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  • Norbert Claen

    Carlos Castanedaund das Vermchtnis des Don Juan

  • Norbert Claen

    Carlos Castanedaund das Vermchtnis

    des Don Juan

    Das Wissen der Tolteken in einer neuen Epoche

    Hans-Nietsch-Verlag

  • Neuauflage Mrz 2014

    Hans-Nietsch-Verlag, 1998Alle Rechte vorbehalten.Nachdruck nur mit ausdrcklicher Genehmigung des Verlages gestattet.

    Cover und Umschlaggestaltung: Rosi Weiss Foto Cover: Galyna Andrushko/123rf.comSatz: Plejaden Publishing Service, BoltersenDruck: SOWA Sp. z o.o., Warszawa/Polen

    Hans-Nietsch-VerlagAm Himmelreich 779312 Emmendingen

    [email protected]

    ISBN 978-3-86264-264-9

  • Das Auge sieht nur Masken. Wenn etwas geschieht, regt sich hinter der Maske das, was wir nicht kennen. Wenn Du es treffen willst, mut Du die Maske wie eine Wand durchstoen.

    Herman Melville: Moby Dick

  • Fr all jene, die rckhaltlos hinterfragenund doch vorbehaltlos handeln.

    An dieser Stelle mchte ich all jenen danken, die meinen Weg inden letzten Jahren gekreuzt und beeinflut haben.

    Mein Dank gilt vor allem Hawky fr die Entdeckung derZuneigung; Jessica fr die Wiedererweckung der Ehrfurcht; Jorgefr den Humor; Grt fr ein Gefhl gemeinsamer Wirklichkeit;Martin fr tiefe Gesprche und freundliche Nackenschlge; mei-nen Gefhrten Madeline, Kira und Mey, Rabito, Titusz und Sly frdie stndige Herausforderung; sowie Graciela Corvaln fr einenganz wunderbaren Nachmittag.

    Mein besonderer Dank gilt der Absicht und der Erde; den tolte-kischen Zauberern und Hexen, vor allem Carlos Castaneda, Flor-inda Donner-Grau, Taisha Abelar, Carol Tiggs, den EnergyTrackers, den Elements sowie dem blauen und dem orangefarbe-nen Scout. Er gilt auch all den Notizenmachern auf Seminaren undVortrgen, den zahlreichen Interviewern und Kommentatoren.Nicht zuletzt sei all jenen gedankt, die bei der Entstehung diesesBuches geholfen haben.

  • INHALT

    Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Einfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    Teil I: Das Aktionstheater der Zauberei

    1 Eine kurze Geschichte der Zauberei . . . . . . . . . . . 232 Vom Ende einer Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Der Beginn einer neuen ra . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Genossen, Geier, Trittbrettfahrer . . . . . . . . . . . . . 71

    Teil II: Das Affentheater der Alltagswelt

    5 Von Energie, Zeugung, Sex und Tod . . . . . . . . . . . 896 Groe Affen, arme Babys . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017 Frau, Mann und die Natur des Universums . . . . 1158 Los Voladores: Leben im Hhnerhaus . . . . . . . . 127

    Teil III: Die Transformation der Alltagswelt

    9 Der Weg des Kriegers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .14110 Die magischen Bewegungen der Zauberer . . . . . 15911 Rekapitulation und der innere Seher . . . . . . . . . 17512 Nicht-Tun, Gaffen, die Welt anhalten . . . . . . . . 189

  • Teil IV: Jenseits von Alcatraz

    13 Que ni te jodan: der Doppelgnger . . . . . . . . . . . 20514 Vorsto in die Hute der Zwiebel . . . . . . . . . . . . 21515 Der Blankoscheck der Zuneigung . . . . . . . . . . . . 22716 Affen-Intersubjektivitt und Kritische Masse . . 233

    Anhang

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255Literaturliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

  • PROLOG

    Santa Monica, Kalifornien, November 1993. Unbemerkt vonder breiten ffentlichkeit bahnt sich Auergewhnliches an.Eine Menschenmenge wartet in einer berfllten Buchhandlungauf einen Referenten nicht-alltglicher Art. Ein sportlich gekleide-ter Mann um die Sechzig, klein und drahtig, betritt unerkannt dieBhne und ergreift das Wort:

    Mein Name ist Carlos Castaneda. Ich mchte euch heute umetwas bitten. Ich bitte euch, euch eures Urteils zu enthalten. Ichbitte euch, euch nur fr eine Stunde der Mglichkeit zu ff-nen, die ich euch prsentieren werde.Dreiig Jahre lang bin ich nicht verfgbar gewesen. Ich gehenicht auf die Leute zu und rede mit ihnen. Aber jetzt, freinen Moment, bin ich hier. Es ist unsere Pflicht, jenen etwaszurckzuzahlen, die all die Mhen auf sich genommen hat-ten, uns bestimmte Dinge zu zeigen. Wir haben dieses Wissengeerbt. Don Juan sagte uns, da wir es nicht verteidigen sol-len. Wir wollen, da ihr erkennt, da es seltsame pragmati-sche Mglichkeiten gibt, die nicht auerhalb eurer Reichweiteliegen.1

    Carlos Castaneda, Meisterschler des mexikanischen ZauberersDon Juan Matus, ist an die ffentlichkeit getreten. Zuvor hattenbereits zwei seiner Mitschlerinnen, Taisha Abelar und FlorindaDonner-Grau, das jahrzehntelange Schweigen gebrochen undwaren mit Bchern und Seminaren auf der Bhne der Alltagsweltaufgetreten. Virtuos faszinieren die Erben des Don Juan ihr Publi-kum und versuchen einer breiten Masse den Einstieg in die Weltder Zauberer zu ermglichen, sie an eine Absicht anzukoppeln, diemexikanische Schamanen der Vorzeit in einer unzhligen Folgevon Generationen geschmiedet haben.

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  • Diese Entwicklung hlt an und hat inzwischen auch Deutsch-land erreicht. Auf Seminaren wie im Juni 1997 in Berlin gebenCastaneda und die Hexen (Taisha Abelar, Florinda Donner-Grau und Carol Tiggs), untersttzt von neuen Kriegerformationenmit so klangvollen Namen wie die Energy Trackers oder die Ele-ments, praktische bungen ihrer Tradition weiter, die es den Teil-nehmern ermglichen, einen direkten Zugang zur Welt der Zaube-rer zu ffnen.

    Zu diesen bungen, Tensegrity genannt, existiert inzwischensogar eine Videoreihe,2 die es auch jenen gestattet, die nicht unmit-telbar an den Seminaren teilnehmen knnen, vom Vermchtnis desDon Juan zu profitieren. Etwa zeitgleich mit diesem Buch wirdauch ein reich bebildertes bungsbuch von Castaneda erscheinen,welches den Titel Tensegrity Die magischen Bewegungen derZauberer trgt.3

    Castaneda zieht alle Register: Neben diesen Publikationen gibter ein Journal heraus, Readers of Infinity,4 das nicht nur ber dieaktuelle Entwicklung informiert, sondern auch grundlegendesWissen ber die Welt der Zauberer und den Weg des Kriegers ver-mittelt und in einer speziellen Kolumne Fragen der Leser beant-wortet. Der Schamane scheut auch die neuen Medien nicht. ImInternet findet sich eine Website, in der Castaneda Mitteilungen andie Teilnehmer seiner Seminare und die Leser seiner Bcher undSchriften verffentlicht.5

    Ich hatte das Glck, diese Entwicklung von ihren erstenRegungen an beobachten und verfolgen zu knnen. Nach der Ver-ffentlichung meines ersten Buches ber Castaneda und die Leh-ren des Don Juan, Das Wissen der Tolteken, kam ich unverhofft inKontakt mit dem Kreis um Carlos Castaneda und wurde so zumZeugen einer Bewegung, die immer noch anhlt und weitereKreise zieht.

    Um Miverstndnissen an ihrer Wurzel vorzubeugen: Ich binkein Schler Castanedas oder seiner Gefhrtinnen. Sie sind dieletzten Glieder einer Kette, einer langen Linie von Zauberern, diemit ihnen endet. In einer unvergleichlichen Geste an den Men-schengeist geben sie jetzt ihre Erbschaft, das Vermchtnis des DonJuan, an die ffentlichkeit weiter. Als Teil dieser ffentlichkeit,als eine Art Multiplikator unter vielen, mchte ich es nun hiermit

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  • einer wachsenden Zahl von Menschen im deutschsprachigenRaum erleichtern, sich an diese Bewegung, an die Absicht der Zau-berer anzukoppeln, um mit eigenen Augen zu sehen, was es mit alldem auf sich hat.

    Dies bedeutet jedoch nicht, sich an einen Club oder Vereinanzuschlieen. Ein fundamentales Prinzip der Zauberei ist, dieVerantwortung fr das eigene Leben und die eigenen Handlungenzu bernehmen. Castaneda betont immer wieder: Es gibt keineGurus. Ihr braucht keinen Fhrer. Alles, was ihr braucht, ist Ener-gie. Und Energie bekommt man, indem man sich selbst und allesandere vorurteilsfrei betrachtet und untersucht.6

    Castaneda kann die Verantwortung fr seine Leser und ihreTaten unmglich bernehmen, auch wenn sie durch die Lektreseiner Bcher oder den Besuch eines seiner Seminare inspiriert seinmgen. Dasselbe gilt fr dieses Buch. Wer immer die hierinbeschriebenen Manver praktiziert, sollte sich der Verantwortungfr sich selbst voll und ganz bewut sein. Und es gibt keineErfolgsgarantie. Ich kann zwar auf eine Mglichkeit, einen Weghinweisen, gehen mu ihn jedoch letztlich jeder mit eigener Kraftund auf seinen eigenen Fen.

    In einer Welt der organisierten Verantwortungslosigkeit klin-gen solche Forderungen vielleicht ungewhnlich in der Welt derZauberer sind sie indes absolut grundlegend. hnlich ist es umandere Ansichten und Absichten der Zauberer bestellt, die demmodernen Menschen fremd, ungeheuerlich oder gar lcherlichvorkommen mgen. Unsere innere Abwehr ist nur allzu schnellbereit, Geschtze unterschiedlichen Kalibers aufzufahren, wennsie liebgewonnene und bequeme berzeugungen und Vorurteilebedroht sieht.

    Daher mchte ich meine Leser bei der Lektre dieses Buchesmit Castaneda bitten, ihr Urteil aufzuschieben, sich den Mglich-keiten zu ffnen, die darin prsentiert werden. Ich mchte Sie bit-ten, sich selbst und alles andere vorurteilsfrei zu betrachten und zuuntersuchen und so vielleicht gengend Energie zu sammeln, umselbst in die wundersame Welt der Zauberer einzutreten.

    Januar 1998Norbert Claen

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  • EINFHRUNG

    Carlos Castaneda, Zauberlehrling und Reisender in andere Welten,ist trotz seiner auerordentlichen Popularitt als Bestsellerautorbis vor kurzem selbst stets im Hintergrund geblieben. Die sprlichenInterviews, die er im Laufe der letzten drei Jahrzehnte gestattete,zeichneten nur ein vages Bild des Zauberers, der getreu den Lehrenseines Mentors Don Juan Matus fr die Welt unerreichbar blieb.

    Zwar lieferten die Interviewbcher von Graciela Corvaln, DerWeg der Tolteken, und Carmina Fort, Gesprche mit Carlos Casta-neda, unter anderem detaillierte Informationen ber CastanedasLeben, doch leider waren diese zum Zeitpunkt der Verffentli-chung in Deutschland bereits veraltet. Corvaln sprach im Jahre1979 mit Castaneda das Buch erschien erst 1987. Die GesprcheForts wurden im Sommer 1988 gefhrt deutsche Leser kamenerst 1996 in den Genu der Lektre.

    Bei den Bchern der Zauberer selbst ist dies eher die Aus-nahme. Castanedas Werke bislang zehn an der Zahl erschienenhier meist ein Jahr nach der Originalverffentlichung. Im Fall sei-ner jngsten Arbeit, Tensegrity Die magischen Bewegungen derZauberer, wird das Buch hier sogar nur wenige Monate spter alsin den USA erhltlich sein.

    Auch Taisha Abelars Erstling, Die Zauberin, war bereits zweiJahre nach Erscheinen in den Vereinigten Staaten in deutscherSprache erhltlich. Nur mit Florinda Donner-Graus Werkenscheint man sich schwerzutun. Ihr jngstes Buch, Traumwache,erschien im Original bereits 1991, whrend man hier ganze fnfJahre warten mute, bis sich ein Verlag bequemte, den hervorra-gend geschriebenen Erfahrungsbericht zu drucken. Shabono,Donner-Graus Erstling, ist glcklicherweise nach Jahren endlichneu aufgelegt worden, genau wie ihr zweites Buch, Die Lehren derHexe, das in einer vllig berarbeiteten Version ein neues Zuhauseim gleichen Verlag gefunden hat, in dem dieses Buch erscheint.

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  • Doch auch all diese Werke liefern kaum aktuelle Daten, was inder Natur der Bcher selbst begrndet liegt. Castanedas Schriftenberichten mit Ausnahme von Tensegrity Die magischen Bewe-gungen der Zauberer alle von seiner Lehrzeit bei Don Juan, alsovon einem Zeitraum zwischen 1960 und 1973, in dem jener die unsbekannte Welt verlie und am Feuer von innen verbrannte.1

    Donner-Graus Werke Die Lehren der Hexe und Traumwacheerzhlen wie Abelars Die Zauberin von ihren Begegnungen in denspten sechziger und frhen siebziger Jahren. Somit liegen dieEreignisse der Bcher meist mehr als zwanzig Jahre zurck undliefern keinerlei Erklrung fr jenen berraschenden Schritt derZauberer an die ffentlichkeit, der seit Mitte der neunziger Jahreimmer weitere Kreise zieht und zu einer regelrechten Bewegunggeworden ist.

    In der Kunst des Trumens schreibt Castaneda zwar, da er eineStudie ber die aktuelle Arbeit der Erben des Don Juan Matusplant,2 doch wenn es sich dabei um das bungsbuch Tensegrity Die magischen Bewegungen der Zauberer handeln sollte, erfahrenwir auch dort nicht, was zu jener erstaunlichen ffnung gefhrthat, die scheinbar allem widerspricht, was man ber Carlos Casta-neda und die Lehren des Don Juan wei oder zu wissen glaubt.Eines der Ziele des vorliegenden Buches ist, diese Lcke zuschlieen und gleichzeitig zu zeigen, da in Wirklichkeit gar keinWiderspruch vorliegt.

    Castaneda wird in seinem neuesten Projekt Memorable Events(Denkwrdige Ereignisse) wohl nher auf die Vorflle eingehen,die zur heutigen Entwicklung gefhrt haben, doch schon jetztwei man, da auch dieses Werk keine Chronik sein wird, die dieseEntwicklung in ihren einzelnen Schritten rekapituliert und kom-mentiert. Vielmehr wird es sich um einen weiteren Band im Don-Juan-Zyklus handeln, den er bereits vor einiger Zeit fertiggestellthaben soll. Offenbar wartet Castaneda nur noch auf den richtigenZeitpunkt fr die Publikation seines bislang wohl persnlichstenWerkes.

    Verwunderlich wre das nicht, da auch Die Kunst des Trumensbereits Jahre vor der Verffentlichung zu Papier gebracht wurde.Den Grund fr diese Verzgerung hat Castaneda im Klappentextzur lateinamerikanischen Ausgabe des Buches erlutert:

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  • In der Welt des Don Juan Matus folgen gewisse Ereignissemanchmal nicht den linearen Regeln des Common sense sieverzerren sich, dehnen sich aus, verwandeln sich in etwas, dasgeschieht, aber weder Ursache noch rational ergrndbare Wir-kung hat. Ein Beispiel hierfr ist, was mit diesem Buch geschah,das Florinda Donner-Grau und Taisha Abelar vor Jahren in derzweiten Aufmerksamkeit hinterlegt hatten, einer unbeschreibli-chen Umgebung, die weder real noch irreal ist, die aber den-noch fern der Parameter des Common sense existiert.Als ich dieses Buch fertiggestellt hatte, wollten wir es aus sehrpersnlichen Grnden nicht verffentlichen. Aber statt es in denReiwolf zu stecken, wie ich es vorhatte, nahmen Florinda undTaisha es an sich und brachten es in die zweite Aufmerksamkeit.Als wir es dann Jahre spter suchten, muten wir uns gewaltiganstrengen, es wiederzufinden. Nachdem uns dies schlielichdoch gelungen war, bemerkten wir, da der Text eine seltsameund ominse Kraft erhalten hatte, die er zuvor nicht besa.3

    Castaneda wei nur zu gut, wie schwer es fr seine Leser sein mu,die selbst schlielich keine Zauberer sind, eine solche Aussage hin-zunehmen, geschweige denn zu verstehen: Wir sind uns bewut,da die einfache Tatsache, von diesem Ereignis zu berichten, etwasAbsurdes ist, schreibt er weiter. Es ist schwer genug zu akzeptie-ren, da es eine andere Welt parallel zu unserer geben mag, daman dort eintreten und Bcher deponieren kann, die sich dannauch noch von selbst verndern. Letzteres erstaunt sogar den Zau-berer: Rationale Bemerkungen oder Erklrungen hierzu wrenallerdings mehr als nur absurd: sie sind unmglich.4

    Dies gilt nicht nur fr die Entstehung des Werkes, sondern auchfr dessen Inhalt. Wer Die Kunst des Trumens gelesen hat, sah sichunvermittelt mit unglaublichen Geschichten konfrontiert, die demVerstand trotzen und die Vorstellungskraft bis an ihre Grenzen stra-pazieren. Castaneda begegnet hier durch die Kraft des TrumensWesen aus einer anderen Welt, die parallel zu unserer existiert und indie man durch die Techniken der Zauberer eintreten kann. Er befreitein dort gefangenes Wesen, den blauen Scout, und bringt es mit inunsere Alltagswelt, wo es als junges Mdchen erscheint. Don Juanmacht ihn darber hinaus mit einem Zauberer der Vorzeit bekannt,

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  • von dem gesagt wird, da er bereits ber 7.000 Jahre alt sei. Nichtzuletzt deshalb nennen die Zauberer ihn den Todestrotzer.

    Fr den, der die Werke Castanedas nicht kennt, mu dies wieeine Mischung aus Fiction und Fantasy klingen, und selbst fr ein-gefleischte Castaneda-Fans ist es starker Tobak. Zumal der Autorweiterhin beteuert, da er Tatsachenberichte schreibe. Mit mei-nen Bchern habe ich versucht, betont er, eine Mglichkeit zuprsentieren: da Bewutheit und Wahrnehmung als Medium frBewegung und physischen Transport genutzt werden knnen.Leider war ich nicht besonders berzeugend: die meisten denkenimmer noch, ich schreibe Romane.5

    Wer enger mit Castaneda und seinem Umfeld in Kontaktkommt, wird jedoch unmittelbar mit der Wirklichkeit seinerErzhlungen konfrontiert. So sind bereits viele Seminarbesucherdem blauen Scout von Angesicht zu Angesicht begegnet. Aus demMdchen aus der Kunst des Trumens ist inzwischen eine jungeDame geworden, die ihr Soziologiestudium an der UCLA, derUniversitt von Los Angeles, an der einst auch Castaneda stu-dierte, erfolgreich abgeschlossen hat. Sie strahlt eine fremdartige,therische Wirkung aus, eine Faszination, die nicht von dieser Weltzu sein scheint.

    Den Skeptiker vermag dies kaum zu berzeugen. Wir leben ineiner Welt, in der Lug und Betrug tgliche Geschftspraxis sind,und es sind Flle bekannt, in denen sich Leute tatschlich frNapoleon oder Captain Kirk vom Raumschiff Enterprise gehaltenhaben. Doch unsere Akteure sind weder geldgeile Verfhrer nochgefhrliche Verrckte. Sie spenden groe Teile ihrer Einnahmenfr karitative Zwecke wie Waisenhuser oder Kliniken der Dro-genhilfe. Alle sind sie promovierte Wissenschaftler unterschiedli-cher Fachrichtungen: Anthropologen, Historiker, Linguisten undSoziologen. Und sie betonen immer wieder die absolute Notwen-digkeit eines klaren Verstandes, um mit dem Wissen, das sie lehren,nchtern und sachlich operieren zu knnen.

    Dieses Wissen, welches sie inzwischen nicht nur ber Publika-tionen, sondern auch via Videos, Veranstaltungen und Workshopsweitergeben, ist allerdings nicht ihre Erfindung, nicht ihr Ver-dienst. Es ist das Vermchtnis des Don Juan, das Erbe einer unun-terbrochenen Tradition mittelamerikanischer Zauberei, die ber

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  • viele Jahrtausende zurckreicht. Florinda Donner-Grau betont indieser Hinsicht, da die Zauberer ihrer Gruppe ihre Linie ber 27Generationen zurckverfolgen knnen.6

    Castaneda und seine Gefhrtinnen sind das letzte Glied jenerKette, die in dieser Generation ihren Abschlu findet. Die Zaube-rer sind in den vergangenen Jahren mit ihrem Wissen an dieffentlichkeit getreten, um die Schuld an ihren Lehrern DonJuan und seinen Gefhrten zu begleichen und das Wissen ihrerTradition fr die Menschheit zu retten. Die Tradition endet mitCastaneda, das Wissen lebt fort.

    Die Dinge, die in den Bchern stehen, sind praktische Leitli-nien,7 betont Taisha Abelar. Das Wissen, das hier zur Diskussionsteht, ist kein Datensatz, keine lexikalische Anhufung von Wortenund Konzepten, sondern ein pragmatisches Wissen par excellence ein Wissen im Sinne direkter Wahrnehmung und Bewutheit. Nurdie pragmatische Erfahrung fhrt zu Wissen aus erster Hand, undso wird auch nur der die Schriften Castanedas und seiner Gefhr-tinnen ganz erfassen, der diesen Leitlinien wirklich folgt, Erzhlun-gen in Erfahrungen und Erfahrungen in unmittelbares Wissen ver-wandelt. Jede andere Herangehensweise stellt ein bloesKo -ket tieren mit dem Wissen dar und ist letztlich Selbstbetrug.

    Die Zauberer in der Tradition des Don Juan bezeichnen solcheLeitlinien als Erzhlungen der Kraft. In meinem Buch Das Wis-sen der Tolteken schrieb ich hierzu:

    Fr den Laien oder den Lehrling der Zauberei klingen dieseErzhlungen zunchst wie Mrchen oder Mythen, die einensinnbildlichen Inhalt verdeutlichen sollen. Sie erscheinen alsoals Symbol. So wird der durchschnittliche Castaneda-Leser auchnicht ber die Stufe des symbolischen Verstndnisses derErzhlungen hinausgehen. Vielen ist jedoch nicht klar, da manber diese Stufe hinausgehen kann. Man kann die Inhalte derErzhlungen selbst nachvollziehen und zum Protagonisten derjeweiligen Geschichte werden.Erzhlungen der Kraft sind mehr als nur Mrchen und Ge -schich ten; sie sind die Vorlufer zu tatschlichen Aktionen derZauberer und quasi Drehbcher von Schauspielen, die auf einermagischen Bhne zur Wirklichkeit werden.8

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  • Nachdem ich imWissen der Tolteken unter anderem davon berich-tet habe, wie manche Erzhlung der Kraft fr mich zur Wirklich-keit, zu Wissen aus erster Hand geworden ist, mchte ich in vorlie-gendem Buch auf die Erzhlungen eingehen, die Carlos Castanedaund seine Mitstreiter heute bewegen. Um diese fr den Leser ber-haupt zugnglich zu machen, mu jedoch zunchst der Boden frderen Verstndnis bereitet werden.

    So fhrt Teil I nicht nur in die zentralen Punkte der Lehren desDon Juan ein, sondern skizziert auch in groben Umrissen dieGeschichte der Zauberer seiner Linie, die mit Castaneda endet.Weiter wird davon berichtet, welche Vernderungen sich in Casta-nedas Umfeld ergaben, nachdem Don Juan die Welt verlassenhatte: so auch vom Tod der aus den Bchern bekannten la Gordaund der Rckkehr der Nagual-Frau Carol Tiggs, die nach DonJuans Fortgang zehn Jahre lang verschwunden blieb.

    Castaneda und seine Gruppe wurden mit einer in derGeschichte der Zauberei vollstndig neuen Situation konfrontiert,auf die es neue Antworten zu suchen galt. So setzt sich die Chro-nik fort, indem sie von dem beispiellosen Schritt der Zauberer andie ffentlichkeit erzhlt, von einer Geste an den Menschengeist,die sich in eine Bewegung verwandelt hat, die heute immer nochanhlt und es immer mehr Menschen ermglicht, sich an dieAbsicht der Zauberer anzukoppeln und ihre Erzhlungen in leben-dige Wirklichkeit zu verwandeln.

    Zusammen mit einem Blick auf das weitere Umfeld der neuenZauberer, auf Mitstreiter, Anhnger, Heuchler und profitgierigeOpportunisten, die das Wissen auf ihre Art ausbeuten wollen,ergibt sich ein gnzlich neues Bild von Carlos Castaneda, seinerGruppe und dem Vermchtnis des Don Juan. Wir erleben die Fas-zination von magischen Akteuren auf der Bhne der Alltagsweltund erhaschen einen Eindruck von dem, was Taisha Abelar dasAktionstheater der Zauberei nennt.

    Whrend dieser erste Akt die Welt der Zauberer aus Sicht der All-tagswelt zeigt, dreht Teil II den Spie um und erffnet uns eine neuePerspektive: den Blick auf die Alltagswelt aus Sicht der Zauberer.Durch ihre erweiterte Wahrnehmung und ihr Wissen ber die ener-getischen Zusammenhnge in dieser Welt erhalten wir neue Einsich-ten in die wesentlichen Aspekte von Leben, Zeugung, Sex und Tod.

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  • Castaneda und seine Mitstreiter zeigen auf eindrucksvolle undhumorvolle Weise, wie es um unsere Entwicklung bestellt ist: dawir immer noch groe, schwerfllige Affen sind, die ihre wahreNatur nicht kennen und ihre Mglichkeiten nicht nutzen. DieHexen Florinda Donner-Grau, Taisha Abelar und Carol Tiggs weisen hier vor allem auf die besondere Rolle der Frau hin, diedem Mann keineswegs unterlegen ist. Im Gegenteil, die Zaubererbehaupten, da das Universum selber weiblich sei.

    Was jedoch nicht heit, da das Universum ein friedlicher Ortist. Auch hier werden wir mit erschreckenden Perspektiven kon-frontiert, so nicht nur mit dem Konzept eines ruberischen Uni-versums, sondern auch mit Wesen in unserer Welt, die wir gemein-hin nicht bemerken, die uns jedoch dumm und abhngig halten,um sich weiter von unserer Bewutheit zu nhren.

    Schlimmer ist, was wir uns in Folge selber antun. Durch unsereeingeschrnkte und einschrnkende Sozialisation schlieen wiruns in einen Kfig ein, der uns Welt und Schicksal nur mit Scheu-klappen wahrnehmen lt. Taisha Abelar vergleicht unsere All-tagswelt treffend mit der berchtigten Gefngnisinsel Alcatraz.9

    Wir sind so stark von unserer eigentlichen Natur entfremdet, soweit weg von den Wurzeln unserer Wahrnehmung, da wir dasAffentheater der Alltagswelt als gegebene Realitt hinnehmen,aus der es bis zum Tode kein Entrinnen gibt.

    Wirklich nicht? Im Sinne einer Antwort auf diese Frage betontCastaneda immer wieder Don Juans revolutionren Standpunkt:Ich beteilige mich nicht an bereinknften, die nicht von mirgetroffen wurden. Ich habe diesen Vertrag nicht unterschrieben.10

    Wenn man dies wirklich begriffen hat, wenn man wei, da manein Wesen ist, das sterben wird und folglich nichts zu verlieren hat,ffnen sich alle Tore. Nur ist uns dies meist nicht so klar.

    Teil III bietet die Mglichkeit, diesen Punkt von Grund auf zuklren, und zeigt den Weg von der Welt des Alltags in die der Zau-berer. Die Transformation der Alltagswelt vollzieht sich in meh-reren Schritten. Diese werden so eingehend erlutert, da sie vonallen Interessierten praktisch und effektiv nachvollzogen werdenknnen. Sie stellen in sich die pragmatische Essenz vom Vermcht-nis des Don Juan dar, den Weg des Kriegers, der aus dem Gefngnisder Alltagswelt hinausfhrt.

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  • Jenseits von Alcatraz erwartet uns laut Taisha Abelar ersteinmal die offene See, in der es von Haien nur so wimmelt. Wirhaben keine Garantie, da wir irgendwann wieder festes Landerreichen werden.11 Doch wir haben einen Verbndeten, eine ArtZwilling, den wir auf dem Weg des Kriegers wiederfinden: denEnergiekrper, der von den Zauberern auch als Doppelgnger oderTraumkrper bezeichnet wird. Mit seiner Hilfe gelingt es, neueUfer zu erreichen und unvorstellbare Erfahrungen zu machen.

    Damit sind wir in Teil IV endgltig in die Welt der Zauberereingetreten und begegnen der Wirklichkeit auf neue Art undWeise. Dies gilt nicht nur fr andere Welten, sondern auch fr dasLeben in dieser Welt. Die Lebensweise des Kriegers konfrontiertuns mit gangbaren Alternativen im Umgang mit unserer Wirklich-keit, ganz gleich, ob es sich bei ihr um unsere Mitmenschen, andereWesen oder andere Welten handeln mag. So manchen Leser wirdverblffen, welch groe Rolle die unbeugsame Liebe des Kriegersin diesem Zusammenhang spielt, ein Konzept, das viele bislang inden Schriften Castanedas vermit haben.

    Dies fhrt uns zur Frage nach der Bedeutung all dieser Offenba-rungen der Zauberer fr unsere heutige Zeit und den zivilisiertenMenschen. Wie sehen die Chancen fr unser postmodernes Affen-kollektiv aus ihrer Perspektive aus? Welche Mglichkeiten ergebensich? Welche Rolle spielt dabei die aktuelle Bewegung, die sich umCastaneda und seine Gefhrtinnen entwickelt hat? Mit dieser Refle-xion ber Aussichten und Einsichten schliet der Textteil ab.

    Im Anhang findet sich neben einer umfangreichen Literaturli-ste, die auch Angaben ber Interviews, Seminarmitschriften undReportagen umfat, ein Verzeichnis von Adressen und Bezugs-quellen. Der Leser erfhrt dort, wo er sich ber anstehende Semi-nare und Veranstaltungen von Carlos Castaneda, Carol Tiggs,Florinda Donner-Grau und Taisha Abelar informieren und wo erdie unterschiedlichsten Medien zum Thema beziehen kann. Soerffnet sich fr jeden die Mglichkeit, selbst in unmittelbarenKontakt mit der Welt der Zauberer zu treten und sich an ihreAbsicht anzukoppeln.

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  • TEIL I

    DAS AKTIONSTHEATERDER ZAUBEREI

  • 1. EINE KURZE GESCHICHTE DER ZAUBEREI

    Geschichte ist ein Engel, der rckwrts in die Zukunft gewehtwird. Geschichte ist ein Haufen Scherben. Der Engel will zurckund die Dinge kitten, reparieren, was zerbrochen wurde. Dochvom Paradies her weht ein Sturm und blst den Engel stets wei-ter rckwrts in die Zukunft. Dieser Sturm heit: Fortschritt.

    Laurie Anderson: The Dream Before1

    Zehntausende alter und junger Leser wissen ber das erste Treffenvon Castaneda und Juan Matus im Jahre 1960 in einem staubigenBushof in Arizona nahe der mexikanischen Grenze mehr als ber dieBegegnung von Dante und Beatrice an den Ufern des Arno. Das liegtwohl daran, da Don Juans Lehren zu einer Zeit gedruckt wurden, inder mehr Menschen als je zuvor geneigt waren, auch nichtrationaleDinge zur Wirklichkeit zu zhlen,2 klagte das amerikanische TimeMagazine im Frhjahr 1973. Es sah in Castanedas Schriften undihrer Popularitt untrgliche Zeichen fr den Zerfall zivilisatori-scher Werte, fr den Untergang des aufgeklrten Abendlandes.

    hnliche Befrchtungen hegte noch im Jahr 1994 der FAZ-Kritiker Hannes Stein in seiner Rezension zur Kunst des Tru-mens, in der er Castanedas Absage an Gesellschaft, Moral undVernunft polemisiert. Stein stellt Castanedas Werke in eine Reihemit Mays Winnetou und Hesses Demian: Wer in den siebzigerJahren noch immer nicht genug hatte, las Castaneda. Dort wurdedieselbe Erfolgsstory noch einmal erzhlt. Man knnte das auchals Kompliment auffassen. Doch fr Stein ist Castaneda ein Ver-fhrer der Jugend, ein halbgebildeter Scharlatan, sein indiani-scher Lehrer Don Juan eine typische zivilisationskritische Pro-jektion und seine Lehren verdeckte Plagiate: ein Mischmaschaus Wittgenstein, Husserl, orientalischen Weisheits- und psycho-logischen Erlsungslehren.3

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  • Norbert ClassenCarlos Castaneda und das Vermchtnis des Don Juan

    Das Wissen der Tolteken in einer neuen Epoche

    Carlos Castaneda, Bestsellerautor und Schler des mexikanischen Zauberers Don JuanMatus, war jahrzehntelang vor allem dafr bekannt, unbekannt zu sein. Nachdem erjedoch in den vergangenen Jahren zusammen mit seinen Gefhrtinnen Taisha Abelar,Florinda Donner-Grau und Carol Tiggs in Vortrgen und Seminaren an die ffentlichkeitgetreten war, wurde es vielen Lesern klar, da sie es mit einer realen Person und einerauthentischen schamanischen Tradition zu tun hatten.

    267 Seiten, Broschur ISBN: 978-3-86264-264-9

    HANS-NIETSCH-VERLAGL E S E P R O B E

    www.nietsch.de