung und Flankierung des städtischen Lebens in New Orleans beruhten, dauerhaft unterbrochen waren. Dies reichte vom fehlen-den Personal aufgrund kommunaler Finanzk-nappheit über zerstörte Liegenschaften und technische Geräte (z.B. bei der Müllabfuhr) bis hin zum Zusammenbruch alter Routinen, die zudem angesichts der besonderen An-forderungen der Katastrophensituation zu-mindest temporär nutzlos geworden waren. Einen großen Faktor machte aber auch das Fehlen von (elektronischen wie analogen) Dokumenten aus, die entweder nie erstellt oder durch die Flut zerstört worden waren. Dokumente machen die Lagerung und den Transport von Inhalten möglich, ohne dass diese auf ihrer Reise oder über die Zeit verän-dert werden (vgl. Latour, 2006b). Sie versam-meln sehr unterschiedliche Elemente, die in einem oder mehreren Schritten in textliche Darstellungen „übersetzt“ werden, machen sie so nebeneinander synoptisch erfassbar (Latour, 2002). Auf Grundlage dieser Um-

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wandlung diverser Phänomene in aggregier-te Information, wird (liberales) Regieren im Sinne einer Steuerung größerer Einheiten erst möglich (Rose & Miller, 1992: 185 f.). Die mangelnde Übersicht über den Um-fang und Grad der Schäden, über den Stand der Bevölkerung u.Ä. entzog zunächst die Grundlage z.B. für konkrete Wiederaufbau-szenarien. Beschädigte Grundbucheinträge machten es schwierig, die Besitzer_innen von Häusern ausfindig zu machen, und ers-chwerten anders herum den Eigentümer_in-nen, ihren Besitz nachzuweisen.1 Natürlich setzten in der Folge große Anstrengungen ein, die erforderlichen Dokumentationen zu rekonstruieren oder neu zu erstellen. Eines der spannenden Phänomene dieser Zeit ist die massenhafte Aktivierung und Selbstorga-nisation von New Orleaner_innen in diver-sen Bürgerinitiativen und NGOs, und deren Kampf um die Deutungshoheit des Ist-Zus-tandes ebenso wie der Zukunft der diversen Stadtviertel von New Orleans. Dazu gehörte insbesondere das Sammeln von Daten und deren Aufbereitung, als Ergänzung, zum Teil auch als Gegenprogramm zur Datenproduk-tion auf behördlicher Seite. >Das, was hier kurz für New Orleans skiz-ziert wurde, lässt sich (in der ein oder ande-ren Ausprägung) wahrscheinlich im Kontext von vielen „Natur-“Katastrophen größeren Ausmaßes beobachten. Der Punkt war hier dementsprechend auch nicht, Besonde-rheiten eines bestimmten Krisenfalles zu dokumentieren, sondern auf einige Mecha-nismen der Entkoppelung und Restruktu-rierung aufmerksam zu machen, die für die Analyse von Krisen verschiedenster Art von Interesse sein dürften.

>LITERATURCallon, M. und Latour, B. (2006): „Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen“, in: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. v. A. Bellinger und D. J. Krieger, Transcript, Bielefeld, S. 75–102.Campanella, R. (2007): „An Ethnic Geo-graphy of New Orleans“, in: Journal of Ame-rican History, Vol. 94, No. 3, S. 704–715.Colten, C. (2006): An Unnatural Metro-polis. Wrestling New Orleans from Nature, Louisiana State University, Lafayette.Dombrowsky, W. R. (2004): „Entstehung,

1 Dies galt selbst für den Nachweis des Anspruchs auf Katastrophenhilfe: In den USA gibt es kein Einwohnermeldesystem wie in Deutschland. Wer nicht mehr z.B. durch einen Mietvertrag beweisen konnte, zum Zeitpunkt von Katrina einen Wohnsitz in New Orleans gehabt zu haben, konnte kein Geld oder andere Unterstützungen beanspruchen, die Flutopfern zustanden.

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Klima

H. Scheck

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Vor mehr als 30 Jahren schrieben Hartmut Häußermann und Walter Siebel, die Doyen der deutschsprachigen Stadtsoziologie: „Die Formel von der ‚Krise der Stadt’ ist schon so abgeklappert, daß man sie schon kaum noch zu gebrauchen wagt. Und das mit gutem Grund: solch unterschiedliche Phänomene werden unter dieser Allerweltsformel gefaßt, daß sie längst zur leeren Hülse geworden ist. Was mit Krise der Stadt gemeint ist, muß also jeweils neu und präzise beschrieben werden.“ (Häußermann und Siebel, 1978: 471) Bis heute haben Krisenszenarien nichts von ihrer Anziehungskraft für Stadtforscher eingebüßt. Städte sind so vielschichtige Ge-genstände, dass es kaum Mühe kostet, Kri-sendiskurse mit ihnen in Verbindung zu bringen. Mit „Stadt“ und „Krise“ treffen zwei Begriffe aufeinander, die gleichermaßen prä-zisionsbedürftig wie anschlussfähig sind. Der Beitrag unternimmt den Versuch, drei Pfade durch den Deutungsdschungel zu schlagen.

Krise städtischer Lebensweise

Wer die Bilder der Großstädte um die vor-letzte Jahrhundertwende oder die Metro-polen des Südens kennt, wird heute beim Gang durch die meisten westlichen Städte vor allem eines feststellen: Uns umgibt eine Weiträumigkeit, Großzügigkeit, oft aber auch Trostlosigkeit, die weit von der Enge aber auch von der Lebendigkeit der früh in-dustrialisierten Großstadt und von heutigen Megacities entfernt ist. Durch Kriegszerstö-rung, Massenmobilität und die bis heute an-haltende Großstadtkritik haben unsere Städ-te eine Entdichtung erfahren, deren Folgen sich nicht nur an zugigen Verkehrsschneisen und monotonen Einfamilienhaussiedlungen studieren lassen, sondern potenziell auch an der spezifischen Lebensweise in Städten, an Urbanität. Denn gerade die Dichte von Interaktionen, Eindrücken und Funktionen ist eine der Voraussetzungen dafür, dass ur-

ralphrichter Drei Wege zur

„Krise der Stadt“

bane Lebensweise – dazu zählen Offenheit wie Desintegration, Intellektualität wie Bla-siertheit, Individualität wie Anomie – ent-stehen kann. Louis Wirth (1938) und Hans-Paul Bahrdt (1998 [1961]) haben mit Größe, Heterogenität und Öffentlichkeit weitere sozial-räumliche Bedingungen für Urbanität herausgearbeitet, die mehrfach unter Druck geraten sind. Der Wiederaufbau der kriegs-zerstörten Städte folgte in Ost wie West oft dem Prinzip der funktionalen Stadt, also der räumlichen Trennung der städtischen Le-bensbereiche Wohnen, Arbeit, Verkehr und Erholung. Bald musste man erkennen, dass die Trennung nicht nur mehr Verkehr pro-duzierte sondern auch eine Homogenisie-rung von Nutzungen und sozialen Gruppen, mithin einen Rückgang von Heterogenität. Nicht zuletzt sind öffentliche Räume ein ge-fährdetes Gut. Die Verlagerung des öffentli-chen Lebens in Shopping Malls, die Überwa-chung von Straßen und Plätzen oder der Bau von „gated communities“ unterlaufen das Prinzip der Öffentlichkeit. Die tatsächliche oder vermeintliche Krise urbaner Lebenswei-se wurde wiederholt beklagt (frühe Beispiele sind Jacobs, 1961; Mitscherlich, 1965). An-gesichts der fortschreitenden Urbanisierung in Schwellen- und „Entwicklungsländern“ und den Tendenzen zur Reurbanisierung westlicher Städte fallen die Diagnosen heu-te differenzierter aus (Dirksmeier, 2009). Mit Blick auf das Wanderungsgeschehen in der Bundesrepublik, das vermehrt zu Lasten der Mittel- und Kleinstädte geht, deutet sich heute eher eine Krise jener Lebensmodelle an, für die Klein- und Mittelstädte der pri-märe Ort sind.

Krise der Institution Stadt

„Rettet unsere Städte jetzt!“ – In den 1990er Jahre verfassten die Oberbürgermeister mehrerer deutscher Großstädte unter dem Aufmerksamkeit heischenden Motto eine

10stadt

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Erklärung, um auf die aus ihrer Sicht katas-trophale Finanzausstattung der Städte auf-merksam zu machen (Kronawitter, 1994). Mittlerweile trägt die Debatte um die Un-terfinanzierung die Züge einer Dauerkri-se. Über den Städten der Bundesrepublik schwebt das Damoklesschwert der Zwangs-verwaltung, dem sie durch Privatisierungen und Stellenabbau zu entgehen versuchen. Sie tragen das historische Pfund, im poli-tischen Mehrebenensystem die Rolle als ausführende Organe ohne eigene Hoheits-rechte einzunehmen. Ein vielfach beklagtes Szenario ist die Übertragung von Aufgaben durch Bund und Länder, die nicht ausrei-chend gegenfinanziert sind. Jürgen Haber-mas hat einen Krisenbegriff geprägt, der das Dilemma treffend beschreibt. Für Ha-bermas (1973: 11) entstehen Krisen, „[…] wenn die Struktur eines Gesellschaftssys-tems weniger Möglichkeiten der Problemlö-sung zulässt, als zur Bestandserhaltung des Systems in Anspruch genommen werden müssten.“ Städte werden als gesellschaftli-che Subsysteme verstanden, die aufgrund eingeschränkter Mittel nicht mehr alle Auf-gaben erfüllen können, die zur Erhaltung des vormals erreichten Wohlfahrtsniveaus erforderlich sind. Die Rede von der Krise der Städte dient den städtischen Interessenver-tretern zur Legitimierung von Forderungen gegenüber übergeordneten Instanzen und sie verweist darauf, dass ökonomische Kri-sen über Krisen der öffentlichen Finanzen vergesellschaftet werden (Habermas, 1973: 88). Freilich muss im politischen Feld zwi-schen Krisenerfahrungen und Krisenideo-logien unterschieden werden. Mit Blick auf städtische Interessenvertreter wäre zu fragen, inwiefern Krisendiagnosen tatsäch-liche Steuerungsprobleme zugrunde liegen und inwieweit diese primär der Interessen-durchsetzung nach außen und der Machtsi-cherung nach innen dienen. Die Abnutzung und Substanzlosigkeit des Krisenbegriffs verweist auch auf die Inflation politischer Krisendiagnosen.

Städte als Kumulationspunkte sozio-ökonomischer Krisen

Eine dritte Kriseninterpretation versteht Städte als Kumulationspunkte gesellschaft-licher und ökonomischer Entwicklung, in welchen sich die Folgen gesellschaftlichen Wandels besonders gut beobachten lassen. Krisen erfassen nicht alle Städte gleicher-

maßen, sondern vor allem solche, die be-sonders durch das jeweilige Gesellschafts- und Entwicklungsmodell geprägt sind. In Ostdeutschland ist dieses Krisenmodell allerorten zu besichtigen. Seit der politi-schen Wende ist der überwiegende Teil der ostdeutschen Städte geschrumpft, wobei nicht ohne Grund jene am meisten betrof-fen sind, welchen sich das Gesellschafts-modell der DDR am stärksten eingeprägt hat (Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda, Hal-le-Neustadt u.a.). Anknüpfungspunkte zu weltweit vergleichbaren Entwicklungen er-geben sich, wenn die Entleerung nicht nur auf das herrschende Gesellschaftsmodell, sondern auch als Resultat ökonomischer Entwicklung insgesamt betrachtet wird. Ob im Ruhrgebiet oder im Saarland, in Mitte-lengland oder im amerikanischen „rustbelt“ – Städte, die einst Zentren des industriel-len Entwicklungsmodells waren, erlebten mit dem ökonomischen Strukturwandel eine lang anhaltende Phase ökonomischen Abschwungs, die mit der Verschlechterung von Beschäftigungschancen, mit Abwande-rung und kommunaler Finanzkrise, kurz mit einer für die Städte insgesamt krisen-haften Entwicklung einher geht. Die Dia-gnose knüpft dabei an den ökonomischen Krisenbegriff an, wonach Krisen inhärente Phasen kapitalistischer Entwicklung sind. Die Folge ist ein räumlich oder zeitlich be-grenzter Niedergang, der als Stufe des Fort-schritts in Kauf genommen werden müsse. In dieser Interpretation unterscheiden sich Liberalökonomen nicht wesentlich von der marxistischen Theorie, wobei für letztere Krisen durchaus positiv besetzt sind: „Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebad.“ (Engels 1857 in einem Brief an Marx, MEW, 1963: 211) Neomar-xistische Kriseninterpretationen lesen sich erkennbar kritischer. Der sich beschleuni-gende Kapitalkreislauf bringt lokale Inf-rastrukturen hervor, er schafft Räume des jeweiligen Entwicklungsmodells. Da der gebaute Raum unbeweglicher ist als das Kapital, droht den einmal geschaffenen Räumen in Folge ökonomischen Wandels Vernachlässigung und Niedergang. Der Kapitalismus erzeugt Räume, um diese im nächsten Moment wieder zu zerstören (Ronneberger, 2004: 682). Jedoch, und das ist irgendwie beruhigend, sind jeder Krise Momente ihrer Überwindung immanent. Was folgt, entzieht sich freilich bisherigen Einsichten.

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>LITERATURBahrdt, H. P. (1998 [1961]): Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, hrsg. von U. Herlyn, Leske + Budrich, Opladen.Dirksmeier, P. (2009): Urbanität als Habi-tus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, (=Urban Studies) Trans-cript, Bielefeld.Habermas, J. (1973): Legitimationsproble-me im Spätkapitalismus, Suhrkamp, Fran-kfurt an Main.Häußermann, H. und Siebel, W. (1978): „Krise der Stadt - Krise der Stadt?“, in Le-viathan, 6. Jg., Heft 4, S. 471–483.Jacobs, J. (1961): The Death and Life of Great American Cities, Random House, New York.Kronawitter, G. [Hrsg.] (1994): Rettet un-sere Städte jetzt!, Econ, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau.Marx, K. und Engels, F. (1963): Marx En-gels Werke, Bd. 29, Dietz, Berlin.Mitscherlich, A. (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Suhrkamp, Frankfurt am Main.Ronneberger, K. (2004): „Krisenhafter Ka-pitalismus“, in: P. Oswalt [Hrsg.]: Schrum-pfende Städte: Ostfildern-Ruit, Bd. 1, Hatje Cantz Verlag, Berlin, S. 680–684.Wirth, L. (1938): „Urbanism as a Way of Life”, in American Journal of Sociology 44, S. 1–24.

Politik

W. Fach

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Krise

Bevölkerungsprognosen erhalten seit einigen Jahrzenten vermehrt Gewicht. Dadurch ent-falten sie eine enorme Wirkmächtigkeit auf die gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten politischer Akteure (vgl. Hartmann & Vogel, 2010). Obwohl der massive Bevölkerungs-schwund in Ostdeutschland, mit dem Zu-sammenbruch des Realsozialismus, gänzlich andere Ursachen trägt als der aktuell vorher-gesagte Bevölkerungsrückgang, für welchen i.d.R. egozentrische Frauen beschuldigt wer-den (vgl. Schmidt, 2009), dient das ehemali-ge DDR-Gebiet auch als Projektionsfläche für eben letztere Krisenbeschwörungen. Dieser Beitrag blickt auf den demografischen Dis-kurs aus kommunaler Perspektive (Mikroe-bene) und zeigt, dass für ländliche Gegenden wie das sachsen-anhaltinische Vockerode aus der Überlagerung der Erklärungsmuster eine dialektische Entwicklung folgt. Die gefühl-te Krise in dem Ortsteil der Stadt Oranien-baum-Wörlitz (eingemeindet seit 2011) dau-ert bereits seit der Wiedervereinigung an. Die Stilllegung des anliegenden ‚Kraftwerk Elbe‘ in den 1990er Jahren streckte durch massen-hafte Entlassungen auch die komplette Re-gion nieder. Weit eines jeden Ballungszent-rums hinterließen Abwanderungsfreudige in den ländlichen Schrumpfungsräumen aber nicht nur Leerstand und gebrochene Identi-täten, sondern auch die Hoffnung auf Wie-derbelebung (vgl. Oswalt, 2004). Ortsbür-germeisterin Renate Luckmann beschreibt die aktuellen Bedingungen der einstigen 1.500-Einwohner-Landstadt Vockerode wie folgt: „Jetzt ist die Gemeinde überaltert und nichts ist mehr da. Wir können hier nicht ein-kaufen, die Verkehrsverbindungen sind schlecht [...] Alles was kommt ist besser als das, was jetzt da ist“ (zitiert nach Jahn & Czimmek, 2010). Obwohl diese Diagnose durchaus in Frage gestellt werden kann, zieht sie doch konsequenzenreiche Reaktionen nach sich:

anjajahnel Vockerode

in der Krise

Die folgenden Lösungsansätze bewegen sich zwischen einfacher Umkehrungslogik (Aus-weg I), Resignation vor der beschriebenen Krise (Ausweg II) und liberalem Umschrei-bungsversuch der Diskursstimmung in ein Chancennarrativ durch das Auflösen kogni-tiver Sackgassen. Mit der Kompensierung wird allerdings auch jeglicher Anspruch auf zukünftige Hilfsleistungen riskiert (Ausweg III). Nicht zuletzt wegen seines emotionalen Potentials wäre dieses Sujet daher geeignet, um für die Bundestagswahl 2013 zum Wahl-kampfthema stilisiert zu werden. Politische Aushandlungen und parteiliche Profilbil-dung sollten daher weiterhin intensiv reflek-tiert werden, auch wenn die schwarz-gelbe Bundesregierung derzeitig kaum Interesse an der Demografie und am Aufbau-Ost zu zeigen scheint.

Ausweg I

Den Tief- zum Wendepunkt machen sollte in Vockerode jüngst eine exorbitante Ansiede-lung von Dienstleistungen. Engagierte Kom-munalpolitiker und die Sybilgroup planten mit Hilfe von Investoren und Subventionen das bisweilen kulturell genutzte Kraftwerks-gelände zu einem Casino-Komplex und Kon-gress-Center mit etwa 1000 Arbeitsplätzen umzubauen. Bei der Realisierung von solch höchst ambitionierten Aufbau-Ost-Projek-ten handelt es sich auch immer um einen Spielplatz für wirtschafts- und demogra-phiepolitische Experimente mit ungewissem Ausgang. So galt etwa der brandenburgische Eurospeedway Lausitz schon bald nach sei-nem Bau als gescheitert (vgl. Kulick, 2002) – tatsächlich wurde nur ein Bruchteil der anvisierten 1.500 Arbeitsplätze mit staat-lichen Subventionen in dreistelliger Millio-nenhöhe geschaffen. Die Legitimation für solche Vorhaben gleichen sich jedoch immer wieder aufs Neue: Im Zitat von Renate Luck-mann wird ein Teufelskreis aus infrastruktu-

11stadt

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reller Benachteiligung und demografischem Wandel ländlicher Räume suggeriert, der die Handlungsmöglichkeiten der verantwortli-chen Politik beschränkt (Demografisierung). Interventionsbedarf besteht, da diese Dy-namik eine weitere Abkopplung von gesell-schaftlichen Machtzentren der Großstädte (Peripherisierung) vorantreibe und somit die grundgesetzlich verankerte „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (GG §72 Abs. 2) ge-fährde (vgl. Barlösius & Neu, 2007). Dies wird bspw. auch in der Rechtfertigung staatlicher Demografiepolitik des ehemaligen Beauftrag-ten der Bundesregierung für die neuen Bun-desländer (2005-2009) Wolfgang Tiefensee deutlich: „Eine solche Brutalität verbietet gott-lob unsere Verfassung und entspricht auch nicht meinem Verständnis von politischer Gestaltung und sozialer Gerechtigkeit […] Der Staat ist der Einzige, der die öffentliche Daseinsvorsorge auch in den vom Bevölkerungsrückgang betroffenen Regionen sichern kann. Daraus ergibt sich eine ganz besondere Verantwortung […] Politik aber muss es [Peripherisierung, Anm. d. Verf.] verhin-dern! Nur ein Staat, der seine Menschen nicht aufgibt, ist ein demokratischer, ein Rechts- und ein Sozialstaat.“ (Tiefensee, 2009) Politische Interventionen, die sich aus dieser Staatsbürde ergeben, rekurrieren explizit auf ein bestimm-tes Staatsverständnis, insofern dieser eine gewisse Gleichheit an Lebenschancen überall innerhalb seiner Staatsgrenzen (Territorium) garantiert. Gleichwertigkeit enthält hier ein Gerechtigkeitspostulat, demzufolge diese so-zio-territoriale Homogenität aufrechterhalten werden soll (vgl. Barlösius & Neu, 2007). Um die nötige Integration ländlicher Gebiete in diesen Territorialstaat zu gewährleisten, setzte man im wiedervereinigten Deutschland lange Zeit auf Strategien nachholender Modernisie-rung: Entlegene Regionen sollten, wie im Fall Vockerode, durch die Implantierung von In-dustrie und/oder Dienstleistung urbanisiert werden, um ein bestimmtes Existenzniveau zu erreichen. Jedoch impliziert diese Taktik eine Kongruenz (=) von Gleichwertigkeit mit (sozio-ökonomischer) Gleichförmigkeit, d.h. die Be-wertung eines Terrains bemisst sich allein an einer Verstädterungs-Skala. Die Chance, eige-ne Vorzüge außerhalb dieser sehr spezifischen Definition von Lebensqualität zu entwickeln, wird als langfristig unmöglich oder unwichtig erachtet (vgl. ebd.).

Ausweg II

Scheitern die Modernisierungsversuche, können negative Erwartungshaltungen zum

handlungsleitenden Topos werden. Während die Investitionshürden durch Kritik am Ca-sinobau in Vockerode bereits im Vorfeld er-höht wurden,1 kam es in Brandenburg gar zur Transformation politischer Leitprinzipien. Die dort regierende Landes-SPD folgte dem Mainstream der Demografieforschung (siehe Tiefensee, 2009) und schlug medial wirksam ein Konzept der Kontrollierten Verwilde-rung vor, also der Aufgabe peripherer Land-striche (vgl. Mara, 2007) durch langfristige Einstellung bisheriger Transferleistungen von städtische in ländliche Regionen (Kom-munen- und Länderfinanzausgleich, Solida-ritätspakt, EU-Regionalentwicklungsfonds). Jeder Versuch der Abwärtsspirale zu entkom-men wird hier als aussichtslos erklärt. Da die sozio-territoriale Gleichförmigkeit (Urbani-sierung) nicht hergestellt werden kann, wird auch die Gleichwertigkeit fallen gelassen. Das kongruente Verständnis (=) beider Begriffe wird zur Achillesverse. Derartige politische Vorstöße demonstrieren insofern die Akzep-tanz der Peripherisierung. Prekär ist dieser Lösungsweg, weil nun mit dem Gerechtig-keitspostulat als solches gebrochen wird. Die neuen politischen Leitlinien in Brandenburg, aber auch die Modernisierungskritik an Vo-ckerode, stellen die Erhaltung des sozialen Friedens durch solidarische Umverteilung zunehmend in Frage. Die Demografisierung wird zur Legitimation für endgültige Hand-lungsunfähigkeit und plausibilisiert einen Rückzug aus der Verantwortung, für alle Bürger gleichermaßen die Teilhabe am öf-fentlichen Leben und politischen Prozess zu sichern (vgl. Barlösius & Neu, 2007).

Ausweg III

Das Großvorhaben in Vockerode ruht offi-ziell seit Jahresbeginn. Der Absprung eines Investors und eine unsichere Rechtslage durch die bevorstehende Synchronisation der Glücksspiel-Gesetze in der EU verhin-dern vorerst einen Casinobau (vgl. Gericke, 2011). Wie nun weiter, wenn überhaupt? Das Krisennarrativ des demografischen Nie-dergangs der Deutschen gilt im gesamten politischen Feld als sakrosankt (vgl. Schmidt, 2007). Das Zitat Tiefensees ließ bereits erah-nen, dass die Demografiepolitik sich mithin als Staatsaufgabe, d.h. auch als Verpflich-tung des Bundes, manifestiert hat. An eine Umsetzung der Kontrollierten Verwilderung ist also keinesfalls zu denken. Nach bestän-digem Misserfolg muss allerdings auch die

1 Grundsätzlich wird die Rentabilität des Projektes, sowie die Nähe zum benachbarten UNESCO-Welterbe, dem Gartenreich Dessau-Wörlitz, in Frage gestellt. Kritiken sind dabei keinesfalls frei von Vorurteilen. Diskriminierende Stereotypisierun-gen sind m.E. implizit vorhanden, da Misstrauen der Sybilgroup gegenüber immer mit Verweis auf deren Hauptsitz im Nahen Osten verbunden werden. Die Unternehmensgruppe musste bspw. erst einen Vertrauensbeweis erbringen (Kauf der anhaltinischen Spielbanken), um die Zustimmung des Bundeslandes zu erhalten (siehe etwa SO 2010).

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Modernisierungsstrategie einer Transforma-tion weichen. Ostdeutschland wird dabei als geeignetes Laboratorium für die zukünftige Neuausrichtung der Demografiepolitik be-trachtet. Nicht zuletzt da in den neuen Bun-desländern die beiden Faktoren sinkender Bevölkerungszahlen und leerer öffentlicher Kassen, auch im Hinblick auf den 2019 en-denden Solidarpakt und Klagen gegen den Länderfinanzausgleich, aufeinanderprallen. Derzeitig auslaufende Forschungsprojekte sollen bis Herbst 2011 in einen „Bericht zur demografischen Lage und künftigen Ent-wicklung“ münden, auf dem aufbauend die CDU/FDP-Regierung 2012 eine ressortüber-greifende Demografiestrategie für Gesamt-deutschland vorlegen will. Das Modellvorha-ben „Region schafft Zukunft“ zielt, obgleich auch ein vager Vorschlag zu demografisch bedingten Ausgleichszahlungen formuliert wird, zum einen auf die Rationalisierung von öffentlichen Strukturen, den Ausbau technischer Infrastruktur, Identitätstrans-formation und mehr bürgerlichem Engage-ment (Bürgerkommune), zum anderen auf eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Verwaltungs- und Regierungsebenen2 (vgl. BVBS, 2010). Die Synthese von Gerechtig-keit mit dem gleichzeitigen Abbau von so-lidarischer Transferleistung impliziert das Ende der bis dato bestehenden Einheit von Gleichwertigkeit und Gleichförmigkeit (≠). Die Zielsetzungen sollen Desurbanisierung ermöglichen (vgl. Tiefensee, 2009), tragen aber auch typische Merkmale des aktivieren-den Sozialstaats. Gelingt also dieser Revita-lisierungsversuch durch eine Neudefinition des Ländlichen – als Vorbild gilt ein franzö-sisches Provinzverständnis - nicht, wird sich zeigen müssen, wie eng Vockerode den Gür-tel noch schnallen kann.

>LITERATURBarlösius, E. und Neu, C. (2007): „Gleich-wertigkeit-Ade? Die Demographisierung und Peripherisierung entlegener länd-licher Räume“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 146, 1/37, S. 77–92.Beermann, J.; Schröder, A und Carius, Ch. (2011): „Eckpunktepapier zur Zusammenar-beit der mitteldeutschen Länder: Gemeinsam den demografischen Wandel gestalten“, Er-furt: Erster Mitteldeutscher Demografie Dialog, 21. Februar 2011.Bundesministerium für Verkehr, Bau und

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2 Etwa könnte unter dem Druck eines durchschlagen-den utilitaristischen Diskurses die Länderfusion Mit-teldeutschlands, die Tiefensee mittelfristig anstrebte (vgl. PP 2006), wieder Aufwind bekommen (Annähe-rung, siehe auch Beermann et al., 2011).

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Sozialstaat

R. Krätsc

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Kinderlosigkeit ist eines der „großen“ Themen der westlichen Industrienationen der letzten Jahre. Sowohl in der medialen als auch in der gesellschaftlichen Debatte Deutschlands wird das Szenario heraufbeschworen, dass immer weniger Kinder immer mehr Älteren gegen-überstehen. Es ist die Rede von der Krise der Sozialsysteme, einem Generationenkonflikt, einer kinderentfremdeten Gesellschaft und einer egozentrierten Lebensausrichtung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. >Doch warum geht gerade im Bereich der Fertilität und Familiengründung eine solch starke Wertung in der öffentlichen Diskussi-on einher? Scheinbar galt und gilt der gesell-schaftliche Konsens, dass die Menschen im Prinzip Kinder wollen (Burkart, 2007: 403). Kinderwunsch und Kinderkriegen gehört quasi naturgemäß zur Biographie von Indi-viduen. So traf auch Konrad Adenauer 1963 mit seinem Ausspruch „Kinder kriegen die Leute immer!“ das gesellschaftliche Selbst-verständnis. Interessanterweise hat sich trotz deutlich veränderter Lage Deutsch-lands in den letzten 50 Jahren, die gekenn-zeichnet ist durch eine niedrige Geburten-rate und eine im europäischen Vergleich sehr hohe Kinderlosigkeitsquote in West-deutschland (Huinink/Konietzka, 2007: 75; Dorbritz/Ruckdeschel, 2007: 60), diese Grundannahme nicht verändert. Besonders herausgestellt wird in der Debatte die Grup-pe der kinderlosen Akademikerinnen: Über sie wurde in verschiedenen Medien berich-tet, dass sie zu 40% kinderlos blieben (Wirth, 2006: 2) – und das prägte folglich auch die öffentliche und politische Diskussion. Die daraus resultierenden Fragen, warum gerade die hoch qualifizierten Frauen kinderlos blie-ben, ob dies ungewollt oder gewollt passiere und ob nicht gerade dann die Menschen kei-ne Kinder mehr bekämen, die so wertvoll für die Gesellschaft seien, stehen nun im Fokus. Diese weit verbreitete Prozentzahl entbehrt jedoch einer Kontextualisierung, indem sie

rabea krätschmar-

hahnKinderlosigkeit als

Lösung für Geschlech-terungleichheit und

Arbeitsmarktvorgaben

einer Studie entnommen wurde, die nur auf westdeutsche Hochschulabsolventin-nen zwischen 35 und 39 Jahren beschränkt ist (Engstler/Menning, 1997), und deshalb eben nicht für alle endgültig kinderlosen Akademikerinnen in Gesamtdeutschland gilt. Ohne weiter auf methodische Details eingehen zu wollen, wird offensichtlich, wie schnell statistische Kennziffern instrumen-talisiert werden können, um die Debatte in eine bestimmte Richtung zu lenken. >Die Diskussion heute dreht sich also da-rum, wie Strukturen und Voraussetzungen geschaffen werden können, um den – vor-ausgesetzten – existierenden Kinderwunsch zu verwirklichen: Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf steht dabei ganz oben auf der Agenda. >Doch eine Frage kommt in der soziolo-gischen Betrachtungsweise von Fertilitäts-verhalten bisher zu kurz: Was sind die posi-tiven Funktionen von Kinderlosigkeit für die (west)deutsche Bevölkerung? >Es ist eine Entlastung der Bevölkerungs-gruppe, die in der Gesellschaft am meisten leistet – nämlich der Männer und Frauen im mittleren Alter, die sich sowohl um die Versorgung der Alten, als auch um die der Kinder kümmern müssten. Keine Kinder zu bekommen, bedeutet also gerade für die Frauen dieser mittleren Generationen, dass sie sich Luft zum Atmen verschaffen (Hond-rich/Krätschmer-Hahn, 2005: 46). Denn sie tragen sowohl im Erwerbsleben ihren Teil zur finanziellen Absicherung bei, als auch im privaten Bereich genau sie es sind, die die Pflege der Eltern oder die Erziehung der Kin-der hauptsächlich übernehmen (Dorbritz/Lengerer/Ruckdeschel, 2005: 50). Um dieser strukturellen Doppelbelastung (Kassner/Rüling, 2005: 259) zu entfliehen, erscheint Kinderlosigkeit ein wirksames, funktionales Mittel zu sein. Aus dieser Perspektive be-trachtet, kann Kinderlosigkeit vielmehr Ent-lastung statt Verzicht sein.

12sozialstaat

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>Kinderlosigkeit ist dann eine Lösung, um der Geschlechterungleichheit zu ent-gehen, die die Strukturen in Familien- und Erwerbsarbeit kennzeichnet: Bei steigen-der Erwerbsquote und Integration in den Arbeitsmarkt schaffen Frauen es dennoch nicht, sich in gleicher Weise wie Männer zu etablieren (Hofäcker, 2009: 77; Rost 2009: 30f.) – man denke an die weitverbreitete Teilzeitarbeit 1 von Frauen, die immer noch ungleichen Löhne und die geringe Beteili-gung von Frauen auf höherer und höchster Managementebene. Das liegt jedoch nicht an ihrer geringeren Qualifizierung und gar, wie oft von konservativer Seite behauptet, an der Abstinenz von Karriereabsichten der Frauen, sondern schlicht an der gesell-schaftlichen Struktur der „halben“ Integra-tion in den Arbeitsmarkt gepaart mit einer Übernahme der Haus- und Familienarbeit. Kinderkriegen erfolgt stets im Kontext einer Zuschreibung an das weibliche Geschlecht: Bei der Debatte um eine Frauenquote geht es um die Vereinbarkeitsmöglichkeiten von Familie und Beruf für Frauen; beim Eltern-geld geht es um ein Konzept, Opportuni-tätskosten für Frauen gering zu halten etc. Gesellschaftlicher Konsens ist, und dieser wird nicht in seinen Prämissen angezwei-felt, dass Kinderbetreuung und -erziehung den Frauen obliegt. Ob Betreuung und Er-ziehung von Kindern aber nicht eher paritä-tisch zwischen den Eltern aufgeteilt werden sollte, ist kein Gegenstand der öffentlichen Diskussion. >Einher geht dieses Selbstverständnis mit einem Arbeitsmarkt, der seine Bedürf-nisse auf einen flexiblen, mobilen, allzeit-verfügbaren Arbeitnehmer orientiert. Die-ses Jobprofil kann nur und wird nur dann geleistet, wenn Frauen die Familienarbeit quasi als „stille“ Ressource (Meuser 2007: 146f.) übernehmen. Zwei Elternteile kön-nen diese Anforderungen des Arbeitsmark-tes nicht bedienen – Resultat ist die bereits beschriebene „halbe“ Integration der Frauen in das Erwerbsleben. Somit sollte deutlich ge-worden sein, dass gesellschaftliche Strukturen und Rahmenbedingungen Familiengründung lange Zeit in der Weise determiniert haben, dass sich das Male-Breadwinner-Modell2 zu einem Zuverdienermodell in Deutschland gewandelt hat (Rost, 2009: 32). Doch die da-rin immanente Doppelbelastung produziert nun, gleichsam als Lösungsstrategie auf ei-ner neuen Entwicklungsstufe (Hondrich, 2007), Kinderlosigkeit.

>Einem Krisenszenario in der medialen und öffentlichen Debatte, das Kinderlosig-keit als Untergang der deutschen Gesell-schaft prognostiziert, kann man gelassen entgegnen, dass soziologisch betrachtet die Kinderlosigkeit überhaupt erst eine Lösung ist, die gesellschaftlichen Teilsysteme so auf-recht zu erhalten, wie sie heute existieren – sie ist somit eher bestandgebendes Element und weniger Element eines heraufbeschwo-renen Umbruchs.

>LITERATURBurkart, G. (2007): „Eine Kultur des Zwei-fels: Kinderlosigkeit und die Zukunft der Familie“, in: D. Konietzka/M. Kreyenfeld (ed.), Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland, VS Verlag, Wiesbaden, pp. 401–423.Dorbritz, J./Lengerer, A./Ruckdeschel, K. (2005): Einstellungen zu demographi-schen Trends und zu bevölkerungsrele-vanten Politiken, Bundesinstitut für Be-völkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt, Wiesbaden [Online verfüg-bar unter: http://www.bib-demografie.de/cln_099/nn_749852/SharedDocs/Publikationen/DE/Download/Broschu-eren/ppas_2005.html, letzter Zugriff: 08.03.2011].Dorbritz, J./Ruckdeschel, K. (2007): „Kin-derlosigkeit in Deutschland – Ein euro-päischer Sonderweg? Daten, Trends und Gründe“, in: D. Konietzka/M. Kreyenfeld (ed.), Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland, VS Verlag, Wiesbaden, pp. 45–81.Engstler, H./Menning, S. (1997): Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn.Hofäcker, D. (2009): „Vom Ernährer- zum Zweiverdienermodell – Bestandsaufnah-me und internationale Perspektiven“, in: T. Mühling/H. Rost (ed.), ifb-Familienre-port Bayern 2009. Schwerpunkt Familie in Europa, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Bamberg, pp. 65–98.Hondrich, K.O. (2007): Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist, Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York.Hondrich, K.O./Krätschmer-Hahn, R. (2005): „Glücksfall Geburtenrückgang“, in: EMMA, Heft 6, November/Dezember, pp. 46–49.

1 In Deutschland arbeitet fast jede zweite Frau (46%) in Teilzeit, und dieser Anteil geht noch auf 43% zurück, wenn das jüngste Kind unter 3 Jahren ist (Rost 2009: 30).

2 Dieses Modell postuliert, dass der Mann als Ernährer der Familie fungiert (Schmitt, 2005: 41).

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Huinink, J./Konietzka, D. (2007): Famili-ensoziologie. Eine Einführung, Campus Ver-lag, Frankfurt/New York.Kassner, K./Rüling, A. (2005): „‚Nicht nur am Samstag gehört Papa mir!‘ Väter in egalitären Arrangements von Arbeit und Leben“, in: A. Tölke/K. Hank (ed.), Männer – Das „vernachlässigte“ Geschlecht in der Familienforschung, Zeitschrift für Fa-milienforschung, Sonderheft 4, VS Verlag, Wiesbaden, pp. 235–264.Meuser, M. (2007): „Vereinbarkeit von Be-ruf und Familie – ein Problem für Män-ner? Familien und Lebensverlaufsplanung bei Männern“, in: E. Barlösius/D. Schick (ed.), Demographisierung des gesellschaftli-chen. Analysen und Debatten zur demogra-phischen Zukunft Deutschlands, VS Verlag, Wiesbaden, pp. 135–152.Rost, H. (2009): „Familienhaushalte im europäischen Vergleich“, in: T. Mühling /H. Rost, Harald (ed.): ifb-Familienreport Bayern 2009. Schwerpunkt Familie in Eu-ropa, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Bamberg, pp. 9–32.Schmitt, C. (2005): „Kinderlosigkeit bei Männern – Geschlechtsspezifische Deter-minanten ausbleibender Elternschaft“, in: A. TölkeA./K. Hank. (ed.): Männer – Das „vernachlässigte“ Geschlecht in der Famili-enforschung, Zeitschrift für Familienfor-schung, Sonderheft 4, VS Verlag, Wiesba-den, pp. 18–43.Wirth, H. (2006): Die kinderlosen Akademi-kerinnen – Ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte, Zentrum für Umfragen, Metho-den und Analysen (ZUMA), Mannheim.

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Das Subjekt ist in der „Krise“, so heißt es. Die ganzheitliche Vorstellung einer Entität des Subjekts hätte sich mit den postmodernen Entwicklungen als ideologische Verkittung herausgestellt. Während es recht einfach ist eine Krise zu diagnostizieren, fehlt in solchen Betrachtungen meist eine klare Vorstellung von dem was das „Subjekt“ eigentlich ist. Da das Wort „Subjekt“ immer wieder als Syno-nym von „Individuum“ verwendet und „Sub-jektivität“ häufig mit „Identität“ verwechselt wird, ist es die Hauptaufgabe der folgenden Thesen, die Terminologie zu entwirren und Vorschläge zu einer Neubestimmung der Begriffe zu machen. Es handelt sich um Vor-schläge, da es nicht nur vermessen, sondern auch naiv wäre, der Diskussion in diesem Bereich durch eine endgültige Klärung der Termini ein Ende bereiten zu wollen. Jede Begrifflichkeit ist, wie jede Subjektivität, aus der sie hervorgeht, das Ergebnis eines lang-jährigen Dialogs, der zwar unabschließbar ist, sehr wohl aber übersichtlicher gestaltet werden kann.

1 „Subjekt“ wird bisweilen mit „Indivi-duum“ verwechselt oder gar dem „in-dividuellen Subjekt“ (dem „Einzelnen“)

gleichgesetzt. Dabei wird übersehen, dass es auch kollektive, abstrakte und mythische Subjekte gibt, die der Semiotiker Algirdas J. Greimas alle als „Subjekt-Aktanten“ bezeich-net. Diese Bezeichnung deutet bereits an, dass alle Aktanten handelnde Instanzen sind, die danach streben, sich bestimmte Gegen-stände oder „Objekt-Aktanten“ (als Gegen-stände des Handelns) anzueignen. So kann beispielsweise ein Staat als kollektiver Aktant oder Kollektivsubjekt versuchen, sich durch Verträge oder durch Anwendung von Gewalt Territorien anzueignen. Im ersten Fall han-delt der Staat primär als Rechtssubjekt, im zweiten Fall als Inhaber des Gewaltmonopols. Das Objekt einer politischen Partei kann der Wahlsieg sein, das Objekt einer Gewerkschaft die Gehaltserhöhung derjenigen, deren Inte-

peterzima Thesen zum

Thema „Subjektivität“

ressen sie vertritt. Abstrakte Aktanten wie die Wissenschaft können nach der Wahrheit als Objekt-Aktant streben oder im Falle der Medizin – wesentlich konkreter – nach einer neuen Heilmethode, die als einsetzbares Ob-jekt so bald wie möglich zur Verfügung (des Subjekts „Medizin“) stehen soll. In neuester Zeit spielen auch mechanische, mit künstli-cher Intelligenz ausgestattete Aktanten wie Roboter und Computer eine wichtige Rolle in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Mythische Aktanten – die Sonne, der Mond, die Fee, die Gottheit im Mythos oder im Mär-chen – haben es wesentlich leichter: Sie kön-nen ohne langwierigen Forschungsaufwand die begehrten Objekte herbeizaubern. Einen ganz anderen Status hat der Mond, der durch seine Anziehungskraft die Gezeiten bewegt: Er ist ein realer Subjekt-Aktant in astronomi-schen und geographischen Diskursen. Er kann jedoch unversehens zu einem mythischen Ak-tanten werden, wenn ihm fantastische Eigen-schaften, mit denen er auf Gesundheit und Gemüt einwirken soll, zugeschrieben werden. Hier zeigt sich, dass die Grenzen zwischen kollektiven, abstrakten und mythischen Sub-jekten (Subjekt-Aktanten) fließend sind: Ihr Charakter hängt von ihrer Funktionalisierung in bestimmten Diskursen ab. Das „Volk“ kann in einem Text über ein Volksbegehren noch als kollektiver Aktant aufgefasst werden; in einem nationalistischen Diskurs der roman-tischen Ära tritt es zumeist als mythisches Kollektivsubjekt auf. Wenn von einer „Krise des Subjekts“ die Rede ist, ist zumeist das in-dividuelle Subjekt gemeint; dabei wird überse-hen, dass diese Krise nur erklärt werden kann, wenn die Interaktion dieses Einzelsubjekts mit den anderen – kollektiven, mythischen, abstrakten und mechanischen – Subjekten oder Subjekt-Aktanten betrachtet wird (vgl. These 7 sowie: Zima, 2010).

2Die hier angeführten Unterscheidun-gen und Beispiele lassen bereits er-kennen, dass es nicht ohne weiteres

13subjekt

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möglich ist, die Beschaffenheit, das Denken und das Handeln individueller Subjekte (Ein-zelsubjekte) unabhängig von den kollektiven und abstrakten Subjekt-Aktanten zu verste-hen. Gehört jemand einem bestimmten Volk oder einer Volksgruppe an, so wird er in der Kultur und der Sprache dieses Kollektivsub-jekts, das durch seine Organisationsformen zum Handeln befähigt wird, sozialisiert: zum Subjekt gemacht. Gehört eine Person einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft an, so wird sie von der Ideologie dieser Or-ganisation durch sekundäre Sozialisation als Subjekt konstituiert. Hier gilt, was Louis Althusser über die Subjektwerdung des Ein-zelnen schreibt: „L’idéologie interpelle les individus en sujets.“ („Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.“) Aber auch Kul-tur, Religion und Sprache machen die Indivi-duen zu Subjekten. Das zeigt sich im inter-kulturellen Kontext mit aller Deutlichkeit: Wer in eine ihm völlig fremde Kultur versetzt wird, sieht sich in seiner Subjektivität dras-tisch eingeschränkt, weil er vor allem seine sprachlichen Kommunikationsfähigkeiten nicht (voll) einsetzen kann. Nicht nur kol-lektive, auch abstrakte Subjekte wie Kunst, Wissenschaft oder Recht tragen mit ihren Wertsetzungen und Normen wesentlich zur (sekundären) Sozialisierung der individuel-len Subjekte bei und entscheiden über deren Erfolge und Misserfolge in der Gesellschaft. Freilich können auch mythische Subjekte das Handeln des Einzelnen bestimmen: etwa wenn er meint, dass ihn „das Vaterland“ ruft oder dass die „Vorsehung“ ihm einen histori-schen Auftrag erteilt hat.

3Diese Überlegungen lassen den dialo-gischen Charakter individueller Sub-jektivität erkennen. Schon die primäre

Sozialisation eines Kleinkindes zeigt, dass es ohne ständige Interaktion mit den Eltern weder soziale noch sprachliche Fähigkeiten erwerben könnte. Später setzt die sekundä-re Sozialisation in Schule und Beruf einen dialogischen Prozess fort, in dessen Verlauf sich das Subjekt immer weiter bildet. Subjek-tivität erscheint hier nicht als ein konstanter Zustand der Unveränderbarkeit (wie in den idealistischen Philosophien), sondern als ein Prozess, der durch einen permanenten Dialog mit den anderen in Gang gehalten wird. Dies bedeutet, dass Subjektivität – sowohl die in-dividuelle als auch die kollektive – stets dia-logischen Charakter hat. Denn auch kollek-tive Subjekte wie Gewerkschaften, politische Parteien oder Universitäten können konkret

nur im gesellschaftlichen Umfeld verstanden und erklärt werden, in dem sie als Aktanten agieren und interagieren. Dabei ist auch das internationale und interkulturelle Umfeld dieser Kollektivsubjekte zu berücksichtigen.

4Die Auffassung der Subjektivität als Prozess ermöglicht eine Unterschei-dung von Subjektivität und Identität.

Individuelle und kollektive Subjekte haben keine konstante, unveränderliche Identität, sondern erwerben ihre Identitäten in ver-schiedenen Sozialisationsprozessen. „Iden-tität“ erscheint hier u.a. als Objekt-Aktant, den sich das Subjekt im Laufe seiner Sozia-lisierung aneignet, um Subjekt zu werden. Es wird nicht mit einer bestimmten Identi-tät geboren, sondern erwirbt diese nach und nach. Dabei strebt es – sowohl als individu-elles als auch als kollektives Subjekt – nach größtmöglicher Kohärenz. Der Einzelne, der in einer Wissenschaftler- oder Künstlerfami-lie aufwächst, kann an die Familientradition anknüpfen und die primäre Sozialisation im Elternhaus nahtlos in die sekundäre Sozi-alisation in Schule, Universität, Konserva-torium oder Kunstakademie übergehen las-sen. Er kann auch mit der Familientradition brechen und nach einer neuen Kohärenz als erfolgreicher Sportler oder Bankmanager streben. Misserfolge können Brüche und Verwerfungen zeitigen und den Einzelnen zwingen „umzudenken“ und von neuem zu beginnen. Dies gilt auch für Kollektivsub-jekte wie Staaten: Nach einem verheerenden Krieg kann ein Staat mit seiner jüngsten Ver-gangenheit radikal brechen, einen Neube-ginn wagen und dabei an ältere Traditionen anknüpfen. Fast alle europäischen Staaten haben einen solchen „Neubeginn“ – als ver-gangene Zukunft – hinter sich, fast alle sa-hen sich dabei gezwungen, ihre Geschichte umzuschreiben, um sich als Kollektivsubjek-te neue Identitäten anzueignen – ohne die al-ten restlos aufzugeben. „Österreich-Ungarn“ wurde erst zu „Deutschösterreich“, später zu „Österreich“, das „Deutsche Reich“ wurde zur „Bundesrepublik Deutschland“, die „Sowjet-union“ (wieder) zu „Russland“ usw. In allen diesen Fällen galt es, eine Neukonstruktion auf modifizierter politischer, sprachlicher und rechtlicher Grundlage zu wagen.

5Die Aneignung der Identität durch ein Subjekt erscheint hier nicht nur als Prozess, sondern auch als narrative

Konstruktion. Sowohl individuelle als auch kollektive Subjekte konstruieren ihre Iden-titäten, indem sie ihre Vergangenheit und

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ihre Zukunft stets von neuem erzählen. Die Auffassung der Subjektivität als Erzählung schließt jede Art von Determinismus aus; aber auch Beliebigkeit und Willkür werden ausgeschlossen. Wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen zwin-gen kollektive und individuelle Subjekte, kre-ativ zu sein und sowohl ihre Vergangenheit als auch ihre Zukunft stets von neuem zu erzählen. Als Deutschland nach dem Zwei-ten Weltkrieg gleichsam neu gegründet wur-de, knüpften Politiker und Historiker nicht mehr an germanische und mittelalterliche Mythen, die stets Erzählungen sind, son-dern an die demokratisch-parlamentarische Vergangenheit an. Zugleich erzählten sie von Deutschlands neuer Rolle in einer sich ent-wickelnden europäischen Staatengemein-schaft. Auch individuelle Subjekte sahen sich in fast allen europäischen Nachkriegsgesell-schaften gezwungen, ihre Vergangenheit und Zukunft neu zu erzählen. Die moderne Ideologie macht die Individuen zwar zu Sub-jekten: aber nicht für immer. Es ist auch kei-neswegs so, dass der Einzelne (wie Althusser und seiner Weggefährten meinen) immer irgendeiner Ideologie zum Opfer fällt. Die nachmoderne Skepsis gilt nicht nur den Me-taerzählungen im Sinne von Lyotard; sie gilt allen Ideologien als Erzählungen. Das von Montaignes Skepsis beseelte, kritische Ein-zelsubjekt ist durchaus frei: nicht weil es al-les Denkbare verwirklichen, sondern weil es sich immer wieder kritisch distanzieren und zwischen möglichen Erzählungen als Zu-kunftsentwürfen wählen kann. Dies schließt freilich die Existenz ideologisch überdeter-minierter, unfreier Subjekte nicht aus: Denn das lateinische subiectum bedeutet sowohl Zugrundeliegendes als auch Unterworfenes. Entsprechend sieht es in der Gesellschaft aus.

6In diesem Zusammenhang bietet sich eine Unterscheidung zwischen Indi-vidualität und Subjektivität an: Das

Individuum ist der Einzelne ohne gesell-schaftliche und sprachliche Identität. Es ist das neugeborene Kind als infans (das „Sprachlose“), dessen Subjektwerdung als Aneignung von sozialer Identität noch nicht begonnen hat – oder gerade beginnt. Aller-dings besitzt das Neugeborene eine von den Eltern geerbte biologische Identität, die sei-ne Subjektwerdung als Mann oder Frau, als großer oder kleiner, starker oder schwacher Körper beein-flusst. Somit erscheint die bio-logische Individualität als die Grundlage der

Subjektwerdung und des bevorstehenden Identitätserwerbs. Am besten veranschau-licht wird dieser Sachverhalt durch die erbli-che künstlerische Begabung: Wer eine solche Begabung erbt, der wird stets einen klaren Ausgangspunkt für seine Lebenserzählung finden können, sofern nicht andere Faktoren einen Bruch mit der Familientradition her-beiführen. Individualität könnte auch als die materielle Basis der gesellschaftlich erwor-benen Identität und Subjektivität definiert werden.

7Alle hier angestellten Überlegungen führen zu der Frage nach der Stellung des Einzelsubjekts in der zeitgenössi-

schen Gesellschaft. Aus verschiedenen Grün-den ist diese Stellung gefährdet: (a) In der Wirtschaft entscheidet nur noch selten der einzelne Unternehmer als tycoon, sondern ein Team oder Board of Directors, so dass nicht Unternehmungslust und Einzelinitia-tive gefragt sind, sondern „Teamfähigkeit“. Michel Crozier meint zwar (in Le phénomène bureaucratique), dass diese Entwicklung nicht unbedingt bedauert werden muss, zu-mal der Unternehmer der liberalen Ära oft herrschsüchtig oder irrational war und es an demokratischer Gesinnung fehlen ließ. Dies mag sein, aber die Tatsache, dass die Initiati-ve des Einzelnen im Wirtschaftssystem stark zurückgedrängt wurde, ist kaum zu überse-hen. Es kommt hinzu, dass sogar der (klei-nere) Staat als Kollektivsubjekt zum Spielball internationaler Großkonzerne werden kann, deren Entscheidungsträger (zumeist rasch wechselnde Teams) schwer auszumachen sind. (b) Auf Seiten der Arbeitnehmer wird die Initiative des Einzelsubjekts durch das Auftreten kollektiver Aktanten wie Gewerk-schaften, Betriebsräte und Gremien aller Art immer weiter zurückgedrängt. (c) Zudem beeinträchtigt der Einsatz der eingangs er-wähnten mechanischen Aktanten (Roboter, Computer) die Autonomie des Einzelnen am Arbeitsplatz. (d) Was für Wirtschaft und Produktion gilt, gilt in abgewandelter Form auch für den Konsumbereich: Die Konsu-menten, die immer weniger (anspruchsvolle) Zeitungen lesen, werden in zunehmendem Maße von den Medien – von Fernsehen und Werbung – zu Subjekten gemacht, und zwar noch stärker als von den Ideologien, die im Alltag nach wie vor wirken, auch wenn es nicht mehr die heilverkündenden Groß-ideologien der Zwischenkriegszeit sind. (e) Die allgegenwärtige mediale Manipulation führt dazu, dass individuelle und kollektive

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Subjekte (etwa Reisegruppen) immer passi-ver reagieren und „Angebote“ konsumieren, statt individuell auszuwählen und selbst et-was zu unternehmen. Die Folge ist eine post-moderne Oberflächlichkeit und Austausch-barkeit, die bewirkt, dass etwa Strandurlaube in Griechenland, Spanien oder Tunesien als „gleichwertige Freizeitangebote“ gehandelt werden – ohne Rücksicht auf sprachliche, historische oder kulturelle Besonderheiten. Zugleich macht sich eine Atrophie der Er-fahrung bemerkbar, die mit der Indifferenz als Austauschbarkeit von „Urlaubsländern“, „Angeboten“ und „Events“ zusammenhängt. (f) Ein latenter Analphabetismus, der darin besteht, dass anspruchsvolle, kritische Tex-te immer seltener zur Kenntnis genommen werden, weil ihre Syntax vielen zu schwierig erscheint, hat zur Folge, dass das kritische Denken, dass seit Montaigne eine Stütze in-dividueller Freiheit war, zur Ausnahme wird, die eher irritiert, als nachdenklich stimmt – wenn sie überhaupt wahrgenommen wird. (g) Das passive Verhalten der Durchschnitts-konsumenten lässt die geistige Initiative der Einzelsubjekte verkümmern und zusam-men mit ihr deren historisches, politisches, sprachliches und geographisches Gedächtnis. Eine der Folgen ist, dass sie immer weniger in der Lage sind, sich in Wirtschaft, Politik und Kultur zu orientieren. Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass die in letzter Zeit oft diskutierte „Krise des Subjekts“ keine leere Phrase ist. Zwar ist die kritische Distanzie-rung, die für die Freiheit des Einzelsubjekts bürgt, auch in der zeitgenössischen Gesell-schaft noch möglich, aber die Fähigkeit, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, ver-kümmert zusehends.

>LITERATURZima, P. V. (2010), Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Mo-derne und Postmoderne, 3. Aufl., Francke, Tübingen-Basel.

Souveränität

A. Trültz

sch

P. Kuzev

7

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Als Michel Foucault 1984 starb, galt er in Deutschland als Gegner der Subjektphiloso-phie. In Manfred Franks Buch „Was ist Neo-strukturalismus?“ (1983) wurde Foucault mit Jacques Derrida und Jacques Lacan als ein Strukturalist der neuen (und üblen) Sorte ge-brandmarkt, der die klassischen philosophi-schen Probleme der subjektiven Selbstentfal-tung und der individuellen Selbstbestimmung aufgekündigt habe. Dazu gesellten sich bald Stimmen aus den Bereichen des politischen Denkens und der Gesellschaftsanalyse, die zwar Foucault persönlich als kritischen In-tellektuellen wertschätzten, mit seiner Philo-sophie aber doch große Schwierigkeiten hat-ten, weil hier ganz offensichtlich Kritik nicht gleichbedeutend war mit Empörung oder gar Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse. Foucault hatte zwar die Macht des Staates analysiert, aber beispielsweise Widerstand dagegen nicht klar und deutlich legitimiert (vgl. dazu Hechler und Philipps, 2008). So ergab sich das Bild eines Denkers, der mit der Tradition der Subjektphilosophie von Descartes bis Sartre gebrochen hat und zu-gleich die kämpferische Emphase des spät-marxistischen Denkens nicht teilen wollte oder konnte. Die folgenden Bemerkungen kommentieren dieses Bild. >Rechts wie links war man sich einig, dass Foucault das Subjekt in die Krise ge-stürzt habe bzw. dass seine Philosophie es zu einer bloß vorübergehenden Erscheinung herabwürdige, ähnlich wie am Ende seines Hauptwerks „Die Ordnung der Dinge“ (1966, dt. 1971) vom Konzept des Menschen gesagt wird, es verschwände bald wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer. Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, ist Foucault im-mer noch in aller Munde, finden seine Texte viele Anschlüsse bei Kulturphilosophen, Poli-tologen, Soziologen und kritischen Geistern allgemein, jedoch die Schwierigkeit bleibt grundlegend: Wie kann eigentlich Foucault so ganz und gar auf das Subjekt verzichten?

ulrich johannesschneider

Gibt es eine Krise des Subjekts bei Michel Foucault?

Darauf ist schwer zu antworten, weil Subjekt und Subjektivität seit Kant und Hegel Be-griffe von großer Wucht und Wirksamkeit geworden sind, die wir beim Denken aller möglichen theoretischen und praktischen Probleme immer mit einbe ziehen. Die Idee der Aufklärung hängt daran, weil sie im Den-ken des einzelnen Subjekts soziale und ideo-logische Vorstellungszusammenhänge ver-ändern will und daran appelliert, dass jedes einzelne Bewusstsein sich auf rationale Art und Weise zur Grundlage einer begründbaren Welt sicht machen kann und darüber hinaus subjektive Urteile die Kraft zur Verallgemei-nerung zuge sprochen bekommen. Wenn ich nur richtig denke, kann Denken Veränderun-gen herbei führen und in der Folge auch unser Handeln neu bestimmen. So erklären wir uns meist die Abschaffung von Ungerechtigkeit oder alten Ordnungen überhaupt: Subjektive Erkenntnis vermögen wie der Verstand und realitätsverändernde Kräfte wie die Vernunft lassen sich mobilisieren, eben weil wir – so unterschiedliche individuelle Positionen wir in der Welt einnehmen – Subjekte sind. >Diese plakative Darstellung erklärt ei-nerseits, warum die Fragen der Ethik und der Moral, der Politik und auch der Ästhetik mit einem starken Subjektbegriff ausgestattet sind, wenn wir sie in gegenwärtigen akademi-schen und intellektuellen Zusammenhängen diskutieren. Die Zuspitzung vermag anderer-seits leicht zu der Einsicht überleiten, dass Foucault gänzlich anders denkt. In Foucaults Philosophie spielen Revolutionen keine Rol-le, eher schon Transformationen, deren ver-ändernde Kraft ganz häufig als unmerklich dargestellt wird. Es gibt bei Foucault, der viel über historische Sachverhalte gearbeitet hat, niemals die retrospektive Auszeichnung geschichtswirksamer Personen: Bei ihm ist alles Diskurs, Praxis und Verhaltensweise. Foucaults Individuen tragen Funktionsbe-zeichnungen, es sind der geistig Kranke, der Kranke allgemein, der Delinquent, der Wis-

14subjekt

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senschaftler einer bestimmten Epoche, die singuläre Figur des sich selbst regierenden Menschen usw. Foucaults Akteure sind zu-rückgezogen, stecken Energie in die Verwei-gerung, wollen nicht behandelt, nicht analy-siert, nicht regiert und nicht gelenkt werden. Darum hat Foucault das Wort „Subjektivie-rung“ mit einer auf den ersten Blick erstaunli-chen Doppelbedeutung belegt. Es heißt näm-lich nicht nur im traditionellen Sinne „zum Subjekt werden“, es heißt auch sich beugen, sich einer Sache unterordnen, beispielsweise sich in Schule, Militär oder Justizapparat zu disziplinieren. Die große Anstrengung von Foucaults historischen Studien, die Pointe vieler seiner Interviews und kleinen Texte, die langen und gewundenen Ausführungen seiner Vorlesungen dienen hauptsächlich der Ausmalung dieser gewissermaßen ohnmäch-tigen Position, in die wir gestellt sind – wie historisch oder sozial variabel auch immer – und aus der wir nicht entkommen können. >Während Sartre – in der Meinung der Zeitgenossen Gegenspieler von Foucault – so drama tische Sätze verlauten ließ wie: „selbst in Ketten sei der Mensch frei“, fehlen bei Foucault programmatische Äußerungen und erst recht die affirmative Verwendung von Begriffen wie Mensch oder Freiheit. Wer nun denkt, damit sei Foucault für all diejeni-gen philosophischen und theoretischen An-sätze gestorben, die in irgendeiner Weise der Erkenntnis, dem Handeln und auch dem Wi-derstand verpflichtet sind, liegt richtig. Auf der anderen Seite kann man sagen, dass Fou-cault Subjekte in philosophisch ungeahnter Komplexität adressiert, dass er nicht von ab-strakten Vernunftmaschinen ausgeht, son-dern Subjekte, investiert in sehr konkrete und komplexe Situationen, denkt. Anders ist kaum zu erklären, warum er für die Beschrei-bung von sozialen Verhältnissen – etwa in der Psychiatrie oder der Strafjustiz – so große Anstrengungen zur Konkretion unternom-men hat. Wo andere schnell sehen, dass der Mensch unterdrückt lebt und befreit werden muss, will Foucault erst einmal analysieren, wie die Verhältnisse genau beschaffen sind. So wendet er sich in seinem Buch „Der Wille zum Wissen“ (1976) ausdrück lich gegen die These von der Unterdrückung der Sexualität, indem er darauf verweist, in wie vielfältigen Formen wir sie thematisieren. Unterdrü-ckung ist kein Sachverhalt, sondern eine Kategorie des Denkens. Realität zeigt uns Anderes. Dass wir beispielsweise Sexualität in Diskursen – wie etwa der Beichte – promi-

nent behandeln, gibt ihr einen realen Status in unserem Leben, der selbst dann, wenn wir behaupteten, sie sei durch Regeln und Vor-schriften eingeengt, nicht unwahr wird. >Foucaults Investitionen des Subjekts in diskursive wie praktische Regelzusammen-hänge kann verstanden werden als ein Auf-die-Füße-Stellen traditioneller Philosophie. Bei Foucault werden die philosophisch ent-scheidenden Fragen nicht von möglichen Effekten einer Antwort her ruhiggestellt, vielmehr werden sie vertieft und problema-tisiert bis dahin, dass man selbst zu denken anfängt und die Fragen – etwa aus einem Lehrbuch zur Ethik – mit der Frage nach dem Leben selbst verbindet. Ohne Prob-leme kann man Foucault auch heute noch einen Strukturalisten nennen, wenn man damit meint, dass er konkrete objektive Re-gelungszusammenhänge stärker denn abs-trakte subjektive Potenziale in das Zentrum seiner Überlegungen gestellt hat. Man muss aber zugleich erkennen, dass er den tradi-tionellen Subjektbegriff in die Krise seiner Verkompli zierung führt – und konsequen-terweise meist vermeidet. Es ist eine tiefe Aversion gegenüber der Fetischisierung von Begriffen, die Foucault von der logischen Fixierung von Konzepten – so gerne geübt, weil damit das Begreifbare auf Distanz ge-halten wird – hin zu einer historisch-philo-sophischen Arbeit geführt hat, die mit dem denkt, was sie benennt, also beispielsweise „Subjekt“ denkt durch „Subjektivierung“. >Das wird in Foucaults letzten, ethischen Werken, die im Jahre seines Todes 1984 ver-öffentlicht wurden, besonders deutlich, ge-rade weil dort der Begriff Subjekt keine zen-trale Referenz mehr darstellt, sondern eher vom „Ich“ oder „Selbst“ die Rede ist. Aber die Frage, inwieweit Subjekte Regeln aufstellen und inwieweit sie Regeln befolgen müssen, bleibt so aktuell wie im politisch-philo so-phischen Kontext der 1970er Jahre, als es um Machtkonstellationen ging. Nun wer-den moralische Fragen der Lebensführung und der Handlungsentscheidung vor dem Hintergrund philoso phi scher Texte aus dem Zeitalter des Hellenismus verhandelt, deren Ertrag man entscheidend mindern würde, würde das Subjekt in seiner erkenntnis-theoretischen und moralphilosophischen alten Größe darübergeschrieben. Weit eher geht es um die Frage der Regierung und der Regierung seiner selbst, die in den traditi-onellen Subjektphilosophien gar nicht erst auftaucht.

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>Wie sich Foucault in der Literaturwis-senschaft gegen eine Beschäftigung mit dem Autor ausgesprochen hat, den er als eine Funktion versteht, die für viele Bereiche unseres Verstehens wichtig ist, nicht aber unabhängig von unseren Interessen Realität besitzt, so ist auch das Subjekt bei Foucault abwesend bei den Problematisierungen von Subjektivierung, die seine Konstitution aus-machen. Dies stellt eine Krise dar, wenn man glaubt, philosophische Themen der Vergan-genheit samt ihrer Terminologie bewahren zu müssen: Foucault zeigt, dass man auch ohne das Konzept des Subjekts oder der Sub-jektivität moderne Lebensverhältnisse philo-sophisch auf den Punkt bringen kann – an-dere, wie Martin Heidegger, hatten das zuvor noch mit durchaus starkem Rückgriff auf die metaphysische Tradition versucht. Freilich kann es auch sein, wenn man Subjektivität als Fluchtburg der Rationalität anzusehen gewohnt war, dass die Analysen Foucaults auf eine Krise desjenigen Subjekts verweisen, das als Klammer zwischen Weltvernunft und Ein-sicht fungiert. Denn eigentlich spricht nichts dagegen, Foucaults Arbeiten insgesamt als eine Öffnung der Reflexion anzuerkennen, durch die philosophische Begriffe (wie das Subjekt) und die Analyse der Gesellschaft (in ihren Diskursen und Praxen) neu zueinander finden können. In diesem Sinne ist die Krise des Subjekts bei Foucault gleichbedeutend mit einer produktiven Transformation der Begriffsarbeit wie zugleich mit der analyti-schen Arbeit an der Gesellschaft, in der jene Begriffsarbeit stattfindet.

>LITERATURFoucault, M. (1971): Die Ordnung der Din-ge, Suhrkamp, Frankfurt a.M.Foucault. M. (1976): Sexualität und Wahr-heit. Erster Band: Der Wille zum Wissen, Suhrkamp, Frankfurt am Main.Frank, M. (1983): Was ist Neostrukturalis-mus?, Suhrkamp, Frankfurt a.M.Hechler, D. und A. Philipps (2008): Wi-derstand denken – Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Transcript, Bielefeld.

Medien

G. Wiedemann

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Das Beispiel „Google Street View“ hat es 2010 wieder gezeigt: Datenschutz wird in Deutsch-land groß geschrieben. In den Medien wur-de der Suchmaschinenmonopolist für seine Praxis, Straßenansichten in Großstädten zu fotografieren und ins Internet zu stellen, heftig kritisiert. Fast eine Viertel-Millionen Einwohner legten vorab Widerspruch gegen die Abbildung ihrer Behausungen ein. Die öf-fentliche Kritik gegen Google schlug Wellen wie in kaum einem anderen Land zuvor (Ta-gesschau, 2010). >Gleichzeitig ist die Einführung dieser letztmöglichen Zoomstufe eines Internet-kartendienstes ein anschauliches Beispiel dafür, dass sich trotz des entwickelten Da-tenschutzrechts und eines im internationa-len Vergleich bemerkenswert ausgeprägten Datenschutzbewusstseins in Deutschland ein bestimmter Trend nicht aufhalten lässt: Die zunehmende Bedeutung der Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten. Die informationstechnologische Revoluti-on, die seit den 1980er Jahren die kapitalis-tische Produktionsweise fundamental neu strukturiert hat, katapultierte die westlichen Gesellschaften zeitgenössischen Diagno-sen zufolge in das „Informationszeitalter“ (Castells, 2001). Erstmals in der Geschichte geht es um Technologien, die Informatio-nen bearbeiten und nicht um Informatio-nen, mit denen Technologie bearbeitet wird (ebd.: 75f). Insofern es sich bei dieser Infor-mationsverarbeitung um personenbezogene Daten handelt, scheint die „informationelle Selbstbestimmung“ (IS) mehr und mehr in Bedrängnis zu geraten. >Die IS machte eine bemerkenswerte Karriere: Vom „Randprodukt“ eines Gutach-tens im Auftrag des Bundesinnenministeri-ums von 1971 mauserte sie sich bis hin zu einem Grundrecht mit Verfassungsrang im Jahre 1983 (Bull, 2009: 25). Damals fällte das Bundesverfassungsgericht ein wegwei-sendes Urteil für das deutsche Datenschutz-

recht. In seiner Entscheidung zum Volks-zählungsgesetz (BVerfGE 65, 1), welches die Durchführung einer Totalerhebung von Daten aller Staatsbürger zu in erster Linie statistischen Zwecken vorsah, leitete es das Recht auf „informationelle Selbstbestim-mung“ als neues Grundrecht aus dem Allge-meinen Persönlichkeitsrecht ab (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Dabei entfaltet diese verfassungsrechtliche Konstruktion eine besondere Bedeutung: Sie erlaubt es Verstöße gegen den Datenschutz gleichsam als Verstöße gegen die Menschen-würde zu kritisieren – ein Umstand, der zum hohen Stellenwert des Datenschutzes sowie der lauten Kritik gegen Versuche diesen zu schleifen beigetragen haben dürfte.

Krise I

Zwei Ängste speisen den in der Bundesre-publik Deutschland besonders ausgeprägten überwachungskritischen Diskurs: Eine Tech-nikangst, die oft aus einer Skepsis bzw. Un-kenntnis der Funktionsweise und der Mög-lichkeiten neuer Informationstechnologien herrührt und eine „Staatsphobie“, die den Staat als eine autonome Machtquelle miss-deutet (Foucault, 2000). So hat sich bspw. unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ eine Art neue Bürgerbewegung etabliert, die sich aus zahlreichen parteilich ungebundenen Gruppen und Einzelpersonen zusammen-setzt – unterstützt von einer bis dato un-gekannten Parteienkoalition aus LINKEN, GRÜNEN und FDP. Im nicht-staatlichen Bereich sind Skepsis bis hin zur Totalver-weigerung gegen neue soziale Kommunika-tionsnetzwerke wie Facebook und Twitter weit verbreitet. Rabattkartensysteme wie Payback lassen KritikerInnen spotten, wenig sensibilisierte BürgerInnen seien bereit, ihre Privatsphäre für ein Linsengericht zu verhö-kern (Tangens, 2006). In diesem Sinne baut die liberale überwachungskritische Perspek-

gregor wiedemann

Die Krise der informationellen

Selbstbestimmung

15medien

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tive George Orwells „Big Brother“ als diffuses Konglomerat staatlicher und ökonomischer Total-Beobachtung zum Gegenspieler des autonomen Subjekts auf, dessen Grundrecht auf IS im Zuge der Nutzung neuer Technolo-gien unter die Räder gerät.

Krise II

Aber noch von einer anderen Seite aus wird die IS in die Zange genommen. In seiner jüngsten Streitschrift stellt der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull ihre rechtliche Konstruktion auf Ba-sis des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts grundsätzlich in Frage. Die neuere techni-sche Entwicklung zeige, dass das Fundament des deutschen Datenschutzrechts alles ande-re als verfassungsrechtlich geboten sei: Da es die Datenerhebung und -verarbeitung nur als Ausnahme zulasse, blende es die Freiheit zum Umgang mit Informationen aus (Bull, 2009: 56ff): „Informationssuche und Informa-tionsnutzung sind in unserer extrem verflochte-nen Gesellschaft elementare Verhaltensweisen eines jeden Menschen und aller menschlichen Vereinigungen und Einrichtungen; sie von vorn-herein für gefährlich zu halten ist inadäquat.“ (ebd.: 90). Bull bewegt sich damit ganz auf Linie der Entwicklung hin zum „Informati-onszeitalter“. In der Phase des Kapitalismus, in der die Kommodifizierung von Informa-tion die Wertschöpfung in den Fabriken potenziell übersteigt, darf der Datenschutz keinesfalls zum „Verhinderungsinstrument“ für die an sich sinnvolle und nützliche Da-tenverarbeitung werden. Die von Daten-schützerInnen und Überwachungskritike-rInnen geforderte „Datenaskese“ erscheint angesichts dieser Entwicklungstendenz als kaum durchsetzbares Prinzip (Wiedemann, 2011: 155ff).

Krise III

Die liberale Überwachungskritik bleibt all-zu oft fixiert auf die Vorstellung eines zen-tralisierten und totalitären Überwachungs-staates. Anstatt jedoch die Kritik nur auf die disziplinären Zwangsmechanismen zu richten, die im Zuge neuer Sicherheitsge-setze wirksam werden, erscheint es not-wendig, die Analyse um Technologien des Selbst zu erweitern, um der „panoptischen Zwangsjacke“, wie die verkürzte Überwa-chungskritik auch genannt wird (Aas et al., 2009: 4), zu entkommen. Hierbei ent-

scheidend ist v.a. eine Neubestimmung des Verhältnisses von Privatheit und Öffent-lichkeit. >Individualität und Privatheit, die Grundpfeiler liberaler Freiheitsauffassung, sind in der Tat kontingente Konstrukte, die als Ergebnis vielfältiger Machtwirkungen produziert werden. In ihrer gegenwärtigen Ausprägung sind sie nicht nur Garant des Glückspotenzials des Einzelnen, sondern auch auf eine ökonomische Inwertsetzung des Individuums hin ausgerichtet. Die Kontrolle über die eigene Selbstdarstel-lung zu behalten steht in unmittelbarer Verbindung zum neoliberalen Zwang, sich selbst als produktives, nützliches Individu-um ins Werk zu setzen. In dieser Hinsicht wirkt Überwachung als zielgerichtete Be-obachtung in der Gouvernementalität der Gegenwart nicht nur als Beschränkung in-dividueller Freiheiten, sondern überhaupt erst subjektbildend. Dabei bringt sie das Individuelle also erst hervor, anstatt es zu bedrohen, und weckt neuerdings gerade-zu eine Lust an der Überwachung (Rothe, 2009: 69). IS bekommt in einer ökonomi-sierten Gesellschaft die Bedeutung der Selbstführung und -vermarktung, bspw. in den bewussten Inszenierungen der eigenen Person bei der Nutzung sozialer Internet-dienste. Diese Inszenierung erfolgt i.d.R. jedoch nicht gegenüber der ‚Öffentlichkeit an sich’, sondern gegenüber wohldefinier-ten „persönlichen Öffentlichkeiten“ mit denen bewusst jeweils ein ganz unter-schiedliches Publikum angesprochen wird (Schmidt, 2008: 105ff).1 >In dieser Perspektive ist nicht der juridisch-disziplinäre Zugriff des zentra-len Machtstaates das eigentliche Problem, sondern die Ausweitung eines Normalitäts- und Konformitätsdrucks auf das Individu-um durch dessen zunehmende Sichtbarkeit und ständige Beobachtung des eigenen Körpers, des Verhaltens, der Kommuni-kation. Die permanente Informationser-hebung und -auswertung führt zu einer ungeheuren Ausweitung eines bestimmten Wissens über das Soziale, das auch die Mög-lichkeiten zur Definition von Norm und Abweichung deutlich erweitert. Die neuen Informationstechnologien eröffnen damit potenziell neue Zugriffsfelder für Soziale Kontrolle (Singelnstein und Stolle, 2008), die letztendlich eine Gefahr für die Vielfalt unterschiedlicher Lebensweisen und politi-scher Pluralität darstellen kann.

1 Web-Dienste richten für diese Zwecke zunehmend die technische Infrastruk-tur ein, z.B. mittels eines komplexen Rechtemanagements.

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Chance?

Die IS wie sie das BVerfG einst definierte – „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu be-stimmen“ und sicher zu sein „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über [einen] weiß“ (BVerfGE 65, 1) – wird künftig in dieser Form kaum bestehen können. Statt uns deswegen aber den neuen Informationstechnologien zu verweigern, sollten wir nach Wegen suchen, verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen und sie in emanzipatorischer Weise nutzbar zu machen. Sie eröffnen nämlich auch die Chance Machtasymmetrien auf Basis von Informationsungleichgewichten durch Sym-metrie in den Kontrollmöglichkeiten abzu-mildern. Informationsfreiheitsrechte oder Projekte wie WikiLeaks sind Ansätze in diese Richtung.

>LITERATURAas, K. et al. (2009): „Introduction. Tech-nologies of (in)security” in: K. Aas et al. (Hg.): Technologies of Insecurity. The surveil-lance of everyday life, Routledge-Cavendish, Abingdon England, New York, S. 1–18.Bull, H. P. (2009): Informationelle Selbstbe-stimmung - Vision oder Illusion? Datenschutz im Spannungsverhältnis von Freiheit und Si-cherheit, Mohr Siebeck, Tübingen.Castells, M. (2001): Das Informationszeit-alter. Wirtschaft - Gesellschaft – Kultur, 3 Bände, Leske + Budrich, Opladen.Foucault, M. (2000): „Staatsphobie“, in: U. Bröckling et al. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 68–71.Rothe, M. (2009): „Um die Überwachung geht es nicht“, in: Leipziger Kamera. Initi-ative gegen Überwachung (Hg.): Kontroll-verluste. Interventionen gegen Überwachung, Unrast, Münster, S. 68–75.Schmidt, J. (2009): Das neue Netz. Merk-male Praktiken und Folgen des Web 2.0, UVK, Konstanz.Singelnstein, T. & Stolle, P. (2008): Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, VS Verlag für Sozialwis-senschaften, Wiesbaden.Tagesschau (2010): Hier ein Reiz - dort ein Reizthema, online verfügbar unter http://www.tagesschau.de/ausland/streetview-ausland100.html, 01.02.2011.Tangens, R. (2006): Schwarzbuch Daten-

schutz. Ausgezeichnete Datenkraken der BigBrotherAwards, Edition Nautilus, Ham-burg.Wiedemann, G. (2011): Regieren mit Da-tenschutz und Überwachung. Informationel-le Selbstbestimmung zwischen Sicherheit und Freiheit, Tectum, Marburg.

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Medienunternehmen und der Journalismus befinden sich in einer schwerwiegenden Kri-se. Diese Schlussfolgerung lassen die Hiobs-botschaften zu, die in den letzten zwei Jahren aus der Medienbranche in die Öffentlichkeit drangen. In den USA beispielsweise fuhr die New York Times Co. 2009 einen Verlust von 62 Millionen Dollar ein (Russ-Mohl, 2009). In Deutschland brachen die Anzeigenerlöse der Zeitungen um 15.9 Prozent ein, die Ge-samtumsätze der Branche fielen auf das Ni-veau von 1993 zurück (Keller, 2010). >Diese wirtschaftlichen Probleme trafen den Journalismus hart. In zahlreichen Redak-tionen wurden Stellen abgebaut. Ein Beispiel dafür ist die Süddeutsche Zeitung: Nachdem sie 2008 angekündigt hatte, den Redaktionse-tat um fünf Mio. € zu kürzen und damit auch die Anzahl der Beschäftigten zu reduzieren, baute sie nur ein Jahr später weitere redaktio-nelle Stellen ab (Meyer-Lucht, 2008). >Der Journalismus schlittert allerdings auch wegen der vermeintliche Konkurrenz durch „Laienjournalisten“, bzw. „Web-2.0“-Journalisten in die Krise. Wegen der zuneh-mende Nutzung von Onlinemedien wie Face-book, Twitter, Blogs etc. kann jede Bürgerin und jeder Bürger rasch und ohne große tech-nische Kenntnisse Informationen, spezifisches Fach- und Alltagswissen, Ansichten und Mei-nungen aufbereiten und veröffentlichen. Der professionelle Journalismus scheint damit eine entbehrliche Tätigkeit zu sein, die von je-der Einzelperson, die mit Laptop, Kamera und Internetanschluss ausgerüstet ist, genauso gut wahrgenommen werden kann. Der Me-dienwissenschaftler Robert Picard hat diesen Umstand in einem Artikel mit dem Titel „Why journalists deserve to pay low“ provozierend dargestellt (Picard, 2009). Aus dieser Perspek-tive verliert die Medienkrise allerdings auch ein Stück ihrer Bedrohlichkeit: „Bürgerjourna-listen“ weisen das Potential auf, die Lücke zu kompensieren, die der Stellenabbau auf Re-daktionen hinterlassen hat. An die Stelle von

Redakteuren tritt die kollektive Intelligenz vernetzter Bürgerinnen und Bürger, die ihr je spezifisches Fachwissen, ihre Beobachtungen von Ereignissen (z. B. von Demonstrationen in Ägypten), auf verschiedenen Onlineplattfor-men veröffentlichen. >Trotzdem: Der Journalismus in der moder-nen „Internetgesellschaft“ ist weniger entbehr-lich, als es auf den ersten Blick scheint. Jour-nalismus erbringt für die Demokratie eminent wichtige, gesamtgesellschaftliche Leistungen und ist damit eine unentbehrliche Institution – wie u.a. die Publizistikwissenschaftlerin Marie Luise Kiefer in ihrem neusten Buch (2010) in Erinnerung ruft. Journalismus stösst politische Lernprozesse an, lenkt die Aufmerksamkeit der Bürger auf Ereignisse mit gesamtgesellschaft-licher Relevanz (z. B. politische Entscheidun-gen, Wahlen, wirtschaftliche Entwicklungen); vermittelt zwischen Bürger/innen, Interessen-gruppen, und Regierungen; löst gesellschaftli-che Debatten aus, kritisiert mächtige staatliche und wirtschaftliche Akteure und ordnet einzel-ne Informationen und Beobachtungen in grö-ßere Zusammenhänge ein (Ebd). >Diese gesamtgesellschaftliche Leistung des Journalismus können sogenannte „Laienjour-nalisten“ nur sehr beschränkt wahrnehmen. Da Blogs oder Inhalte auf Facebookprofilen von Einzelpersonen zumeist in deren Freizeit erstellt werden, beschäftigen sich diese Ange-bote mit wenigen Spezialthemen. Sie richten sich zumeist an „Freunde“ mit ähnlichen Inte-ressen, nicht aber an eine breite Öffentlichkeit (oder werden von dieser zumeist nicht wahrge-nommen). Um die gesellschaftliche Leistung des Journalismus wahrzunehmen, bedarf es jedoch eines Medienangebots, das eine Vielfalt an Themen in regelmäßigen Abständen bereit stellt und sich an Personen unterschiedlicher Schichten und verschiedenen Alters richtet. >Diese Leistung des Journalismus kann jedoch nur innerhalb eines Medienunterneh-mens erbracht werden. Das Medienunterneh-men akquiriert Werbung und sorgt dafür, dass

matthiaskünzler

Medienkrise =

Journalismuskrise?

16medien

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das journalistische Produkt an die Leser oder Zuschauer vertrieben und von großen Teilen der Bevölkerung zur Kenntnis genommen wird. Erst durch die dauerhafte Honorierung professioneller Journalisten können universel-le Themeninhalte in regelmäßigen Abständen veröffentlicht werden und erreichen so gesell-schaftsweite Aufmerksamkeit (Altmeppen, 2006). >Solche professionell produzierten, jour-nalistischen Inhalte sind in der modernen demokratischen Gesellschaft keineswegs entbehrlich geworden. Wir benötigen eine gesellschaftliche Institution, die aus der schier unüberschaubaren Vielfalt an Infor-mationen, Meinungen, Kommentaren aus Pressemitteilungen, Blog-, Twitterbeiträgen, Facebooknachrichten und PR-Meldungen eine Auswahl trifft und unseren Blick auf gesellschaftlich Relevantes lenkt. Insofern steckt der Journalismus als gesellschaftli-che Institution nicht in der Krise – seine Be-deutung nimmt gerade in einer Zeit großer Informationsflut zu. Zunehmend unklar ist jedoch, wie sich die gesellschaftlich wichtige Leistung des Journalismus, die durch bezahl-te, professionelle Journalisten ausgeübt wird, finanzieren lässt (Jarren, 2010). Das tradi-tionelle Geschäftsmodell, das redaktionelle Inhalte mit teuer verkaufter Werbung kop-pelt und als Gesamtprodukt „Zeitung“ oder „Fernseh- und Radioprogramm“ an die Leser oder Zuschauer und -hörer verbreitet, befin-det sich im Niedergang. Werbegelder fließen vermehrt Anbietern zu, die selbst keine jour-nalistischen Inhalte produzieren (z.B. Such-maschinen, soziale Netzwerke). Zugleich ist die Werbewirtschaft im Internet nicht mehr bereit, dieselben Werbepreise zu zahlen, die sie im Print- oder Fernsehbereich zu zahlen bereit war. Die Schweizer Qualitätszeitung „NZZ“ erzielt beispielsweise mit einem Leser der Printausgabe einen 25 Mal höheren jähr-lichen Werbeumsatz als mit einem Leser der Onlineausgabe (Hitz, 2009). Damit lassen sich momentan im Vergleich zur Tageszeitung nicht genügend Einnahmen erzielen, um eine große, ausgebaute Redaktion zu finanzieren – trotz des Wegfalls der hohen Kosten für Pa-pier, Druck und Vertrieb. >Will die Gesellschaft weiterhin journa-listische Leistungen bereitstellen, müssen Medienunternehmen, die Politik und wir Medienkonsumenten nach entsprechenden Lösungen suchen. Die Medienunternehmen müssen neue, ertragreiche Geschäftsmodelle finden. Die Politik sollte sich überlegen, wie

sie mit Anreizen oder gezielter Förderung die Produktion journalistischer Inhalte gezielt unterstützen kann, ohne die Autonomie der Medien zu tangieren. Und bei uns Medien-konsumenten braucht es das Bewusstsein, dass die Produktion journalistischer Inhalte ein anspruchsvoller Vorgang ist, für den wir auch etwas zu zahlen bereit sein sollten.

>LITERATURAltmeppen, K.-D. (2006): Journalismus und Medien als Organisationen. Leistungen, Strukturen und Management, VS Verlag, Wiesbaden.Hitz, M. (2009): „(NZZ-)Online-User bringen nur Peanuts ein“, in medienspiegel, 26.11.2009. Link: http://www.medienspie-gel.ch/archives/002508.html (aufgerufen: 15.02.2011).Jarren, O. (2010): „Die Presse in der Wohl-fahrtsfalle. Zur institutionellen Krise der Tageszeitungsbranche, in: G. Bartelt-Kircher et al. (Hg.): Krise der Printmedien, Eine Krise der Journalismus? Walter de Gruyter, Berlin/New York, S. 13–31.Keller, D. (2010): „Schwierige Zeiten - Zur wirtschaftlichen Lage der deutschen Zeitun-gen, Zeitungen 2010/11“, in: Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (Hrg.): Zeitun-gen 2010/11, ZV, Berlin, S. 42–80.Kiefer, M. L. (2010): Journalismus und Medi-en als Institutionen, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.Meyer-Lucht, R. (2008): „Süddeutsche Zei-tung vor einschneidender Sparrunde“, Link: http://carta.info/1468/sueddeutsche-zei-tung-vor-einschneidender-sparrunde/ (auf-gerufen: 15.02.2011)Picard, Robert G. (2009): „Why Journa-lists Deserve Low Pay“, in: The Christian Science Monitor, 19.05.2009. Link: http://www.csmonitor.com/Commentar y/Opinion/2009/0519/p09s02-coop.html (aufgerufen: 15.02.2011)Russ-Mohl, S. (2009): Kreative Zerstörung, Niedergang und Neuerfindung des Zeitungs-journalismus in den USA, UVK, Konstanz.

Gesellschaft

D. Baecker

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Gayatri Chakravorty Spivak, geboren 1942 in Kalkutta, ist Mitbegründerin und Direktorin des Institute for Comparative Literature and Society der Columbia University in New York. Maßgeblich bekannt geworden durch ihre viel beachtete englische Derrida-Übersetzung „Of Grammatology“ (1976) sowie durch den post-kolonialen Grundlagentext „Can the Subalterns Speak?“ (1988), gilt sie heute als eine der führen-den ForscherInnen weltweit an der Schnittstelle von Feminismus, Marxismus, Dekonstruktion und Globalisierung. Neben ihrer akademischen Profession ist Spivak in zahlreichen sozialen Bewegungen aktiv und bildet LehrerInnen in ländlichen Gebieten Indiens aus. Das Gespräch fand im Oktober 2010 in New York statt und wurde im März 2011 um wenige Verweise (im Text ersichtlich) auf die aktuellen politischen Entwicklungen in Nordafrika ergänzt. >Powision: The financial crisis which was triggered in 2007 is considered by economists as the worst economic crisis since 1929. Over months we could wit-ness surprisingly open debates discussing measures that weren’t imaginable some months ago and indicating that some-thing essentially new could emerge. Today we know it didn’t. What is remarkable in this context was the self-referentiality of these debates in Europe and in the US who primarily took the crisis as their cri-sis, with the decisions and consequences only on their sides. How was the crisis per-ceived outside the American and European centre? What could a postcolonial perspec-tive tell us about the self-referentiality of the debates? >Gayatri Chakravorty Spivak: I cannot speak for the whole world. What I can say is that it is a very class-fixed reaction. In the rising Asian countries and in some Latin American countries, the effect was felt but managed among those who were themselves financially involved. The middle and working classes were just as nationalistic as elsewhere.

The fact that they are suffering from the world class system does not make them par-ticularly non-nationalistic. I think we must stop thinking about the rest of the world as somehow politically advanced and the fact that the Euro-US is criminal does not make them in any sense more advanced. That is some kind of reversed racism. With regard to the people about whom I really know some-thing – the very poor villagers in India: They had no clue of it because they suffer all the time. A small example which can be given and which nobody ever thinks of: Due to the rise of the oil price the children in the villages can no longer study in the evening because obvi-ously they cannot afford oil, thus they can-not study after sunset anymore. Nobody ever thinks about these things – whether they are nationalistic or not. So you must realize that a) I do not have a very positive view of the rest of the world because Europe and the US are the devil; b) I don’t know about the rest of the world; and c) the people I work with really are not in touch with world news. This might be an unsatisfactory response, but it is a realistic response. I no longer have a post-colonial perspective, I think postcolonial is the day before yesterday. >Powision: There were no movements emerging out of the crisis disposing of a lan-guage beyond the nationalistic discourse? >Spivak: Only those who are in touch with the Euro-US lobby and who speak of the so-called multitudes and the like. They are called forth by elite urban radicals in the rest of the world. You see this is the problem: They are perceived as the rest of the world. And you have answered your own question. That’s the answer you wanted from me. You are not going to get it from me. The so-called Tunisian and Egyptian and Libyan “revolu-tions” had not yet taken place when we spoke. I want to have the courage of Marx to write an “Eighteenth Brumière”.

gayatrichakravorty

spivakBring down the

power structures!

17subaltern

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>Powision: So the call for change is ei-ther not expressed or not heard? >Spivak: Whose call for change? >Powision: The call of people who got most affected by the crisis and who suffer the most from the international division of labour. >Spivak: Who are they? >Powision: For example the poor villag-ers you mentioned, or workers somewhere in the third world. >Spivak: Working-class people in the third world? I am talking about changing the Euro-US. They are so completely sure that with the exacerbation of global labour divi-sion (e.g. outsourcing) these kinds of things will happen. It is only in the aftermath of Se-attle that people from the 1st world, actually good-hearted people, wanted to organize for change. But that is not a serious thing for in-ternational capital. I am not a digital idealist. >Powision: Don’t you see any attempts trying to trans-nationalize a critique of global power structures like, for instance, the Green movement in Iran? Do you think that this movement has anything to do with the financial crisis? >Spivak: It might. Many movements are affected in one way or another by the finan-cial crisis. But I don’t buy the idea that it is going to make a global impact. With regard to these local movements, it has more to do with their nationalist sense of how bad their own political scene is. Nationalism is very far from gone. The main impact of the financial crisis has been the exacerbation of the differ-ence between the rich and the poor. And the middle class is not particularly very young, and not even interested in paying taxes. I am not a very hopeful person. Besides some well-placed urban radicals no one really has a sense to substantially change the world. Now we have to think of “the Arab world”, “the African world”, as having “revolutions”, but nation-state by nation-state, dictator by dictator. If there is regionalism, let us wait for its vanguardism, its geopolitics. >Powision: Why are you so sure about the fact that nobody could make a differ-ence? >Spivak: You see, I am not a leader. To be a leader at this point is a kind of a boy thing, as feminists from the 60s would say. I’ve been working for a very long time to re-arrange the desires of the poorest of the poor sections of the electorate. Let’s face it: China crumbled against capitalism, the Sovi-

et-Union crumbled after 70 years, and now, suddenly, these self-selected moral entrepre-neurs – mainly from the radical elite youth – should be able to organize against capital-ism? The current “revolutions” are freedom “from”; how they will negotiate freedom “to” build against capitalism is anybody’s guess. The following words, from the original inter-view, refer to the international civil society: I consider it rather important to thoroughly examine what actually happens when these international civil society groups are orga-nizing. I think it’s fine, it’s better than “shop till’ you drop”. But it needs a reality check. >Powision: For some commentators the economic crisis is indicating that Fukuy-ama’s end of history in fact failed twice – economically with the financial crisis; politically with 9/11 – and that the last re-maining superpower is getting more and more undermined. Why is this systemic tendency, the double failure of the only politico-economic superpower, not trig-gering an opportunity for seriously chal-lenging it? >Spivak: This book you mentioned was a journalistic piece written for people who read political journals. I don’t think that people who are involved in thinking about the world were taken for a minute by that stupid argu-ment. That was part of an academic debate because people have time to waste. Nobody ever thought that history would have come to an end because Fukuyama was writing about it in that way – not even in the Euro-US. With regard to 9/11, I can tell you that I was in New York at that time, and I was very emotionally caught by it. But the only reason why it was so unusual was because it hap-pened so spectacularly in the United States. World-historically, I don’t think that this has profoundly changed the perspective of any-thing. In contrast, when one thinks about the millions of people at the bottom, for in-stance the people in India I work with: They don’t even know about 9/11. The only thing that was said to me when I went there after 9/11, was said by a very smart old woman: “I hear where you live there was a kind of a problem?” Thus, it has to be set in propor-tion. It has been so used, commercially, sen-timentally, in terms of communication media etc. and it was kept alive as this cataclysmi-cally world-changing event. It will remain as a kind of effect, but because it happened in the United States. When I am thinking rath-er than emoting – because I am a New Yorker

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– I can’t be taken by that argument. No one ever thought about Hiroshima or Nagasaki in this way. There: more than 200.000 people and here…I am sorry, but I really don’t want to think about this again. >Powision: Despite the fact that 9/11 has been discursively elevated to a unique global event: It, however, has affected many people in the world, maybe not in In-dia, but… >Spivak: Not “the people in India”! India has a billion people, and most of the people, even the NGOs encounter, are above the ra-dar that I am speaking about. Let’s not gen-eralize India. We are not talking about India, I am talking about a class. >Powision: Let me give you another ex-ample. What about Afghanistan or Iraq? >Spivak: These are two countries that are militarily managed by the United States. Of course, anything happening in the US, even a cough, has a huge influence on Afghanistan and Iraq. They are totally, to quote a book, “beneath the United States”. But there is a world which is not being directly militarily managed by the US and where people don’t think about 9/11 as having changed a lot un-less it’s in a class. I’m sure some Delhi radi-cals will agree with you because they have their international networks. But I am not interested in those kinds of groups. >Powision: But 9/11 has triggered a huge reaction within international rela-tions which – potentially or de facto – af-fects people in large parts of the world, even if those countries were hardly con-cerned with the political crisis in the af-termath of 9/11. >Spivak: What part of the world are you talking about? Chad? >Powision: Rather about countries like Yemen or Pakistan. >Spivak: Yes, but those are all within that circuit of the war. If you just want to talk about the military sphere of influence of the US, I am with you. You are contradicting me because you want to get some answers. You want me to say certain things, but I am not saying them. Certainly, I will agree with you that within the military sphere of influence, there is a great deal of influence. Also within the US – as I said it is a very class-fixed thing – it has added to Islamophobia. But if you are really thinking about the whole world, as far as I can think it, this large particular group that we are talking about is not metonymical-ly representing the whole world. Because that

mistake is made, a lot of time is wasted. In contrast, nobody ever talks about what really started this: The Sykes-Picot Agreement in 1916. 9/11 is an epiphenomenon, very spec-tacular, and, because located in the US, to be taken very much more seriously than all the other things, including the only atomic inva-sion. I can’t give you the answer you want. Anyway, disagree. Now defend yourself. >Powision: I agree partly with what you said. However, I can hardly imagine any event that affects the whole world. There is no such event. >Spivak: If there was a nuclear holocaust where people wouldn’t have to think about anything, it might affect perhaps not ev-erybody in the world, but certainly a much larger section of the world population. It is absolutely true that the world is divided in terms of what people can think. So there-fore, if one just takes the persons one kind of imagines as having more or less the same sort of mind-set, then one generalizes irre-sponsibly. Thus, I would agree with you that, due to the class apartheid in the world, not everybody can think about this in the same way and therefore people are not affected in the same way. The fact that every little per-son is affected somehow objectively: that’s the story about the children in the villages. Yes, sure, they are affected. But that does not mean that they can think about it and make a change. They are excluded from that argu-ment. The women in Saudi-Arabia who are working in the dirt are not thinking about how to organize against the US just because the latter are influencing their country. This is cognitive damage. I am not calling them unintelligent. Most bourgeois radical ideo-logues can’t even think this. They presuppose that intelligence is just some given thing. The cognitive damage is a very serious thing and we are not allowed to generalize about the whole world. It is not a pleasing answer, but, revising, I can say that capital subsumes the world, abstractly; global warming subsumes the world, non-cognitively. >Powision: I am not talking about the US-military sphere of influence only, but rather about the fact that a discourse was opened by 9/11 that structurally can af-fect any country – and anyone in the world. By placing in position the argument that certain universalized norms should be ap-plied globally, interventions into any oth-er societies are made possible. Of course, this is not a new phenomenon. In fact, it

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has happened several times before. But this box was opened one more time and is about to spread further. >Spivak: Sure. No problem there. I totally agree. >Powision: Generally speaking, crises can produce opportunities in different ways. For instance, they can be perfectly instrumentalized by hegemonic discours-es, but, at the same time, can be symboli-cally occupied by non-hegemonic or oppo-sitional discourses. Can a crisis be used as an opportunity to build infrastructures for subalterns – who by definition cannot speak or rather: can’t be heard – which helps them being recognized? >Spivak: Who is a subaltern? I have to know what you mean by that word. >Powision: Someone who is cut off from any means of social mobility. >Spivak: Ok, that’s fine. We start from there. Subaltern is such a vague word that one doesn’t know what to make out of it. It has been what Balibar calls “performatively reversed”: Like for instance “Black is beauti-ful” where a pejoratively connoted concept is reversed into something positively charged. Similarly, the subaltern is claimed by anyone who is an activist. For example Gandhi and Nehru, two upper class people, have been made subalterns by certain activists just because they are Indians. I want to separate the word from that because then it becomes useless. So if we take your definition, and go back to crises as opportunities, I would be more like Marx. When Marx talked about the tendency of the rate of profit to fall, modern economists simply ignored his argu-ment because the rate of profit doesn’t fall. But they don’t really know that Marx was, in fact, talking about a tendency in a Hege-lian sense, which means: Unless you change actively that tendency into a crisis nothing will happen. You have to actively use this tendency. The British thinker Raymond Wil-liams gave a beautiful picture of the cultural process accompanying this and being still valid. Williams argued that there are certain things in the past, so called residuals, which once became archaic but still can be used in present times, like tradition etc. But these residuals can be used by the dominant that is constantly appropriating the emergent and making it into an alternative rather than into an opposition. Herbert Marcuse called that “repressive tolerance”, but Williams got it better. Something is emerging and its

oppositional possibility is wrenched by the dominant, turning it into an alternative, like for instance the Tea Party Movement in the US. I want to watch this being resisted in the current “revolutions,” but what I want is not usually what history gives. The same process is what I see happening when young Euro-peans join with elite radicals from the global South when they face the global dominance of the US. It is a kind of turning it into an alternative. So they talk a lot and have these meetings. In contrast, the South Asian his-torians who formed in the 80s the Subaltern Studies Group studied examples of subal-terns bringing themselves into crisis. No one did or does anything for them. That is what I meant by “They cannot speak”.1 They can’t be heard by people who are supposedly on their side. The way in which the subalterns are now used as cannon fodder in the name of Maoism in my country – it’s despicable. Elite urban radicals are imposing this ratio-nal choice leftist vocabulary on the way the subalterns are being used. Subalternity is unfortunately exceptionality – not organiza-tion of urban radicals. This is why Gramsci himself is interested in the production of the subaltern intellectual, rather than organize them into crises. Organizing the subalterns is a very class-fixed utopian feeling. The sub-alterns do it themselves. But they don’t re-semble Genoa, Seattle or alter-globalisation. They cannot be recognized in Marx’s sense of “geltend zu machen”. This is completely out-side the thinking processes of urban radicals I meet. And I meet hundreds of them. >Powision: If there is someone recog-nizing somebody being a subaltern, should he remain still, doing nothing? >Spivak: No, he should try to bring down the power structures rather than interfering with the subalterns. That is what is needed – rather than being nice to them and anthropo-logically join them. The ones who join them can always go back home if they need to go. I have seen hundreds of examples of this. They just dirty the waters because nothing chang-es up there except for those who joined them and who can acquire a big reputation. It’s a tragic game. >Powision: But if people can recognize them, why should they just focus on bring-ing down the power structures? >Spivak: Simply because if the subalterns are getting recognized by people they are al-ready in the hegemonic circuit. They are not subaltern anymore.

1 Spivak, Gayatri Chakravorty (1988): „Can the Subaltern Speak?“ in: C.Nelson & L. Grossberg (eds.): Marxism and the Interpretation of Culture. University of Illinois Press, Urbana, IL, pp. 271-313.

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>Powision: I’m not talking about the people within the hegemonic discourse. >Spivak: I know! But you and I are in the hegemonic circuit. You and I are supported by welfare. We are done with the class war by in-tellectuals. But we can’t see that we’re sitting here. Why should the hegemon be elsewhere? The hegemon is right here! Everything that you have done since getting up this morn-ing, every piece of clothing you have put on, everything we have eaten, every public trans-port we have taken and every public decisions we have taken is a network that is completely within the hegemonic system. And then we have the luxury of recognizing the subaltern? It’s a joke. >Powision: But the hegemonic dis-course is not homogeneous. There exists a variety of different attitudes and ratio-nales within the hegemonic discourse, in-cluding different perspectives towards the subalterns. It should be possible, then, to approach the subalterns in a way without automatically reproducing the hegemonic discourse. >Spivak: Go ahead. Think so. What can I say? I cannot agree. There will be many people telling you this because it is a much more pos-itive attitude. You may have it. These are the people I call the self-selected moral entrepre-neurs – money lenders in the World Bank for example. Of course, you can approach them. I don’t mind. I think it’s better than not work-ing with them. I am sorry but you are talking so someone who is very jaded with all of this boy desire. And some girls are also boys here. The word “boy” has nothing to do with the kind of sex you have. This desire just takes the world. What can I say? I have spent too much in places where this message is not useful. >Powision: Leaving aside the utopias about saving the world, leaving aside the moral entrepreneurs as well as per se self-interested organizations and states: If an individual, without any double agenda or any other interest than attempting to support the subalterns with infrastruc-tures to get recognized, and emphasizing with their conditions and contexts – isn’t it possible at least for that individual? >Spivak: Of course, that’s fine. It’s a nice Christian story. Using empathy politically is better than not having empathy. >Powision: Isn’t there a difference be-tween this approach and that of the moral entrepreneurs? >Spivak: You want me to say yes.

>Powision: I ask for your opinion. >Spivak: You are asking me to say that – within the existing power structures, the complete non-accountability of the state etc. – if it is just one individual empathizing po-litically and thinking of making a change, it gives anything to anyone except to that in-dividual feeling good and then writing books about one’s great achievements against global injustices? I am sorry, as I said, I am a very jaded person and I’ve had it with giving positive enforcement to good-hearted young radicals. I feel that I no longer have any obli-gation to do that. That’s what you’re hearing. >Powision: Why can’t people step out of the hegemonic discourse? Is the only reason for that because they are grown up here? >Spivak: If I didn’t believe that they can step out I wouldn’t be teaching here at Co-lumbia where all of my students are Ameri-cans determined by their superpower. But I am not just attaching myself to movements or the like. I rather attach myself to people’s normality because that is what survives and fails. But if you want to step out into this kind of majoritarian counter-hegemonic discourse then you have no sympathy from me. Of course, it is a nice story, but this is not how real change happens. It’s a good story because it is nice for these people to have friends who like them and with whom they will have photo opportunities with their smiling. But don’t ask me to take it seriously. It is really in the interest of those radicals feeling good. It’s a nice feeling, but at the end of the day, it means nothing. >Powision: Strategically speaking: Why not re-introduce a masterword, like for instance the very classical Marxist no-tion of the working-class, to clearly iden-tify an agent which could challenge hege-monic discourses – and at the same time accept, as the price one has to pay, the violence which is exerted by this word de-nying all the concrete particularities and historical changes related to it? >Spivak: But what is the classical Marxist argument? Like you said, the hegemonic dis-course is not uniform. Who are the workers in this understanding? >Powision: The class who is deprived of the ownership of the means of production. >Spivak: But what is behind that? Marx’ argument was, and I am using contemporary language now, that if the worker understood that commodified, quantified labour – ab-

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stract average work was his word – is a weap-on in the hand of the workers, rather than an alienation from the working process. If they understood that, they could fight poison with poison because, then, they could produce capital and use it for socialist rather than capitalist purposes. That is why Marx said “ownership of the means of production”. But that didn’t happen, also because there was no education within the working class. Marx called himself a bourgeois ideologue because he was not an idiot, unlike many people who want to change the world now. In his fierce critique of the Gothaer Programm Marx re-ally takes a stand against the idealisation of labour and the workers. It couldn’t work because of the education-shaped hole there. Marx imagined that people would want to do this, but they obviously did not want to do it. Anyway, the argument brings us back to the beginning: By making yourself complete-ly their disciple, you re-arrange the desires of the subaltern, while seeing how they go about it – and maybe your effort never hits. That is a totally different thing from organiz-ing them into Maoist or alter-globalisation movements. Plus: There is no guarantee for success there, it is totally boring and you won’t get any positive feeling out of it. It is more like extracting blood from a stone be-cause you are confronting millennial oppres-sion, domination and exploitation. These are ways of confronting power structures. And slowly the subaltern might reward you. But might not reward you. In contrast, the NGOs come to the places and want quick success-es for themselves. They try to change some things and then return to their countries to write in journals about their experience. The fact that some of these “grassroots” teach-ers are good at the NGO workshops means nothing, it just means that they are good at workshops. They go back to do what they exactly used to do before – and that means exactly zero. So therefore, what I am talking about here is the failure of the so called agent of production, the working class, to change from wanting freedom from oppression – which is what human rights still show – to change into freedom to give things to others. That change comes from the bourgeois radi-cals. Otherwise, it is a very Christian view that suffering keeps the people pure. That’s bullshit. It’s the enthusiasm of good-hearted people wanting to change and trying to rec-ognize the subalterns for their purposes. Nobody is going to like this. This is the first

interview I’m giving where I am just too tired to say the things that are wanted. I am not a postcolonial person. When I first wrote the postcolonial texts I didn’t know I was being postcolonial. And the moment I realized it I began to criticise it. People are so racist that I can never be given anything except the post-colonial position. The postcolonial position is a kind of luxury of the bourgeois self-styled activists. I don’t think it is a serious position. Gramsci knew about the prejudices of the proletariat. That is one of the reasons why he wanted to think it through. So the world is a complicated myth. You have my sympathy. I’m not against you. I am in fact for you. But I can’t lie to you. >Powision: Thank you very much for the conversation.Das Interview führte Daniel Mützel

Frieden

A. Wieland-

Karimi

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“The really practical statesman does not fit him-self to existing conditions, he denounces the con-ditions as unfit.” (G. K. Chesterton, “The Man Who Thinks Backwards” 1) >In China, so they say, if you really hate someone, the curse to fling at them is: “May you live in interesting times!” Historically, the “interesting times” have been periods of unrest, war and struggles for power in which millions of innocents suffered the consequences. Today, we are clearly ap-proaching a new epoch of interesting times. After decades of the Welfare State, when financial cuts were limited to short peri-ods and sustained by a promise that things would soon return to normal, we are enter-ing a new period in which the economic cri-sis has become permanent, simply a way of life. Furthermore, today, crises occur at both extremes of economic life, not at the core of the productive process: ecology (natural externality) and pure financial speculation. This is why it is crucial to avoid the simple common sense solution “we have to get rid of speculators, introduce order there, and real production will go on” – the lesson of capitalism is that “unreal” speculations are the real here; if we squash them, the reality of production suffers. >What is also crucial here is to look at the systemic risks of today’s capitalism rather than playing the undignified game of pass-ing the blame and making the culprits (i.e. the big companies) pay the full price for the damage they have caused. Unfortunately, during the last year’s oil spill in the Gulf of Mexico, President Obama’s condemnation of the three involved companies (BP, Trans-ocean, and Halliburton) was equally risible in its own way. On June 8, 2010, in a (justified) outburst against BP, Obama said regarding the oil spill: “It’s BP’s problem.” The press, predictably, reacted with “No, it’s Obama’s problem now!” Both were clearly wrong: while Obama was pursuing the legalistic log-

ic of indemnization totally inappropriate to the scale of the catastrophe, the press were focusing only on how the disaster would hurt Obama’s standing, maybe fatally undermin-ing his chances for re-election. However, the claim that the disaster had become Obama’s problem misses the crucial underlying fact that it is indicative of a much larger problem, a problem for us all, as something which po-tentially shatters our commons, the natural fundamentals of our way of life. It is a prob-lem for all of us, and nobody will resolve it for us. What is ridiculously naïve here is the idea that a private company, no matter how wealthy, could be capable of paying for the entire damage caused by a serious ecologi-cal catastrophe – it would be like demanding from the Nazis that they cover the full price of the Holocaust. >The search for the guilty party who should be made legally responsible for the damage is part of our legalistic frame of mind – people can (and do) sue fast food chains as if they were responsible for the clients’ obe-sity, and ideas circulate about slavery repa-rations, arguing that compensation is long overdue. This reductio ad absurdum makes it clear what is fundamentally wrong with this logic: it is not too radical, but rather insuf-ficiently radical. The true challenge is not to collect compensation from those respon-sible, but to change the situation so that they will no longer be in a position to cause dam-age (or be pushed into activity which causes damage). What makes the focus on BP ab-surd is the fact that the same accident could well have happened to another company. The true culprit is not BP (although, to avoid any misunderstanding, it should be most severe-ly punished), but the demand which pushes us towards oil production irrespective of en-vironmental concerns. So we should start to ask basic questions about our way of life – to mobilize the public use of reason. The lesson of such ecological catastrophes is that nei-

1 Available online at www.catholic-forum.com

slavoj žižek Welcome to

Interesting Times!

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ther the market nor the state will do the job. While market mechanisms may work up to a certain level to contain ecological damage, serious large-scale ecological catastrophes are simply out of their reach – any pseudo-scientific statistic talk about “sustainable risks” is ridiculous here. >Another sign for the impotence of both state and market to solve the problems of our times was the imminent financial collapse of the Greek state. During May 2010, large demonstrations in Athens and elsewhere in Greece exploded into violence after the government announced the austerity mea-sures it will have to adopt in order to meet the EU’s conditions for the bailout needed to avoid the bankruptcy of the state. Two sto-ries stood out during these events: the pre-dominant Western European establishment story derided the Greeks as a corrupt, inef-ficient, free-spending and lazy people used to living off EU support, while the Greek Left saw the austerity measures a yet another at-tempt by international financial capital to dismantle the last vestiges of the Welfare State and subordinate the Greek state to its own dictates. While both stories contain a grain of truth, they are both fundamentally false. The European establishment story ob-scures the fact that the massive loan given to Greece will be used to repay the country’s debt to the big European banks: the true aim of the measure is to support the banks since, if the Greek state goes bankrupt, they will be seriously affected. The Leftist story bears witness yet again to the misery of the con-temporary Left: there is no positive content to its protest, merely a generalized refusal to compromise in defense of the existing Wel-fare State.

The de-politicized naturalization of the crisis

And yet everyone knows that the Greek state will never and cannot ever repay the debt – in a strange gesture of collective make-believe, everyone ignores the obvi-ous nonsense of the financial projection on which the loan is based. The irony is that the measure may nonetheless succeed in its im-mediate goal of stabilizing the Euro: what matters in contemporary capitalism is that agents act upon their putative beliefs about future prospects, regardless of whether they really believe in those prospects or take them seriously. This fictionalization goes

hand in hand with its apparent opposite: the de-politicized naturalization of the cri-sis and the proposed regulatory measures. These measures are not presented as deci-sions grounded in political choices, but as necessities imposed by a neutral economic logic – if we want to stabilize our economy, we simply have to swallow the bitter pill. However, here again one should not miss the grain of truth in this argument: if we remain within the confines of the global capitalist system, then such measures are indeed necessary – the true utopia is not a radical change of the present system, but the idea that one can maintain a Welfare State within that system. >This full naturalization (or self-erasure) of ideology imposes upon us a sad but un-avoidable conclusion with regard the con-temporary global social dynamic: today, it is capitalism which is properly revolutionary. From technology to ideology, it has changed our entire landscape over the last few de-cades, while conservatives as well as social democrats have for the most part simply reacted to these changes, desperately trying to hold onto old gains. In such a constella-tion, the very idea of a radical social trans-formation may appear to us as an impossi-ble dream. The term “impossible” however, should make us stop and think. Today, the possible and the impossible are distributed in a strange way, both simultaneously ex-ploding into an excess. On the one hand, in the domains of personal freedoms and sci-entific technology, the impossible is becom-ing increasingly possible (or so we are told): “nothing is impossible”, we can enjoy sex in all its perverse versions; entire archives of music, films, and TV series are available for downloading; space travel is available to ev-eryone (with the money...); we can enhance our physical and psychic abilities through interventions into the genome, right up to the techno-gnostic dream of achieving im-mortality by transforming our identity into a software program transferable from one piece of hardware to another… On the other hand, especially in the domain of socio-eco-nomic relations, our era sees itself as having reached the age of maturity in which, with the collapse of the Communist states, hu-manity has abandoned the old millenarian utopian dreams and accepted the constraints of reality (read: of capitalist socio-economic reality) with all its attendant impossibili-ties: You cannot engage in collective political

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acts (which necessarily end in totalitarian terror), or cling to the old Welfare State (it makes you non-competitive and leads to economic crisis), or isolate yourself from the global market, and so on. (In its ideo-logical version, ecology also adds its own list of impossibilities, in terms of so-called threshold values – no more global warming than two degrees Celsius, etc. – based on “expert opinions”).2 Such is life in the post-political era of the naturalized economy: political decisions are as a rule presented as matters of pure economic necessity – when austerity measures are imposed, we are repeatedly told that this is simply what has to be done. >However, even if the general de-polit-icization of the economy is a crucial point here, the problem is deeper than it may appear: contemporary capitalism tends to generate situations in which rapid and large-scale interventions are needed, but the problem is that the parliamentary-democratic institutional framework does not easily allow for such interventions. Sudden financial crises, ecological catastro-phes, major reorientations of the economy, all call for a body with the full authority to react quickly with the appropriate counter-measures, by-passing the niceties of in-terminable democratic negotiation. Recall the financial meltdown of 2008: what the much-praised “bi-partisan” response in the US effectively meant was that democracy was de facto suspended. There was no time to engage in the proper democratic pro-cedures, and those who opposed the plan in the US Congress were quickly made to march in step with the majority. Bush, Mc-Cain, and Obama all speedily got together, explaining for the benefit of the confused that we were in a state of emergency, and things simply had to be done fast... >Likewise, the Chinese model of an extra-legal body able to impose such solu-tions is, in this sense, not just a way for the Communist Party to maintain control; it also fulfills a basic need of contemporary capitalism.3 But China is no Singapore (neither, for that matter, is Singapore): it is not a stable country with an authoritar-ian regime that guarantees harmony and keeps capitalism under control. Every year, thousands of rebellions by workers, farm-ers, and minorities have to be put down by the police and the army. China is barely un-der control. It threatens to explode.

The need to re-invent (the idea of) communism“The animal wrests the whip from its master and whips itself in order to become master, not knowing that it is only a fantasy produced by a new knot in the master’s whiplash.” (Franz Kafka) >These disturbing questions, which we might prefer to ignore, point towards the need to re-invent communism. How, though, to even approach this task in view of the great failure of the communist project which was the defining feature of the twentieth cen-tury? Where and how did things go wrong? >If the most dynamic of today’s capital-ists are the Communists in power in China, is this not the ultimate sign of the global triumph of capitalism? Another sign of that triumph is the fact that the ruling ideology can afford to tolerate what appears to be the most ruthless criticism: books, newspaper investigations and TV reports abound on the companies ruthlessly polluting our environ-ment, on the bankers who continue to re-ceive fat bonuses while their institutions are saved by public money, on sweatshops where children are forced to work long hours, and so on. Ruthless as these denunciations may appear, what is as a rule not questioned is the liberal-democratic framework itself. The goal – explicitly stated or otherwise – is to democratize capitalism, to extend democrat-ic control into the economy, through media pressure, parliamentary inquiries, tougher regulations, police investigations, etc. But the democratic institutional framework of the (bourgeois) state remains the sacred cow that even the most radical forms of “ethical anti-capitalism” (the World Social Forum, the altermondialiste movement) do not dare challenge.4

>Here Marx’s key insight remains valid, perhaps more than ever: for Marx, the ques-tion of freedom should not be located pri-marily in the political sphere proper (Does a country have free elections? Are its judges independent? Is its press free from hidden pressures? Does it respect human rights?). Rather, the key to actual freedom resides in the “apolitical” network of social relations, from the market to the family. Here the change required is not political reform but a transformation of the social relations of production – which entails precisely revolu-tionary class struggle rather than democratic elections or any other “political” measure

4 I owe this idea to Saroi Giri.

2 I owe this idea to Alenka Zupančič.

3 Did President Lula of Brazil not find himself in a similar predicament? His administration was often accused of corruption, and the real basis of this accusation was that, in order to enforce key decisions, he had to bribe the small parties on which his parliamentary majority depended.

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in the narrow sense of the term. We do not vote on who owns what, or about relations in the factory, and so on – such matters re-main outside the sphere of the political, and it is illusory to expect that one will effectively change things by “extending” democracy into the economic sphere (by, say, reorganizing the banks to place them under popular con-trol). Radical changes in this domain need to be made outside the sphere of legal “rights.” In “democratic” procedures (which, of course, can have a positive role to play), no matter how radical our anti-capitalism, solutions are sought solely through those democratic mechanisms which themselves form part of the apparatuses of the “bourgeois” state that guarantees the undisturbed reproduc-tion of capital. In this precise sense, Badiou was right to claim that today the name of the ultimate enemy is not capitalism, empire, exploitation, or anything similar, but de-mocracy itself. It is the “democratic illusion,” the acceptance of democratic mechanisms as providing the only framework for all possible change, which prevents any radical transfor-mation of capitalist relations. >Questioning the sacred cow of democ-racy is even more urgent, if one comes to today’s political spaces in both Western and Eastern Europe which bear signs of a long-term reorganization of their usual co-ordinates. Until recently, that space was in general dominated by two main parties: a Right-of-centre party (Christian-Democrat-ic, liberal-conservative, People’s Party, etc.) and a Left-of-centre party (socialist, social-democratic, etc.), supplemented by smaller parties addressing a narrower electorate (ecologists, liberals, etc.). What is now pro-gressively emerging is a space occupied by, on the one hand, a party standing for global capitalism as such (usually with a degree of tolerance towards abortion, gay rights, reli-gious and ethnic minorities, etc.), and, on the other, an increasingly strong anti-immigrant populist party (accompanied on its fringes by explicitly racist and neo-fascist groups). The exemplary case here is Poland: with the disappearance of the ex-Communists, the main parties are now the “anti-ideological” centrist liberal party of the Prime Minister Donald Tusk and the conservative Christian party of the Kaczynski brothers. Or take the example of the Tea Party movement in the US, as the American version of this Right-ist populism, which is gradually emerging as the only true opposition to the liberal

consensus. In Italy, Berlusconi is proof that even this ultimate opposition is not insur-mountable: his Forza Italia is both the party of global capitalism and of the populist anti-immigrant tendency. In the de-politicized sphere of post-ideological administration, the only way to mobilize the electorate is to stir up fear (of immigrants, of the neighbor). To quote Gaspar Miklos Tamas, we are thus again slowly approaching a scenario in which “there is no one between the Tsar and Lenin”, i.e., in which a complex situation is reduced to a simple basic choice: community or col-lective, socialism or communism? Or, to put it in the well-known terms from 1968, in or-der for its key legacy to survive, liberalism needs the fraternal help of the radical Left.

Why the Idea and Why Communism?

The Left is facing the difficult task of em-phasizing that we are dealing with politi-cal economy – that there is nothing “natu-ral” in the present crisis, that the existing global economic system relies on a series of political decisions – while simultaneously acknowledging that, insofar as we remain within the capitalist system, violating its rules will indeed cause economic break-down, since the system obeys a pseudo-natural logic of its own. So, although we are clearly entering a new phase of enhanced exploitation, facilitated by global market conditions (outsourcing, etc.), we should also bear in mind that this is not the result of an evil plot by capitalists, but an urgency imposed by the functioning of the system itself, always on the brink of financial col-lapse. For this reason, what is now required is not a moralizing critique of capitalism, but the full re-affirmation of the Idea of communism. >The Idea of communism, as elaborated by Badiou, remains a Kantian regulative idea lacking any mediation with histori-cal reality. Badiou emphatically rejects any such mediation as a regression to an histor-icist evolutionism which betrays the purity of the Idea, reducing it to a positive order of Being (the Revolution conceived as a mo-ment of the positive historical process). This Kantian mode of reference effectively allows us to characterize Badiou’s deploy-ment of the “communist hypothesis” as a Kritik des reinen Kommunismus. As such, it invites us to repeat the passage from Kant

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to Hegel – to re-conceive the Idea of com-munism as an Idea in the Hegelian sense, that is, as an Idea which is in the process of its own actualization. The Idea that “makes itself what it is” is thus no longer a concept opposed to reality as its lifeless shadow, but one which gives reality and existence to it-self. >Why, then, the Idea of communism? For three reasons, which echo the Laca-nian triad of the I-S-R: at the Imaginary level, because it is necessary to maintain continuity with the long tradition of radi-cal millenarian and egalitarian rebellions; at the Symbolic level, because we need to determine the precise conditions under which, in each historical epoch, the space for communism may be opened up; finally, at the level of the Real, because we must assume the harshness of what Badiou calls the eternal communist invariants (egali-tarian justice, voluntarism, terror, “trust in the people”). Such an Idea of commu-nism is clearly opposed to socialism, which is precisely not an Idea, but a vague com-munitarian notion applicable to all kinds of organic social bonds, from spiritualized ideas of solidarity (“we are all part of the same body”) right up to fascist corporat-ism. The Really Existing Socialist states were precisely that: positively existing states, whereas communism is in its very notion anti-statist. >Our task is thus to remain faithful to this eternal Idea of communism: to the egalitarian spirit kept alive over thousands of years in revolts and utopian dreams, in radical movements from Spartacus to Thomas Müntzer, including within the great religions (Buddhism versus Hindu-ism, Daoism or Legalism versus Confu-cianism, etc.). The problem is how to avoid the choice between radical social uprisings which end in defeat, unable to stabilize themselves in a new order, and the retreat into an ideal displaced to a domain outside social reality (for Buddhism we are all equal – in nirvana). It is here that the originality of Western thought becomes clear, particu-larly in its three great historical ruptures: Greek philosophy’s break with the mythi-cal universe; Christianity’s break with the pagan universe; and modern democracy’s break with traditional authority. In each case, the egalitarian spirit is transposed into a new positive order (limited, but nonetheless actual).

“Now is the time for monsters”

Perhaps the most succinct characterization of the epoch which began with the First World War is the well-known phrase attributed to Gramsci: “The old world is dying away, and the new world struggles to come forth: now is the time of monsters.” Were Fascism and Stalinism not the twin monsters of the twen-tieth century, the one emerging out of the old world’s desperate attempts to survive, the other out of a misbegotten endeavor to build a new one? And what about the mon-sters we are engendering now, propelled by techno-gnostic dreams of a biogenetically controlled society? All the consequences should be drawn from this paradox: perhaps there is no direct passage to the New, at least not in the way we imagined it, and monsters emerge necessarily emerge in any attempt to force that passage. >One of the signs of a new rise of this monstrosity is that the ruling clases seems less and less able to rule, even in their own interests. It’s not only postmodern capital-ism which is clearly running out of control and producing new monsters on its way. The US policy is definitely approaching a stage of madness, and not only in internal policy where the Tea Party proposes to fight the national debt by lowering taxes, i.e., by raising the debt (one cannoy but recall here Stalin’s well known thesis that, in the Soviet Union, the state is withering away through the strengthening of its organs, especially its organs of police repression). In foreign policy also, the spread of Western Judeo-Christian values is organized by setting conditions not for the protection, but for the expulsion of Christians. Like in Iraq there were approxi-mately one million Christians lived under Saddam, leading exactly the same lives as other Iraqi subjects, until something weird happened to Iraqi Christians, a true catastro-phy: A Christian army occupied (or liberated, if you want) Iraq, dissolved Iraq’s secular army and thus left the streets open to the Muslim fundamentalist militias to terrorize each other and the Christians. This is defi-nitely not a clash of civilization, but a true dialogue and cooperation between the US and the Muslim fundamentalists.5

>Our situation is thus the very opposite of the classical twentieth-century predica-ment in which the Left knew what it had to do (establish the dictatorship of the prole-

5 I rely here on the analysis of Ervin Hladnik-Milharcic, Ljubljana.

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tariat, etc.), but simply had to wait patiently for the opportunity to offer itself. Today, we do not know what we have to do, but we have to act now, because the consequences of in-action could be catastrophic. We will have to risk taking steps into the abyss of the New in totally inappropriate situations; we have to be aware of the hard problem of defining the new order any revolution will have to estab-lish after its success. But when inaction is not an option, we have to take the risk. In short, our times can be characterized as none other than Stalin characterized the atom bomb: not for those with weak nerves. >Communism is today not the name of a solution, but the name of a problem: the problem of commons in all its dimensions – the commons of nature as the substance of our life, the problema of our biogenetic com-mons, the problema of our cultural commons (“intelectual property”), and, last but not least, directly the problema of commons as the universal space of humanity from which no one should be excluded. Whatever the so-lution, it will have to solve this problem.

Rezension

A. Mitte

rle

Finanzen

D. Palm

Sozialstaat

G. Vobruba

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Das Lamento oder wenigstens Staunen über „die Krise der Politik“ ist neueren Datums. Politik hat na türlich immer wieder „versagt“, sprich: Probleme verdrängt und Sachen ver-masselt. Doch inzwischen scheint mehr auf dem Spiel zu stehen. Worin liegt der Unter-schied? Oder anders gefragt: Wie muss man Politik verstehen, damit sie in eine Krise kommen kann?

Reine Politik

Niemand wird daran zweifeln, dass Souverä-ne Politik machen – auch dann, wenn diese Politik kaum „souverän“ genannt zu werden verdient. Nirgendwo findet sich dieser Un-terschied dermaßen auf die Spit ze ge trieben wie in Albert Jarys ma je stätsbeleidigender Farce über den ebenso stupid-bru talen Kö nig Ubu. „Vater Ubu“ führt sich mit dem Ausruf „Schoi ße!“ ein und übersteigt dieses Ni veau im Lau fe seiner Karriere, die ihn auf den polnischen Kö nigs thron führen sollte, kein einziges Mal. Dazu passt die ba nale Form seiner Machtergreifung: der regierende Mo-narch wird kurzerhand er schlagen und hal-biert „wie eine Bockwurst“. Einmal an die Macht gekommen er fährt Ubu zwar, was von ihm erwartet würde, nämlich „Fleisch und Gold“ unters Volk zu bringen, um sich der Masse Gunst zu versichern, doch Ubu denkt gar nicht da ran, diesen guten Rat zu beher-zigen. im Gegenteil: uner sättlich in seiner Raffgier lässt er kurzer hand sämt liche Adli-gen um bringen, zusam men mit den ob er sten Richtern und Finanzbeam ten, die den mör-derischen Enteignungsfeldzug für unge recht oder unver nünftig halten: „Schoiß drauf!“ >Das Primitive erscheint hier als reine Blödheit, es kann aber auch in der Gestalt purer Bosheit auftreten. Krüppel, heißt es bei Hegel, seien auch Menschen - so wie ein „defi-gurierter“ Staat als Staat gelten müs se (1986: 404). Was aber, wenn die Verunstaltung aus ihrem Opfer einen Unmenschen macht, der

sich an seiner defekten Natur dadurch rächt, dass er den Staat skrupellos defiguriert? So liegen die Dinge in Shakespeares Richard der Dritte, dessen Protagonist von allem An-fang an aus dem bösen Spiel kein Geheimnis macht: „Doch ich,“, setzt sich der ungestalte Richard von seinen wohlgeformten Adels-freunden ab, „um dieses schöne Ebenmaß ver kürzt,/Von der Natur um Bildung [körper-li che Gestalt] falsch betrogen,/Entstellt, Ver-wahrlost, vor der Zeit gesandt/In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig/Ge macht, und zwar so lahm und ungeziemend,/Dass Hunde bellen, hink ich wo vor bei;/Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,/Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben, /Als meinen Schatten in der Sonne spähn/Und meine eigne Miss-gestalt erörtern;/Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter/Kann kürzen diese fein bered ten Tage,/Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden…“ >Der Unterschied zwischen beiden Kö-nigen ist vernachlässigbar klein. Ihr banaler Ab gang beweist es: Ubu sucht auf dem Schiff das Weite, auch Richard will nichts wie weg, doch findet er kein Pferd. Beide sind „Lum-pensou ve räne“, triebgesteuerte Taugenicht-se. Politik findet statt, in ihrer simpelsten, chemisch reinen Form, als pure Machtaus-übung, eine „Nullnummer“ gewissermaßen, ohne tie fe ren Sinn oder höheren Zweck. Es geht um nichts anderes als Leben (Fressen) und Überleben (Mas sa krieren). Für die Her-ren Könige wird´s irgendwann kritisch, doch das Politische floriert in rei ner Form: als pu-rer Machtgenuß.

Reflexive Politik

Die Sache ist ganz einfach die: Ein gekröntes Haupt, das spinnt, spinnt nicht einfach (wie dies bei nor malen Menschen wäre), sondern regiert (auf seine Weise). Wäre es anders, könnte niemand nach voll ziehen, warum Kronjuristen so viele Gedanken da rauf ver-

wolfgang fach Welche Krise?

Welche Politik?

19politik

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wen det haben, den amtierenden König vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Nicht dass er ihnen als Person (body natural) am Herzen liegen würde: sie wollen weniger ihn vor sei-nen Dumm hei ten, sondern die „Krone“ (body politic) vor Scha den bewahren (Kantorowicz, 1990). Allerdings lassen sich beide Körper nicht einfach separieren, der physische wird zwar immer mal wieder ausgewechselt, doch im mer muss einer da sein – und er sollte we-nigstens imstande sein zu (unter-)schrei ben: „Wenn man oft gegen Monarchen behaup-tet“, no tiert Hegel, „dass es durch ihn von der Zufällig keit abhänge, wie es im Staat zugehe, da der Monarch übel gebildet sein könne, da er viel leicht nicht wert sei, an der Spit ze desselben zu stehen, und dass es wi-dersinnig sei, dass ein solcher Zustand als ein vernünftiger ex istieren solle, so ist eben die Voraus setzung hier nichtig, dass es auf die Besonder heit des Charak ters ankomme. Es ist bei einer voll en deten Organisa tion nur um die Spit ze formellen Entscheidens zu tun, und man braucht - zu einem Monarchen nur ei nen Men schen, der „Ja“ sagt und den Punkt auf das I setzt; denn die Spitze soll so sein, dass die Beson der heit des Charak ters nicht das Bedeutende ist.“ (1986: 451) >Komplizierter wird das Ganze erst in dem Augenblick, als der Apparat den Sou-verän nicht nur beobachtet und „bedeckt“, sondern auch daran misst, was von ihm ei-gentlich zu erwarten wäre. In Sa mu el Pepys‘ Tagebuch finden sich regelmäßig Klagen die-ses Hofbeamten über seinen König, dem es an der notwendigen „sobriety“ fehle, um das Land angemessen zu regieren (Kohlmann, 2009). Hegels Kal kül treibt diese Differenz noch weiter: Eine „vollendete Organisation“, der preußische „Anstaltsstaat“ (Max Weber), macht selbst Politik und braucht den offizi-ellen Souverän nur der Form halber – des-sen Debil i tät da her auch keine Rolle mehr spielt. Macht tech niker solchen Zuschnitts sind dann auch imstande, den nächsten Schritt zu tun: sie sorgen sich ums gemeine Volk. Diese überraschende Sorge ent springt keiner unversehens aufkommenden Sympa-thie für Land und Leute; hinter ihr stec ken auch nicht ältere Vorstellungen vom „guten“ (gottgefälligen) Herrscher; sondern sie ist eine Sa che der Staatsräson: des Kal küls, dass das Regime auf Ressourcen der Regierten zu-rückgreifen muss, wenn es dau erhaft (über-)le ben will. Weshalb machtbewusste Souverä-ne sich um ihre Un ter ta nen, „in deren Kraft ihre eigene Stärke und ihr eigener Ruhm

bestehen“ (Thomas Hobbes), aus eigenem Interesse intensiv küm m ern. Also auch hier: Politik ist selbstreferentiell, die Regierenden regieren für sich (Staatsrä son), nie man den sonst. Ein Perspektivwechsel findet nur in einer Hinsicht statt: Die Ubus dieser Welt wol len selbst leben (nach ihrem Geschmack) und müssen dafür überle ben; ihre Nach folger müs sen um des eigenen Überlebens willen an dere „leben machen“ (Michel Foucault). >Darin besteht das Plus dessen, was wir gewohnt sind, „verantwortliche“ Politik zu nennen: sie re flektiert ihren Zustand, entwi-ckelt sich vom naiven Machtgenuss zum ra-tionalen Machtkalkül. Macht ha ber üben sich aus strategischer Einsicht in Triebaufschub, wohlwissend, dass „verrückte Augen blic ke“ auf län ge re Sicht selbstzerstörerisch sind. Diese Rationalitätszufuhr („Staatsräson“) erhöht einer seits die Kom plexität der Poli-tik und produziert dadurch Legitimität, weil das öffentliche Interesse (sprich: die privaten In teressen anderer oder sogar aller) ins herr-schaftliche Kalkül eingehen (bis hin zur Vor-stellung einer „sozialen Monarchie“, wie sie Lorenz v. Stein im 19. Jahrhundert lanciert hat). Irrtü mer des Regierens sind möglich, doch von einer „Krise der Politik“ kann (im-mer noch) keine Re de sein.

Regressive Politik

Mal Ubus Gräuel, mal Preußens Gloria – so unterschiedlich kann man „politisieren“. Genuss und Kalkül markieren gleichwohl unterschiedliche Ent wick lungsniveaus des Umgangs mit Politik. Was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass die Reflexion in eine Transformation übergehen kann: Das Mittel – allgemeines Wohl – wird zum Zweck er hoben und den Souveränen als Maß stab vorgehal-ten, den zu verfehlen für sie bedeu tet, dass ihre Tage gezählt sind, weil An dere („Opposi-tion“) die Chance erhalten sollen und wollen, es besser zu ma ch en. Wer diese Wen dung als Aufstieg der De mokratie feiert, sollte besser dran denken, dass schon das 17. Jahrhundert Populisten erlebt hat, welche dem König im Namen des Volkes das Leben schwer ge macht haben – freilich ohne im min desten dran zu denken, den Pöbel tatsächlich zu Wort kom-men zu lassen. Ihr Volk war eine idea li sierte, eigens erfun dene (Morgan, 1988) und für sie dienst bare (nicht umge kehrt) Größe, sprich: ihm war die Rolle zugedacht, den kaum we-niger wortlo sen Gott als Legitimitätsquel-le ab zu lö sen (weshalb damals auch beide

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Stummheiten miteinander ver mischt werden konnten, um die angemaßte Volks fürsorge als gött li chen Auftrag hinzu stellen). >Immerhin kommt so hinterrücks, mit oder ohne Gott, ein Legitimitätsbruch in die Welt – und da mit die Erkenntnis, dass im Zentrum der Politik nicht nur eine Differenz (zwischen Ideal und Wirklich keit) stehen mag, sondern Heterogenität: Das, was anders sein könnte, ist nicht nur besser, sondern ganz anders, sprich: verhält sich, zu dem, was ist, „antagonistisch“. Erst jetzt wird „Krise der Politik“ – im Gegensatz zu Krise der Macht – üb erhaupt formulierbar: wenn nämlich, aus welchen Gründen auch im mer, die Opposition verschwin det, so dass sich das Feld des Politischen wieder zusammen-faltet und aufs Geschäft der anwesenden Mächtigen reduziert, das ganz Andere also zur sprach lo sen Ab wesen heit verdammt ist. Carl Schmitt (1963) weist in diesem Zusam-menhang auf die besondere Rol le der Tech-nik hin, und zu Zeiten, vor 40, 50 Jahren hat man tatsächlich geglaubt, eine finale Ruhela-ge sei ein ge treten. Einige sahen „kristallisier-te“ Zustände kommen, andere sprachen von einer „Opposition ohne Alternative“, und systemtherapeutische Sozialdemokraten hielten schon damals ihren Weg, („kon zer-tier te Aktion“) für konkurrenzlos richtig. Auf alle Fälle würden post poli ti sche Verhältnis-se heraufziehen – die Herrschaft sachlicher Gesetzmäßigkeiten oder: Politik im Zustand der Regression. >Als Ideologie wurde diese Vision zuerst von denen gebrand markt, deren Blick für Ausbeutungs- od er we nig stens Ungleich-verhältnisse sich von homogenisieren den Gesellschaftsvi sionen nicht hat trüben las-sen. In dieser Linie stehen Chantal Mouffe (2007) und ihre Kritik am gegenwärtigen Sozial demo kra tis mus, dem sie, wenn man so will, „Heterogenitätsvergessenheit“ vor-wirft, weil seine Suche nach einem „dritten Weg“ das Terrain der (antagonistischen, ja selbst „agonalen“) Spaltungen ausdrück lich verlässt. Dagegen insistiert sie auf gebremste Militanz - etwa im Sti le Elias Canettis, des-sen Deutung des parlamentarischen Abstim-mungsrituals den an tagonistischen Hinter-grund nicht aus dem Blick verliert: Es sei „der Rest des blu tigen Zu sam men sto ßes, den man auf vielfache Weise spielt, durch Drohung, Beschimp f ung, physi sche Erregtheit, die [in süd lichen Parla menten] bis zu Schlägen oder Würfen führen kann. Aber die Zählung der Stimmen ist das Ende der Schlacht.“ (2006:

220). Die Dramatisierung lebt offenkundig von der Idee, dass Politik im Originalzustand (Bürger-)Krieg oder (Klassen-)Kampf war und alles, was danach passiert ist, als Zi vi-lisierung einer ursprünglichen Wildheit be-griffen wer den muss. Diese Unter scheidung zwischen (on tolo gischer) Wesentlichkeit und (ontischer) Wirk lich keit hat gegenwärtig Konjunktur (Marchart, 2010). Man hält sie essentiell fürs kri tische Denken, des sen Sub-stanz ja von „woanders“ herkommen muss, und dafür ist in postmo dernen Zeiten jedes Mittel recht: Als andere Orte kommen neben dem tiefgründelnden Wesen („Sein“) in zwi -schen auch Flachheiten wie „Fiktion, Zu-fälligkeit und Kontin genz“ (Jacques Derrida) in Betracht. Von einer Krise des Politischen könnte man unter solchen Voraussetzungen erst dann spre chen, wenn die Phantasie er-schöpft ist. So - und nur so - gesehen würde sich der Kreis schließen: denn phantastisch war auch der Einfall des (englischen) Adels, gegen den unge lieb ten König das neu er-fundene Volk in Stellung zu bringen.

>LITERATURCanetti, E. (2006): Masse und Macht, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main.Hegel, G.F.W. (1986): Grundlinien der Phi-losophie des Rechts, Suhrkamp, Frankfurt an Main. Kantorowicz, E. (1990): Die zwei Körper des Königs, dtv, München.Kohlmann, B. (2009): „’Men of Sobriety and Business’: Pepys, Privacy and Public Duty”, in: The Review of English Studies, Jg. 61, S. 553–571.Marchart, O. (2010): Die politische Diffe-renz, Suhrkamp, Frankfurt am Main.Morgan, E. S. (1988): Inventing the Peop-le, W. W. Norton & Company, New York/London.Mouffe, C. (2007): Über das Politische, Suhrkamp, Frankfurt am Main.Schmitt, C. (1963): Der Begriff des Politi-schen, Duncker & Humblot, Berlin.

Gesellschaft

D. Baecker

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Die Krise hat anhaltende Hochkonjunktur. Sie gehört zu den wenigen Universalbegrif-fen der postindustriellen Gesellschaft und scheint gleichermaßen auf Regierungen, Volkswirtschaften, Interessenverbände oder Sportvereine anwendbar. Sie erweist sich als hochgradig normativ aufgeladen und stellt je nach Krisensubjekt eine andere Deutung be-reit. Einer der seit rund einem Jahrhundert stabilsten Krisendiskurse in Deutschland ist der um politische Parteien. Irgendeine Par-tei, mindestens aber die, die mehrere Jahre in Folge nicht regieren kann, befindet sich scheinbar immer in der Krise. Als Promo-toren des Diskurses im parteiskeptischen Deutschland sind einerseits die krisenaffinen Massenmedien zu nennen. Andererseits prä-sentierte sich auch die Geisteswissenschaft stets als politischer Krisenanalyst: Max We-ber beschrieb die Krise der deutschen Partei-en im Revolutionswinter 1918/19 (Weber, 1926: 51ff), ebenso wie Sigmund Neumann jene der untergehenden Weimarer Repu-blik (Neumann, 1932). Und der Weg von der Krisendiagnose zur offenen Parteien-kritik oder gar zur offenen Schmähung von Parteien war nie besonders weit: Ein anar-chistischer Syndikalist wie Robert Michels lehnte den Weimarer Parteienstaat ebenso ab wie der rechtskonservative Carl Schmitt. In der Bundesrepublik verband sich die wis-senschaftliche Kritik mit der Analyse einer parteienstaatlichen Krise durch überborden-de Machtfülle. Das Korruptionspotenzial der Parteien stand ebenso am Pranger wie die Überdehnung und Abkopplung von der Gesellschaft (Hennis, 1982; Scheuch und Scheuch, 1992). >Die Rede von den Parteienkrisen erfor-dert somit eine differenzierte Betrachtung. Schließlich scheint der nachfolgend zu dis-kutierende Fall der Volksparteienkrise eine andere Diskursrichtung zu nehmen als die bisherigen Fälle. Zudem besitzt die Krise der Volksparteien augenscheinlich eine völlig an-

dere empirische Evidenz. Waren es meist eher Krisen der Demokratie oder des staatlichen Systems, welche durch die legale Machtaus-übung der Parteien in Frage gestellt würden, so entwickelte sich die in den vergangenen zwei Dekaden stark in den Fokus gerückte Volksparteienkrise tendenziell in eine an-dere Richtung: Ohnmächtig seien Parteien, Wähler und Mitglieder gingen verloren, was schließlich in eine Legitimitäts- und Vertrau-enskrise von geradezu historischem Ausmaß münde, so der Journalist Thomas Leif (Leif, 2009: 436ff). >Woran bemisst sich jedoch die so ge-ortete Krise der Parteien, vornehmlich der Volksparteien? Immerhin funktioniert in der Politik der Bundesrepublik keine Regierung ohne die Führung durch Union oder SPD – die einzigen Parteien, die bis heute einen gemeinhin als legitim erachteten Volkspar-teienanspruch erheben. Der Ursprung der heutigen Krisendiskurse muss zunächst über die historische Entstehung der Volkspartei-en erschlossen werden. Die Volksparteien sind Produkte der Nachkriegsjahrzehnte. Im Zeitalter, in dem sich stabile Milieu- und Klassenstrukturen sowie belastbare Partei-Sozialgruppen-Bündnisse aufzulösen be-gannen, erschienen sie als innovatives Er-folgsmodell im sozialen Strukturwandel. Die CDU, die sich von Anfang an zur Volkspartei erklärte, verstand unter diesem Titel eine so genannte Sammlungspartei in der Mitte der Gesellschaft – wobei die Mitte stark an ein kleinbürgerlich-konservatives Gesellschafts-verständnis anknüpfte (Münkler, 2010: 69). Die Union versprach vermittels gesellschaft-lichen Wohlstands jedoch die Integration al-ler sozialen Gruppen in dieses Modell. Dieser erfolgreichen Inszenierung hatte die traditio-nalistische Facharbeiterpartei SPD zunächst wenig entgegenzusetzen. Erst in den späten 1950er Jahren motivierten die anhaltenden Wahlniederlagen die Sozialdemokraten eine ähnliche Selbstdarstellung anzustreben. Bei-

oliver d’antonio Die Krise

der Catch-All-Strategie

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de Parteien glaubten den Lehren von Kirch-heimer und Downs, nach welchen in moder-nen Gesellschaften jene Partei erfolgreich sei, die ihr Produkt am besten auf dem Markt platziert, mithin alle Wähler ansprechen will (Catch-All-Strategie) und durch vage Pro-grammatik die größtmögliche Öffnung über die eigene Stammklientel hinaus erreiche (Kirchheimer, 1965). Tatsächlich blieben Christ- und Sozialdemokraten zwar unter-scheidbar, doch sie strebten keine großen Gegenentwürfe zur Politik des anderen mehr an, wollten, wie es die SPD in der Ära Brandt formulierte, nicht alles anders, sondern nur vieles besser machen, als die CDU. >Die Bonner Republik mutierte ab Mitte der 1960er Jahren zum Volksparteienstaat. Diese kurze Epoche, die bis in die 1980er Jahre reichte, stellt in der Retrospektive die Glanzzeit der Volksparteien dar. In dieser Zeit gelang es den Unionsparteien und der SPD bei Bundestagswahlen Stimmenanteile von 40 bis 50 Prozentpunkten zu erreichen. Beide Volksparteien gemeinsam erreichten seinerzeit regelmäßig Ergebnisse von rund 90 Prozent der abgegebenen Stimmen. In den 1970er Jahren gelang es sogar, die Frei-demokraten aus den Landtagen in Saarbrü-cken, Kiel und Hannover zu verdrängen, so dass dort phasenweise nur noch Zweipartei-enparlamente existierten. Der Volkspartei-enstaat zeichnete sich neben dem hochkon-zentrierten Parteiensystem und beachtlichen Wahlbeteiligungsraten durch eine überaus erfolgreiche Mitgliederwerbung aus: Rund zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger wa-ren in CDU/CSU und SPD Mitte der 1970er Jahre organisiert. >Diese Entwicklung war jedoch lediglich das Resultat einer kurzen historischen Epo-che, was den Volksparteien auch eher den Charakter eines historischen Übergangssta-diums, denn eines empirisch messbaren so-zialwissenschaftlichen Typus verleiht. Die zunehmende Fragmentierung und Differen-zierung der spätindustriellen Gesellschaft erlaubte den selbst erklärten Volksparteien kurzzeitig einen fulminanten Aufstieg, ihre Öffnungs- und Sammlungsstrategien fielen auf fruchtbaren Boden. Doch die anfangs günstigen Bedingungen kehrten sich nach dem Abebben der hochpolitisierten und -po-larisierten 1970er Jahre zunehmend um. In einer Gesellschaft mit abnehmender Milieu-integration, ausdifferenzierter Interessen-struktur und nachlassendem Bindungsbedarf an politische Parteien, gibt es – zugegebener-

maßen – auch nur wenig Anlass zu erwarten, dass sich die Bürgerinnen und Bürger dau-erhaft in einem polarisierten Zwei- bis Drei-parteiensystem abbilden lassen. >Den Parteien selbst geht diese Einsicht jedoch bis heute ab. Der kurze historische Glücksfall der volksparteilichen Hausse, wurde nun zum Normzustand erklärt. In-nerparteiliche Vordenker wie der Christde-mokrat Karl-Joachim Kierey erklärten, eine Volkspartei müsse in Wähler- und Mitglied-schaft sowie in den Parlamentsfraktionen die gesellschaftlichen Gruppen angemessen abbilden (Kierey, 1972: 22). Andere machten den Volksparteienstatus am Wahlerfolg fest, nannten Mindest-Prozenthürden oder er-warteten, wie Peter Haungs, eine Volkspartei müsse das Ziel verfolgen, „so viele Stimmen auf sich zu vereinigen, dass sie – möglichst allein – die Regierung bilden könne[n]“ ( 1980, Hervorheb. im Original). Diese Maß-stäbe legen durchaus nahe, dass jeder lang-fristige Zustand, in dem jenen Ansprüchen nicht genügt wird, als krisenhaft interpre-tiert werden kann. Es gehört jedoch wenig dazu, die Überforderung zu erkennen, die diese Definitionsversuche den Parteien auf-erlegen. Doch die Parteien verweigern sich diesem Zwang zur Volkspartei nicht, son-dern befördern ihn zusätzlich: Sie beschwö-ren mantrahaft ihren Volksparteiencha-rakter, begegnen der Destabilisierung ihrer Mitglied- und Wählerschaft mit anhaltenden Reformkonzepten und bisweilen atembe-raubenden Kehrtwenden in ihrer Politik. Sie wollten Netzwerkpartei oder Bürgerpartei werden, boten Schnuppermitgliedschaften an, präsentierten eigene YouTube-Kanäle und Facebook-Seiten – was sie auch versuch-ten, es war vergebens, die Volkspartei der 1970er Jahre kehrte nicht wieder. Und die Politikwissenschaft leistet ihnen bisweilen einen Bärendienst, indem sie immer wieder aufs Neue fordert, an den tradierten Catch-All-Strategien festzuhalten (Mayer, 2009: 20f). >Es wäre sicherlich zu einfach zu be-haupten, die Volksparteienkrise sei nur aus eigenem Verschulden erwachsen. Doch die Parteien tragen ohne Frage an ihrer Ver-schärfung und vor allem an der breiten öf-fentlichen Wahrnehmung einer solchen Krise Schuld. Sie verbarrikadierten sich hinter den Maßstäben einer günstigen, aber überkom-menen Epoche und wussten zu keinem Zeit-punkt mit dem gesellschaftlichen Wandel, der ihnen die Erfolgsgrundlagen entzog, um-

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zugehen. Statt auf Abspaltungen oder neue Konkurrenten wie die Grünen oder Die Lin-ke zuzugehen, sie koalitionspolitisch einzu-binden, Flexibilität unter Beweis zu stellen, folgerten sie stets, die verlorengegangenen Stimmen müssten vermittels organisatori-scher Reformen re-integriert werden. >So folgt einer Profilerneuerung, eine Organisationsreform und im Zuge einer Programmerneuerung möglicherweise wie-der die Rückkehr zu den ideellen Wurzeln. Auch dies verschärft die Krise, denn Wähler suchen heute verstärkt nach politischer Ori-entierung und Verlässlichkeit in der komple-xer werdenden politischen Landschaft. Man wünscht sich Parteien mit klaren Profilen, die dennoch Bündnisfähigkeit und einen ge-wissen koalitionspolitischen Pragmatismus unter Beweis stellen. Letztlich wird es darauf ankommen, ob die heutigen Volksparteien in der Lage sind, wieder ein klareres Wertepro-fil zu entwickeln und damit viele jener Wäh-ler zurückzuholen, die sich aus Frust und Enttäuschung dem Parteiensystem völlig abgewandt haben. Denn Wahlabstinenz und politische Apathie stellen für eine Demokra-tie die weit gefährlichere Krise dar als die der Volksparteien. Jenseits der Catch-All-Partei wird es nicht mehr möglich sein, potenziell alle Wählerinnen und Wähler anzusprechen, es ist nur wichtig, dass sich diese bei ande-ren Parteien einreihen, zu deren Profil sie besser passen. Die einstigen Volksparteien binden diese im Idealfall koalitionspolitisch wieder in ihre Regierungspolitik ein. Gelingt es ihnen, sich vom Sammlungsanspruch zu emanzipieren, stabile Koalitionen auf der Grundlage von 30 bis 35 Prozent der Wäh-lerstimmen herzustellen und der Partei- und Regierungspolitik ein klares Profil zu verlei-hen, so dürfte das Zeitalter der Volksparteien schon bald vergessen sein, ohne dass diesem noch mit großer Wehmut nachgetrauert wer-den müsste.

>LITERATURHaungs, P. (1980): Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, Colloqui-um Verlag, Berlin.Hennis, W. (1982): „Überdehnt und abge-koppelt. An den Grenzen des Parteienstaa-tes“, in: C. Graf v. Krockow (Hg.): Brauchen wir ein neues Parteiensystem?, Fischer-Ta-schenbuch-Verlag, Frankfurt am Main, S. 28–46.Kierey, K.-J. (1972): „Ist die CDU eine

Volkspartei?“, in Sonde – Neue Christlich-Demo kratische Blätter für Politik, Jg. 5, S. 17–28.Kirchheimer, O. (1965): „Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 6, H. 1, S. 20–41.Leif, T. (2009): Angepasst & ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Warum Deutschland der Stillstand droht, Bertels-mann, München.Mayer, T. (2009): „Von der Mitte her den-ken. Das bürgerliche Lager und das Poten-zial der Volksparteien“, in: V. Kronenberg und T. Mayer (Hg.): Volksparteien: Erfolgs-modell für die Zukunft? Konzepte, Konkur-renzen und Konstellationen, Herder, Frei-burg im Breisgau, S. 12–25.Münkler, H. (2010): Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Rowohlt, Berlin. Neumann, S. (1932): Die deutschen Par-teien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Junker & Dünnhaupt, Berlin.Scheuch, E. K. und Scheuch, U. (1992): Cliquen, Klüngel und Karrieren: Über den Verfall der politischen Parteien, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.Weber, M. (1926): Politik als Beruf, Mün-chen, S. 51–67.

Medien

M. Künzler

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Krisen gehören zu den „3 Ks“ der Politikwis-senschaft. Steckten Küche, Kinder, Kirche das traditionelle Lebensumfeld von Frauen ab, so bilden Krisen, Kriege und Konflikte die traditionell wichtigsten Untersuchungs-gegenstände der Politikwissenschaft. Dabei bezeichnet Krise schlicht einen Wendepunkt, den Punkt, an dem ein Entwicklungstrend von einem anderen abgelöst wird. In der Me-dizin markiert die Krise den Beginn der Hei-lung; in den Wirtschafts- und Sozialwissen-schaften wird der Begriff – wohl im Eindruck des Alltagsgebrauches – meist negativ kon-notiert. Die Wissenschaft spürt nicht nur die Ursachen für die Entstehung einer Krise auf, sondern versucht auch zu ermitteln, welche Umstände zu einer Stärkung (oder Schwä-chung) infolge einer Krise führen. >Auf welche Weise die Politikwissen-schaft am besten dazu beitragen kann, Kri-sen zu erklären, lässt sich anhand des Bandes „Essence of Decision“ von Graham T. Allison verdeutlichen. In diesem Klassiker der Poli-tikwissenschaft erklärte er 1971 die Entste-hung der Kuba-Krise. Er hatte nämlich fest-gestellt, dass es trotz unzähliger Berichte und Bücher über diese 13 Tage im Oktober 1961, die die Welt an den Rand eines Atomkrieges gebracht hatten, auch zehn Jahre danach noch immer keine konsistente Erklärung der Entstehung der Krise gab. Auch wir können heute leicht Fakten ermitteln – über Fern-sehen, Printmedien oder Internetseiten wie WikiLeaks –, doch bieten diese Quellen we-der eine Garantie auf vollständige Informati-on noch einen sinnvollen Ordnungsrahmen für ihr Verständnis. Komplexe Zusammen-hänge systematisch zu ergründen, Ordnungs-rahmen und Theorien zu entwickeln, sind Kernkompetenzen der Wissenschaft. Allisons Anliegen, Erkenntnis statt nur Informationen bereitzustellen, ist daher für viele politische Themen weiter aktuell. >Ausgehend von unterschiedlichen Theo-rien, entwarf Allison in seinem Buch in drei

Kapiteln drei unterschiedliche Erklärungen für die Kuba-Krise. Im ersten Szenario führte er sie auf die geopolitische Lage zurück, mit Blick auf Staaten als Spieler, ihre Verhand-lungsmacht und den Kalten Krieg. Im zweiten Szenario zeigte er, wie längere organisatori-sche Prozesse innerhalb der Staaten zur Kuba-Krise führten, darunter die Entwicklung von Mittelstreckenraketen und der Pläne zu ihrer Stationierung auf der Karibik-Insel sowie Ge-heimdienstaktivitäten. Im dritten Szenario stützte er sich auf Entscheidungsabläufe und Aushandlungen innerhalb von Regierungen. Durch diese Nutzung alternativer theoreti-scher Ansätze wollte Allison das Denken in monolithischen Blöcken aufbrechen, das die Analysen der internationalen Beziehungen zum damaligen Zeitpunkt kennzeichnete. Er verfolgte nicht nur die Züge von Regierungen auf dem politischen „Schachbrett“, sondern betrachtete auch die „Schachspieler“ und ihre Entscheidungsfindung (Allison, 1971: 7). Dies war neu. >Spannend liest sich bis heute Allisons Erkenntnis, dass bereits die Wahl des Erklä-rungsansatzes beeinflusst, was ihr Nutzer jeweils über die Entstehung der Krise erfah-ren kann, wie er das Problem definiert, seine Forschungsfrage stellt und herunter bricht, welche Ebenen er einbezieht und was er er-staunlich findet. Dies liegt daran, dass sie jeweils bestimmte Sets von Vorannahmen und analytischen Kategorien enthalten und andere ausblenden (Allison, 1971: 245). Die-selbe Frage – Warum kam es zur Kuba-Krise? – wurde je nach genutztem Ansatz ganz un-terschiedlich beantwortet. Bemerkenswert ist dabei, dass sich alle Alternativinterpreta-tionen jeweils plausibel auf empirische Daten stützen. Jede von Allisons Erklärungen der Kuba-Krise war in sich schlüssig. Offensicht-lich sind also viele sozialwissenschaftliche Variablen nicht eindeutig zu bestimmen, las-sen sich die relevanten Erklärungsfaktoren nicht eindeutig isolieren. Aussagen bewäh-

astrid lorenz

Krisen erklären. Der Beitrag der

Politikwissenschaft

21politikwissenschaft

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ren sich daher in Hypothesentests immer nur vorläufig. >Die praktische Relevanz dieses in der Politikwissenschaft häufig anzutreffenden Problems besteht darin, dass sich aus un-terschiedlichen Erklärungen unterschied-liche, teils widersprüchliche Schlussfolge-rungen dazu ergeben, wie Krisen künftig zu verhindern sind. Dies gilt nicht nur für die Vermeidung künftiger Atomkriege. Entkom-men wir der Klima-Krise über die drastische Beschränkung des Flugverkehrs oder reicht eine Förderung der Solarindustrie? Braucht der Markt mehr Staat oder ist die Finanzkri-se dadurch gelöst, dass Manager für krimi-nelle Taten zur Rechenschaft gezogen wer-den? Lässt sich „Stuttgart 21“ nur über eine breite direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen überwinden, oder reicht es aus, die Verfah-ren der Verkehrsplanung zu ändern, wenn die Medien sich ein anderes Thema gesucht haben? Die Antworten basieren auf wider-sprüchlichen Ursachenanalysen. >Selbst die Ortung einer Krise ist nicht immer so eindeutig wie bei der Kuba-Krise. Gibt es überhaupt eine Klima-Krise oder handelt es sich um natürliche Temperatur-schwankungen? Indiziert „Stuttgart 21“ tatsächlich eine Krise der Demokratie? Der Grad der Abweichung vom Status quo ante, der eine Bewertung als Krise rechtfertigt, ist immer sozial konstruiert, d.h. es gibt keinen objektiven Maßstab. Je kleiner die übliche Schwankungsbreite, desto eher wird eine Ent-wicklungsschwankung als Krise bezeichnet. Daraus resultiert das Paradox, dass gerade in stabilen Demokratien allerorten Krisen fest-gestellt werden, während dieselben Phäno-mene in fragilen Systemen ganz anders wahr-genommen werden. Und schließlich variiert die Bewertung, ob eine Krise vorliegt oder nicht, mit normativen Überzeugungen und der Hinzuziehung der Merkmale, auf die sich die Messung bezieht. Kriselt die Demokratie, wenn die Menschen sich in Umfragen negativ über die Politik äußern, oder sind noch ganz andere Umstände zu berücksichtigen? >Allisons Studie problematisierte das Phänomen unterschiedlicher Erklärungsan-sätze, zeigt aber gleichzeitig, dass sie kein Problem der Wahrheitsfindung ist, sondern eine Chance. Jeder Ansatz vertiefte auf seine Weise das Verständnis der komplexen Kri-senentwicklung. Vielfalt von Theorien und Methoden, so verwirrend sie auf den ersten Blick sein mag, trägt viel besser zur Krisen-

bewältigung bei als Wissenschaftssysteme, die eine Deutung favorisieren, denn diese kann falsch sein. Die Vielfalt der Erklärun-gen ist aber, wie das Buch ebenfalls verdeut-licht, nur unter zwei Bedingungen produktiv für alle: Erstens müssen die Grundlagen der Bewertung und die Daten offengelegt wer-den, damit die Behauptungen für andere nachprüfbar sind. Konfektionierungen von Variablen, die nur dazu dienen, die Gültig-keit einer Theorie zu belegen, können auf diese Weise aufgedeckt, normative Erwar-tungen diskutiert werden. Zweitens dürfen die Erklärungen nicht einfach nebeneinan-der stehen, sondern es muss ein Bezug zwi-schen ihnen hergestellt werden. Erst durch seinen Vergleich zeigte Allison die jeweiligen Erkenntnisse und Lücken bei der Erklärung der Kuba-Krise auf. Vielfalt muss also mit Transparenz und Offenheit zum Dialog ein-hergehen, um dem Erkenntnisinteresse zu dienen. >Zusammenfassend weist uns Allisons Band über die Kuba-Krise bis heute darauf hin, dass der Beitrag der Politikwissenschaft zur Erklärung und Überwindung von Krisen gerade nicht in der Behauptung universeller Wahrheit besteht, sondern im sorgfältigen Entwurf konsistenter Deutungsrahmen, der Diskussion von Deutungsalternativen und in systematischer, transparenter empirischer Forschung. Die eigenen Unzulänglichkeiten und die Chance des eigenen Scheiterns denkt sie immer gleich mit. Dies macht es ihr frei-lich schwer, der Öffentlichkeit guten Gewis-sens schnelle und einfache Ratschläge für politisches Handeln in Krisen zu geben.

>LITERATURAllison, G. T. (1971): Essence of Decision – explaining the Cuban Missile Crisis, Little Brown, Boston (Mass.).

Politik

O. D’Antonio

Politik

W. Fach

1920

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Zäsuren stehen oft im Mittelpunkt der Ge-schichtsforschung: der Sturm auf die Bas-tille, der die Französische Revolution und somit das Ende des Absolutismus einleitete oder die Reformen Gorbatschows, welche zum Ende des Kalten Krieges führten. Doch wann ist ein historisches Ereignis eine Zäsur bzw. wann und aus welchem Blickwinkel neh-men wir es als solche wahr? Der Sammelband „Von Zäsuren und Ereignissen – Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung“, herausgegeben von Thorsten Schüller und Sascha Seiler, setzt sich mit diesen Fragen auseinander. Der Schwerpunkt der einzel-nen Artikel liegt vor allem auf dem medialen, kulturellen oder ästhetischen Umgang mit diversen Zäsuren. Leider zielt der Großteil der Forschungsarbeiten auf die große Zäsur unserer Tage ab, welche wir unter dem Kür-zel 9/11 kennen. Daneben werden allerdings auch andere Themen wie der RAF-Terroris-mus oder weiter zurück reichende Zäsuren, wie das Erdbeben in Lissabon von 1755 in einzelnen Beiträgen analysiert. >Die Autoren und Autorinnen dieses Sam-melbandes kommen aus den verschiedensten Fachrichtungen des Wissenschaftsbetriebes. Durch dieses disziplinübergreifende Auto-renteam sind die einzelnen Artikel aus sehr verschiedenen Sichtweisen geschrieben und setzen diverse Schwerpunkte in ihren Analy-sen. Der einzige gemeinsame Ausgangspunkt aller Wissenschaftler und Wissenschaftlerin-nen in diesem Sammelband ist ihre Auffas-sung von Zäsur. Diese teilen die Welt, zumin-dest in der Wahrnehmung der Menschen, immer in ein „Davor“ und ein „Danach“ ein. Die einzelnen Betrachtungsweisen und Mei-nungen der Autoren und Autorinnen zu Zä-suren unterscheiden sich allerdings stark. Es wird beispielsweise untersucht ob Zäsuren überhaupt von der ganzen Gesellschaft als Zäsur wahrgenommen werden und wenn ja, ob sie als Zäsuren in derselben Weise wahrge-nommen werden. Am Beispiel fundamentaler

Christen, welche die Anschläge auf die Twin Towers als Teil der biblischen Apokalypse sehen, setzt sich dazu die Autorin Christina Rickli speziell damit auseinander, dass Zäsu-ren von einer Nation oder sogar global zwar kollektiv als solche wahrgenommen, aber ganz unterschiedlich interpretiert werden können. Sie stützt diese Annahme mit einem enormen Anstieg der Verkaufszahlen von evangelikaler Endzeitliteratur nach 9/11. Ein und dasselbe Ereignis kann also, laut ihrer Arbeit, in verschiedenen Teilen einer Gesell-schaft unterschiedlich wahrgenommen wer-den. Außerdem müssen vergleichbare Zäsu-ren nicht zwangsläufig ähnliche Reaktionen hervorrufen. Thomas Schmidtgall macht in seinem Aufsatz deutlich, dass aufgrund des religiös-kulturellen Hintergrundes die Ame-rikaner mit Heroismus auf 9/11 reagierten während in Spanien nach 11-M (Anschläge in Madrid am 11. März 2004) eine Art Ritu-alisierung des Schmerzes und der Trauer zu beobachten war. Besonders aufschlussreiche Indikatoren für Ängste und Krisen, die nach Zäsuren eintreten oder Ereignisse erst zu Zäsuren machen, zeigen Karsten Wind Mey-hoffs Untersuchungen zum Genre der Katas-trophenfiktion und dessen Entwicklung vom 18. Jahrhundert bis heute. >Bei all diesen Untersuchungsgegenstän-den fällt es manchmal schwer, die Kernaus-sage dieses Sammelbandes nicht aus den Augen zu verlieren. Genauer gesagt, dass Zä-suren in den seltensten Fällen eine neue Zeit einläuten. Zäsuren schaffen eher imaginäre Konzentrationspunkte, die sich langfristig entwickelnde Umbrüche in der Gesellschaft an einem Punkt verorten. In den seltensten Fällen existiert also ein „Davor“ und ein „Da-nach“. Wie so vieles basieren auch die großen Umbrüche der Gesellschaft auf langfristi-gen Entwicklungen zu einem Ereignis hin, welches dann durch mediale oder kulturelle Reflexion bzw. Ängste und Krisen in einer Gesellschaft zu einer Zäsur erhoben wird.

michaelfischer Retrospektive

Brüche

Thosten Schüller und Sascha Seiler (Hg.)Von Zäsuren und Ereignissen - Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung Transcript, Bielefeld, 2010, 29,80 €.

22rezensionen

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22|23

Roughly 15 months after publication this book has been widely reviewed. It is said to be “one of the best, if not the best, books ever written on the history of financial cri-ses” (Kose, 2011) and according to New York Times Op-Ed columnist David Brooks “the best explanation” if you want to understand the recent financial crisis. (Brooks, 2010). In fact, Reinhart and Rogoff’s “overwhelm-ing” achievement has been in having “com-piled an impressive database, which covers eight centuries of government debt defaults from around the world” (Chancellor, 2009) thus providing the “first comprehensive se-ries of public debt” (Kose, 2011). In using a “history-based, theory-shy approach” that “offers little guidance to policy” (Krugman & Wells, 2010), they furthermore provide less controversy for economist to quarrel about. So is there any need to, among with all the others, jump on the boat trying to clamper a small part of the fame by reviewing this recent bestseller yet another time? I believe there is. >First of all, the explanation of the recent financial crisis can, by considering the “evi-dence” Reinhart and Rogoff present, indeed help “any responsible citizen” understand the economic mechanisms that have lead to such disastrous results (Warsh, 2009). The book is full of charts and graphs accumulat-ing all the data the two researchers have col-lected. However, most of the “800 years of folly” (as the subtitle suggests) actually take their scene from the 19th century onwards. The 800 years rather serve as a proof for the main claim that crises have been around for decades and that our ancestors, no matter how sober in judgment, have always believed that the individual situation was such, that it is not comparable to past crises. For this syn-drome the authors coin the notion of “this time is different”. >The analysis itself concentrates on all sorts of “financial behemoth” (282) – in-

cluding detailed data on inflation rates, fi-nancial capital flows, house prices, domestic debt, etc. – mainly in the period from 1800 to present. The last chapters lower this ra-dius to a comparison of the “Great Depres-sion” (1929+) and, as the authors call it, the “Second Great Concentration” from 2007 onwards. Other than actually providing a picture of the crises and including indica-tors that so far have been neglected (domes-tic debt and house prices), they fall short of explaining the factors that actually lead to a crisis. Nevertheless, providing the data in itself is a reasonable achievement because it is a starting point for further research and could improve worldwide risk management through a perfection of so called early warn-ing models (EWM). As Warsh puts it: “The authors have demonstrated that with appro-priate evidence, the problems we are suffer-ing through can be foretold” (Warsh, 2009). >Taken into account that the book is more or less written out statistics, “what then do these data tell us?” (Wolf, 2009), or better what don’t they tell us? What strikes the most about the composition is the blatant ig-norance towards the historical developments the analysed crises have been embedded in. Apart from some exemplary stories in small boxes (69-71; 88) and a long explanatory chart at the end of the book, the understand-ing of the so called “historical experience” (52) even spares to name the individual de-velopments that are compared. Rather than missing out on the context, it seems that the authors explicitly cross out the context in or-der to underline the possibility of their com-parison. By doing this “a picture is drawn” that enables trained economists “to relate economic events as they are discussed in the framework of everyday speech to the more rigid framework of mathematical models” (Rosner, 2006: 156). Such a picture entails indicators such as “Gross Domestic Product” (GDP), “sovereign debt”, “Government do-

alexander mitterle “This time is

different” – indeed, it is.

Reinhart, Carmen M. & Kenneth S. Rogoff (2009): This time is different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton/Oxford: Princeton University Press.

23rezensionen

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mestic debt” and other naturalized entities of today’s economics and underlines the claim a much more context based researcher of com-mercial history has made: “no government can nullify the laws of economy, whether it knows them or not” (Lopez, 1976: 71). In ref-erence to Richard Rorty, the economist Mark Blaug calls this “rational reconstruction” that is opposed to “historical reconstruc-tion” (Blaug, 2001: 150)1. While the latter aims at the impossible task of reconstructing past knowledge without taking the following achievements (charts, graphs, mathematic models, etc.) into account, the former uses up-to-date knowledge to make old ideas and statistics “transparently relevant to mod-ern economists” (Blaug, 151-152). In other words: ”the quantitative technologies used to investigate social and economic life work best if the world they aim to describe can be remade in their image.” (Porter, 1995: 43) >For instance the notion of “GDP” is puz-zling. An international standardization that makes a nation state comparison possible only dates back to the foundation of the United Nations in 1944 and that of the Or-ganisation of European Economic Coopera-tion (OEEC) shortly after (Studenski, 1958). While some approaches to national account-ing indeed reach back to the 17th century and widely diverging measures develop in the 19th century, the aligning of theoretical concepts (e.g. equilibrium, economic cycles) to statistics and the rise of econometrics take their main start with the “statistical revolution” in the early 20th century (see Porter, 1995, 2001). Their practical use and hence their widespread support by govern-ment was for the early 19th century at best questionable. >Another problem arises from the care-less utilization of words such as states and “sovereignty”. Analysing “sovereign debt” in the 13th century has nothing much to do with the state of “Italy” – as suggested by the authors – but rather with merchants from diverse northern Italian towns, that were in constant quarrel with the emperor, the pope and neighbouring dukes. “Financial behe-moth” in those days could mean the loss of a treasure case during warfare (Frederick II) and may raise questions of comparability if set aside the “sovereign default” of an in the meantime developed 18th century absolut-ist state respectively a 19th century nation state.

>Several references to “corruption and “cleptocratic” governments in the book raise further questions in how far 21st century good governance practices can be used as a historical correct judgment for 18th century monarchies (53; 88) who did not put the gov-erning of the people (healthcare, generation-al fairness, etc.) at the top of their priority list. It may be unfair to suggest that the au-thors are not really aware of such problems, but by jumping between centuries without giving any indication other then time charts, it often remains unclear what they are actu-ally referring to. >At some points however their general-ization indeed turns wrong. For instance, they align the 19th century Germany to Prussia (87). This is historically far from cor-rect. Until at least 1866 the question of the leading country in Germany was still up to decision between Austria and Prussia. In fact a German state that was more than a loosely coupled system of sovereign nation states (without a statistical entity) did not exist before 1871. This makes German GDP esti-mates going back to 1800 (now without the Prussian distinction; 186) and Germany’s “defaults through inflation” between 1501-1799 highly questionable (183). The same applies to other late-founding states such as Italy, Turkey, Belgium and the Netherlands. >Finally, the notion of “crisis” itself has to be questioned. The authors do spend a reasonable amount of pages on discussing what they understand as crisis and what sort of crises they refer to if they talk about the financial follies of the last 800 years. A crisis by its term must always be a decisive cut to otherwise “normal” – if not rather equilibrated – circumstances. It is doubtful that the 13th century continental Europe awaiting the rise of an Anti-Christ, lacking an independent press and being involved in crusades and constant wars between neigh-bouring rivals had any clear feeling for nor-mal circumstances as opposed to crisis in the terms of Reinhart and Rogoff. >This time it indeed is different. While Charles Kindlebergers “Manias, Panics, and Crashes: A History of Financial Crises” had more anecdotal character and needed a suf-ficient study of historical documents, Rein-harts and Rogoffs database entitles future scholars to produce history by numbers. This truely is a “return of history” as David Brooks (2010) argues, but then some history books need an awful lot of rewriting.

1 Blaug refers to the history of economic ideas. I believe the argumentation is equally valid for the history of economic accounting.

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>LITERATURBlaug, M. (2001): “No History of Ideas, Please, We’re Economics”, in: Journal of Economic Perspectives, Jg. 15, H.1, S. 145–164.Lopez, R.S. (1976): The Commercial Revol-ution of the Middle Ages, 950–1350, Cam-bridge/New York/u.a.: Cambridge Univer-sity Press.Porter, T.M. (1995): Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton/New Jersey: Princeton University Press.Porter, T.M. (2001): “Economics and the History of Measurement”, in History of Political Economy Jg. 33, Supplement 1, S. 4–22.Rosner, P. (2006): “What goes up, must come down: Images and metaphors in early macroeconomic theory”, in: G. Er-reygers & G. Jacobs (Hg.): Language, Com-munication and the Economy, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamin Publishing Company (Discourse Approaches to Poli-tics, Society and Culture), S. 153–178.Studentski, P. (1958): The Income of Na-tions, New York: New York University Press.Brooks, D. (2010): “The Return of History”, in: The New York Times, 26.03.2010, link: http://www.nytimes.com/2010/03/26/opinion/26brooks.html (aufgerufen: 27.03.2011)Kose, M.A. (2011): “Review of ‘This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly by Carmen M. Reinhart and Kennth S. Rogoff”, In Koc University-Tüsiad Eco-nomic Rsearch Forum Working Paoer Se-ries, Nr. 1106, link: http://www.ku.edu.tr/ku/images/EAF/erf_wp_1106.pdf (aufge-rufen: 27.03.2011)Chancellor, E. (2009): “Boom, Bust. Repeat.“, in: The Wall Street Journal, 09.10.2009, link: http://www.econo-mics.har vard.edu/files/faculty/51_Boom_Bust_Repeat.pdf (aufgerufen: 27.03.2011)Warsh, D. (2010): “What This Country Needs On detecting economic crises”, in: Harvard Magazine, January-February, S. 18–23, link: http://www.economics.harvard.edu/faculty/rogoff/files/What_This_Country_Needs.pdf (aufgerufen: 27.03.2011)Wolf, M. (2009): “This time will never be different”, in FT.com 28.09.2009, link:

http://www.economics.harvard.edu/faculty/rogoff/files/This_Time_Will_Never_Be_Different.pdf (aufgerufen: 27.03.2011)Krugman, P. & R. Wells (2010): “Our Giant Banking Crisis – What to Expect”, in The New York Review of Books, 13.05.2010, S. 11–13, link: http://www.economics.har-vard.edu/files/faculty/51_NYT_Review_Krugman.pdf (aufgerufen: 27.03.2011)

Finanzen

P. Spahn

Sozialstaat

G. Vobruba

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Das Thema Sicherheit ist alles andere als in der Krise. Fast jeder Beitrag des äußerst spät erschienenen Tagungsbandes „...mit Sicher-heit: für Freiheit – Die gesellschaftlichen Dimensionen der Sicherheitsforschung“ (Berlin, Bundesministerium für Bildung und Forschung, November 2008), fordert Inno-vation und „mehr Forschung“ – gleich ob es sich hierbei um ingenieurwissenschaftliche, juridische Beiträge oder gar die Keynote von Bundesforschungsministerin Annette Schavan handelt. Nicht zuletzt, um auf dem „Sicherheitsmarkt“ „zukunftsfähig“ zu sein (Schavan). Das klingt fast, als müsse manch einer sein wissenschaftliches Dasein recht-fertigen, was dem Charakter des Kongresses entsprungen sein mag. Die ausführliche Ein-führung in den Band verspricht allerdings mehr: „Zivile Sicherheit in den sicherheits-politischen Kern zu rücken, basiert auf einer Rationalität, aus der heraus Gefährdungen, Bedrohungen und Risiken heterogener Her-kunft in einem gleichen Gefährdungskon-text überführt werden“, die darin bestehe, Gefährdungen „auf die Verwundbarkeit des modernen Lebens“ zurückzuführen. >Interessanterweise ist jene Rationalität der zivilen Sicherheit in den wenigsten Bei-trägen Gegenstand der Ausführungen und bleibt damit vage. Das ist einerseits schade, weil das Versprechen nicht nur wegen der transdisziplinären Thematik und Besetzung verlockend klingt. Diese Inter- oder Trans-disziplinarität bleibt aber wie so oft ein blo-ßes Etikett. Außerdem mangelt es einigen Beiträgen auch an dieser oder überhaupt einer (gesellschafts-)theoretischen Refle-xion. Wenn etwa Menno Harms in seiner Keynote eine Umfrage seines Branchenver-bandes BITKOM zur Videoüberwachung als Beschäftigung mit den sozialen Aspekten von Sicherhehtistechnik versteht, spricht das Bände. Dass drei Keynotes den Auftakt bilden müssen ist im Übrigen unnötig, aber wohl ebenfalls der Kongressidentität geschul-

det. Andererseits ist der größere Teil der Bei-träge durchaus interessant. So erfährt man etwas zur Hochwasserprävention in Köln und Dresden, zu rechtlichen Regelungen der Vorratsdatenspeicherung, zur Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, zur Sicherheitsge-sellschaft selbst, zu (ökonomischen) Kosten von Sicherheit, zum Problem Kriminalitäts-furcht, usw. Insbesondere die Beiträge von Albrecht, Herschinger/ Jachtenfuchs/ Kraft-Kasack, Daase, Gusy und Kreissl sind lesens-wert: allesamt aber sozialwissenschaftlicher bzw. juristischer Provenienz. Der Beitrag von Albrecht reißt z.B. eine ganze Reihe von Fra-gen rund um die Stellung von Sicherheit in modernen Gesellschaften an, Gusy schafft es, erkenntnisfördernd ethische Grundüber-legungen mit konkreten Rechtsfragen und vor allem den entstehenden Herausforde-rungen für Sicherheitsmanagement zu ver-binden. Daase bleibt zwar knapp, weißt aber auf ganz entscheidende Veränderungen der Sicherheitskultur hin (z.B. „Von der Bedro-hungsgemeinschaft zur Risikogesellschaft“) und Herschinger, Jachtenfuchs und Kraft-Kasack konstatieren durchaus innovativ ei-nen Mangel an Politisierung im europäischen aber auch deutschen Sicherheitsdiskurs. Die übrigen Beiträge sind dagegen eher Anschau-ungsmaterial: Dass Informationstechnologie hilfreich sein kann (Koch/Plass) und der „in-ternationale Terrorismus“ volkswirtschaft-liche Effekte mit sich bringt (Schneider), ist einleuchtend. Dass dabei im weiteren Sinne aber nur Datenmaterial referiert wird, ist be-zeichnend. Schließlich erzählt der Band als solches und einige der „technischen“ Artikel im Speziellen dem Leser/der Leserin dann doch ein wenig über die Rationalität ziviler Sicherheit(-sdiskurse).

johannes kiess Die Rationalität

ziviler Sicherheit(-sdiskurse)

Peter Zoche, Stefan Kaufmann und Rita Haverkamp (Hrsg.): Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld: transcript (2011).

24rezensionen

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„[Wir] sollten uns alle im Zeitalter der Glo-balisierung an ein wenig mehr Dynamik und Unsicherheit gewöhnen. Jeder Job könnte täglich in Gefahr sein, nur weil je-mand irgendwo auf der Welt eine strategi-sche Entscheidung getroffen hat, die uns zufällig betrifft.“ >Jetzt ist es schon so weit. Nun kommen nicht einmal mehr die Bewerbungsratgeber ohne den Verweis auf die unsichere, mithin kriselnde Situation auf den Arbeitsmärkten aus. Dabei zielt der Ansatz, den der Karrie-reberater Dieter L. Schmich in seinem Buch vorstellt, gerade auf das genaue Gegenteil ab: Mit seiner Strategie soll sich jeder Be-werber in die Lage versetzt fühlen, allen Widrigkeiten des Arbeitsmarkts zu wider-stehen. Setzt man alle Schmichschen Vor-schläge in die Tat um, kann man – so sein Fazit – als Bewerber „auch dynamischeren Zeiten [sic] mehr als gelassen entgegen se-hen.“ >Worin besteht nun der Weg in die krisenfeste Zukunft? Wie startet man als Berufseinsteiger gleich so, dass man sich praktisch nie wieder um eine spätere Be-werbung kümmern muss? >Die Antwort von Dieter L. Schmich ist denkbar einfach: Indem man von An-fang an alles genau vorbereitet, jeden sei-ner Schritte dokumentiert und sich nicht auf die Stellenanzeigen in Zeitungen und im Internet verlässt. Selbst die Initiative ergreifen und sich bekannt machen, ist die Losung der Stunde. Das hat, so Schmich, folgende Hintergründe: Die Zeiten, in de-nen interessante Stellen noch ausgeschrie-ben wurden, sind schon lange vorbei. Ge-rade die von vielen Absolventen gesuchten Einstiegspositionen werden nicht mehr offen, sondern verdeckt über Kontakte und Beziehungen vergeben. Auf öffentlich aus-geschriebene Einstiegspositionen bewer-ben sich mehrere hundert Hochqualifizier-te. Auch wenn das den meisten bekannt sei,

agierten seiner Beobachtung zufolge viele Hochschulabsolventen auf der Suche nach einem Einstieg immer noch mit Strategien, die „dem heutigen Zeitalter in keiner Wei-se Rechnung“ trügen. Eine erfolgreiche Be-werbungsstrategie im 21. Jahrhundert nach Schmich umfasst demzufolge fünf Phasen: Vorbereitung, Recherche, Information, Be-werbung und – für die langfristige Wirkung – Nachbereitung. Die Banalität dieser Vor-schläge mag auf den ersten Blick verblüffen, Schmich meint es aber durchaus ernst. Ge-rade die Recherche- und Informationsphase soll die Grundlage bilden für den Aufbau ei-ner umfassenden Datenbank (Schmich: ein simples Ordnersystem) an Kontakten und Ansprechpartnern, die im Optimalfall die ganze spätere Karriere begleiten. Schmich geht davon aus, dass die meisten Hoch-schulabsolventen im Laufe ihres Studiums schon Gelegenheit hatten, erste Berufser-fahrungen zu sammeln. Die Kontakte, die aus diesen Praxisaufenthalten stammen, bilden, zusammen mit den Beziehungen von Kommilitonen, Eltern und Bekannten, das Fundament für ein erstes Netzwerk. Dazu wird eine Liste mit potentiell interessanten Arbeitgebern erstellt. Hat man alle diese Daten beisammen, beginnt die gezielte Su-che nach offenen Stellen. Das Mittel der Wahl: Die direkte Ansprache durch E-Mail, Telefon oder persönlich bei Veranstaltun-gen oder Fachmessen. Die Ergebnisse die-ser Anfragen werden in die Datenbank ein-gepflegt und weiter genutzt. Nach Schmich ist das der erfolgversprechendste Weg, am verdeckten Stellenmarkt zu partizipieren. Dazu liefert er in seinem Buch eine Fülle an Arbeitsblättern und Vorlagen: Assozia-tionslisten, Spickzettel für Telefongesprä-che, Vorlagen für Gesprächsnotizen und Kreuzlisten zum Einschätzen der eigenen Softskills. Selbst Formulierungsvorschlä-ge für erste Sätze beim Telefonieren oder Grußworte für E-Mailnachrichten werden

thomas heim

Den verdeckten Stellenmarkt fin-den - oder auch

nicht

Dieter L. Schmich: Erfolgreicher Karrierestart, Die besten Initiativstrategien für Hochschulabsolventen im verdeckten Stellenmarkt, Wiesbaden: Gabler, 2010, 29,90 €

25rezensionen

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vom Autor dargeboten. Das erweckt beim Lesen mitunter den Eindruck einer leich-ten Bevormundung. Wer diese Aspekte aus-blenden kann und auf der Suche nach einer Motivations- und Starthilfe für das leidige Thema „Berufseinstieg“ ist, für den kann „Erfolgreicher Karrierestart“ ein praktischer Ratgeber mit vielen Hinweisen sein. >Ungeachtet der Tatsache, dass viele Ratgeber ihren Problembereich erst einmal selbst kreieren müssen, steht eines fest: Der Arbeitsmarkt hat sich entscheidend verän-dert, die Herangehensweisen und Erwar-tungen der Elterngeneration an den Prozess „Bewerben“ sind schon lange völlig überholt. Schmichs Buch will die heutigen Absolventen beim Umdenken unterstützen. >Wer sich trotz aller Dynamik und Un-sicherheit das Lesen sparen und Dieter L. Schmich persönlich erleben will, der bucht sein einwöchiges „Seminar im Warmen“ auf den Kanarischen Inseln. Preise (natürlich nur auf Anfrage) auf seiner Website.

Page 81: Ausgabe 10: Krise

Demokratie bringt Frieden und Wohlstand. Dieser Satz galt in der zweiten Hälfte des 20. Ja-hrhunderts vielen als Selbstverständlichkeit. Doch was, wenn Globalisierung, Finanzkrisen, Lobbyismus, wachsende Einkommensungleichgewichte und nicht zuletzt Bahnhöfe diese Selbstverständlichkeit unterhöhlen? Niedrige Wahlbeteiligungen, „Wutbürger“ und „Mutbür-ger“, die den „kommenden Aufstand“ proben – aber auch Demokratieverdrossenheit und anti-demokratische Einstellungen in großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland, Europa und darüber hinaus sind weitere Anzeichen. Während das Volk den Fähigkeiten und den selbstlo-sen Reden von Politikern misstraut, misstrauen die Politiker der Entscheidungsfähigkeit des Volkes. „Postdemokratie“, „Mediendemokratie“, „Diktatur der Finanzmärkte“ sind nur einige der Begriffe, welche in neuen Analysen das Dilemma des Wahlvolkes zu umschreiben suchen. Schließlich zeugt Bruno Latours „Parlament der Dinge“ auch davon, dass Demokratie nicht nur Staaten und Bürger etwas angeht. Aktanten aller Art können demokratisch agieren, sich konzeptualisieren und neue Formen des Regierens schaffen. In Nordafrika und der arabischen Welt scheint ein vermeintlicher Frühling der Demokratie neuen Aufschwung zu geben. Zei-gen sich die etablierten Demokratien reichlich träge, sind die Menschen in Ägypten, Libyen und Syrien bereit für ihre Ideale – oder zumindest bessere (Über-)Lebensstandards – auf die

Straße zu gehen und dabei ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Es zeigen sich derzeit also sowohl Wege aus der Demokratie wie andererseits auch Wege in die Demokratie. Powision sucht für diese Ausgabe Beiträge, die sich mit den empirischen und/oder theoretischen Problemen der Demokratie auseinandersetzen. „Wege aus der Demokratie“ meint dabei zunächst ironisch die Veränderungen, die den demokratischen Status quo unterhöhlen. Gleichzeitig soll der Ar-beitstitel als Denkanregung dienen. Konzepte, welche „Wege aus dieser Form der Demokra-tie“ suchen sollen kritisch diskutiert werden. Dazu können die Streitschrift vom „kommen-den Aufstand“ ebenso wie Konzepte der „radical democracy“, des steuernden chinesischen Effizienzstaates aber auch des Bienenstaates (Quesney) herhalten. Genauso sind Texte willk-ommen, die Wege in die Demokratie untersuchen: Demokratische (Staats-)Bildungsprozesse als „bottom-up“-Bewegung (arabische Welt, Zentralasien) oder als „top-down“-Prozess (De-mokratische Republik Kongo) verstanden, demokratische Reforminitiativen oder neue theo-retische Blickwinkel, können Gegenstand der Betrachtung sein. Der Umfang der Beiträge soll ca. 8000 Zeichen inkl. Leerzeichen und Fußnoten (entspricht etwa 1,5 Seiten mit Times New Roman und Schriftgröße 10) betragen. Zitierhinweise finden sich auf www.powision.de. Zu-sendeschluss ist der 15.09.2011 Gerne stehen wir für weitere Nachfragen zur Verfügung und schicken auf Wunsch auch ein pdf-Dokument der letzten Ausgabe zu.

„Wege aus der Demokratie“

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Autoren in dieser Ausgabe

Pencho Kuzevhält einen Master of Laws und ist Doktorand an der Universität Bremen.

Dirk Baecker ist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und -ana-lyse an der Zeppelin Uni-versity in Friedrichshafen.

Arno Trültzschstudiert an der Universität Leipzig im Master Euro-pean Studies

Daniel Palmstudiert Politikwissenschaft im Bachelor an der Univer-sität Leipzig.

Hanna Scheckist wissenschaftliche Mitar-beiterin und Doktorandin am Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie.

Peter Spahn ist Inhaber des Lehrstuhls für VWL, insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Universität Hohenheim.

Anne Dölemeyerist Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

Jenny Preunkertist Dozentin am Institut für Soziologie an der Universi-tät Leipzig.

Ralph Richterist Doktorand der Soziologie an der Universität Leipzig sowie wis-senschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt „Die Inszenierung des Ganzen: Stadtmarketing und die Eigenlogik der Städte“ am In-stitut für Soziologie der TU Darm-stadt.

Georg Vobrubaist Professor am Institut für Soziologie an der Universi-tät Leipzig.

Almut Wieland-Karimiist Geschäftsführerin am Berliner Zentrum für Inter-nationale Friedenseinsätze.

Anja Jahnelstudiert Sozialwissenschaf-ten und Philosophie an der Universität Leipzig.

Rabea Krätschmar-Hahnist wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Goethe-Universität Franlfurt/Main. Die Diplom-Soziologin promoviert zum Thema „Kinderlosigkeit in Deutschland – Zum Verhältnis von Fertilität und Sozialstruktur“.

Page 83: Ausgabe 10: Krise

Peter Zima ist Professor für verglei-chende Literaturwissen-schaft an der Universität Klagenfurt.

Oliver D‘Antonioist wissenschaftlicher Mit-arbeiter am Göttinger In-stitut für Demokratiefor-schung.

Ulrich Johannes Schneiderist Direktor der Universi-tätsbibliothek Leipzig und außerplanmäßiger Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.

Peter Zima ist Professor für verglei-chende Literaturwissen-schaft an der Universität Klagenfurt.

Gregor Wiedemannist Publizist und unter an-derem Autor des 2011 er-schienenen Buchs „Regie-ren mit Datenschutz und Überwachung“.

Astrid Lorenz ist Professorin für Politik-wissenschaft an der Univer-sität Leipzig.

Matthias Künzlerist Oberassistent am In-stitut für Publizistikwis-senschaft und Medien-forschung der Universität Zürich.

Michael Fischerabsolviert ein Masterstudi-um der Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

Gayatri Spivakist Professorin für Literatur-wissenschaft und Direktorin des Center for Comparative Literature and Society an der Columbia University, New York.

Alexander Mitterleist wissenschaftlicher Mit-arbeiter am Institut für Hochschulforschung der Martin-Luther Universität Halle Wittenberg.

Slavoj Žižekist Professor am Institut für Phi-losophie an der Universität von Ljubljana, Professor für Philoso-phie und Psychoanalyse an der European Graduate School in Saas-Fee, Schweiz und Direktor des Birkbeck Instituts an der Uni-versität von London.

Wolfgang Fachist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

Johannes Kiessist Student der Politikwis-senschaft, Soziologie und Philosophie an der Univer-sität Leipzig.

Thomas Heimstudierte Diplom-Politik- und Verwaltungswissen-schaften an der Universi-tät Leipzig und arbeitet in Berlin in einer Agentur für Kampagnen.

Page 84: Ausgabe 10: Krise

Index

Page 85: Ausgabe 10: Krise

dirk baecker Wie in einer Krise die Gesellschaft funktioniert

daniel palmWanted: Kritische Theorie der Finanzkrise

peter spahnDie Krise des Euro

jenny preunkertKrisengewinner: Währung

georg vobrubaKrisenverlierer: Wohlfahrtsstaat

almut wieland-karimi Ist der politische Wille da, werden auch die Mittel bereitgestellt, um ihn umzusetzen

pencho kuzev & arno trültzschDie griechisch-makedonische Dauerkrise: ein spannender Frieden

hanna scheckKlimakrise! – oder einfach nur „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“?

anne dölemeyerDisconnected. Katastrophen und die kleinen Dinge des alltäglichen Regierens.

ralph richterDrei Wege zur „Krise der Stadt“

anja jahnelVockerode in der Krise

Rabea Krätschmar-HahnKinderlosigkeit als Lösung für Geschlechterungleichheit und Arbeitsmarktvorgaben

peter zimaThesen zum Thema „Subjektivität“

Ulrich Johannes SchneiderGibt es eine Krise des Subjekts bei Michel Foucault?

gregor wiedemannDie Krise der informationellen Selbstbestimmung

matthias künzlerMedienkrise = Journalismuskrise?

gayatri spivakBring down the power structures!

slavoj žižekWelcome to Interesting Times!

wolfgang fachWelche Krise? Welche Politik?

oliver d’antonioDie Krise der Catch-All-Strategie

astrid lorenzKrisen erklären. Der Beitrag der Politikwissenschaft.

michael fischerRetrospektive Brüche

alexander mitterle„This time is different“– indeed, it is.

johannes kiessDie Rationalität ziviler Sicherheit(-sdiskurse)

thomas heimDen verdeckten Stellenmarkt finden – oder auch nicht

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Page 86: Ausgabe 10: Krise

Herausgegeben von Powision e.V.Jahrgang VI, Heft 1

Erscheinungstermin: Juni 2011

preis 1,00€

anschrift (Leserbriefe erwünscht)Powision, c/o FSR PoWi, Beethovenstraße 15,

04105 LeipzigE-Mail: [email protected]

www.powision.de

redaktionAlexander Mitterle, Dan Orbeck, Katharina Döring,

Toni Kaatz-Dubberke, Norman Tannhäuser, Johannes Kiess, Claudia Hildenbrandt,

Daniel Mützel, Thomas Heim, Konrad Köthke, Milan Matthiesen, Michael Fischer

in eigener sache: In der letzten Ausgabe kam es zu Fehlern im Satz.

Dafür möchte sich die Redaktion bei den Lesern und den Autoren, insbesondere bei Tobias Roscher und Ulrich

Brieler, entschuldigen.

layout Camille Le Lous

[email protected]

druckZimo Druck und Kopie KGZschochersche Straße 85

04229 Leipzig

Verantwortlich für den Inhalt sind die jeweilig aufgeführten AutorInnen der Beiträge.

Die Entscheidung hinsichtlich der Rechtschreibregeln unterliegt dem Ermessen der AutorInnen.

Das nächste Magazin erscheint voraussichtlich im Wintersemester 2011/12.

Dank gilt den Förderern dieser Ausgabe:

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Neue Räume

für Politik

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