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DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT 14 „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – eine Aussage, die historische und gegenwärtige Entwicklungen scheinbar völlig unberücksichtigt lässt, sich aber dennoch lange Zeit als Losung für den Themenkomplex Zuwanderung behaupten konnte. Schon ein Blick in die jüngere Geschichte des Landes zeigt ein völlig anderes Bild: seit dem zweiten Weltkrieg wurden hier rund 15 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler aufgenommen. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 12) Hinzu kommen „Gastarbeiter“, die entgegen der ursprünglichen Idee nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind, sowie deren Kinder und mittlerweile auch Enkelkinder, die den Bezug zu den Wurzeln ihrer Eltern verloren haben und Deutschland als ihre Heimat ansehen. Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung im Inland zum einen und weltweite Migrationsströme zum anderen machen deutlich, dass Ein- und Zuwanderung in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird. Die Entwicklung zu einer pluralistischen Gesellschaft zeichnet sich deutlich ab. Die bereits heute in vielen Städten ausgeprägte ethnische und kulturelle Vielfalt wird sich in den nächsten Jahren noch stärker bemerkbar machen. Verkannte Wirklichkeit – Deutschland war, ist und bleibt ein Einwanderungsland

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DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT 14

„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – eine Aussage, die historische und gegenwärtige Entwicklungen scheinbar völlig unberücksichtigt lässt, sich aber dennoch lange Zeit als Losung für den Themenkomplex Zuwanderung behaupten konnte. Schon ein Blick in die jüngere Geschichte des Landes zeigt ein völlig anderes Bild: seit dem zweiten Weltkrieg wurden hier rund 15 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler aufgenommen. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 12) Hinzu kommen „Gastarbeiter“, die entgegen der ursprünglichen Idee nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind, sowie deren Kinder und mittlerweile auch Enkelkinder, die den Bezug zu den Wurzeln ihrer Eltern verloren haben und Deutschland als ihre Heimat ansehen. Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung im Inland zum einen und weltweite Migrationsströme zum anderen machen deutlich, dass Ein- und Zuwanderung in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird. Die Entwicklung zu einer pluralistischen Gesellschaft zeichnet sich deutlich ab. Die bereits heute in vielen Städten ausgeprägte ethnische und kulturelle Vielfalt wird sich in den nächsten Jahren noch stärker bemerkbar machen.

Doch daraus erwachsen nicht nur neue Möglichkeiten und Chancen, sondern auch Konflikte und Spannungen. Das Miteinander von In- und Ausländern wird zu einer der Schlüsselfragen dieses Jahrzehnts. (TELTSCHIK/SPILKER, S. 5) Es gilt kulturelle Barrieren abzubauen und das gegenseitige

Verkannte Wirklichkeit – Deutschland war,ist und bleibt ein Einwanderungsland

Die Gestaltung des Miteinanders von In- und Ausländern stellt eine „gesellschaftliche Querschnittsaufgabe“dar

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Verständnis zu fördern. MEHRLÄNDER und SCHULTZE bezeichnen die Integrationspolitik als eine „gesellschaftliche Querschnittsaufgabe“, die nahezu alle Politikbereiche - angefangen bei der Sozialpolitik bis hin zur Städtebaupolitik - miteinbezieht. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE S. 16) Die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielseitig, doch vor allem die Kommunen sind gefragt. Denn hier leben, arbeiten, wohnen und sterben letzten Endes die Menschen, hier muss Integrations(hand)arbeit geleistet werden. Der Friedhofsplanung als kommunales Handlungsfeld ist deshalb eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beizumessen. Es gilt, den Toten – unabhängig von Konfession und individueller Lebenseinstellung - würdige Ruhestätten und den Lebenden geeignete Räume für Begegnung und kulturellen Austausch zu bieten. Was den Umgang sowohl mit dem Thema Migration als auch mit dem Thema Tod und Bestattung betrifft, findet momentan ein spürbarer Bewusstseinswandel statt, der die kommenden Dekaden nachhaltig prägen wird.

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STATISTISCHE DATEN

Nur wer die Vergangenheit kennt, vermag die Gegenwart zu verstehen. Erst der Blick auf bisherige Entwicklungen macht Aussagen über die Zukunft möglich. Von diesem Gedanken getragen, sollen im Folgenden die wesentlichen Stationen Deutschlands auf dem Weg zum Einwanderungsland kurz nach-, auf- und vorgezeichnet werden.

RÜCKBLICK

Bei der aktuellen Diskussion über Zuwanderungsbestimmungen für Ausländer darf nicht vergessen werden, daß Deutschland in der Vergangenheit nicht nur Ziel- sondern auch Herkunftsregion von Millionen von Emigranten war. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit wurde durch Wanderungen von West nach Ost das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet vorgeschoben. Es haben sich in ganz Süd- und Osteuropa bis weit nach Russland

Deutsche Emigranten in Ost und West

Abb. 1: Deutsche Auswanderer bei der An-kunft in New York am Ende des 19. Jahr-hunderts.

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hinein deutsche Sprach- und Volksinseln gebildet. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderten acht Millionen Deutsche (HERRMANN, S. 64) aus politischen und ökonomischen Gründen nach Übersee aus. (WIDGREN/STACHER, S. 454)

Die sehr schnell wachsenden Industrieregionen lenkten Ende des 19. Jahrhunderts erstmals massive Zuwanderungsströme in das Deutsche Reich. 1910 machte die ausländische Wohnbevölkerung mit 1,26 Millionen Personen zwei Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Die Menschen kamen vor allem aus Österreich-Ungarn, aus Polen sowie aus den Niederlanden, Russland und Italien. Auch die Weimarer Republik beherbergte trotz wirtschaftlicher Rezession 1925 noch eine Million Ausländer. Während des Zweiten Weltkrieges hielten bis zu acht Millionen Zwangsarbeiter (ohne Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge) die deutsche Kriegswirtschaft in Gang. 1951 war die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik auf 506.000 gesunken (und stellte damit ein Prozent der Bevölkerung). (FISCHER, P., S. 1)

Ohne die menschliche Arbeitskraft aus fremden Landen ging es auch vor dem Zweiten Weltkrieg nicht

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Abb. 2: Zur Blütezeit der „Gastarbeiter-periode“ traf in München jeden Morgen ein Sonderzug ein, der 500 italienische Arbeiter nach Deutschland brachte.Abb. 3: In dieser Montagehalle in Neckar-sulm war jeder zweite Arbeiter Ausländer

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2,6 Millionen Gastarbeiter für das Wirtschaftswunder Die dynamische wirtschaftliche Entwicklung in den Nachkriegsjahren sowie der Wiederaufbau der Bundeswehr (wofür dem Arbeitsmarkt ab 1955 ca. 500.000 Wehrpflichtige und Zivilbeschäftigte entzogen wurden) begründeten die so genannte „Gastarbeiterperiode“ (1955 bis 1973). Der erste Anwerbevertrag wurde mit Italien geschlossen. Es folgten Spanien und Griechenland. Als durch den Bau der Berliner Mauer 1961 der Flüchtlingsstrom aus der DDR und den ehemals deutschen Ostgebieten endgültig versiegte, wurde ein weiteres Anwerbeabkommen mit der Türkei vereinbart. Darüber hinaus machten sich im Laufe der Zeit auch noch Gastarbeiter aus Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien auf den Weg nach Deutschland. Hielten sich anfänglich nur einige Hunderttausend ausländische Vertragsarbeitskräfte (1960: ca. 330.000) hier auf, so waren es 1973 knapp 2,6 Millionen Gastarbeiter sowie 1,8 Millionen nachgereiste Familienangehörige. (FISCHER, P., S. 2, 3) Nachdem sich Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Rezession abzeichnete und Arbeitslosigkeit drohte, verfügte die Bundesregierung 1973 einen Anwerbestopp für Arbeitskräfte außerhalb der EG (der bis heute Gültigkeit hat und Ausländer aus Nicht-EU-Staaten im Regelfall an einer Einreise zur Arbeitsaufnahme hindert). (HERRMANN, S. 4) Davon ausgenommen waren Ehegatten und minderjährige Kinder von Gastarbeitern, die im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland kamen.

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Anfang der 80er Jahre begann eine neue Zuwanderungsphase, die gekennzeichnet war durch den Prozess der Familienzusammenführung. Fast gleichzeitig setzte ein starker Zustrom von Asylbewerbern aus Osteuropa und ferneren Ländern Südostasiens und Afrikas ein. In den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte das Phänomen Migration allerdings erst in den 90er Jahren. In diesen Zeitraum fällt ein dramatischer Anstieg der Zahl der Asylbewerber in Westeuropa. (WIDGREN/STACHER, S. 455) Nahmen von 1953 bis 1978 durchschnittlich 7100 Personen jährlich das Asylrecht in Anspruch, weist die Statistik im Jahr 1992 einen Höchststand von 440.000 Menschen auf, die sich um Asyl bewarben. Einen weitaus größeren Personenkreis umfasst die Gruppe der Flüchtlinge: 1987 hielten sich 700.000 in Deutschland auf, 1993 war das Maximum mit 1,9 Millionen erreicht. (FISCHER, P., S. 6, 7) „Die starke Zunahme der ausländischen Bevölkerung in Westeuropa führte in den meisten europäischen Staaten zu einer Neuorientierung und wesentlich restriktiveren Gestaltung der Migrations- und Asylpolitik.“ (WIDGREN/STACHER, S. 455) In Deutschland äußerte sich diese Entwicklung 1993 im sogenannten „Asylkompromiss“, der als Reformpaket Asylbewerber, Flüchtlinge, Spätaussiedler, Werkvertragsarbeitnehmer und andere Zuwanderer betraf. Betrug die Anerkennungsquote für Asylbewerber 1980 noch 80 Prozent, so waren es im Jahre 2000 nur noch drei Prozent. (FISCHER, P., S. 6)

Massive Zuwanderungsströme verursachten eine Neuorientierung in der Migrationspolitik Westeuropas

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Die geschichtlichen Entwicklungen in der ehemaligen DDR können an dieser Stelle leider nicht so genau nachgezeichnet werden, da „die Zahl der in der DDR lebenden Ausländer nie veröffentlicht worden ist.“ (HERRMANN, S. 26) „Das Ausmaß der Zuwanderung war im Verhältnis zur Bevölkerungszahl relativ gering und erreichte mit maximal 200.000 Personen über die Jahre rund ein Prozent.“ (FISCHER, P., S. 5) Auch in der ehemaligen DDR wurden seit Mitte der 1960er Jahre ausländische Arbeitskräfte angeworben und beschäftigt. Grund waren zum einen die chronische Arbeitskräfteknappheit in der DDR und zum anderen entwicklungs- und außenpolitische Zielsetzungen. Die Arbeiter stammten aus „befreundeten Ländern“, also sozialistischen Staaten. Regierungsabkommen zur Anwerbung wurden unter anderem geschlossen mit Vietnam, Mosambik, Kuba, China, Polen und Ungarn. Ende 1989 sollen sich rund 91.000 Vertragsarbeitnehmer hier aufgehalten haben. (HERRMANN, S. 23) Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde in der DDR kein Anwerbestopp verhängt. (FISCHER, P., S. 5)

MOMENTAUFNAHME

Nach Auskunft des STATISTISCHEN BUNDESAMTES in Wiesbaden lebten im Jahr 2000 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland. Das entspricht einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von ca. neun Prozent. Berücksichtigt man zudem die schätzungsweise 3,2 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler – die im Sinne von Artikel 116 Grundgesetz nicht zur Gruppe der Ausländer zählen - sowie die rund eine Million im Inland eingebürgerten Ausländer, liegt der Anteil der zugewanderten Bevölkerung an

In der DDR wurden ausschließlich Arbeiter aus „befreundeten Ländern“ beschäftigt – ihre Zahl ist unbekannt

Zuwanderer stellen heute rund zwölfProzent der Gesamtbevölkerung

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der Gesamtbevölkerung bei fast 12 Prozent. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Im europäischen Vergleich rangierte Deutschland damit im Jahr 2000 auf Platz fünf – fast gleichauf mit Österreich - nach Luxemburg mit 35 Prozent Ausländeranteil, Belgien (24 Prozent) und der Schweiz (19 Prozent).Die zweitgrößte Volksgruppe in Deutschland bilden Türken mit knapp zwei Millionen Angehörigen. Sie stellen über ein Viertel aller Ausländer in der Bundesrepublik. Die überwiegende Mehrheit (80 Prozent) aller hier lebenden Ausländer stammt aus Europa, wobei 1,8 Millionen – also etwa ein Viertel – dieser Menschen über den Pass eines EU-Landes verfügen. Bei der Auflistung von Herkunftskontinenten steht Asien mit 11,5 Prozent auf Platz zwei, gefolgt von Afrika mit 4 Prozent. Der Anteil von Ausländern an der Gesamt-bevölkerung erreicht Spitzenwerte in Frankfurt/Main (33 Prozent), Offenbach (31 Prozent), Stuttgart (24 Prozent) und München (24 Prozent). Die Statistik macht zudem deutlich, dass die neuen Bundesländer wesentlich geringere Ausländerdichten aufweisen. So beträgt der Ausländeranteil in Magdeburg rund drei Prozent, in Erfurt zwei Prozent. (FISCHER, P., ERLÄUTERUNGEN ZUR KARTE)

Wie bereits erwähnt, finden eingebürgerte Ausländer keine Berücksichtigung mehr in der Ausländerstatistik, doch auch sie zählen zum weiten Kreis der Zu- und Einwanderer (neben Asylbewerbern, Flüchtlingen, Arbeitsmigranten, Saisonarbeitern und anderen). So erhielten im Jahr 2000 – nach Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsgesetztes - über 180.000 Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern sind seither – unter bestimmten Voraussetzungen – ohne Umwege Deutsche. (DIE BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION,

Jeder dritte Frankfurter Bürger hat keinen deutschen Pass

180.000 Einbürgerungen im Jahr 2000

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TAB. 14) Hinzu kamen im selben Jahr noch 95.000 Spätaussiedler, die seit 1999 automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Sie gelten deshalb nicht als eingebürgert und bilden eine eigenständige Gruppe.

Was die Aufenthaltsdauer der Ausländer in der Bundesrepublik anbelangt, so sind die Menschen aus den ehemaligen Anwerbestaaten führend. Ein Großteil von ihnen hat vor mehr als 30 Jahren das Heimatland verlassen. So können zum Beispiel über 40 Prozent der in Deutschland lebenden Türken auf eine über 20jährige Migrationsgeschichte zurückblicken. (DIE BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION, TAB. 10) Der Anteil der über 60jährigen Ausländer lag Ende 2000 bei knapp 9 Prozent. Von den unter sechsjährigen Ausländern wurden fast 90 Prozent in Deutschland geboren, bei den sechs- bis 15jährigen waren es knapp zwei Drittel. (DIE BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION, TAB. 4)Wie bereits festgestellt, kommen die Zuwanderer aus allen Kontinenten dieser Erde. Die „Aktuelle Landkarte“ weist über 210 Herkunftsländer aus. (FISCHER, P., ERLÄUTERUNGEN ZUR KARTE) Was die Glaubenszugehörigkeit der Migranten anbelangt, so gibt es leider keine eigenständigen Erhebungen. Doch mit Hilfe des RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHEN MEDIEN- UND INFORMATIONSDIENSTES E.V. (REMID) lassen sich zumindest die religiösen Schwerpunkte für alle Bewohner der Bundesrepublik festmachen. REMID führt in einer Zusammenstellung von 2001 rund 3,2 Millionen islamische Religionsanhänger in Deutschland auf. Diese bilden neben katholischen, evangelischen und sonstigen Christen mit knapp 56 Millionen Mitgliedern eine deutliche Mehrheit in der deutschen Religionslandschaft. Zum Judentum sowie zum Buddhismus bekennen sich jeweils etwa 165.000 Menschen.

Seit über 30 Jahren in Deutschland – oder hier geboren

Muslime bilden die zweitgrößte Religionsgruppe

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Der Hinduismus zählt knapp 98.000 Anhänger. Darüber hinaus existieren noch zahlreiche weitere Religionsgemeinschaften und religiöse Bewegungen, denen rund 130.000 Menschen angehören. (UNIVERSITÄT LEIPZIG) Aus dieser Aufstellung geht weiter hervor, dass sich über 25 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik zu keiner Religion bekennen.

Der hohe Anteil an Muslimen ist zum einen auf die starke Präsenz der türkischen Gastarbeiter und ihrer Familienangehörigen zurückzuführen. Zum anderen stammen viele Zuwanderer aus islamisch geprägten Ländern in Afrika und Asien (z.B. Iran, Libanon, Afghanistan und Marokko). Deutliche Akzente in der deutschen Glaubenslandschaft setzen aber auch die zahlreichen Migranten aus buddhistisch und hinduistisch geprägten Ländern wie China, Indien und Sri Lanka. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass die zunehmende religiöse Pluralität in Deutschland nicht nur auf die Zuwanderer zurückzuführen ist. Denn auch immer mehr Deutsche wenden sich vom Christentum ab und Glaubensgemeinschaften zu, die in anderen Kulturkreisen vorherrschen. REMID zählt 11.000 deutschstämmige Muslime, 7.500 deutsche Hinduisten sowie rund 45.000 deutsche Buddhisten. (UNIVERSITÄT LEIPZIG)

Konvertierte Deutsche fördern die religiöse Vielfalt

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ZUKUNFTSPROGNOSEN

„Europa, insbesondere Deutschland, braucht Einwanderer, will es seinen wirtschaftlichen und sozialen Standard halten.“ (MEIER-BRAUN, S. 9) Einen ersten Vorgeschmack auf die Bedeutung, die der Zuwanderungsfrage in Zukunft beizumessen ist, lieferte im Jahr 2000 die Greencard-Diskussion. Für Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie wurde damals eine Sonderregelung erlassen, um den seit 1973 geltenden Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer umgehen zu können. Bis April 2001 wurden ca. 7000 auf fünf Jahre befristete Arbeitserlaubnisse erteilt. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Doch gesucht sind nicht nur die hochqualifizierten Computerexperten. Bereits heute meldet sich die Wirtschaft immer lauter zu Wort, dass der Mangel an Arbeitskräften durch ausländische Arbeitnehmer auszugleichen sei. Vielerorts – vor allem in den Pflegeberufen – kann z.B. auf die hier beschäftigten bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr verzichtet werden. Doch das ist erst der Anfang einer Entwicklung, die zwangsläufig auf eine Zunahme der Zuwanderung nach Deutschland hinauslaufen wird, „will es sein Arbeitskräftepotential erhalten und damit Wachstumsspielraum und Wohlstand sichern.“ (MEIER-BRAUN, S. 10)

Ein Grund liegt laut STATISTISCHEM BUNDESAMT in der stetigen Abnahme der deutschen Bevölkerung. Das Hauptproblem ist dabei in der niedrigen Geburtenrate zu sehen. In Deutschland werden seit etwa 30 Jahren deutlich weniger Kinder geboren,

Wenn Arbeitskräfte knapp werden, sichern Zuwanderer den wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand

Die deutsche Bevölkerung schrumpft...

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als zur zahlenmäßigen Nachfolge ihrer Elterngeneration notwendig wäre. Statistisch gesehen müsste jede Frau mindestens 2,1 Kinder auf die Welt bringen, um den Bevölkerungsbestand aufrecht zu erhalten, die tatsächliche Rate liegt jedoch bei 1,3 Kindern. Bleibt das Geburtenniveau auf Dauer so niedrig, hat das langfristig eine schrumpfende und alternde Bevölkerung zur Folge. (STATISTISCHES BUNDESAMT DEUTSCHLAND, S. 9) Gemäß der „9. koordinierten Bevölkerungsvoraus-berechnung“ wird die Bevölkerungszahl von heute 82 auf 65 bis 70 Millionen im Jahre 2050 absinken (bei einer Nettozuwanderung von 100.000 Menschen jährlich; ohne Zuwanderung sogar auf 59 Millionen). Bereits im Jahr 2010 werden 300.000 Deutsche mehr sterben als geboren werden.

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Doch die

deutsche Bevölkerung schrumpft nicht nur, sie wird auch zunehmend älter. Zum einen rein rechnerisch, da durch den Geburtenrückgang immer weniger Kinder auf immer mehr ältere Menschen kommen. Zum anderen wird die Lebenserwartung von heute 77 Jahren bis zum Jahre 2050 um mindestens vier Jahre zunehmen. Der Anteil der über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung lag im Jahr 2000 bei 22 Prozent. In 50 Jahren wird sich dieser Wert auf 35 bis 40 Prozent erhöhen. (STATISTISCHES BUNDESAMT DEUTSCHLAND, S. 9FF)

...und wird zugleich immer älter

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In einer Studie zur Migration und Bevölkerungspolitik ging die UN unlängst der Frage auf den Grund, ob in der sogenannten „Bestandserhaltungs-migration“ eine Lösung für

abnehmende und alternde Bevölkerungen gesehen werden könne (ein Problem, das nahezu alle westlichen Industrienationen betrifft). Auch für Deutschland erstellte die UN mehrere verschiedene Szenarien, die sich an unterschiedlichen Zuwanderungszahlen orientieren. Um die Zahl der Bevölkerung bis zum Jahr 2050 konstant zu halten, müssten demnach rund 18 Millionen Menschen einwandern, das entspräche einer Nettozuwanderung von 324.000 Menschen jährlich. Um das Arbeitskräftepotential konstant zu halten, bedürfe es bereits 458.000 Zuwanderern pro Jahr. Und um das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern auf dem Niveau von 1995 zu halten, wären sogar 188,5 Millionen Einwanderer aufzunehmen, die Einwohnerzahl Deutschlands würde dadurch auf 299 Millionen bis zum Jahr 2050 ansteigen. (MEIER-BRAUN, S. 15) Dieses Szenario ist natürlich nur ein statistisches Rechenbeispiel und wird niemals eintreten. Doch gerade durch seine Utopie zeigt es mehr als deutlich die Notwendigkeit von Zuwanderung für die deutsche Gesellschaft.

Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Schrumpfung und Überalterung der Bevölkerung wären verheerend. Bei einem Verzicht auf Zuwanderung würden sie sich laut OBERNDÖRFER schon innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre nachhaltig

In Zukunft 458.000 Zuwanderer pro Jahr?

Abb. 4: Von der Pyramide zum Pilz – die deutsche Bevölkerung wird immer älter.

Ein Verzicht auf Zuwanderung hätte verheerende Folgen

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bemerkbar machen: unter anderem durch den Zusammenbruch des Immobilienmarktes und damit den Verlust gigantischer zur Alterssicherung erworbener Vermögenswerte, den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen, die Schließung von Schulen und öffentlichen Einrichtungen, der Zusammenbruch des Rentensystems bzw. die Anhebung der Lebensarbeitszeit auf 74 Jahre. (OBERDÖRFER, S. 28)Kann durch weitere Zuwanderung das Geburtendefizit ausgeglichen werden? „Nein! Der Bevölkerungsrückgang und der Alterungsprozess können durch Zuwanderung nur zeitweise aufgehalten oder verzögert werden.“ (OBERNDÖRFER, S. 30) Denn das Fertilitätsniveau der Zuwanderinnen gleicht sich langfristig dem der deutschen Frauen an und auch die Zuwanderer altern. Das zentrale Problem der demografischen Entwicklung liegt nicht in der Zahl der Bevölkerung. Ausschlaggebend ist das Profil, also die Altersstruktur – und diese verlagert sich immer mehr zugunsten der Älteren, bildet im Schaubild (vorherige Seite) bis 2050 einen Pilz statt einer Pyramide. „Dennoch würde durch Zuwanderung kostbare Zeit für eine sozial verträgliche Gestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Geburtendefizite und vor allem auch für das Wirksamwerden einer energischen und innovativen Politik der Geburtenförderung gewonnen werden.“ (OBERNDÖRFER, S. 32)

Migranten schaffen einen Zeitvorsprung für politische Maßnahmen

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Doch nicht nur demografisch bedingte – und damit gesellschaftliche und wirtschaftliche - Eigeninteressen Deutschlands begründen eine vermehrte Zuwanderung in der Zukunft. Eine „Festung Europa“ wird einem sich weltweit verstärkenden Migrationsdruck auf Dauer nicht standhalten können. Auf der einen Seite wirkt die fortschreitende Globalisierung der Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkte als Triebfeder, auf der anderen Seite die Flucht vor Armut, Krieg und Hunger. Um den Globus zirkulierende Manager und Wissenschaftler zeichnen ebenso an diesem Bild wie Bootsflüchtlinge vor den Küsten Italiens und immer professioneller operierende Schleuserbanden.

Laut WIDGREN und STACHER überschreiten in bisher nie gekanntem Ausmaß nicht nur Kapital und Güter nationale Grenzen, sondern auch Menschen. Laut Schätzungen der UN-Experten für Bevölkerungsfragen betrug die Zahl der internationalen Migranten und Migrantinnen Ende des 20. Jahrhunderts mehr als 150 Millionen, was bedeutet, dass rund 2,5 Prozent der gesamten Weltbevölkerung außerhalb des Geburtslandes oder dem Land ihrer Staatsbürgerschaft leben. (WIDGREN/STACHER, S. 453) Binnenwanderungen sowie illegale Migranten sind bei dieser Zahl noch unberücksichtigt. „Die Bedeutung der geografischen Distanz ist verlorengegangen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die verbesserten internationalen Kommunikations- und Transportmöglichkeiten. Das westliche Freiheits- und Lebensmodell und sein

Druck auf die „Festung Europa“

Abb. 5: Members only?

150 Millionen Migranten weltweit – geografische Distanz spielt keine Rolle mehr

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Glücksversprechen werden durch Fernsehbilder, Warenströme und Ferntourismus in alle Welt getragen.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 10)

Als wichtiger Antrieb der Migration kann die beschleunigte Verstädterung angesehen werden. Denn vor dem Verlassen des Landes steht meist eine Binnenwanderung vom Land in die Stadt. Dieser Trend wird sich nach UN-Prognosen auch in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. „Die Megastädte der Entwicklungs- und Schwellenländer sind die Wartesäle für die Weiterwanderung zu den Wohlstandsländern.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 10) So wird allein für China angenommen, dass sich in den nächsten Jahren 26 Millionen Menschen jährlich auf den Weg in die boomenden Wirtschaftsgebiete des Landes machen werden. (WIDGREN/STACHER, S. 454)

„Die Megastädte der Entwicklungs- und Schwellenländer sind die Wartesäle für die Weiterwanderungen zu den Wohlstandsländern“

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Die Wanderungsbewegungen in die Industrieländer werden nach Expertenmeinung aber keine unerwarteten Massenwellen sein, sondern sich nach bekannten, vorhersagbaren regionalen Mustern entwickeln. Als Beispiel sei an dieser Stelle die Flüchtlingsmigration genannt, bei der es sich vor allem um eine Süd-Süd-Migration handelt. Neun von zehn Flüchtlingen bleiben in den Herkunftsregionen der Dritten Welt, Europa erreicht nur ein kleiner Bruchteil dieser Menschen. Mit dem Ende des stabilisierenden Ost-West-Gegensatzes werden jedoch auch in Ost- und Südosteuropa bürgerkriegsträchtige Konflikte freigesetzt, die zu einem innereuropäischen Flüchtlingsproblem führen können. Wie stark die Wanderungs- und Flüchtlingsströme aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion anschwellen werden, ist ungewiss. Aber wiederaufbrechende und eskalierende Nationalitätenkonflikte sowie Schwierigkeiten bei der Umstellung auf ein marktwirtschaftliches System könnten einen großen Schub auslösen. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 10, 11)

Wanderungsbewe-gungen in die Industrieländer folgen vorhersagbaren Mustern

Abb. 6: Hunger, Kriege und das über mo-derne Kommunikationsmedien in alle Welt verbreitete westliche Glücksversprechen las-sen die Migranten-Ströme weiter an-schwellen.

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BEGINNENDER BEWUSSTSEINSWANDEL

„Die meisten Industrieländer stehen mit der Einwanderungsfrage vor einem neuen sozialen Thema, mit dem sich gravierende gesellschaftliche Veränderungen anbahnen.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 7) Ein entsprechender Bewusstseinswandel ist bereits deutlich spürbar: eine neue Zuwanderungsgesetzgebung versieht das Thema mit anderen Vorzeichen und stellt eine vom Abstammungsprinzip getragene Gesellschaft in Frage. Auch die Mehrheit der Zuwanderer sieht ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik aus einer veränderten, dauerhaften Perspektive; die Rückkehr ins Heimatland verliert an Bedeutung. Die Abkehr von traditionellen Sichtweisen lässt In- wie Ausländer nach neuen Formen der Lebens- und Trauerkultur suchen.

...IN DER GESELLSCHAFT

Menschen und Gesellschaft im Umbruch

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Das Thema Zuwanderung war in Deutschland lange Jahre tabuisiert und politisch unpopulär. Es galt die Maxime: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Doch die Greencard-Diskussion gab den Impuls für einen Wechsel der Blickrichtung. Im Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz (2002) wurde schließlich erstmals ein neues Bild gezeichnet: „Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden“, stellte die mit der Erarbeitung eines Zuwanderungsgesamtkonzeptes für Deutschland beauftragte unabhängige Kommission „Zuwanderung“ in ihrem Abschlußbericht fest. Wanderungsbewegungen hätten die Entwicklung der deutschen Gesellschaft und ihre heutige Zusammensetzung tiefgehend und nachhaltig beeinflusst. Laut der Zuwanderungskommission sei es eine „wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Notwendigkeit, die künftige Zuwanderung zu akzeptieren und zum Wohle unseres Landes zu bejahen und aktiv zu gestalten.“ (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN)

Die positiven Effekte von Einwanderung stehen in jüngster Zeit im Vordergrund. „Typische Ausländerprobleme“ – wie Kriminalität, Gettobildung, Extremismus - vermögen nicht mehr

Aufkeimendes Selbstverständnis als Einwanderungsnation

Abb. 7: Deutschland ist doch ein Einwanderungsland – der viel diskutierte Entwurf für ein neues Zuwanderungsgesetz steht für einen Wechsel in der politischen Blickrichtung.

Es entsteht ein Wettbewerb um besonders qualifizierte Einwanderer – attraktive Bedingungen schaffen Marktvorteile

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die Diskussion zu dominieren. Es wird nach der Notwendigkeit und dem Nutzen einer gezielten Einwanderung gefragt, nach dem Potential, das der Einzelne in die Gesellschaft einbringen kann. „Heute findet weltweit ein neuer Wettbewerb um Einwanderung statt. Hierbei steht Deutschland in Konkurrenz zu den USA, die auf eine lange Tradition von Einwanderung zurückblicken kann.“ (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 13) Will Deutschland im internationalen Wettbewerb um besonders qualifizierte Einwanderer nicht leer ausgehen, so muss es nicht zuletzt attraktive Lebensbedingungen schaffen und Möglichkeiten bieten, hier heimisch zu werden. Das Wohlstandsversprechen einer Industrienation allein ist hierfür nicht ausreichend.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung vollzieht sich derzeit in der langsamen Abkehr vom sogenannten Abstammungsprinzip, „einem veralteten Staatsverständnis“, das die Zugehörigkeit zu einem ‚Volk’ vor allem an ethnischen Kriterien festmachte. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 10) Maßgeblich sind gemäß dieser Weltanschauung also die Vorfahren, nicht die Bindung an ein Staatsterretorium und an eine für die Demokratie vorauszusetzende Kultur. Genau dies zeichnet jedoch Einwanderungskulturen aus: jedem Neuankömmling wird zuerkannt, bei entsprechendem Bekenntnis zu Staat und Verfassung, ein gleichberechtigter Staatsbürger zu werden, mit allen Rechten und Pflichten. Dort geborene Kinder erhalten automatisch die Staatsbürgerschaft des Einwanderungslandes, unabhängig von der Herkunft der Eltern. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht wurde auch in Deutschland ein entsprechendes Zeichen gesetzt, doch sowohl in politischen Verfahrensweisen wie in den Köpfen der Menschen ist die

Abkehr vom Abstammungsprinzip erleichtert die Identifikation mit dem Aufnahmeland

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ethnisch-kulturelle Ideologie immer noch präsent: „Das Abstammungsprinzip kann grundsätzlich den Sonderstatus der Zugehörigkeit zur Ausländerminorität über Generationen hinweg auf Dauer stellen.“ (NAUCK, S. 253) Daraus sind jedoch schwerwiegende Integrationsprobleme erwachsen (vgl. Kapitel II - „Integration als Zukunftsaufgabe“). Denn eine derartige Sichtweise verhindert, dass Mehrheit und Minderheiten in einem Land ein Wir-Gefühl entwickeln. Dieses fehlende Gemeinschaftsdenken führt wiederum zu einer Mosaikgesellschaft. (WELT, S. 33) Eine Identifikation mit dem Aufnahmeland ist so nur schwerlich möglich.

...BEI DEN MIGRANTEN

Zu Beginn der Gastarbeiterperiode in Deutschland stand für Deutschland fest, dass es sich bei der Ausländerbeschäftigung um ein vorübergehendes konjunkturelles Phänomen handelt. Die Menschen wurden gerufen und kamen in der Absicht, ein paar Jahre hier zu arbeiten und dann wieder in die Heimat zurückzukehren. Doch aus vielen Gastarbeitern sind mittlerweile Dauereinwanderer geworden, auch wenn sie im Herzen häufig immer noch den Wunsch nach der Rückkehr tragen. Die Gründe dafür sind vielschichtig: zum einen politisch bedingt – nach dem Anwerbestopp war eine erneute Einreise nicht mehr möglich, was viele Gastarbeiter zum Bleiben bewog. Zum anderen gaben natürlich auch wirtschaftliche und menschliche Gründe – wie die Verbesserung des

Aus Gastarbeitern sind Dauereinwanderer geworden

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Lebensstandards sowie die zunehmende Entfremdung von der Heimat - den Ausschlag.

Eine im Jahr 2000 durchgeführte Repräsentativbefragung kommt zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der Migranten aus den ehemaligen Anwerbeländern dauerhaft in Deutschland bleiben will. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Etwa ein Drittel der türkischstämmigen Migranten, die sich seit mehr als 20 Jahren in Deutschland aufhalten, hegt noch die Absicht, in die Türkei zurückzukehren. Von den in Deutschland geborenen Türken sind es rund 17 Prozent. Die Bundesrepublik wird zunehmend als neue Heimat angesehen, wovon auch das steigende Interesse an einer Einbürgerung Zeugnis ablegt. Knapp 22 Prozent Der Migranten aus den ehemaligen Anwerbeländern geben an, „sehr interessiert“ an einem deutschen Pass zu sein, weitere 36 Prozent sind „etwas interessiert“. Ein Drittel der Angehörigen der zweiten Generation begreifen sich laut des Statistischen Bundesamtes bereits als Deutsche. „Es zeigt sich, dass ein großer Teil der Zuwanderer bereits heute über Bleibeabsichten verfügt und daher einen dauerhaften Bestandteil der in Deutschland lebenden Bevölkerung ausmachen wird.“ (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN)

Auf die ehemaligen Gastarbeiter – und dabei insbesondere die Türken - wird in diesem (und auch im folgenden) Abschnitt deshalb in besonderer Weise eingegangen, da sie die größte Gruppe unter den Ausländern in Deutschland bilden und zudem

Weniger als 20 Prozent der in Deutschland geborenen Türken sind an einer Rückkehr ins Heimatland der Eltern interessiert

Die meisten Zuwanderer streben einen dauerhaften Aufenthalt an

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eine sehr markante Wandlung im Laufe ihrer Migration vollzogen haben. Für viele anders motivierte Zuwanderer stand und steht bereits von vorneherein fest, dass sie sich nach Möglichkeit dauerhaft in der Bundesrepublik niederlassen wollen. Dies gilt vor allem auch für zukünftige Migranten, die im Zeichen einer neuen Zuwanderungspolitik ins Land kommen werden.

...IM UMGANG MIT DEM TOD IN DER FREMDE

Als „Migrationsproblem par excellence“ beschreiben HÖPP und JONKER den Tod in einem fremden Land. „Die Entscheidung für das Begräbnis in fremder Erde ist ein entscheidender, vielleicht der entscheidenste Schritt im langen Prozeß, sich an das neue Land zu gewöhnen. Wer sich entscheidet, den eigenen Körper darin zu betten, bindet die nachfolgenden Generationen an dieses Stück Erde. Wer die Wahl trifft, seine Toten in einem fremden Land bei sich zu bestatten, erschafft sich endgültig eine neue Heimat und lockert die Bindung an die alte. Schließlich zwingt dieser Schritt zu einer Neuordnung der Vergangenheit: Mit der Eröffnung eines Grabes schlagen die Überlebenden gewissermaßen einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte auf, die nunmehr dem neuen Land gehört.“ (HÖPP/JONKER, S. 7)

Wie bereits erwähnt, wurde und wird die Migration von vielen Gastarbeitern der ersten Generation als „Provisorium“

„Wer die Wahl trifft, seine Toten in einem fremden Land bei sich zu bestatten, erschafft sich endgültig eine neue Heimat“

„Rückkehrillusion“ verdrängt den Tod aus dem Bewusstsein

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angesehen, das sich erst mit der Rückkehr ins Heimatland auflöst. Dieser Sachverhalt wird in der Migrationsforschung als „Rückkehrillusion“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine psychische Verdrängung, um mit der Realität fertig zu werden, daß die Migrationsziele – die eine Rückkehr miteinschließen – nicht erreicht wurden. „Wenn es aber etwas gibt, das durch die ‚Rückkehrillusion’ am meisten aus dem Bewusstsein getilgt wird, dann ist es die Vorstellung, daß man eines Tages in der Fremde sterben könnte, und zwar sterben, ohne sein Migrationsziel erreicht zu haben. Denn der Tod macht jede noch so illusionäre Vorstellung von der Rückkehr zunichte. Er bringt bei den Hinterbliebenen auf geradezu dramatische Weise die verdrängte Angst zum Vorschein, dass es jedem von ihnen so ergehen könnte.“ (TAN, S. 126, 127)

Diese Illusion zum einen und die mangelnden Chancen zu einer Identifikation mit dem Aufnahmeland zum anderen, lassen die Migranten an kulturspezifischen Verhaltensweisen in der Fremde festhalten. In besonderer Weise gilt dies für die Traditionen im Bestattungsbrauchtum. (BLACH, S. 71) Das begründet die heute noch sehr gängige Praxis, verstorbene Migranten in ihr Heimatland rückzuüberführen und dort bestatten zu lassen, wie dies vor allem bei türkischen Muslimen der Fall ist. Der Verstorbene und die Hinterbliebenen verstehen darin einen Versuch, die Migration wenigstens symbolisch noch zu einem Abschluss zu bringen. Außerdem sind die Möglichkeiten für eine Beisetzung nach islamischen Vorschriften in der Bundesrepublik nur beschränkt gegeben.

Durch die Überführung der Verstorbenen ins Heimatland wird die Migration wenigstens symbolisch abgeschlossen

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Obwohl die Rücküberführung des Leichnams ebenfalls im Widerspruch zu den Bestattungsvorschriften steht und zudem hohe Kosten verursacht, wählt ein Großteil der Türken in Deutschland diesen Weg.

Es gibt keine genauen Zahlen, wieviele türkische Muslime sich derzeit auf deutschen Friedhöfen bestatten lassen, doch der Anteil liegt momentan bei maximal zehn Prozent. (KOKKELINK, S. 63) In erster Linie Kinder und finanziell schlechter Gestellte finden ihre letzte Ruhe fern der Heimat. Doch auch hier macht sich langsam ein Bewusstseinswandel bemerkbar. Die sozialen und verwandtschaftlichen Bindungen zum Heimatland werden immer brüchiger oder fehlen ganz – was vor allem für im Aufnahmeland geborene Migran- ten gilt.. Die Lebensorientierung verlagert sich infolge dessen zunehmend nach Deutschland. Starke verwandtschaftliche Bindungen geben ebenfalls häufig den Ausschlag für eine Beisetzung „vor Ort“, um den räumlichen Bezug zu den Verstorbenen zu wahren. (BLACH, S. 71)

Von der enormen Bedeutung des kulturspezifischen Bestattungsbrauchtums in der Migration war bereits die Rede. Auf die Einhaltung der aus der Heimat mitgebrachten Traditionen wird oftmals großer Wert gelegt. Dies geschieht nicht nur, um den Toten eine würdige Beisetzung und letzte Ruhestätte zuteil werden zu lassen, sondern auch, um die gemeinsamen Wurzeln und damit die eigene Identität zu betonen. Selbst bei Migranten, die sich bewusst dafür entschieden haben, für immer in Deutschland zu bleiben, behalten die vertrauten Bestattungsbräuche ihre Gültigkeit.

Der räumliche Bezug zwischen Lebenden und Toten gewinnt an Bedeutung

Bestattungstraditionen lassen sich nicht ohne weiteres in ein anderes Land übertragen

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(BLACH, S. 71) Aber Assimilierungsprozesse bleiben auch in dieser Hinsicht nicht aus. Denn nicht alle Traditionen bezüglich der Trauerrituale, der Bestattungspraxis und der Grabmalgestaltung lassen sich 1:1 in ein anderes Land übertragen, oftmals sind Anpassungen an die dort geltenden Vorschriften und Verfahrensweisen notwendig. Gerade die Professionalität, die im deutschen Bestattungswesen vorherrscht, steht im starken Widerspruch zu vielen Kulturen, in denen der Einzelne und die Gemeinschaft wesentlich intensiver in den Ablauf eines Todesfalles und der Beisetzung eingebunden sind. Doch nicht nur die unumgängliche Kompetenzverlagerung auf Institutionen steht der mitgebrachten Tradition im Weg, meist fehlen vor Ort auch die in der Heimat gegebenen sozialen und organisatorischen Strukturen, was wiederum veränderte Verhaltensweisen im Trauerfall nach sich zieht. (BLACH, S. 15)

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Als Beispiel sei an dieser Stelle das bei türkischen Muslimen übliche Tragen der Bahre bzw. des Sarges als Zeichen der Ehrerbietung (der Sarg selbst stellt bereits eine Anpassung an die Aufnahmegesellschaft dar, da die Vorschriften eigentlich ein - in Deutschland meist nicht zulässiges – Leichentuch zur Bestattung vorsehen). Durch die Migrationssituation fällt diese Handlung weg. „Die Verschiebung des Sterbens und des Trauerns hinter die Kulissen von Institutionen, die typisch für die postmodernen Wohlfahrtsgesellschaften ist, überträgt ihren Geltungsbereich nunmehr auch auf die Migranten.“ (TAN, S. 119) Hindus sehen sich wiederum mit dem Problem konfrontiert, dass es in Deutschland nicht zulässig ist, die Asche der Verstorbenen - gemäß ihrer religiösen Weltanschauung und Tradition - in ein Fließgewässer zu streuen. Die Urnen werden deshalb meist in Kolumbarien bestattet oder in das Herkunftsland überführt (auf die kulturellen Konflikte, die sich aus der Konfrontation mit dem deutschen Bestattungsrecht ergeben, wird in Kapitel VI, „Theoretische Planungsgrundsätze“, noch detaillierter eingegangen).

Dass das Bestattungsbrauchtum in der Migration Wandlungen durchläuft und z.T. auch freiwillig Elemente der vorherrschenden Kultur aufnimmt, zeigt sich am deutlichsten in

Gesetzliche Vorschriften versus Brauchtum

Abb. 8: Dieses muslimische Grab in Frankfurt am Main macht deutlich, dass das Bestattungsbrauchtum in der Migration Wandlungen durchläuft. Die vorherrschenden Gestaltungsmuster – wie Grabstein und Blumenschmuck – wurden hier weitgehend übernommen.

Kulturen beeinflussen sich gegenseitig

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der Grabmalgestaltung. Sowohl jüdische wie islamische Gräber weisen hierzulande oftmals Blumenschmuck auf, obwohl dies die Tradition nicht vorsieht. Grabinschriften gleichen sich an, Insignien der Trauer werden einfach übernommen oder ein wenig überformt und somit der eigenen Kultur angepasst. Doch Beeinflussung und Inspiration vonKulturen ist kein einseitiger Vorgang. Dies zeigt sich beispielsweise momentan im noch zaghaft vernehmbaren Ruf im deutschen Bestattungswesen nach der allgemeinen Bestattung in Leinentüchern anstatt in Särgen – der besseren Zersetzung und damit Verkürzung der Ruhezeiten willens. (KOKKELINK, S. 72)

...IN DER DEUTSCHEN TRAUERKULTUR

Das Bestattungsbrauchtum einer Kultur ist also nichts Statisches, es unterliegt der Veränderlichkeit und folgt dabei dem Zeitgeist. Allein der Vergleich zwischen dem mittelalterlichen Kirchhof und einem modernen Friedhof macht deutlich, wie stark sich die Sepulkralkultur in Deutschland gewandelt hat. Das 20. Jahrhundert war – was die Friedhofskultur anbelangt – noch in den bürgerlichen Strukturen des. 19. Jahrhunderts verhaftet, die Trauerriten glichen sich den rasch voranschreitenden gesellschaftlichen Entwicklungen an. Der Anfang des 21. Jahrhunderts steht im Zeichen eines gewaltigen geistigen Wandels, der gravierende Auswirkungen auf die Spulkralkultur der kommenden Jahrzehnte haben wird.

Gehörte das Erleben von Sterben und Tod noch vor wenigen Generationen zu den grundlegenden Erfahrungen eines jeden Menschen, so wurde die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts entscheidend geprägt von einer Verdrängung und Tabuisierung

Auch das Bestattungsbrauchtum folgt dem Zeitgeist

Tod und Sterben ist „Privatsache“

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dieses Themas. Der Tod wird verschwiegen und aus dem Leben verbannt, die Trauer um Verstorbene zunehmend zur „Privatsache“ erklärt. Die verbesserte medizinische Versorgung und die damit gestiegene Lebenserwartung der Menschen haben den Tod zu einem Ausnahmefall werden lassen, mit dem der Einzelne z.T. jahrelang nicht in Berührung kommt.

Mit dieser Entwicklung ging eine Bürokratisierung und Rationalisierung des Bestattungswesens einher, getragen vom Effizienzdenken der Moderne. Die Abläufe bei Tod und Bestattung wurden in funktionale Einzelelemente zerlegt und zwischen Bestattungsunternehmern und Friedhofsverwaltungen aufgeteilt. FISCHER spricht in diesem Zusammenhang von „einer Art Enteignung, die den modernen Umgang mit dem Tod prägt.“ (FISCHER, N., S. 92, 93) Die Rolle der Gemeinschaft in der Bewältigung eines Trauerfalles übernehmen fremde Menschen. Das Bestattungsbrauchtum wird institutionalisiert, Riten und Traditionen verlieren an Bedeutung.

Der Geist dieser Zeit findet auch auf den Friedhöfen Einzug. Kommerzialisierung, Trivialisierung, Konsum sind die Schlagworte einer Ära, in der religiöse Zeichen immer mehr ersetzt werden durch massenmedial übermittelte Symbole. Die Bestattungsriten passen sich an die Alltagskultur und die Alltagsästhetik der Menschen an. (SCHINDEHÜTTE, S. 8) Schränkte bereits die Friedhofs- und Grabmalsreform des frühen 20. Jahrhunderts die Individualität des Totengedenkens auf den Begräbnisplätzen stark ein (FISCHER, N., S. 92, 93), so beherrschen Uniformität und Trostlosigkeit die Grabmäler und Friedhöfe des ausgehenden letzten Jahrhunderts. Am Ende dieser – bzw. am Anfang einer neuen – Entwicklung steht die sich deutlich abzeichnende Tendenz zur Urnenbestattung sowie zur

Im Bestattungswesen zählt Effizienz

Kein Platz für Individualität

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freiwilligen anonymen Rasenbeisetzung, die keinen Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der Trauerverarbeitung zurücklässt.

Die Abkehr vom Grabmalkult, der auf die klassische, individuelle Gedächtniskultur des bürgerlichen Zeitalters im 19. Jahrhundert zurückgeht (FISCHER, N., S. 84) zeigt deutlich, dass Erstarrtes in der Sepulkralkultur in Bewegung gerät. RICHTER und NOHL interpretieren in einer Studie über friedhofskulturelle Entwicklungstendenzen den Trend zu bescheideneren und sachlicheren Bestattungsformen folgendermaßen: das Verdrängungsverhalten der Menschen lässt zumindest ansatzweise nach. Tod und Sterben werden wieder mehr als Teil des Lebens aufgefasst. Die Autoren sehen darin die mentalen Voraussetzungen für eine Erneuerung der Friedhofskultur. (RICHTER/NOHL, 2001, S. 20) „Die gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Veränderungen im postindustriellen Zeitalter haben alte, über Jahrzehnte hinweg eingeschliffene Denk- und Verhaltensmuster aufgelöst. Neben und abseits der gewohnten Institutionen sind neue Lebenswelten entstanden, die mit Stichwörtern wie Individualität, Flexibilität, Pluralität und ziviles Engagement charakterisiert werden.“ (FISCHER, N., S. 83)

Erstarrtes gerät in Bewegung – der Tod wird wieder als Bestandteil des Lebens anerkannt

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Zwischen Leben und Tod werden wieder mehr Bindeglieder geschaffen, z.B. durch AIDS-Selbsthilfebewegungen und die – in Form von lokalen Gruppen bereits vielerorts anzutreffende – Hospizbewegung. Diese „Vermittler“ brechen Tabus und betrachten das Thema Sterben, Tod und Trauer als ganzheitliches Phänomen. Sie legen durch ihre meist ehrenamtliche Arbeit aktives Zeugnis ab für eine Gesellschaft, in der sich eine neuartige Humanität, Solidarität und Selbstbestimmung bemerkbar macht. „Eben diese Aspekte zählen zu den wichtigsten Bausteinen eines neuen Umgangs mit dem Tod. Sie speisen jene Fantasie und Kreativität, die zu veränderten kulturellen Mustern führt.“ (FISCHER, N., S. 94 - 95)

FISCHER führt in diesem Zusammenhang neue Formen praktischer Trauer an, die momentan jenseits der Leichenhallen, Krematorien und Friedhöfen entstehen. Gemeinschaftliche Trauer- und Erinnerungsfeiern finden in eigens dafür eingerichteten Privaträumen statt. Persönliche Texte und Musik statt christlicher Liturgie bei Trauerfeiern und selbst angemalte Särge sind nur einige Beispiele für diese Entwicklung. (FISCHER, N., S. 95) Das Bedürfnis der Menschen nach mehr Mit- und Selbstbestimmung und Kreativität in der Trauerkultur (RICHTER/NOHL, 2001, S. 20) macht sich also bereits deutlich bemerkbar.

Abb. 9: Eine unwirtliche „Steinwüste“ – hervorgegangen aus dem Grabmalkult des bürgerlichen Zeitalters.Neue Humanität bricht mit alten Tabus

Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung in der Trauerkultur

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Die veränderte Geisteshaltung hat natürlich auch Auswirkungen auf die Grabmäler und Friedhöfe. Wie bereits erwähnt, entscheiden sich immer mehr Menschen für die Feuerbestattung. Dies gilt vor allem für städtisch geprägte Regionen sowie für die östlichen Bundesländer (wo das anonyme Rasengrab aus ideologischen Gründen gefördert wurde) und die skandinavisch beeinflusste Gebiete Norddeutschlands, wo einfache Rasengräber vorherrschend sind. (FISCHER, N., S. 86) In den Fluchten der Reihen- und Wahlgrabstätten auf den Zentralfriedöfen klaffen stellenweise große Lücken, die Bestattungsfläche pro Einwohner reduziert sich stetig. Andernorts entstehen dafür Friedwälder nach schweizerischem Vorbild, in denen Bäume statt Grabsteine an die Verstorbenen erinnern. Der Ruf nach einer Aufhebung des Friedhofszwanges für Aschenbeisetzungen wird lauter. Der Friedhof als klassischer Ort des Todes steht zur Diskussion. (FISCHER, N., S. 95) Zudem erfährt auch das stark reglementierende Bestattungsrecht, insbesondere die Friedhofssatzungen, immer heftigere Anfeindungen.

Wiesen und Wälder beleben die Steinwüsten

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Denn diese Vorschriften stehen im direkten Widerspruch zu einer heterogen strukturierten Gesellschaft, in der Pluralisierung und Individualisierung weiter voranschreiten werden. RICHTER und NOHL rechnen in nächster Zukunft mit einer deutlichen Anreicherung und Ausdifferenzierung der Trauerkultur. (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 20) Die mit den vielfältigen Lebensstilen verbundene Optionsfülle – Spielräume, die die Menschen auch im Umgang mit Tod und Trauer nutzen wollen – setzen deshalb bürgerfreundliche Verwaltungsstrukturen voraus. „Die Verwaltungen der Beisetzungsstätten werden den friedhofskulturellen Aktivitäten einzelner Gruppierungen wohlwollend gegenüberstehen und den Gestaltungswillen der Betroffenen bezüglich des Friedhofsraumes wie der Bestattungs, Trauer- und Erinnerungsrituale aktiv unterstützen müssen.“ (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 21)

Verwaltungen müssen auf Veränderungen in der Trauerkultur reagieren

Abb. 10: Immer mehr Menschen wünschen sich schlichte Ruhestätten anstatt pompöser Grabanlagen. Das Foto zeigt eine Urnenwiese auf einem holländischen Privatfriedhof.

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Für die Herausbildung von neuen Organisations- und Verwaltungsstrukturen spricht nicht nur der sich weiter ausprägende Selbst- und Mitbestimmungswille der Menschen, sondern auch die zunehmende Präsenz von ethnischen Gruppen, die sich in Deutschland im Sinne ihrer Religion und ihres eigenen Bestattungsbrauchtums beisetzen lassen möchten. Hinzu kommen anderweitig – also weder ethnisch noch religiös – motivierte Gruppen, die ebenfalls ihrer individuellen Orientierung in den Beisetzungsräumen Ausdruck verleihen wollen. „Ob dabei die vielen großen und kleinen Gruppen, die einheimische Majorität, die ethnischen Minderheiten, die traditionellen und die ‚modernen’ Gruppierungen so etwas wie einen gemeinsamen Bestattungsort aufbauen können, hängt davon ab, wie die Gruppen miteinander umgehen.“ (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 20) RICHTER und NOHL warnen in diesem Zusammenhang davor, dass sich desintegrative Tendenzen auch auf den Friedhöfen ausbreiten können. Für das Friedhofswesen der Zukunft schlagen sie deshalb vor, „dass die jeweiligen Betroffenen die kulturellen Angelegenheiten in ihren Beisetzungsstätten derart miteinander aushandeln, dass alle Beteiligten sich in ihrer kulturellen Eigenart aufgehoben fühlen.“ (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 21) Dies ließe sich z.B. über Friedhofsbeiräte erreichen, die zwischen den Gruppen – die sich als kooperative und solidarische Partner einbringen können - vermitteln und zu gemeinsamen Aktionen motivieren. (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 22)

Und wie wird nun der „Friedhof der Zukunft“ aussehen? Fest steht vor allen Dingen eines: in einer Gesellschaft, in der es

Wo verschiedene Kulturen aufeinander treffen, muss vermittelt werden

Die Friedhöfe der Zukunft haben Experimentiercharakter

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keine einheitliche Trauer- und Bestattungskultur gibt, wird keine Einheitlichkeit hinsichtlich Form, Stil und Gestalt der Beisetzungsplätze herrschen. Nachdem sich die Trauerkultur derzeit im Umbruch befindet, die Tradition bei vielen Menschen als überholt gilt und sich neue Formen der Beisetzung, der Trauer und des Gedenkens erst noch herausbilden müssen, werden die künftigen Friedhöfe auch Experimentier- und Versuchscharakter besitzen. Zudem stehen die Beisetzungsstätten im Spannungsfeld zwischen kulturellem Beharren und kulturellem Wandel in den verschiedenen Gruppierungen. (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 22) Diese Spannungen abzubauen, sollten alle am Bestattungswesen Beteiligten als Herausforderung und Aufgabe für die Zukunft ansehen. Denn die Beisetzungsplätze sollen nicht Austragungsort von ideologischen Konflikten sein, sie sollen den Toten eine würdige Ruhestätte bieten und den Lebenden die Möglichkeit zum Gedenken sowie zur gegenseitigen Annäherung.

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ZUSAMMENLEBEN NEU GESTALTEN

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Wenn in einem Land Menschen aus über 210 Staaten der ganzen Welt zusammen leben, so kann man wohl zurecht von einer multiethnischen und damit auch multikulturellen Gesellschaft sprechen. Gerade in den Städten ist die durch Zuwanderung entstandene ethnisch-kulturelle Vielfalt deutlich wahrnehmbar. Doch was für den einen eine willkommene Bereicherung darstellt, ist in den Augen des anderen eine Bedrohung der eigenen Existenzgrundlage. Da in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen und diese häufiger als bisher aus Ländern mit größerer „kultureller Distanz“ und anderen Religionen stammen werden, (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 27) sind neue Wege für ein friedvolles Zusammenleben zu suchen und einzuschlagen. Die aktive Integration von Zuwanderern ist als Zukunftsaufgabe anzusehen, zu deren Bewältigung ein jeder – Einheimischer wie Fremder – etwas beitragen kann und muss. Andernfalls werden sich bereits deutlich spürbare Verstimmungen im Umgang miteinander zu unüberwindbaren Konflikten auswachsen, die das Potential besitzen, den inneren Frieden des Landes empfindlich zu beeinträchtigen.

Kulturelle Distanzen lassen sich nur gemeinsam überwinden

Abb. 11: Die durch Zuwanderung entstandene ethnisch-kulturelle Vielfalt ist vor allem in den Städten deutlich wahrnehmbar.

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DAS WESEN DER MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT

Wenn die Autoren im folgenden den Begriff „multikulturell“ verwenden, so steht dieser einzig für den kulturellen Pluralismus, wie er in modernen Gesellschaften typisch ist. Dies ist nicht zu verwechseln mit „Multikulturalismus“ – einem gedanklichen Konstrukt zur Organisation des Zusammenlebens. Nach OBERNDÖRFER und BERNDT ist die Kernvorstellung des sogenannten „Multikulturalismus“ eine positive Bewertung der ethnischen und kulturellen Vielfalt, „verbunden mit der moralisch-normativen Forderung nach Toleranz“. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 27) Hinter dem Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ verbergen sich verschiedene Konzepte, die auf einem gemeinsamen Grundgedanken basieren: Integration statt Assimilation. Unter Assimilation ist in diesem Zusammenhang die völlige Angleichung an den im Aufnahmeland vorherrschenden Lebensstil zu verstehen, einhergehend mit der Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. Eine Integration unter multikulturellen Vorzeichen sieht eine schrittweise Eingliederung von Migranten in die Aufnahmegesellschaft vor, unter Beibehalt von kulturellen bzw. religiösen Eigenheiten – insofern diese nicht gegen die grundgesetzliche Ordnung verstoßen (vgl. auch „Integration als Zukunftsaufgabe“ in diesem Kapitel).

Durch Überstrapazierung, Fehlinterpretationen und Instrumentalisierung durch rechtsgerichtete Gruppen hat der Begriff „multikulti“ jedoch in den letzten Jahren eine negative Besetzung erfahren. Während sich die einen einer allzu romantischen Vorstellung des konfliktfreien Neben- und

Was verbirgt sich hinter dem Begriff „multikulturell“?

Eine homogene Mehrheitskultur gibt es nicht

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Miteinanders verschiedener Kulturen hingaben, wuchsen bei den anderen die Ängste vor „Überfremdung“ und Verlust der eigenen kulturellen Indentität. Denn die Mehrheit der deutschen Bevölkerung orientiert sich nach wie vor am „Leitbild einer angeblich homogenen endogenen Kultur“. (OBERNDÖRFER, S. 42) Doch dieses ist trügerisch, da die westlichen Industriegesellschaften – selbst wenn Ethnien unberücksichtigt blieben - derart stark ausdifferenziert sind und einen kulturellen Pluralismus aufweisen, der die Definition einer einheitlichen „Mehrheits-Kultur“ unmöglich macht. Das „große Ganze“ setzt sich zusammen aus zahlreichen Teilkulturen und Milieus mit eigenen Werthaltungen und Verhaltensweisen, deren Uneinheitlichkeit eine bruchlose Kommunikation verhindert. Die Kulturen der eingewanderten Minderheiten sind überdies ebensowenig geschlossen und einheitlich wie die der einheimischen Bevölkerung. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 28)

Hinzu kommt, dass die Kultur eines Volkes – also seine Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen im weitesten Sinne - nicht als statisch und normiert angesehen werden kann, sondern der stetigen Veränderung unterliegt. „Kultur entwickelt sich nicht im luftleeren Raum, sondern stets durch Begegnung, Rezeption und Konflikt.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 28) Mithin sind auch die Zuwanderer Mitgestalter und Träger dieser Kultur. So wird beispielsweise der Islam noch mehr als bisher Bestandteil der deutschen Kultur, wenn die Zahl muslimischer Bürger weiter zunimmt. Und allen Bürgern steht das Grundrecht auf kulturelle Freiheit zu - unberücksichtigt ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung. Die Grenzen dieser Freiheit

Die Kultur eines Landes entwickelt sich aus der Kultur seiner Bürger

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werden durch die Verfassung und die Rechtsprechung festgelegt. (OBERNDÖRFER, S. 38, 39)

Doch die alltäglichen interkulturellen Kontakte sind zumeist von Unwissenheit, Ängsten und Vorurteilen geprägt – dies gilt für beide Seiten gleichermaßen. OBERNDÖRFER fordert deshalb die Aneignung von kultureller Toleranz. Sie sei das Fundament des modernen Verfassungsstaates und die Voraussetzung für den von ihm geschützten kulturellen Pluralismus. Vorurteile zwischen den christlichen Konfessionen und gegen fremde Religionen und Kulturen würden heute im säkularisierten Teil der Gesellschaft weitaus tiefer sitzen als innerhalb der christlichen Kirchen selbst. (OBERNDÖRFER, S. 42)

Wer Toleranz fordert, muss erst einmal Ängste abbauen und Akzeptanz fördern. Bei der einheimischen Bevölkerung ist Aufklärungsarbeit dahingehend zu leisten, dass die verstärkte Zuwanderung in Zukunft aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen unabdingbar und damit im eigenen Interesse eines jeden Bürgers ist. Zudem müssen möglichst stabile soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Zuwanderer nicht als Bedrohung wahrgenommen werden. (OBERNDÖRFER, S. 42) Denn der Kampf um Arbeitsplätze, Wohnraum und Leistungen des Sozialstaates ist bestimmt von Konkurrenzdenken und Verdrängungsängsten, die einen von Respekt und gegenseitigem Interesse getragenen interkulturellen Dialog blockieren.

Toleranz bildet das Fundament des modernen Verfassungsstaates

Am Anfang steht die Angstbewältigung

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Laut einer Untersuchung der „Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ nehmen rund 18 Prozent der Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland eine „sehr negative Haltung gegenüber Minderheitengruppen“ ein. Im Bericht der Zuwanderungs-kommission wird weiter ausgeführt, dass 1996 fast die Hälfte der Ostdeutschen forderte, den Zuzug von Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten zu unterbinden. In den alten Bundesländern vertrat etwa ein Drittel der Bevölkerung diese Meinung. Zu bestimmten Einbürgerungsbedingungen befragt, hielten knapp 60 Prozent der Deutschen die deutsche Abstammung und die Geburt in Deutschland für wichtig. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN)

Bei der Betrachtung und Beurteilung dieser Umfrageergebnisse muss berücksichtigt werden, dass die allgemeine Stimmungslage gerade beim Thema Zuwanderung stark von konjunkturellen Schwankungen und Wahlkampfauseinandersetzungen abhängig ist. Dennoch ist festzustellen, dass das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik momentan noch in allzu großem Widerspruch steht zum langsam aufkeimenden neuen Selbstverständnis als Einwanderungsnation. Sollen sich Ausgrenzungs- und Rückzugstendenzen in Zukunft nicht noch verschärfen, müssen Voraussetzungen geschaffen werden, die die Verständigung – auch zur Konfliktaustragung – zwischen Einheimischen und Migranten möglich machen und fördern.

INTEGRATION ALS ZUKUNFTSAUFGABE

60 Prozent der Bundesbürger halten die deutsche Abstammung für ein wichtiges Einbürgerungskriterium

Eisiges Klima

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Eine Schlüsselrolle in der Gestaltung des Zusammenlebens spielt die Integration. Laut DUDEN ist darunter Vervollständigung, Eingliederung und Vereinigung zu verstehen. (DROSDOWSKI, S. 362) In einer Gesellschaft, die das Thema Integration mit multikulturellen Vorzeichen versieht, zielt die Eingliederung von Zuwanderern auf die gleichberechtigte Teilhabe am ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Leben ab und damit letztendlich auf eine Identifikation der Zuwanderer mit ihrer neuen Heimat. WELT setzt für die Integration voraus, dass sich die Aufnahmegesellschaft für die kulturellen Wurzeln der Migranten interessiert und im Sinne einer offenen Gesellschaft bereit ist, sich damit auseinander zu setzen. (WELT, S. 34) Hinsichtlich der deutschen Verfassung kann sich die Eingliederung nur auf eine politische Integration beziehen, die nicht mit kultureller Assimilation verwechselt werden darf. (OBERNDÖRFER, S. 39) Integration erfolgt in erster Linie über die Eingliederung in das Bildungswesen, den Arbeitsmarkt und die zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaft. Das Durchlaufen der Bildungseinrichtungen ist laut ESSER notwendige Bedingung, um einen adäquaten Platz in der Gesellschaft zu finden. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 14) Darüber hinaus sollen integrationspolitische Maßnahmen sowohl ausländische Minderheiten wie die deutsche Mehrheitsbevölkerung dazu

Integration setzt auf Gleichberechtigung – auch im kulturellen Leben

Abb. 12: Ziel der Integration ist die gleichberechtigte Teilhabe von Zuwanderern am ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Leben.

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befähigen, Konflikte zu vermeiden und eine kulturübergreifende Verständigung zu praktizieren. (JOHN, S. 27)

Der Eingliederungsprozess ist mit seinen wirtschaftlichen, sprachlichen, sozialen, psychischen und kulturellen Aspekten so komplex, dass er selbst bei günstigen Rahmenbedingungen viele Jahre andauert und zum Teil mehrere Generationen benötigt. Unter den Bedingungen einer industrialisierten, säkularisierten und individualisierten Mehrheitsgesellschaft ist jedoch langfristig eine weitgehende Assimilierung der Einwanderer zwangsläufig. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 53) Integrationsmaßnahmen im Sinne des Multikulturalismus sind darauf ausgerichtet, sanfte Übergänge zwischen der ersten und den folgenden Einwanderergenerationen zu schaffen. Auf Dauer verhilft aber nur eine weitgehende Anpassung an die vorherrschenden Lebensformen und Verhaltensnormen – insbesondere der Landessprache – zu wirklicher Gleichberechtigung und Chancengleichheit. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 29)

Integration ist ein Prozess, der nur gelingen kann, wenn sich alle Beteiligten aktiv daran beteiligen. Einwanderer müssen bereit sein, sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache anzueignen, sich zu Verfassung und Verfassungstreue zu bekennen sowie gewachsene kulturelle und historische Tatbestände der Aufnahmegesellschaft zu akzeptieren. Diese wiederum muss Angebote an die Zuwanderer machen, administrative Voraussetzungen schaffen und Instrumentarien bereitstellen und dadurch Strukturen errichten, die es den

Der Eingliederungsprozess zieht sich über Generationen hin

Auf die aktive Mitarbeit aller Beteiligten kommt es an

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Zuwanderern möglich machen, in Deutschland gleichberechtigt zu leben. (WENDT, S. 19, 20) Je ernster Fremde mit ihren besonderen Schwierigkeiten und Nöten genommen werden, desto größer ist die Chance für ihre Integration. Dies fängt bei einer Neuordnung der Erzieherausbildung an, erstreckt sich über alle Lebensbereiche bis hin zur Ausweisung von Grabfeldern für nichtchristliche Bestattungen. (JOHN, S. 28)

Im Gegensatz zu den „klassischen Einwanderungsländern“ wurde es in Deutschland lange versäumt, die Akzeptanz der Einheimischen gegenüber Zuwanderern zu fördern. Gastronomie und Kunst konnten zwar Akzente setzen, darüber hinaus bestand allerdings wenig Bereitschaft, das kulturelle Erbe der Migranten auch als befruchtendes Element für die eigene Kultur anzuerkennen. (WELT, S. 34) Eingliederung kann jedoch nur gelingen, wenn die Mehrheit die neu gewachsene gesellschaftliche Wirklichkeit akzeptiert und respektiert, dass Menschen andere Sichtweisen haben, einen anderen Lebensstil, eine andere Religion oder andere kulturelle Traditionen. Diesen Lernprozess müssen Einheimische wie Migranten in gleicher Weise durchlaufen, um Respekt und Verständnis für den jeweils anderen zu entwickeln und um zu erkennen, dass sich Menschen nicht über einen Kamm scheren lassen. (HÄUẞERMANN, S. 31)

Mangel an Respekt und Akzeptanz

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Soziale Distanz und Vorurteile wirken sich sehr negativ auf die

Integrationsbereitschaft aus. Anhaltende Diskriminierungen können den Prozess völlig zum Erliegen bringen. Dies gilt in besonderem Maße für Migranten in der zweiten und dritten Generation, die ein anderes Selbstverständnis über die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft besitzen als beispielsweise ihre Eltern, die vielfach noch den Gedanken an eine Rückkehr in sich trugen und zudem weniger Kontakte zu Einheimischen unterhielten. Junge Ausländer reagieren sensibler auf Ungleichbehandlung und stellen höhere Ansprüche an Akzeptanz und Toleranz in dem Land, das für sie eigentlich genauso Heimat sein sollte wie für Deutsche. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Werden diese auf Dauer nicht erfüllt, so kann dies einen Rückzug aus der Aufnahmegesellschaft zur Folge haben.

Laut ESSER besteht in multikulturellen Gesellschaften die Tendenz, dass zahlenmäßig große Gruppen von Migranten ethnische Gemeinden bilden, in denen dann hauptsächlich die sozialen Kontakte erfolgen und die täglichen Angelegenheiten erledigt werden. Im Extremfall entwickeln sich diese zu eigenständigen Subgesellschaften, die Konflikttendenzen

Wer nicht toleriert wird, zieht sich zurück

Abb. 13 + 14: Kultureller Pluralismus – für viele Deutsche ist dies allenfalls im kuli-narischen Bereich willkommen.

Gefahr der Gettoisierung

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verstärken können. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 14) Angesichts der unvermeidlichen massiven Zuwanderung in Zukunft und ihrer Konzentration in den städtischen Ballungsräumen warnt OBERNDÖRFER davor, dass sich die bereits heute spürbaren Probleme mit Gettoisierung und Helotisierung der zweiten und dritten Generation noch verschärfen werden. (OBERNDÖRFER, S. 41)

Die negativen Auswirkungen von Separation und Abschottung sind vor allem in den Ballungsgebieten deutlich erkennbar: Konzentration ethnischer Milieus in bestimmten Stadtteilen, Berichte über die zurückgehende Kompetenz und Bereitschaft, die deutsche Sprache zu sprechen oder zu erlernen, erhöhter Anteil von Ausländern und Aussiedlern unter Arbeitslosen und Sozialhilfempfängern, Ausgrenzungen und Stigmatisierungen. Es besteht die Gefahr, dass sich aus dieser Ausgrenzung und verringerten Chancengleichheit, aus diesem Nebeneinander ein Gegeneinander entwickelt, das gerade in den Ballungsgebieten mit ihren schwierigen sozialen Rahmenbedingungen verheerende Folgen haben kann. (WELT, S. 33) Türkische Jugendbanden, die unter Waffengewalt ganze Straßenzüge unter ihre Kontrolle zu bringen versuchen, geben dafür ebenso ein erschreckendes Beispiel ab wie durch Skinhaeds zu Tode geprügelte Asylbewerber.

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Das Phänomen der freiwilligen Selbstausgrenzung muss jedoch auch noch von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet werden. Räumliche Segregation geht nicht zwangsläufig einher mit sozialer Absonderung von der Aufnahmegesellschaft. Ethnische Kolonien bieten gerade für Zuwanderer in der ersten Generation vertraute soziale Beziehungen und Stabilisierung in den verunsichernden Erfahrungen der Migration. Die Entstehung von „Ausländer-Vierteln“ ist eine weltweit zu beobachtende Reaktion auf die spezifischen Bedürfnisse von Migranten in einer Minderheitensituation. Wenn eine ethnische Gemeinde diese Außenseitersituation nicht längerfristig festigt und damit Differenzen verstärkt, kann sie durchaus als notwendige Zwischen-phase auf dem Weg zur Integration betrachtet werden. (CYPRIAN, S. 440)

Solange ethnische Kolonien die individuelle Integration des Einzelnen nicht verhindern, sich nach außen abschotten oder sich zu Brutstätten von politischem oder religiösem Extremismus entwickeln, sind sie durchaus positiv zu bewerten. Hinzu kommt, dass sich Zuwanderer in solchen Stadtvierteln meist in eigenen Vereinen und Gruppen organisieren. Dies

Ethnische Kolonien sind ein weltweites Phänomen...

Abb. 15: Gettos - die Folge von Separation und Abschottung.

...und können sich sogar vorteilhaft auf den Integrationsprozess auswirken

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beinhaltet zwar wiederum eine Selbstausgrenzung, ermöglicht es aber andererseits, die eigenen Interessen zu artikulieren, politischen Druck auszuüben, Bedürfnisse durchzusetzen und so die Außenseiterposition allmählich abzubauen. Außerdem bilden diese Vereine und Organisationen wichtige Ansprechpartner und Verbindungsglieder für die praktische Integrationsarbeit. (CYPRIAN, S. 442)

Wie bereits mehrfach festgestellt, bildet die Integration von Zuwanderern eine tragende Säule in der Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens in einer multiethnischen Gesellschaft. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, muss Integration als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden. Die bisherige Praxis, dass Ausländerpolitik und Integration als Randgruppenarbeit verstanden wird, die von Sozialorganisationen und Ausländerbeiräten zu bewältigen ist, kann den Erfordernissen der Zukunft nicht gerecht werden. Staatliche und nichtstaatliche Organisationen dürfen nicht isoliert voneinander wirken, sondern müssen ihre Arbeit untereinander abstimmen und vernetzen. Die Bevölkerung Deutschlands – Einheimische wie Migranten – ist unbedingt miteinzubeziehen. WELT sieht in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die nahezu alle Politikbereiche – angefangen von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bis hin zur Städtebaupolitik – miteinbezieht. Bund, Länder und Kommunen hätten demnach einen Konsens für ein gesamtstaatliches Konzept zu entwickeln. Der Schwerpunkt der Integrations- und Akzeptanzarbeit liegt jedoch zweifelsfrei bei den Städten und Gemeinden, die durch eine abgestimmte Politik von Bund und Land zu unterstützen sind. (WELT, S. 34, 35)

Auf die Zusammenarbeit kommt es an

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HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN AUF KOMMUNALER EBENE

Integration geschieht nicht in den Sitzungssälen der Bundesregierung oder der Länderparlamente, Integration passiert in den Städten. Hier wird gewohnt und gearbeitet, hier treffen Menschen unterschiedlichster Herkunft und sozialen Ranges aufeinander, hier entstehen Konflikte und hier müssen Lösungen für ein friedvolles Zusammenleben gefunden werden. Im Zuge der Landflucht am Beginn des 20. Jahrhunderts und der großen Bevölkerungsbewegungen am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die Städte als Integrationsmaschinen erwiesen. Enorme Mengen an Zuwanderern sind in die Stadtgesellschaft integriert worden. Laut HÄUẞERMANN haben sich unter sozialstaatlichen Bedingungen relativ homogene Stadtgesellschaften entwickelt (im Vergleich zur Stadtentwicklung in den USA). Tiefgreifende Spaltungen und Fragmentierungen konnten soweit abgemildert werden, dass alle einigermaßen gut damit leben konnten. (HÄUẞERMANN, S. 33)

Dass dies gelingen konnte, lag unter anderem an der Struktur und Funktionsweise von Stadtgesellschaften. Denn der Prototyp des Städters ist der Fremde. Erst durch Zuwanderung können Städte entstehen und nur durch Zuwanderung aus dem Ausland werden sie vor dem Schrumpfen bewahrt. Für eine Stadt sind Fremde und der Umgang mit Fremdheit demnach selbstverständlich. Nach CYPRIAN sind soziale Differenzen für eine Stadt konstitutiv – neben Merkmalen wie Größe, Dichte der Bebauung, funktionale Arbeitsteilung und ihre Heterogenität. Das Gefühl von Urbanität wird durch die wahrgenommene und

Die Stadt als Integrationsmaschine

Der Prototyp des Städters ist der Fremde

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akzeptierte Unterschiedlichkeit der Bewohner vermittelt. Die Selbstverständlichkeit des Fremden unterscheidet die Stadt vom Dorf. Der alltägliche Umgang miteinander wird beherrscht von einer „lässigen Toleranz“ bzw. einer Gleichgültigkeit, die es dem Einzelnen möglich macht, weigehend nach seinem eigenen Entwurf zu leben. Doch diese urbane Haltung ist nicht voraussetzungslos. Der Differenz muß nach CYPRIAN ein notwendiges Maß an sozialer Integration gegenüberstehen. Und Integration beruht wiederum auf handfesten ökonomischen Bedingungen, auf wirtschaftlichen Wachstum, einem aufnahmefähigen, funktionierenden Arbeitsmarkt und einem haltbaren Netz sozialer Absicherung. (CYPRIAN, S. 433, 434)

Doch zu Beginn des 21. Jahrhundert scheint das natürliche Integrationspotential vieler Städte erschöpft. Der Anteil der als deutsche Staatsbürger Geborenen nimmt ständig ab, die Gruppe der Zuwanderer wächst hingegen noch leicht an und wird immer heterogener. Eine noch relativ junge Erscheinungsform sind die Pendler-Migranten, die im Tages-, Wochen-, Monats- oder Saisonrhythmus die Grenzen überschreiten und an einer Eingliederung nicht interessiert sind. Andererseits nimmt die Zahl der Arbeitsplätze in der Produktion stetig ab, was durch den langsamen Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft nicht kompensiert werden kann. Besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind die oftmals geringer qualifizierten Zuwanderer. Dies trägt zu einer zunehmenden sozialen Spaltung innerhalb der Städte bei. Eine Unterteilung zwischen gut Verdienenden mit sicheren Arbeitsplätzen und einen wachsenden Teil von schlecht

Wenn sich die ökonomischen Bedingungen verschlechtern, kommt es zu einer sozialen Spaltung

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Verdienenden mit wechselhaften und unsicheren Beschäftigungsmöglichkeiten ist die Folge. In den Großstädten wächst das Risiko, dass diese Spaltung wiederum zu räumlicher Segregation und Gegensätzen führt – als Folge des freien Wohnungsmarktes, der sich an ökonomischen Gesichtspunkten orientiert, nicht an sozialen. Die schlechten Arbeitsmarktchancen und die hohe Sozialhilfebedürftigkeit unter den Migranten stellt für viele Städte eine große finanzielle Belastung dar und schürt darüber hinaus soziale Probleme. (CYPRIAN, S. 435, 436)

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Als Folge des wachsenden Konkurrenzdruckes und der vielfältigen Ausschließungsprozesse in ökonomischer und sozialer Hinsicht haben sich die Städte für viele Menschen – Ausländer wie Einheimische – vom Ort der toleranten Indifferenz zu Orten der alltäglichen Bedrohung entwickelt. (CYPRIAN, S. 436) Angesichts der nachlassenden Integrationsfähigkeit der Städte ist der aktiven Integrationsarbeit vor Ort deshalb enorme Bedeutung beizumessen. Großstädte wie Frankfurt am Main und Berlin

Aktive Integrationsarbeit ist in Zukunft unerlässlich

Abb. 16: Das AmkA in Frankfurt am Main vermittelt zwischen Zuwanderern und Behörden – auch in Bestattungsfragen.

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haben dies bereits vor Jahren erkannt und entsprechende Maßnahmen in die Wege geleitet. Als prominentes Beispiel für multikulturelle Konzepte auf städtischer Ebene ist Frankfurt zu nennen. Das seit 1989 bestehende Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) setzt dabei vor allem auf eine Politik der Vermittlung und des Dialogs. In Form eines Ausländerbeirates wurde ein beratendes Gremium für Ausländer geschaffen. Innerhalb der Stadtverwaltung vertritt das AmkA die Belange der Migranten und bei Konflikten interveniert es als Schlichtungsinstanz. (MAHNIG, S. 179)

Institutionen wie das AmkA können sehr wertvolle Beiträge für eine erfolgreiche Umsetzung von integrationspolitischen Grundsätzen und Vorhaben leisten. Denn sie bilden das Bindeglied zwischen Bürger und Verwaltung, zwischen Einheimischen und Zuwanderern, zwischen Theorie und Praxis. Wird Integrationsarbeit als Querschnittsaufgabe verstanden, die staatliche und nichtstaatliche Organisationen Hand in Hand angehen, so können hier die Fäden des Netzwerkes zusammenlaufen. Entscheidend für das Gelingen der Bemühungen ist die Förderung des interkulturellen Dialoges, durch den erst Verständnis und Akzeptanz für die Belange des jeweils anderen erzeugt werden können.

Und dies gilt für das öffentliche Leben genauso wie für den Privatbereich. Kommunikation ist ein entscheidendes Element im Integrationsprozess. Erst durch direkte Annäherung lassen sich Distanzen zwischen Menschen abbauen. Nach ESSER stellt sich für die aufnehmende Gesellschaft die Aufgabe, Gelegenheiten für alltägliche interethnische Kontakte zu bieten.

Bindeglieder für den interkulturellen Dialog

Kommunikation und zwischenmenschliche Kontakte schaffen Nähe

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(MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 14) Ein weiteres wichtiges Kriterium für die Schaffung von günstigen Integrationsbedingungen ist das Vorhandensein von langfristigen Perspektiven für Zuwanderer. Denn nur dann werden sie sich mit ihrer neuen Heimat identifizieren. (OBERNDÖRFER, S. 26) Doch wie und wo lassen sich solche Bedingungen herstellen?

Wird Integration als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe verstanden, so muss in allen Bereichen des öffentlichen Lebens nach Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Aufgabe gesucht werden. Eine Konzentration auf den Sektor „Soziales“ ist bei weitem nicht ausreichend. Mithin stehen auch die Grünflächen- bzw. Friedhofsämter sowie die Landschaftsarchitekten in der Pflicht, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu werden und entsprechend zu agieren. Gerade auf dem Gebiet der Friedhofsplanung besteht ein enormes Potential an Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die es weiter als bisher zu erschließen und zu nutzen gilt.

Städtische Friedhöfe dienen schon lange nicht mehr einzig der Bestattung der Toten. Sie haben eine ganze Palette von Funktionen zu erfüllen. Die großen zentralen Begräbnisstätten wie auch kleinere Stadtteilfriedhöfe bilden ein tragendes Element der Grünstrukturen in den Städten. Menschen besuchen diese Orte nicht nur, um den Verstorbenen zu gedenken, sondern auch, um dort spazieren zu gehen und sich zu erholen. Unter dem Gesichtspunkt der Integration betrachtet, spielt die Sozialfunktion des Friedhofs eine

Die Friedhofsplanung bietet ein enormes Potential an Handlungs- und Gestaltungsmöglich-keiten

Weitaus mehr als „nur“ Bestattungraum

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entscheidende Rolle. Hier treffen Menschen aufeinander, werden über mehr oder minder zufällig zustande kommende Kommunikation Kontakte geknüpft.

Darüber hinaus sollten Friedhöfe auch aufgrund ihrer Funktion als Kulturraum in das weitgespannte Netz von integrativen Maßnahmen miteingebunden werden. Denn in den Bestattungsräumen treten die kulturellen Eigenheiten von Menschen am deutlichsten zu Tage. In der Art und Weise, wie Gräber und Grabfelder angelegt und wie Trauerrituale durchgeführt werden, wie man sich auf den Friedhöfen verhält und wie man diese gestaltet, legen Menschen Zeugnis ab über ihre Herkunft, ihre Normen und Überzeugungen, ihre Werte und Einstellungen – kurzum: über ihre Kultur.Wie bereits unter dem Punkt „Bewusstseinswandel in der Gesellschaft“ festgestellt, lässt sich für eine moderne Gesellschaft keine einheitliche Kultur definieren. Dies gilt auch für die Friedhofskultur. Altersbedingte, berufsbedingte, ethnische Subkulturen, Alternativkulturen und neue soziale Bewegungen haben ihre ganz individuelle Sinngebung im Hinblick auf Tod und Sterben, durch die sie sich von der dominierenden Kultur abheben. Auch wenn sich diese neuen Orientierungen oftmals noch in keinem formalen Rahmen manifestiert haben, so wollen sie künftig in den Beisetzungsräumen Berücksichtigung finden. (RICHTER/NOHL, 2001, S. 41) Der Friedhof kann mithin als Spiegelbild der Gesellschaft verstanden werden. Auf engstem Raum stehen sich hier die unterschiedlichsten Interessen und Weltanschauungen gegenüber – ein kultureller Mikrokosmos innerhalb des großen

Im Umgang mit ihren Toten legen Menschen Zeugnis ab über ihre Kultur

Vielfalt statt Einheit

Ein Mikrokosmos im Stadtkörper

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Stadtkörpers, der trotz seiner besonderen Bestimmung niemals über Differenzen und Auseinandersetzungen erhaben sein wird. Derart komprimiert und komplex bietet der Friedhof wie kaum ein anderer Ort Möglichkeiten, interkulturelle Distanzen abzubauen, Verständnis zu fördern und Lösungen für Konflikte zu finden. Die künftige Gestaltung von Beisetzungsräumen ist Chance und Herausforderung zugleich, die von allen am Bestattungswesen Beteiligten wahrgenommen werden sollte, um das Zusammenleben über den Tod hinaus aktiv mitzugestalten.