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1. Wort- und Sacherklärungen Die folgenden Wort- und Sacherklärungen beziehen sich auf die Ausgabe: Friedrich Dürrenmatt, »Romulus der Große. Eine ungeschichtliche Komödie in vier Akten. Neufassung 1980«, Zürich: Diogenes Verlag, 1980 (Werkausgabe in drei- ßig Bänden, Bd. 2; Diogenes Taschenbuch, 20832; hier ab- gekürzt: WA), die einen seitengleichen Nachdruck von Bd. 2 der »Werkausgabe« Dürrenmatts im Verlag der Arche, Zürich 1980, darstellt. Um die Benutzung der vorliegenden Erläuterungen in Verbindung mit anderen Ausgaben zu erleichtern, wurden Dürrenmatts dort mit abgedruckte »Anmerkungen« sowie seine »Zehn Paragraphen zu >Romu- lus der Große«( hier ebenfalls aufgenommen (s. Kap. V,1). Motto Differentialrechnung: Teilgebiet der Mathematik, der Ana- lysis, deren Hauptmethode die Untersuchung von Grenzwerten ist. Die Differentialrechnung bemüht sich um die präzise Fassung der intuitiven Vorstellungen über die Änderung einer mathematischen Funktion in einem Punkt. witzigen: geistreichen, einfallsreichen; in dieser Bedeutung seit Beginn des 18. Jh.s. In dessen Verlauf nimmt witzig die Bedeutung von >scherzhaft( an, die im 19. Jh. in den Vordergrund tritt. Lichtenberg: Georg Christoph L. (1742-99), Vertreter der deutschen Aufklärung; Professor für Physik in Göttin- gen und Schriftsteller, der sich besonders mit seinen geistreichen Aphorismen einen Namen machte. In ihnen veranschaulichte er komplexe Gedanken in knappster Form. Der hier als Motto vorangestellte Aphorismus stammt aus dem ersten, zwischen 1765 und 1770 ent- standenen sog. »Sudelbuch« Lichtenbergs.

Erläuterungen und Dokumente Friedrich Dürrenmatt Romulus der Große low

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1. Wort- und Sacherklärungen

Die folgenden Wort- und Sacherklärungen beziehen sich auf die Ausgabe: Friedrich Dürrenmatt, »Romulus der Große. Eine ungeschichtliche Komödie in vier Akten. Neufassung 1980«, Zürich: Diogenes Verlag, 1980 (Werkausgabe in drei­ßig Bänden, Bd. 2; Diogenes Taschenbuch, 20832; hier ab­gekürzt: WA), die einen seitengleichen Nachdruck von Bd. 2 der »Werkausgabe« Dürrenmatts im Verlag der Arche, Zürich 1980, darstellt. Um die Benutzung der vorliegenden Erläuterungen in Verbindung mit anderen Ausgaben zu erleichtern, wurden Dürrenmatts dort mit abgedruckte »Anmerkungen« sowie seine »Zehn Paragraphen zu >Romu­lus der Große«( hier ebenfalls aufgenommen (s. Kap. V,1).

Motto

Differentialrechnung: Teilgebiet der Mathematik, der Ana­lysis, deren Hauptmethode die Untersuchung von Grenzwerten ist. Die Differentialrechnung bemüht sich um die präzise Fassung der intuitiven Vorstellungen über die Änderung einer mathematischen Funktion in einem Punkt.

witzigen: geistreichen, einfallsreichen; in dieser Bedeutung seit Beginn des 18. Jh.s. In dessen Verlauf nimmt witzig die Bedeutung von >scherzhaft( an, die im 19. Jh. in den Vordergrund tritt.

Lichtenberg: Georg Christoph L. (1742-99), Vertreter der deutschen Aufklärung; Professor für Physik in Göttin­gen und Schriftsteller, der sich besonders mit seinen geistreichen Aphorismen einen Namen machte. In ihnen veranschaulichte er komplexe Gedanken in knappster Form. Der hier als Motto vorangestellte Aphorismus stammt aus dem ersten, zwischen 1765 und 1770 ent­standenen sog. »Sudelbuch« Lichtenbergs.

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6 I. Wort- und Sacherklärungen

Personen

Romulus Augustus: geb. um 460; am 31. Oktober 475 von seinem Vater, dem Heerführer Orestes, als weströmi­scher Gegenkaiser gegen den von Ostrom anerkannten Julius Nepos (reg. 474-475) eingesetzt. Nach der Er­mordung seines Vaters, der für den unmündigen Romu­lus regierte, wurde dieser am 28. August 476 von dem germanischen Heerführer Odoaker abgesetzt. Odoaker wies ihm die berühmte Villa des Lukull in Kampanien und eine Pension zu. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Den spottenden Beinamen »Augustu­lus«, >Kaiserlein<, erhielt er erst nach seinem Sturz. Vgl. Kap. 11.

Westrom/Ostrom: Der römische Kaiser Theodosius d. Gr. (reg. 379-395) bestimmte als Nachfolger seine Söhne Arkadios für den Osten und Honorius für den Westen. Sein Tod markiert damit die Teilung des römischen Rei­ches in ein west- und ein oströmisches (Teil-)Reich.

Julia: Dass der junge Romulus verheiratet war, ist histo­risch nicht belegt. In der Namengebung Anspielung auf Shakespeares Liebespaar Romeo (vgl. »Romulus«) und Julia.

Zeno der Isaurier: Kaiser des oströmischen Reiches 474-491, der aus der Landschaft Isaurien im Taurus-Gebirge in Kleinasien stammte. Er wurde 475 durch den Gegen­kaiser Basiliskos, den Bruder seiner Schwiegermutter Verina, vertrieben, doch gelang es ihm 477 mit ostgoti­scher Hilfe, sich wieder in Besih seiner Herrschaft zu setzen. Er beförderte 488 den Abzug der Ostgoten aus Pan nonien (der römischen Donauprovinz) unter Theo­derich und beauftragte sie mit der Eroberung von Ita­lien. Während seines kurzen Exils hielt er sich in Isau­rien auf, nicht in Italien. V gl. Kap. 11.

Patrizier: Die »patricii« waren in Roms Frühzeit die An­gehörigen des Geburtsadels, dann auch Mitglieder der

l. Wort- und Sacherklärungen 7

vornehmsten plebejischen Geschlechter; aus ihnen re­krutierten sich die führenden Beamten, Priester und Se­natoren. Seit Konstantin d. Gr. (reg. 306-337) war »pa­tricius« auch ein persönlicher, auf Lebenszeit verliehener Ehrentitel.

Mares: Zusammenziehung der Namen von Mars, dem rö­mischen, und Ares, dem griechischen Kriegsgott.

Tullius Rotundus: von lat. »rotundus« >rund<; also etwa >Tullius der Dicke<.

Spurius Titus Mamma: von lat. »mamma« >Brust, Euter<; Anklänge an »Memme«.

Reiterpräfekt: Befehlshaber der Reiterei. »Praefectus« (eigt!. >Vorgesetzter<) war in der römischen Kaiserzeit ein häufiger Amtstitel, besonders für die aus dem Ritter­stand stammenden hohen kaiserlichen Beamten.

Achilles: in Homers »Ilias« Name des tapfersten der grie­chischen Helden vor Troja.

Pyramus: Name des männlichen Helden in der Sage von einem babylonischen Liebespaar, »Pyramus und This­be«, die Ovid im 4. Buch seiner »Metamorphosen« er­zählt.

Cäsar Rupf groteske römisch-deutsche Namenkombina­tion aus »Caesar« >Kaiser< und »Rupf«, von »rupfen« >übervorteilen, jemanden um sein Geld bringen<.

Odoaker: germanischer Heerführer aus dem Volk der Ski­ren; Mitglied der · kaiserlichen Leibwache in Ravenna; lebte von 433 bis 493. Als die germanischen Söldner in Italien Ansiedlung forderten, wurde er von ihnen 476 zum König ausgerufen. Er setzte den letzten weströmi­schen Kaiser Romulus Augustus ab, wurde aber von dem oströmischen Kaiser Zeno nur zögernd anerkannt. Er wurde von den Ostgoten unter Theoderich wieder­holt geschlagen (489 und 490) und schließlich bei Ra­venna eingeschlossen. Nach zweieinhalbjähriger Belage­rung übergab er am 5. März 493 die Stadt unter der Be­dingung, dass beide Könige gemeinsam über Italien

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8 I. Wort- und Sacherklärungen

herrschen sollten, wurde aber nach zehn Tagen von Theoderich eigenhändig ermordet. V gl. Kap. 11.

Theoderich: ostgotischer König; lebte von 471 bis 526. Nachdem Theoderich d. Gr. zunächst gegen Ostrom ge­kämpft hatte, zog er 488 mit seinem Volk im Auftrag des oströmischen Kaisers Zeno von Pannonien nach Ita­lien, wo er Odoaker besiegte und im Jahre 493 eigen­händig ermordete (vgl. S.7, Anm. zu Odoaker). Als Stellvertreter des oströmischen Kaisers und als König der Ostgoten herrschte er von 493 bis 526 über Italien (mit Sizilien), Dalmatien und einen Teil Pannoniens. Vgl. Kap. 11.

sein Neffe: Mit dem historischen Odoaker war Theoderich nicht verwandt.

Phosphoridos/Sulphurides: von »Phosphor« und Jat. »sul­phur« >Schwefel<; in beiden Namen also Hinweis auf den unangenehmen Charakter ihrer Träger.

Zeit: Vom Morgen des 15. bis zum Morgen des 16. März: vgl. S. 9, Anm. zu Iden des März.

vierhundertsechsundsiebzig: Mit der Absetzung des letz­ten weströmischen Kaisers Romulus Augustus durch Odoaker markiert das Jahr 476 das Ende des Römischen Reiches, damit für viele Schulhistoriker gleichzeitig das Ende der Antike und den Beginn des Mittelalters. Vgl. auch S. 26.

Campanien: Kampanien, ital. »Campania«: historische Landschaft in Italien (südlich von Rom), die die Provin­zen Avellino, Benevent, Caserta, Neapel und Salerno umfasst.

Erster Akt

Imperatoren: »Imperator« (eigtl. >Gebieter<, >Herrscher<) war der römische Titel für Feldherren und seit Augustus (63 v. - 14 n. Chr.) Bestandteil des Namens der römi­schen Kaiser.

/. Wort- und Sacherklärungen 9

Pavia: Stadt in Norditalien am Zusammenfluss von Ticino und Po.

Purpurtoga: eines der Insignien des römischen Kaisers. Die Toga war das nationale altrömische Obergewand (iiber dem Untergewand, der Tunika), das nur römische Bürger tragen durften. Die gewöhnliche Toga war weiß, die der Knaben, aber auch der Priester und höheren Be­amten hatte purpurne Besatzstreifen, während die Pur­purtoga zur Triumphaltracht gehörte.

Lorbeerkranz: seit dem klassischen Altertum Symbol des Sieges und des Ruhms. Herrscher, Feldherren, Künstler und Sportler wurden mit Lorbeer bekränzt.

Salve Cäsar: »Salve Caesar«; lateinischer Gruß: »Sei ge­grüßt, sei willkommen, Caesar (Kaiser)«.

Iden des März ... Ein historisches Datum: »Idus« war nor­malerweise der 13. Tag eines Monats, im März, Mai, Juli und Oktober jedoch der 15. An den Iden des März (15. März) des Jahres 44 v. Chr. war Julius Cäsar ermor­det worden.

Prokurist: Bevollmächtigter, Angestellter eines Betriebs mit dem Recht, den Geschäftsinhaber in allen Arten von Rechtsgeschäften und -handlungen zu vertreten.

Syrakus: Stadt im Südosten Siziliens. Sesterzen: Der >~sestertius« war eine altrömische Silber­

münze (etwa 17 Pfennig). Morgenessen/Frühstück: Wortspiel des Schweizers Dür­

renmatt: In der deutschen Schweiz sagt man »Morgenes­sen«.

Spargelwein »wurde aus Spargelwurzeln gewonnen« (Dür­renmatt, »Zehn Paragraphen zu >Romulus der Große<<<; s. S. 83 f.).

Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich: Anspielung auf den Ausspruch des antisemitischen Wie­ner Bürgermeisters Karl Lueger (1844-1910): »Wer a Jud is, bestimm i«.

Augustus: Beiname des ersten römischen Kaisers, Gaius

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10 I. Wort- und Saeherklärungen

Octavianus, der nach der Ermordung seines Großonkels JuliusCäsar (4~ v. Chr.) als dessen Adoptivsohn und Haupterbe an die Macht kam. Er regierte bis 14 n. Chr.; .27 :. Chr. er~ielt er den Titel »Augustus«.

Ttbenus ClaudlUs Nero, römischer Kaiser 14-37 n. Chr., aus dem Geschlecht der Claudier; Nachfolger seines Stiefvaters Augustus.

Die Julier: altes römisches Patriziergeschlecht, dem Julius Cäsar entstammte; gemeint sind die Kaiser der von ihm begründeten julisch-daudischen Dynastie (31 v. - 68 n. Chr.): Cäsar, Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero.

Di~ FlavJer: altes .römisches Plebejergeschlecht; gemeint smd die ~ur flavlschen Dynastie (69-96 n. Chr.) gehöri­gen römischen Kaiser: Vespasian, Titus und Domitian.

Domitian: Titus Flavius Domitianus, römischer Kaiser 81-96 n. Chr.

Mare Aurel: Marcus Aurelius, römischer Kaiser 161-180 der in fast unaufhörlichen Kriegen das Reich vor de: K~tas~rophe bewahren musste. Seine Philosophie war, wie die Haltung des Romulus im Stück, von der Stoa beeinfl~sst, sein Leben von strenger Selbstbeherrschung und Pflichterfüllung bestimmt.

Orestes: Vater des historischen Romulus, römischer Feld­herr zur Zeit der Dramenhandlung. Aus Pannonien stammend, wurde er Geheimschreiber des Hunnenkö­nigs Attila, ging nach dessen Tod 453 in den Dienst der weströmischen Kaiser, wurde römischer Patrizier und Anführer der »barbarischen« Hilfstruppen. Im Jahre 475 erhob er an Stelle des Julius Nepos seinen Sohn Romulus zum Kaiser. Nach kurzer Zeit stellten ihm seine Truppen aus Unwillen darüber dass sie die erwarteten Ländereien nicht erhalten hatt'en, Odoa­ker .als Führer entgegen, der Orestes zwang, sich nach Pavia zurückzuziehen, und ihn nach Eroberung der Stadt am 28. August 476 enthaupten ließ. Vgl. S.6,

I. Wort- und Sacherklärungen 11

Anm. zu Romulus Augustus, S. 7, Anm. zu Odoaker,

und Kap. 11. Caracalla: römischer Kaiser 211-217. Philippus Arabs: Sohn eines nordarabischen Scheichs; rö-

mischer Kaiser (reg. 244-249). Julius Nepos: römischer Kaiser 474-4~5, Vorgänger des

Romulus. Von dem oströmischen Kaiser Leo d. Gr. als weströmischer Kaiser eingesetzt, wurde er 475 von Orestes, einem seiner Feldherren, abgesetzt. Julius Ne­pos lebte danach im Exil in Dalmatien, wo er 480 ermor­det wurde. Vgl. S. 10, Anm. zu Orestes, und Kap. Il ..

Ritter: Die »equites« (lat. »eques« >Reiter<), ursprünglich die Berittenen des römischen Heeres, waren nach den Senatoren der sog. zweite Stand, seit dem 4. Jh. n. Chr. nur noch eine gehobene Gesellschaftsklasse.

Alexandrien: ägyptische Hafenstadt, im Altertum Welt-stadt; im 5. Jh. zum oströmischenReich. gehörig. .

Konkurs: Zahlungsunfähigkeit, Zahlung~emstellung; Plei­te, Bankrott; von lat. »concursus (credltorum)« >Zusam­menlaufen (der Gläubiger)<.

Imperium: Weltmacht, Weltreich. Cicero: Marcus Tullius C. (106-43 v. Chr.), römischer

Redner, Philosoph und Politiker. . in den germanischen Urwäldern: Der römische ~e­

schichtsschreiber Tacitus (um 55 - nach 116) beschreibt in seiner »Germania« Germanien als ein Land, das aus Wäldern und Sümpfen besteht. V gl. Kap. Ir.

Gallien: in römischer Zeit das Gebiet zwischen Pyrenäen, Alpen, Atlantik und Germanien, dazu ein Teil Oberita-

liens. Hetären: Freudenmädchen, Dirnen (von griech. hULQU

>Gefährtin, Freundin, Geliebte<). Äbius/Äbi: typisch schweizerischer Name, zunächst in ko­

misch wirkender latinisierter Form . . germanophil: eine Vorliebe für alles Germanische, Deut-

sche zeigend.

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12 I. Wort- und Sacherklärungen

Das Klagelied der Antigone: aus der Tragödie »Antigone« des So"phokles (um 496-406 v. Chr.), V. 806 ff.

übe dich in der Komödie: siehe folgende Anm. Wer so aus dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur

:zoch Komödien verstehen: vg1. Dürrenmatts Erklärung 10 den »Theaterproblemen«, dass unserem Zeitalter die Komödie angemessener sei als die Tragödie (s. S. 87-89).

martialisch: kriegerisch, wild, grimmig; von »Mars«, dem Namen des römischen Kriegsgotts.

legitim: rechtmäßig, gesetzlich zulässig, anerkannt. seit die Gänse das Kapitol gerettet haben: Da die Gänse der

Göttin Juno geweiht waren, wurden sie in Rom bei de­ren auf dem Kapitolshügel gelegenen Tempel gehalten. Der Sage nach hatten sie im Jahre 390 v. ehr. durch ihr wachsames Geschnatter das Kapitol vor einem Angriff der Gallier gerettet.

denn das Huhn ... hat drei Eier gelegt ... Übereinstim­mung '" in der Natur: Hier werden wohl die antiken Augurenorakel persifliert, bei denen Priester u. a. aus d~m yerhalten von Hühnern einen günstigen oder un­gunsugen Verlauf bevorstehender Ereignisse herausdeu­teten. Angespielt wird ferner auf den in der antiken Phi­los?phie (Platon) pop,!lären Glauben an eine Analogie zWIschen Mensch (MIkrokosmos, die »kleine Welt«) und Weltall (Makrokosmos, die »große Welt«).

Solange noch eine Ader in uns lebt, gibt keiner nach: Der Ausspruch geht auf Adrian von Bubenberg (um 1431 bis 1479) zurück, der 1476 die schweizerische Stadt Murten e~olgreich gegen Karl den Kühnen von Burgund vertei­dIgte, so dass das eidgenössische Entsatzheer in der

. Feldschlacht bei Murten siegen konnte. Proklamation: Aufruf, öffentliche Bekanntmachung. Legionen: Die Legion war die größte Einheit des römi­

schen Heeres; in der Regel 4000-5000 Mann neben rund 300 Reitern.

Reichsmarschall: Der Titel des (Generalfeld-)Marschalls

I. Wort- und Sacherklärungen 13

bezeichnete seit dem 17. Jahrhundert den höchsten mili­tärischen Rang. Hier der Person nach Anspielung auf Hitlers »Reichsmarschall« Göring, der Situation nach darauf, dass Hitler den Oberbefehlshaber der bei Stalin­grad eingeschlossenen 6. Armee, Friedrich Paulus, 1943 zum Generalfeldmarschall beförderte.

Kommunique: (frz.) amtliche Verlautbarung, (Regie­rungs-)Bekanntmachung.

Ovid: Publius Ovidius Naso (43 v. - um 17 n. Chr.), römi­scher Dichter; u. a. Verfasser der »Metamorphosen«.

Valentinianus: Flavius Placidus V. III., weströmischer Kai­ser 425-455, der die kaiserliche Gewalt allerdings nie selbst ausgeübt hat; für ihn regierten seine Mutter und der Feldherr Aetius.

Byzantinische Kämmerer: siehe folgende Anm. das byzantinische Zeremoniell: Hof und Verwaltung von

Byzanz (seit 330 Konstantinopel), der Hauptstadt des oströmischen Reiches, waren für kriecherische Unter­würfigkeit gegenüber Vorgesetzten und übertriebene ze­remonielle Förmlichkeit bekannt.

düpieren: täuschen, übertölpeln, betrügen. emigrierter: ausgewanderter. Hilfe erbitt ich, 0 Mond in des Weltalls ... : Nachahmung

des antiken sechshebigen Hexameters, allerdings mit weniger häufiger männlicher Versendung.

meiner isaurischen Väter: vgl. S. 6, Anm. zu Zeno der Isau­rzer.

Dalmatien: jugoslawische Landschaft an der adriatischen Küste.

in der letzten Reichsteilung: Nach der ursprünglichen Reichsteilung im Jahre 395 (vgl. S. 6, Anm. zu Westroml Ostrom) waren die Grenzgebiete der Balkanhalbinsel, besonders Dalmatien, weiterhin umstritten: Dalmatien war wechselnd unter west- und oströmischer Herr­schaft.

Konstantinopel: Das alte Byzanz wurde 330 unter Kon-

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14 I. Wort- und Sacherklärungen

stantin 1. umbenannt und als neue Hauptstadt des Rö­mischen (seit 395 des oströmischen) Reiches ausgebaut. Vgl. S. 6, Anm. zu WestromlOstrom.

Verina: Gemahlin des oströmischen Kaisers Leo d. Gr. (reg. 457-474), deren Tochter Ariadne Zenos Gemahlin war. Eine mächtige und gleichzeitig intrigante Frau, war Verina an der Revolte ihres Bruders Basiliskos gegen Zeno maßgeblich beteiligt. V gl. Kap. 11.

am byzantinischen Stuhl: »Stuhl« hier in der ursprüng­lichen Bedeutung von >Thron, Amtssitz<.

getrennt marschieren: Anspielung auf den strategischen Grundsatz »Getrennt marschieren und vereint schla­gen«, d. h. getrennt vorrückende Heere im entscheiden­den Augenblick auf dem Schlachtfeld zu vereinen; Grundlage der Strategie des preußischen Heerführers Helmuth Graf von Moltke (1800-91).

die beiden Gracchen: Tiberius Sempronius Gracchus (162-133 v. Chr.) und sein Bruder, Gaius Sempronius Grac­chus (153-121 v. Chr.), römische Volkstribunen, die sich für eine Bodenreform einsetzten.

Pompejus: Gnaius Pompeius Magnus (106-48 v. Chr.), rö­mischer Heerführer und Politiker, Gegner Cäsars.

Scipio: Publius Cornelius S. d. Ä., gen. Africanus (um 235-183 v. Chr.), römischer Feldherr und Politiker, Besieger Hannibals in der Schlacht bei Zama (202 v. Chr.).

Cato: Marcius Porcius C. (95-46 v. Chr.), römischer repu­blikanischer Staatsmann.

Marius und Sulla: Gaius Marius (156-86 v. Chr.), römi­scher Feldherr und Politiker; Lucius Cornelius Sulla Fe­lix (138-78 v. Chr.), römischer Feldherr und Politiker, Gegner des Marius. Im Bürgerkrieg von Sulla besiegt, beging Marius Selbstmord.

Barbaren: bei den Römern alle außerhalb des griechisch­römischen Kulturkreises lebenden Völker; von griech. ßUQßuQOC; >Nichtgrieche, Ausländer< (eigtl. >Stammler<).

Weltgefahr des Germanismus: Anspielung auf das Schlag-

I. Wort- und Sacherklärungen 15

wort von der »Welt gefahr des Kommunismus« zu Be­ginn des Kalten Krieges · (vgl. die Hinweise Kurt Martis und Henning Rischbieters, S. 59f. und 61); darüber hin­aus ist wohl auch an die Weltherrschaftspläne des Drit­ten Reiches zu denken.

materiellen: sachlichen, objektiv-äußerlichen. Wir müssen ... uns auf unsere alte Größe besinnen: hier

und im Folgenden Häufung nichtssagender patriotischer Phrasen (Glauben an uns und an unsere weltpolitische Bedeutung; geschichtliche Sendung).

Cäsar: Gaius Iulius Caesar (100-44 v. Chr.), römischer Feldherr und Staatsmann.

Trajan: Marcus Ulpius Traianus, römischer Kaiser 98-117 n. Chr.

Konstantin I., der Große: Flavius Valerius Constantinus, römischer Kaiser 306-337, der Konstantinopel (Byzanz) zur neuen Reichshauptstadt machte und das Christen­tum als Staatsreligion einführte.

Ich will . .. meinen unbeugsamen Kampf gegen den Ger­manismus fortsetzen: Die Wortwahl lässt entfernt an den sog. Rütli-Rapport des Oberbefehlshabers des schweizerischen Heeres, Henri Guisan, vom 25. Juli 1940 denken, in dem er für den Fall eines deutschen An­griffs zum unbedingten Widerstand aufrief und sich ge­gen »Gefahren im Innern wie Erschlaffung und Defai­tismus« wandte.

Adjutant: Offizier, der dem Kommandeur einer Truppe persönlich zugeordnet ist.

Aber mein Namensvetter hat doch schließlich Rom ge­gründet: Romulus war der Sage nach der Gründer Roms. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Remus ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt, hatte er seinen Bruder bei der Gründung Roms im Streit erschlagen.

Antiquar: hier: Antiquitätenhändler. Hosenfabrikant: Hosen waren ursprünglich ein orientali­

sches Kleidungsstück und wurden erst zur Kaiserzeit

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16 I. Wort- und Sacherklärungen

von den Römern eingeführt. In Europa wurden sie zu­erst von den Galliern und Germanen getragen.

Textilbranche: Branche (frz.): Geschäfts- und Wirtschafts­zweig; bewusst parodierende Verwendung moderner Wirtschaftssprache.

Bonmot: (frz.) treffende, geistreiche Wendung, witzige Be-merkung.

Flausen: dummes Gerede, Geschwätz; Ausflüchte. Renovation: Erneuerung. das rentiert besser: das bringt eher Gewinn, wirft mehr Er-

trag ab; »rentieren« meist reflexiv. Liaison: (frz.) Verbindung, Liebesverhältnis. obligatorisch: verbi!:1dlich, vorgeschrieben. Forum: Gericht, Offentlichkeit. Das »forum« war ur­

sprünglich der Markt- und Gerichtsplatz im antiken Rom.

Provinzler: Menschen mit engem Gesichtskreis; Anspie­lung Dürrenmatts auf seine Schweizer Mitbürger.

mobilisieren: einsatzbereit, kriegsbereit machen. Pergamentrolle: Pergament: Beschreibstoff aus enthaarten,

geglätteten, ungegerbten Tierhäuten; nach der kleinasia­tischen Stadt Pergamon, deren Bibliothek viele Schrift­rollen aus Pergament besaß.

Zweiter Akt

Weltuntergangszauber: Anspielung auf die Atmosphäre der während des Dritten Reiches populären germanisch­mythischen Opern Richard Wagners.

apres nous le diluge: (frz.) »nach uns die Sintflut«; angeb­licher Ausspruch der Marquise von Pompadour, als Ludwig xv. über die Niederlage bei Roß bach (5. No­vember 1757; im Siebenjährigen Krieg gegen Friedrich d. Gr.) bestürzt war.

Marschallstab: Stab als Zeichen der Marschallwürde (vgl. S. 12 f., Anm. zu Reichsmarschall).

I. Wort- und Sacherklärungen 17

Archive: Urkundensammlungen. Endsieg: Anspielung auf die Verwendung des Ausdrucks

in der Durchhaltepropaganda des Dritten Reiches. Elan: innerer Schwung, Begeisterung. repetieren: wiederholen, durch Wiederholung einüben. konzipieren: eine erste Niederschrift entwerfen, verfassen. Strategie: Feldherrnkunst. Intuition: Eingebung, Fähigkeit, verwickelte Vorgänge so­

fort richtig zu erfassen. Helvetien: Land der Helvetier, eines keltischen Volksstam­

mes; heute die Schweiz. Sabotage: planmäßige Beeinträchtigung militärischer Ope­

rationen oder eines wirtschaftlichen Produktionsablaufs. Defaitismus: fehlender Glaube an den Sieg, Schwarzsehe­

rei, Miesmacherei. Vgl. S. 15, Anm. zu Ich will ... mei­nen unbeugsamen Kampf gegen den Germanismus fort­setzen.

Die strategische Lage wird stündlich günstiger: Anspielung auf die beschönigende Umdeutung von Niederlagen und Rückzügen durch die Propaganda des Dritten Rei­ches.

Brigg: kleines Segelschiff mit zwei Masten; von engl. »brig« (Abk. von »brigantine«, aus ital. »brigantino« >Raubschiff<).

Patrioten: Vaterlandsfreunde, vaterländisch Gesinnte. Venus: altrömische Göttin, u. a. des Gartenbaus. Horaz: Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. ehr.), römi­

scher lyrischer Dichter. Seht ihr, des Vaterlandes Bürger: vgl. S. 12, Anm. zu Das

Klagelied der Antigone. pürrenmatt benutzt in seinen »Antigone«-Zitaten die Ubersetzung Friedrich Hölder­lins unter leichter Abwandlung des Wortlauts.

Klassiker: Künstler (hier: Dichter), die über ihre Zeit hin­aus als mustergültig anerkannt worden sind (von lat. »scriptor classicus« >Schriftsteller ersten Ranges<).

Hymenäen: Hymenäus (griech. iJfA.EVmo~): das Hochzeits-

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18 . J. Wort- und Sacherklärungen

lied der Griechen, gesungen beim Hochzeitsmahl oder auf dem Wege vom Haus des Brautvaters zu dem des Bräutigams. Hymen war der griechische Gott der Hoch­zeit.

Acheron: in der griechischen Sage der Fluss der Unterwelt (Hades), den die Toten bei ihrem Eintritt in die Unter­welt überqueren mussten.

deklamierenden: ausdrucksvoll vortragenden. Mein Name ist in meine linke Hand geschrieben: Anspie­

lung auf die Nummern, die KZ-Häftlingen im Dritten Reich auf den Arm eintätowiert wurden.

Menschen können kämpfen: Anspielung auf die Aufbie­tung des Volkssturms am Ende des Zweiten Weltkriegs, zu dem alle 16-60jährigen Männer einberufen wurden, und die Heranziehung von Frauen zur letzten Verteidi­gung.

Hiobsbotschaft: Schreckensnachricht (nach dem Buch Hiob des Alten Testaments).

Via Appia: vom Zensor Appius Claudius Caecus 312 v. Chr. angelegte Militärstraße von Rom nach Süden, nach Capua; später über Beneventum, Tarenturn bis Brundisium (Brindisi) fortgesetzt (Gesamtlänge rund 540 km); eine von sieben sternförmig von Rom ausge­henden Fernstraßen des Römischen Reiches.

am eigenen Schopf herausziehen: In einer der Geschichten des Lügenbarons von Münchhausen zieht sich der Ba­ron am eigenen Haarschopf aus einem Sumpf.

Offerte: (Preis-)Angebot. . einem goldenen Kalb: Das Goldene Kalb war nach der bi­

blischen Überlieferung ein Kultsymbol, das von Aaron am Sinai hergestellt und von den Israeliten umtanzt wurde (2. Mose 32). Symbol für die Anbetung materiel­len Reichtums.

Jungfernkranz: Brautkranz als Symbol der Jungfräulich­keit.

Rettungsode: Ode: lyrisches Gedicht in erhaben-feierlicher

1. Wort- und Sacherklärungen 19

Stimmung. In der griechischen Dichtung stand <poil ganz allgemein für >Lied< und >Gesang<. So entsprechen auch die folgenden Strophen in Ton und Thematik der antiken Ode, weisen aber kein feststehendes metrisches Schema einer bestimmten klassischen Odenform auf.

wenn er fallen läßt, was zerbrechen muß: Anspielung auf Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, Kap. »Von alten und neuen Tafeln«, 20: »Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen!«

Hadrian: Publius Aelius Hadrianus, römischer Kaiser 117-138 n. Chr.

Dritter Akt

Diwane: Sofas, Ruhebetten ohne Rückenlehne. pathetischer: übertrieben feierlicher, gefühlvoller; von

griech. :!ta{}oc:; >Gemütsbewegung, Leidenschaft; Lei­d(en)<.

Kaisertoga: vgl. S. 9, Anm. zu Purpurtoga. Catull: Gaius Valerius Catullus (um 85-55 v. Chr.), römi­

scher Dichter, Verfasser berühmter Liebeslieder. Falerner: italienischer Rotwein, der bei Falerno in Kampa­

nien nördlich von Neapel angebaut wird. In der Antike bereits von Horaz besungen.

Syrakuser: Wein aus der Gegend um Syrakus (Sizilien). Unsere Ehe war fürchterlich: Das Motiv der »fürchter­

lichen Ehe«, die der in Frank Wedekinds (1864-1918) Drama »Schloss Wetterstein« (1910) ähnlich ist, verwen­dete Dürrenmatt auch in seinem nächsten Drama, »Die Ehe des Herrn Mississippi« (1952).

Tochter des Kaisers Valentinianus: unhistorische, fiktive verwandtschaftliche Beziehung. Vgl. S. 13, Anm. zu Va­lentinianus.

legitimier~: rechtlich, sozial anerkannt, als gleichberechtigt ausgewiesen.

Julians, des letzten großen Kaisers: Flavius Claudius Iulia-

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20 I. Wort- und Sacherklärungen

nus (gen. Apostata), römischer Kaiser 361-363, der sich um eine gute Reichsverwaltung bemühte.

Sohn eines bankrotten Patriziers: Fiktion Dürrenmatts; in Wirklichkeit war Romulus der Sohn des Heerführers Orestes. V gl. S. 6, Anm. zu Romulus Augustus, und Kap. 11.

Witz: Einfallsreichtum, Schlauheit, Intelligenz. V gl. S. 5, Anm. zu witzigen.

Nero: römischer Kaiser 54-68 n. Chr. Brandschatzung: Erpressung einer Stadt zu einer Geldzah­

lung durch Androhung von Brand und Plünderung. liquidieren: auflösen, beseitigen (von lat. »liquidare« >flüs­

sig machen<). Zyniker: Die griechische Philosophenschule der Kyniker

lehrte die Bedürfnislosigkeit und eine spöttisch-überle­gene Haltung gegenüber der Welt.

Hanswurst: Narr, Spaßmacher; im 17. und 18. Jh. lustige Person in einem Schauspiel.

ich bin Roms Richter: vgl. die Rolle des Richters, des Ge­richts und der Gerechtigkeit in vielen anderen Werken Dürrenmatts, z. B. »Die Ehe des Herrn Mississippi« (1952), »Der Richter und sein Henker« (1952), »Die Panne« (1956), »Der Besuch der alten Dame« (1956).

Capua: in der Antike die Hauptstadt Kampaniens (Südita­lien).

kapitalen: enorm großen. Wermut: Der mit dem bitteren Wermutkraut gewürzte

Wermutwein oder Wermut versinnbildlicht Bitternis und Schmerzliches (meist in der Formulierung »Wer­mutstropfen«).

Schüttle den Staub von deinen Füßen ... Mördergrube ... Henkerstätte: Sprache der Lutherbibel; vgl. Mt. 10,14: »Und wo euch jemand nicht annehmen wird, noch eure Rede hören, so gehet heraus von demselben Hause oder Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen«, und den im Neuen Testament des Öfteren zitierten Vers

I. Wort- und Sacherklärungen 21

Jer. 7,11: »Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Mördergrube?«

Gerechtigkeit: vgl. S. 20, Anm. zu ich bin Roms Richter. Tablar: (schweiz.) Brett in Regalen, Gestellbrett. Koch, auch du?: wörtliche, parodierende Anspielung auf

die letzten Wqrte Cäsars in Shakespeares »Julius Cae­sar« (I1I,1): »Et tu, Brute? Then fall Caesar!« Dürren­matt verwendet dieselbe Wortstellung wie August Wil­helm Schlegel (1767-1845) in seiner Shakespeare-Über­setzung und nicht die geläufigere, in der das Zitat zur Redensart geworden ist: »Auch du, (mein [Sohn]) Bru-tus?« .

Wir verlangen die Provinzen zurück . ... Deine Legionen: Anspielung auf den angeblichen Verzweiflungsausruf des Augustus, den er bei der Nachricht von der römi­schen Niederlage gegen die Germanen im Teutoburger Walde (9 n. Chr.) ausstieß: »Varus, gib mir meine Legio­nen wieder!« (nach Sueton, »Vita Augusti«, Kap. 23).

Katarakte: Stromschnellen, Wasserfälle. Kadavern: (Jat.) toten Körpern, (Tier-)Leichen: Hekatomben von Opfern: riesige Mengen von Opfern.

Die »Hekatombe« (aus griech. EXU"tOV >hundert< und ßoij~ >Rind<) war ursprünglich ein Festopfer von hun­dert Stieren. Der Ausdruck bezeichnet heute große Ver­luste an Menschenleben.

wilde Tiere zu Roms Vergnügen: Anspielung auf die Zir­kusspiele, in denen wilde Tiere auf Menschen gehetzt wurden.

Die Axt ist an den Stamm gelegt: siehe folgende Anm. ich lege Feuer an eure Wurzeln: Sprache der Lutherbibel;

vgl. Mt. 3,10: »Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt. Darum welcher Baum nicht gute Frucht bringet, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.« Ähnlich Lk. 3,9.

Nola: Stadt in der Nähe von Neapel, nordöstlich des Ve­suvs.

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22. I. Wort- und Sacherklärungen

Vierter Akt

Ich wasche meine Hände in Unschuld: vgl. Mt. 27,24: »Da aber Pilatus sahe, daß er nichts schaffete, sondern daß viel ein größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: >Ich bin un­schuldig an dem Blut dieses Gerechten; sehet ihr zu!«

Jetzt ist die Antike zu Ende: vgl. S. 8, Anm. zu vierhun­dertsechsundsiebzig, und Kap. II, S. 26.

>Arma virumque cano<: (Jat.) »Ich singe von Waffen und M~nnern«; die Anfangsworte von Vergils Epos »Ae­nelS«.

Vergil: Publius Vergilius Maro (70-19 v. Chr.), römischer Dichter.

>Menin aeide, thea<: MfivLV UELÖE, {}Ea: (griech.) »Singe, Göttin, den Zorn [des Peleiaden AchiJleus]«; die An­fangs worte von Homers »Ilias« (8. Jh. v. Chr.).

So richtiges dunkles Mittelalter: Die Aufklärung verachtete das Mittelalter als »finster«.

Audienzen: offizielle Empfänge (von lat. »audientia« >Auf­merksamkeit, Gehör<).

Henkersmahlzeit: letzte Mahlzeit vor der Hinrichtung. Memoiren: zeitgeschichtlich interessante Lebenserinnerun­

gen. das Reichsschwert: im deutschen Mittelalter eines der

Reichs- oder Krönungsinsignien des Kaisers als Zeichen seiner Herrschaft (neben Krone, Reichsapfel, Zepter u. a.).

Pfandleihe: gewerbsmäßiges Leihhaus. Sind Majestät serviert: »Servieren« wird 1m Schweizer­

deutsch auch transitiv verwendet. Tacitus beschreibt euch als Menschen mit . .. Riesenleibern:

vgl. die Beschreibung der Germanen durch den römi­schen Geschichtsschreiber Tacitus in seiner »Germania« (Kap. 2).

Botaniker: Pflanzenkundler.

I. Wort- und Sacherklärungen 23

Praxiteles: einer der bedeutendsten Bildhauer der spätklas­sischen Epoche (4. Jh. v. Chr.).

Neffe: vgl. S. 8, Anm. zu sein Neffe, und Kap. H. einmal, in wenigen Jahren, wird er mich ermorden: vgl.

S. 7, Anm. zu Odoaker, und Kap. H. Dein Neffe wird auch mich töten: Uber den Tod des histo­

rischen Romulus ist nichts bekannt. Vermutlich starb er in der ihm zugewiesenen Villa des Lukull.

Feldhauptleute: im 16. und 17. Jh. Führer von Verbänden von Landsknechten.

Richtbeile: Beile des Scharfrichters, mit gekrümmter Schneide; indirekter Hinweis auf den Gerichtscharakter des 4. Akts.

die Villa des LukulI: Lucius Licinius Lucullus (117-57 v. Chr.), römischer Feldherr, der sich auch als Lebemann und Genießer einen Namen machte. Die berühmte von Lukull erbaute Villa, das sog. Lucullanum, befand sich am Kap Misenum in der Nähe von Neapel.

Katakomben: unterirdische Begräbnisstätten der frühen Christen in Rom.

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Ir. Historischer Hintergrund und literarische Anregungen

Während des 4. und 5. Jahrhunderts n. ehr. verfiel die Macht des Römischen Reiches allmählich, nachdem sie un­ter den Kaisern Trajan (reg. 98-117 n. ehr.) und Hadrian (reg. 117-138 n. ehr.) ihren Höhepunkt erreicht hatte. Ei­ner der Hauptgründe für diesen politischen und wirt­schaftlichen Niedergang waren die wiederholten Angriffe kriegerischer germanischer Stämme aus dem Norden, die im Zuge der Völkerwanderung die Grenzen des Reiches berannten und bei immer neuen Einfällen nur mit Mühe zurückgeschlagen werden konnten. Nach und nach er­lahmten die Widerstandskraft und der Wille des Römi­schen Reiches, sich diesem Ansturm zu widersetzen, und immer mehr germanische Stämme wurden als sogenannte »foederati«, als Bundesgenossen und Söldner, ins Reich eingelassen, mit dem Resultat einer langsamen Überfrem­dung von Armee und Reich. Bereits in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts hatte Kai­ser Konstantin d. Gr. (reg. 306-337) Konstantinopel als neue (zweite) Hauptstadt des Reiches gegründet, und beim Tode Kaiser Theodosius' I. im Jahre 395 wurde das Reich in ein weströmisches (unter seinem Sohn Honorius) und ein oströmisches (unter seinem Sohn Arkadios) geteilt. Während sich das oströmische Reich bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 erfolgreich be­hauptete, zerfiel das weströmische unter den Angriffen germanischer Völkerschaften. Rom selbst wurde 410 zum ersten Mal von den Westgoten unter ihrem König Alarich (um 370-410) erobert und geplündert. Spanien und Gal­lien - etwa das Gebiet des heutigen Frankreich - wurden bald darauf von den Wandalen überrannt, die unter ihrem König Geiserich (428-477) in den nordafrikanischen Pro­vinzen Roms ein Reich begründeten. Von dort aus setzten

II. Historischer Hintergrund; literarische Anregungen 25

sie schließlich im Jahre 455 nach Süditalien über und mar­schierten auf Rom zu, das sie eroberten und plünderten. Nur mit Mühe gelang es den Überredungskünsten Papst Leosl., des Großen (440-461), sie zumindest von der völ­ligen Zerstörung Roms abzuhalten. Etwa zur selben Zeit brachen die Hunnen unter ihrem KÖhig Attila (gest. 453) von der unteren Donau auf und stießen in ihren Erobe­rungszügen durch Germanien und Norditalien vor. Ihr Andringen konnte 451 zum Halt gebracht werden. Das römische Kaisertum war inzwischen mit dem Reich in eine schwere Krise geraten. Das Prinzip der Erblichkeit des Kaisertitels (zwar nie verfassungsrechtlich verankert, aber in der Praxis weitgehend angewandt), wurde nun auf­gegeben, und eine Reihe von meist nur kurze Zeit regie­renden Kaisern folgte, auf den Schild gehoben und unter­stützt von der Armee, die sich immer mehr aus ausländi­schen Söldnern rekrutierte. Genau dies war der Fall bei Romulus Augustus: Sein Vater Orestes stammte aus Pannonien, einer römischen Provinz zwischen Ostalpen, Donau und Save. Als seine Heimat von den Hunnen erobert wurde, begab er sich um 450 in die Dienste Attilas, dessen Sekretär er wurde und in des­sen Auftrag er mehrfach in diplomatischer Mission nach Konstantinopel geschickt wurde. Nach dem Tode Attilas und der Eroberung Pannoniens durch die Ostgoten nahm er weströmische Dienste an und stieg infolge seiner Fähig­keiten schnell zum Feldherrn auf. Kaiser Julius Nepos (reg. 474-475), der von Ostrom unterstützt wurde, verlieh ihm gar den begehrten Titel »patricius«. Es gelang ihm, die zumeist germanischen Truppen zum Aufruhr gegen Julius Nepos anzustacheln und dazu zu bewegen, im Jahre 475 seinen fünfzehnjährigen Sohn Romulus als Kaiser des Wes­tens anzuerkennen. Doch er selbst sollte Opfer dieser ihn ursprünglich unterstützenden Truppen werden, die darauf bestanden, dass ein Drittel aller Ländereien Italiens unter sie verteilt würde. Orestes wies dieses Ansinnen zurück

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26 .I I. Historischer Hintergrund; literarische Anregungen

und spielte damit seinem Rivalen Odoaker (433-493), ei­nem germanischen Heerführer aus dem Volk der Skiren, d~r Mitglied der kaiserlichen Leibwache in Ravenna war, die Macht in die Hände. Odoaker gewann die Gunst der Truppen dadurch, dass er ihnen die Erfüllung aller ihrer Forderungen versprach. Orestes musste sich mit seinen Getreuen nach Pavia (damals Ticinum) zurückziehen, das sofort belagert wurde. Die Stadt fiel, und Orestes wurde am 28. August 476 auf Befehl Odoakers enthauptet. Sein Sohn Romulus, dessen Hof sich in Ravenna befand, war damit der Gnade Odoakers ausgeliefert, der auf Ra­venna zumarschierte. Dort angelangt, setzte er Romulus ab und wies ihm die berühmte luxuriöse Villa des Lukull bei Neapel als Wohnsitz zu, nebst einer jährlichen Pension von 6000 Solidi. Hier lebte Romulus mit seiner Mutter und anderen Verwandten wahrscheinlich bis zu seinem Tode, dessen Datum nicht bekannt ist. Erst nachträglich wurde sein Name von den Soldaten in die verkleinernde, bespöt­telnde Form »Augustulus«, >Kaiserlein<, geändert. Mit der Absetzung des Romulus durch Odoaker war nach Ansicht vieler Schulhistoriker das Römische Reich als poli­tisch-historische Einheit an ein Ende gelangt. Andere wei­sen jedoch darauf hin, dass Romulus in Wirklichkeit nicht der rechtmäßige Kaiser des Westens war, sondern Julius Ne­pos, der bis zu seiner Ermordung im Jahre 480 von Ostrom als solcher anerkannt wurde. Auch wurde das Jahr 476 von den Zeitgenossen nicht als ein derart gravierender Ein­schnitt angesehen: die Verwaltung funktionierte weiterhin, und es schien, als habe lediglich ein Machtwechsel von Ores­tes, der de facto regierte, zu Odoaker stattgefunden, der sich von seinen Truppen zum König ausrufen und von dem ost­römischen Kaiser Zeno dem Isaurier (reg. 474-491) schließ­lich den Titel »patricius« verleihen ließ. - Der römische Senat erkannte den oströmischen Kaiser als einzigen Kaiser an und damit dessen Oberherrschaft auch über Italien. Odoaker war der erste germanische, »barbarische« König,

11. Historischer Hintergrund; literarische Anregungen 27

der mit Umsicht und Erfolg Italien regierte, und zwar wei­terhin mit römischen Verwaltungs institutionen. Doch wurde er schließlich von dem in Pannonien geborenen ost­gotischen König Theoderich (471-526), der mit seinem Volk im Auftrag des oströmischen Kaisers Zeno nach ita­lien geschickt worden war, wiederholt geschlagen (489/ 490) und bei Ravenna eingeschlossen. Nach zweieinhalb­jähriger Belagerung übergab er am 5. März 493 die Stadt unter der Bedingung, dass beide Könige gemeinsam über Italien herrschen sollten, wurde aber nach zehn Tagen von Theoderich eigenhändig ermordet. Nach dieser Mordtat sollte Theoderich eine Generation lang (bis 526) über Ita­lien, Sizilien, Dalmatien und einen Teil Pannoniens regie­ren, als Stellvertreter des oströmischen Kaisers (»patri­cius«) und als König der Goten, von seinen Zeitgenossen als vorbildlicher, gerechter Herrscher gepriesen. Oströmischer Kaiser war während der Ereignisse der Dra­menhandlung der schon erwähnte Zeno der Isaurier, der aus der Landschaft Isaurien im kleinasiatischen Taurus-Ge­birge stammte. Er war der Nachfolger Kaiser Leos I. (reg. 457-474). Im Jahre 475 wurde Zeno durch den Gegenkaiser Basiliskos vertrieben, der auf Betreiben der intriganten Verina, der Schwiegermutter Zenos - er war mit ihrer Toch­ter Ariadne verheiratet -, als Gegenkaiser eingesetzt wor­den war. Zeno floh in die Berge Isauriens, nicht nach ita­lien. Da sich Basiliskos als Herrscher nicht bewährte, war Zeno bereits 477 wieder im Besitz der Herrschaft. Über all diese Ereignisse sind wir vor allem durch Ge­schichtsschreiber des 6. Jahrhunderts informiert, die wohl auch Dürrenmatt als Quellen gedient haben. Besonders zu nennen sind der byzantinische Historiker Prokop von Cä­sarea (um 500 - nach 562) mit seiner Geschichte der Go­tenkriege sowie der sogenannte Anonymus Valesianus.

In seiner »Anmerkung III zu >Romulus der Große«< (s. S. 81 f.) weist Dürrenmatt darauf hin, dass ihn August

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28 . I I. Historischer Hintergrund; literarische Anregungen

Strindbergs (1849-1912) Novelle »Attib« zu seinem Stück inspiriert habe. In einzelnen Motiven lassen sich Ähnlichkeiten zu zwei Dramen Frank Wedekinds (1868-1914) ausmachen: Im er­sten Teil seiner »Lulu-Tragödie« (»Der Erdgeist«, 1895) verstecken sich die Akteure vor Lulus Mann, Dr. Schön, hinter Vorhängen und einem Kaminschirm und unter dem Tisch, ähnlich wie die Kaisermörder im 3. Akt von »Ro­mulus der Große«; in seinem Drama »HidalIa« (»Carl Hetmann, der Zwergriese«) (1904/05) will Hetmann, wie Romulus, den Märtyrertod sterben, um seinen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen, wird aber von einem seiner An­hänger daran gehindert. Die nächtliche Szene im Schlafzimmer des Romulus im 3. Akt schließlich parodiert die Ermordung des Cäsar in Shakespeares »Julius Cäsar« (vgl. S.19, Anm. zu Koch, auch du?).

WALTER BOSSARD hat den weströmischen Kaiser Hono­rius als eigentliches Vorbild für Romulus identifiziert:

»Es ist also nicht Romulus, der letzte weströmische Kaiser, der als .Hühnerzüchter in die Geschichte eingegangen ist, auch mcht Romulus, der erste König, und ebensowenig Augustus, der erste Kaiser, nein, es ist Honorius, der erste weströmische Kaiser nach der Reichsteilung, dessen Lieb­lingshuhn nach verbürgter historischer Überlieferung ,Roma< geheissen haben soll [ ... ]. Honorius, eigentlich Flavius Honorius, lebte von 384 bis 423. Er war der jüngere Sohn Theodosius' I., des letzten gesamtrömischen Kaisers und übernahm in dessen Todes­jahr 395 die Herrschaft über das westliche Reich. Von ihm erzählt Prokop von Kaisareia, der Geschichtsschreiber Ju­stinians 1., im 6. Jahrhundert n. Chr. folgende höchst un­rühmliche Anekdote: > Wie man sich erzählt, meldete da­mals in Ravenna ein Eunuche, offenbar ein Vogelwärter,

I I. Historischer Hintergrund; literarische Anregungen 29

dem Kaiser Honorios, dass Roma zugrunde gegangen sei. Und der Herrscher soll mit lauter Stimme gerufen haben: ,Aber er hat doch erst jüngst noch aus meinen Händen ge­fressen!' Der Kaiser besass nämlich einen sehr grossen Hahn namens Roma [ .. . ]. Als nun der Eunuche dies hörte, erklärte er, die Stadt Rom sei durch Alarich zugrunde ge­gangen, worauf Honorios erleichtert aufatmete und zur Antwort gab: ,Ich glaubte, lieber Freund, mein Vogel Roma sei eingegangen. ' So unwissend soll dieser Kaiser ge­wesen sein.'! In der Tat - welch ein Ausbund an Ignoranz und Indifferenz! Was für ein schändlicher Kaiser! [ ... ] Was die zitierte Stelle aber erst zu einer Hauptquelle für die Dramaturgie von Dürrenmatts ,Romulus< macht, ist Honorius' private Hühnerleidenschaft, die in der Darstel­lung Prokops alles politische Kalkül dieses Kaisers radikal verdrängt. [ .. . ] >Romulus der Grosse< ist also in einem weitergehenden Sinn eine >historische Komödie<, als man bisher annahm: Die dramaturgische Grundidee (der Kaiser als Landesver­räter) und ein zentrales komödiantisches Motiv (der Kaiser als Hühnerzüchter) sind im historischen Stoff vorgebildet. [ ... ] Dürrenmatt hat in Prokop seinen Plutarch gefunden und sich so seiner Souveränität gegenüber der Historie Roms versichert. Dass dabei gerade das Ungeschichtliche - die Pa­rodie des Romulus - sich im Quellenbefund als historisch er­weist - nämlich als Parodie des Honorius -, verleiht der Pa­radoxie des Untertitels einen neuen, schillernden Aspekt.«

Walter Bossard: Der Kaiser als Hühnerzüchter. Eine neue Quelle bringt Licht in die Entstehungs­geschichte von Dürrenmatts Komödie »Romulus der Grosse«. In: Schweizer Monatshefte für Poli­tik, Wirtschaft, Kultur 78 (1998) Nr. 2. S. 49-53. -© 1998 Schweizer Monatshefte. Mit Genehmigung von Walter Bossard, Zürich.

1 Prokop von Kaisareia, Werke, griech.ldt., Bd. 4: Vandalenkriege, übers. und hrsg. von Otto Veh, München 1971, S. 17.

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111. Zur Wirkungsgeschichte

1. Zur Entstehung, zu den verschiedenen Fassungen und zur Aufnahme des Stücks

GERHARD P. KNAPP berichtet Folgendes über die Entste­hung und die verschiedenen Fassungen des »Romulus«:

»Kein anderer Text Dürrenmatts ist so häufig einer Revi­sion unterzogen worden wie die erste Komödie >Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische Komödie<. Kein anderes Stück bietet ein vergleichbar anschauliches Beispiel für den theoretischen Refiexionsprozeß, der die­sen Änderungen zugrunde liegt. Geschrieben wird diese erste Komödie in Ligerz am Bieler See, gefördert wird ihr Entstehen durch die bescheidene finanzielle Hilfe, die Dürrenmatt mit seiner ersten öffentlichen Anerkennung -dem Preis des Berner Gemeinderats für sein Erstlings­drama [>Es steht geschrieben<] - erhält. Der Autor bricht die Arbeit an dem später von ihm selbst vernichteten >Turmbau von Babel< ab und wendet sich dem Stoff des Untergangs des Römischen Reiches zu. Die Komödie wird am 25. 4. 1949 in Basel uraufgeführt; Regie führt Ernst Ginsberg. Im gleichen Jahr wird in Zürich das Stück in ei­ner leicht modifizierten Fassung inszeniert. [Premiere im Schauspielhaus Zürich am 10. Dezember 1949; Regie: Werner Kraut.] Beide Aufführungen haben nur bedingt Erfolg. Das gilt auch für die Göttinger Inszenierung vom Oktober 1949, der ersten Dürrenmatt-Aufführung in Deutschland. Der Text liegt in fünf verschiedenen Fassungen vor: a) Fassung der Basler Uraufführung (Typoskript des Reiss-Bühnenvertriebs Basel, 1956); b) 2. Fassung von 1957, uraufgeführt am 24. 10. 1957 im Schauspielhaus Zürich; veröffentlicht 1957;

1. Entstehung, Fassungen, Aufnahme 31

c) 3. Fassung von 1961, veröffentlicht 1961; d) 4. Fassung von 1963, Bearbeitung für das Theatre National Populaire Paris; veröffentlicht 1964. e) 5. Fassung, »Neufassung« von 1980, die »im wesent­lichen« auf der zweiten und vierten Fassung beruht. Die jeweiligen Veränderungen betreffen, von Details ab­gesehen, vor allem den IV. Akt. Die Fassung der Urauf­führung zeigt Romulus als planvoll Handelnden, als Poli­tiker des Friedens. Hier dominiert eine Komik, die in den späteren Fassungen seit 1957 durch Anflüge einer persön­lichen Tragik, des Scheiterns eines nun nicht mehr so gradlinig handelnden .;Kaisers gebrochen erscheint. Inso­fern reflektieren die Uberarbeitungen die immer konse­quentere Übertragung der theoretischen Schriften zum Theater auf den Text, die sich in der sukzessiven Entwer­tung des individuellen Handlungsspielraums ausdrückt. Läßt a) die Konzeption eines humorvollen >Landesverrä­ters< in der Figur des Romulus erkennen (so vermerkt Dürrenmatt in der [zweiten] >Anmerkung<: >Ich recht­fertige einen Landesverräter. [ ... ] aber einen von denen, die es nie gibt<) [so S. 80], des humanitären Endzeitpoliti­kers, so wird diese in b) bereits dem Bild des >mutigen Menschen< angepaßt, des Schwärmers, der in c) und d) dann zum Narren hin tendiert. So verändert sich das Stück in seinen fünf Fassungen vom utopischen Gegen­entwurf einer Politik der Menschlichkeit (der >bewußt utopische[n] Politidylle< [Scholdt])l zur resignativen Sa­tire, deren letzter Befund nur die Machtlosigkeit des ein­zelnen angesichts der Willkür weltpolitischer Umbrüche sein kann. [ . .. ] Die lehrstückhafte Anlage der Erstfassung drängt, wiewohl das Ganze bereits im ungeschichtlichen Raum suspendiert erscheint, noch auf eine zumindest spielerische Anwendung hin. Diese wird dann, entsprechend der spä-

1 Vgl. S. 37.

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32 I II. Zur Wirkungsgeschichte

teren Komödientheorie, in den Revisionen zurückgenom­men: Es tritt die schlimmstmögliche Wendung ein. Weniger gesch)ossen als die Urfassung erscheinen dagegen alle späteren Uberarbeitungen, auch wenn sie im drama­turgischen Detail überzeugender wirken. Zu b) merkt der Autor an, daß der Kaiser >[ ... ] dem Publikum nicht allzu schnell sympathisch erscheinen darf< [so S. 79]. In der Tat wird so die Verfremdung, die in a) Resultat der Gesamt­konzeption ist, auf den Exponenten übertragen, der nun als tragisch Handlungsunfähiger aus dem Geschehen her­aus bzw. neben das Geschehen tritt. Romulus wird zum Bärlach der Detektivromane und verliert an Geschlossen­heit, indem er eine Tragik annimmt, die >[ ... ] in der Komö­die seines Endes, in der Pensionierung liegt [ ... ]< [so S. 80]. In Fassung d), die etwa mit der Arbeit am >Meteor< zusam­menfällt, überlagert sich ihr dann zusätzlich der Zug der Ohnmacht in der Lächerlichkeit: Romulus, nachdem alle seine Pläne gescheitert sind, nachdem er sein Volk geopfert hat, darf (wie Schwitter im >Meteor<) nicht sterben. Sein Kalkül hat sich gegen ihn gewendet, er kann sich nur - wie der Möbius der >Physiker< im Irrenhaus - in der Villa des Lukull zur Ruhe setzen. Der Wandel in der beabsichtigten Tendenz der vier Fassungen des Stücks signalisiert Schritt für Schritt den Weg vom komödiamischen Entwurf eines Lehrstücks einer Politik der Humanität über die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Einflußnahme des einzelnen auf weltgeschichtliche Zusammenhänge - es sei denn im Solipsismus2 des >mutigen<, aber tragisch-scheiternden Menschen - zu der für die frühen sechziger Jahre typischen Position der totalen ideologischen Verweigerung.«

Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt. Stutt­ganlWeimar: Metzler. 2. überarb. und erg. Auf!. 1993 (Sammlung Metzler. 196.) S. 59-62.

2 Lehre, daß das subjektive Ich das aJlein wirkliche sei und alle anderen Ichs nur dessen Vorstellungen.

1. Entstehung, Fassungen, Aufnahme 33

Die einschneidendste Umarbeitung gegenüber der Erstfas­sung von 1949 erfuhr in den späteren Fassungen der 4. Akt. Da alle anderen Änderungen demgegenüber unbe­deutend sind, sei hier nur der 4. Akt der ersten Fassung in den Worten von CHRISTIAN MARKUS JAUSLIN zusammen­gefasst:

»Zu Beginn gewährt der Kaiser seinen beiden Kammerdie­nern die gewünschte Entlassung. Dann tritt ein erster Ger­mane auf, den Romulus sogleich in ein Gespräch über Ho­senträger verwickelt und anschließend zum Statthalter ei­ner römischen Provinz ernennt. Durch Erhebung in den römischen Adelsstand kann er noch zwei weitere Gruppen von Germanen für sich gewinnen. Auch mit Odoaker läßt er sich in ein Gespräch ein. Wie dieser einsieht, daß er der Gefangene des Kaisers ist, verliert er zunächst jeden Mut. Aber Romulus schlägt ihm vor, ruhig in Italien zu bleiben, da er nun schon einmal da sei. Darauf unterwirft sich Odoaker und ernennt Romulus zum Kaiser von Germa­nien. Den von einem Germanen am Lasso hereingeführten Kaiser von Ostrom läßt Romulus ebenfalls wieder frei. Dann erklärt er gelassen:

ROMULUS [lächelnd}: Der Kaiser hat sein Imperium ganz einfach noch einmal wie eine Seifenblase aufgeblasen, mit der ein Kind spielt. Er hat aus dem Nichts ein Welt­reich gemacht. Seht euch diese farbige Kugel noch ein­mal an ...

Damit dankt er ab, indem er Odoaker zum König von ita­lien ernennt und Zeno wieder als Kaiser von Ostrom ein­setzt. Er selber geht erfreut in den Ruhestand und läßt sich eine Pension auszahlen.«

Christian Markus Jauslin: Friedrich Dürrenmatt. Zur Struktur seiner Dramen. Zürich: Juris-Verlag, 1964.S.51.

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34 II I. Zur Wirkungsgeschichte

Kritisch setzt sich GÜNTER SCHOLDT mit den späteren Fassungen (seit 1957) auseinander:

»Dieser >Romulus H.<, den Elisabeth Brack-Sulzer anläß­lieh der Zürcher Premiere von 1957 mit gutem Grund als >neu es Stück< einstufte3

, läßt doch einige Fragen offen, was die Homogenität der gedanklichen Konzeption betrifft. Warum sollte eigentlich ein so versierter Menschenkenner wie Romulus sich ausgerechnet bei dem kriegerischen Volk der Germanen politischen Illusionen hingeben, so daß er glauben kann - unter Verzicht auf diplomatische Einfluß­nahme -, allein durch die Liquidation des römischen Rei­ches und seines Repräsentanten eine gerechtere Weltord­nung (wieder)herzustellen? Wie ist es denkbar, daß ein (angeblich) so menschlicher Kaiser die Gegenwart völlig ignoriert und die eigene Generation um der Sünden der Väter und Vorväter willen, den >kleinen Mann< der Politik seiner Herrschaft wegen bedenkenlos zu opfern bereit ist? Wenn Romulus ungerührt die Verwüstungen seines Lan­des und Mißhandlungen seiner Bewohner sowie den Tod nächster Verwandter registriert, solange dies seinem pseu­dohumanitären Geschichtskonzept nicht zuwiderläuft, da­bei seiner Tochter aber den Rat erteilt hatte, politische Ge­gebenheiten wie Staat oder Vaterland den menschlichen wie Freundschaft oder Liebe unterzuordnen, so klingt das in diesem Zusammenhang eher doppelzüngig. Wenn Ro­mulus allerdings mit solch verbohrtem >Idealismus<\ mit solcher Realitätsblindheit geschlagen ist, daß er sich vom Imperium Germanicum allein bereits eine humanitäre Besserung der Welt erhofft oder wenn er nicht einmal dies erwartet und lediglich darauf aus ist, in moralischer Selbst-

3 Elisabeth Brock-Sulzer, . Dürrenmatt: RomuJus 11.«, in: »Die Tat« vom 28. Oktober 1957, S. 5.

4 Anm. Scholdts: »Hans Ulrich Voser (Notizen zur Neufassung von Dür­renmatts >RomuJus der Große', in: Programmheft d. Schauspielhauses Zü­rich, 1957/1958, S. 5) nennt RomuJus einen >gescheiterten Idealisten<.«

1. Entstehung, Fassungen, Aufnahme 35

vergessenheit die Schuld seines Volkes zu tilgen5! so. wertet das zwangsläufig seine römischen Gegner auf biS hm zum patriotisch verschworenen. Koch. Denn ?ies wä~~ eine f~­tale Lehre, die dieser >mutige Mensch< hIer verkundet: elO seinen Untertanen oktroyiertes masochistisches Demuts­ideal, das mit politischer Vernunft wenig.z~ tun hat .. ~ ... ]. Daß Romulus sich selbst als Opfer mit ms Kalkul em­bezieht, macht seine Handlungsweise dabei nicht weni&er anfechtbar' ist sie doch bloße negative Heldenpose, Im Prinzip ve~gleichbar der des von ihm selbs: ausg~ebig v~r­spotteten Spurius Titus Mamma. Von semer vlelgepne­senen Humanität' bleibt in dieser mehr an >Hamlet<7 orientierten Fassung also ebensowenig wie. vo.n se!ner staatsmännischen Klugheit. Dieser Romulus Ist 10 sem~r allenfalls abstrakten Menschlichkeit nicht viel mehr als em verbohrter, weltfremder >Ideologe< und ein gefährlich~r dazu, der bereits manches vom >Schlächter< Titus AndroOl-cus vorwegnimmt. [ ... ] . . Ist das wirklich (noch) Größe? Und soll sie nunmehr em­zig in der Tatsache begründet liege?, daß ei? g~scheiter~er, auf den Tod fixierter Ideologe seme PenslOOlerung hlO­nimmt? Ist das Tragik? Im philosophischen, d. h. hier im formalen Sinne vermutlich ja, doch wie läßt sich das dra­maturgisch realisieren? Welches durchschnittliche Theater-

5 Anm. Scholdts: »Der Text läßt beide Interpretationen zu.« 6 Anm. SchoJdts: . Spätestens in diesem Zusammenhang sind Zwe.ifel ange­

bracht an Jacob Steiners emphatischer Formulierung: >Nur wer dIe K~nse­quenz der Menschenzeichnung sieht, vermag auch dIe dramaturgl~c~e IUchtigkeit der Handlungsführung elflzusehe~. ,~omulus der Große Ist die menschlichste Komödie Dürrenmatts, weIl sIe der Versuchung zum Pathetisch-Literarischen, der der Mensch in der Geschichte immer wieder erliegt, entlarvt<.« (»Die Komödie Dürrenmatts«, in: »Der D eutschunter-richt. 15, 1963, S. 88.] . .

7 Anm. Scholdts: »Vgl. Anmerkungen II zu ,Romulus<: ,Es. geh.t mIr flicht darum, einen witzigen Mann zu zeigen. HamJets Wahn~lfln Ist das r<;>te Tuch hinter dem sich der Degen verbirgt, der CJaudlUs gJlt, Romulus gIbt eine~ Weltreich den Todesstoß, das er mit seinem Witz hinhält.<. [Vgl. S. 80.]

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36 . 11 l. Zur Wirkungsgeschichte

publikum Philologen ausgenommen - läßt sich wohl dazu bringen, in dem wohlbesoldeten Ruhedasein, das man diesem kaiserlichen Hühnerzüchter von Herzen gönnt, seine eigentliche Katastrophe zu erblicken? [ ... ] Man ahnt auch noch in den späteren Fassungen, was vor­dem einmal im ursprünglichen Text angelegt war, eine Hauptperson nämlich, der es nicht nur darum ging, aus moralischen Skrupeln die Herrschaft so schnell wie mög­lich den Germanen zu übergeben, sondern die sich auf der Basis einer vorurteilslos internationalen Sehweise darum bemühte, im Zusammenleben beider Völker eine qualitativ neue Situation zu schaffen, was den durch die politischen Gegebenheiten in jedem Fall geforderten Opfern immer­hin noch einen gewissen Sinn verlieh. Und nicht zuletzt in dieser erfolgreichen Vermittlungsaktion, welche den Über­gang zu einer neuen historischen Epoche relativ schonend gestaltet, dokumentiert sich Romulus~ wirkliche Größe. Wenn Dürrenmatt nun auf eine solche theaterwirksame und gefällige Lösung in späteren Umarbeitungen verzich­tet hat, so geschah dies, weil dem Autor schon sehr bald Bedenken gegen diese Art von weltanschaulichem · Opti­mismus gekommen sind. Er widerrief damit die mehr oder weniger unbeabsichtigt verkündigte Einheit von Vernunft und Humanität, von Handeln und Sinn, Kategorien, deren Beziehung zueinander er im früheren wie im späteren Schaffen beinahe ausschließlich als das der Antinomie be­schrieben oder dargestellt hatte. Religiös bestimmte, er­kenntnisskeptizistische und geschichtspessimistische Ten­denzen, vor allem der nicht nur provokatorisch eingesetzte Zweifel an den geschichtsbeeinflussenden Möglichkeiten des Individuums - bei grundsätzlich idealistischem Denk­ansatz - traten hinzu. Sie zeigen den Autor als typischen Vertreter des totalen Ideologieverdachts, wie er die geistig­politische Szenerie im Westeuropa der SOer und frühen 60er Jahre kennzeichnet. [ . . . ] Fraglos erscheint das in den Veränderungen zum Aus-

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druck kommende Dürrenmattsehe Geschichtsbild reali­tätsnäher, doch war - so müssen wir uns fragen - nach­prüfbare Wirklichkeits- oder Historienabbildung über­haupt Ziel dieses ersten Komödienentwurfs? Diese ein­fache Lösung, in der Romulus sein Weltreich binnen weniger Minuten allein durch Diplomatie zurückerobert und sofort wieder verschenkt, sollte ja wohl ohnehin nie­mals ernsthaft als politische angeboten werden. Sie war von Anfang an eine - zuweilen mit Realitätspartikeln und satirischen Wahrheiten versehene - bewußt utopisches Po­litidylle, genial und befreiend als Denkspiel, reizvoll als vernünftig-unvernünftige Alternative zu grausamen Herr­schaftspraktiken, deren sozialkritische Provokation gerade in der Naivität des Grundgedankens beruht.«

Günter Scholdt: Romulus der Große? Dramaturgi­sche Konsequenzen einer Komödien-Umarbei­tung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978) S. 280-285.

2. Kritiken der Aufführungen

MAX FRISCHS vielzitierte Kritik der Uraufführung in der Zürcher» Weltwoche« vom 6. Mai 1949 sei hier ungekürzt wiedergegeben:

,.Eine Kritik wie sie sich gehört, eine wirkliche Kritik, die Einblicke eröffnete und wertvoller wäre als eine persön­liche Huldigung, wäre mir auch auf größerem Raume kaum möglich, weil ich zum wesentlichen Anliegen gerade dieses Dichters, trotz persönlicher Bekanntschaft, letztlich

8 Anm. Scholdts: »Der Autor selbst war sich zweifelsohne des grundsätzlich utopischen Charakters seiner Fabel bewußt, wenn er Romulus einen von ihm gerechtfertigten Landesverräter nannte, )aber einen von denen, die es nie gibt<. Weiter heißt es in den )Anmerkungen Ik )Kaiser rebellieren nicht, wenn ihr Land unrecht hat. Sie überlassen dies den Laien und nen­nen es Landesverrat<. ~ [Vgl. S.80J

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keinen Zugang habe, so daß auch die Bewunderung, die ich seinem Schaffen gegenüber empfinde, nicht über die literarischen Vorhöfe hinausführt. Das wesentliche Anliegen, das Dürrenmatt zur Gestaltung treibt, ist das Religiöse; offensichtlich schon in seinem er­sten Werk >Es steht geschrieben<, dessen bildnerische Kraft bei jedem Wiederlesen verblüfft; offensichtlich auch in sei­nem zweiten Werk >Der Blinde<, wo sich, was kein Grund zur Enttäuschung ist, gewisse Grenzen und Gefahren sei­ner Anlage abzeichneten. In seiner neuen Komödie, wo von Gott kaum die Rede ist, offenbart sich das Religiöse, wie mir scheint, allein schon in der Tatsache, daß einer, ohne unserer Zeit und unserer Lage auszuweichen, überhaupt imstande ist, eine Komödie zu geben. Nicht irgendeine Komödie, sondern unsere Ko­mödie. Zwar ist es, um die Nerven zu schonen, nicht unsere Kul­tur, die da unter den Hammer kommt, sondern die römi­sche Antike; aber die Situation ist die unsere: Ausverkauf einer Kultur - und da sitzt nun dieser Romulus, der letzte Kaiser eines Weltreiches, löffelt sein tägliches Ei und fragt so gelassen-beiläufig, ob Kultur denn etwas sei, was man retten könne; nämlich retten vor den barbarischen Germa­nen, die drei Akte lang im Anmarsch sind, während er, un­erschütterlich passiv, in einer verfallenden Villa sitzt, um­gackert von Hühnern, die römische Namen tragen. Das ist, und zwar auch auf der Bühne, eine Groteske von visio­närem Format. Der ganze zweite Akt, eine Begegnung von blutigem Ernst, spielt vor der Folie dieses Gegackers; die kaiserliche Tochter, Rea, verbringt ihre Zeit, indem sie An­tigone rezitiert: >Vaterlandes Bürger, seht wandeln mich den letzten Pfad.< So wohl gesprochen und so ahnungs­los, als käme sie von unsrer Universität. >Dagegen dem Acheron bin ich vermählt.< Und sie ist es; die Begegnung mit der Realität, die Begegnung mit Aemilian, ihrem Bräu­tigam, der als Verstümmelter aus germanischer Gefangen-

2. Kritiken der Aufführungen 39

schaft kommt, ist nicht die einzige grandiose Szene, aber die erste, wo Romulus, bisher ein halb witziger und halb weiser Unheld, seine wirkliche Perspektive gewinnt; hier brichts herein, was nicht mehr Burleske ist, das Grauen­hafte, und Romulus hält stand. Er ist kein geistreicher Scharlatan, wie man vielleicht im ersten Akt, der zuweilen an Shaw9 erinnert, noch meinen konnte; er ist ein Vol/strecker, passiv, aber durchaus ein Vollstrecker, ein bewußter Wille; er will, daß dieses Impe­rium untergeht. Ein schändlicher Kaiser, wie die Vaterlän­dischen ihn nennen. In einem dritten Akt, der sich an thea­tralischem Wurf mit Wedekind10 messen kann, scheitert die vaterländische Verschwörung; Romulus der Große, von seinen Mördern umstellt, soll sich rechtfertigen; ein Ange­klagter, der zum Ankläger wird: Rom kannte die Wahr­heit, aber es wählte die Macht, und woher nähme es das Recht, sich zu wehren? Seine Anklage, die wörtlich an unser unchristlich-christ­liches Europa gerichtet werden könnte, hindert seine Mör­der zwar nicht, ihre sinnlosen Dolche zu erheben; nur die Ankunft der Germanen hindert sie an ihrer zwecklosen Tat; das ist, vom Geistigen her, eine durchaus folgerichtige Lösung; woher kommt es, daß es theatralisch, wie mir scheint, keine Lösung ist? Deus ex machinall; ich muß es hinnehmen, wie wenn plötzlich ein Bild von der Wand fällt, und die Szene bleibt

9 George Bernard Shaw (1856-1950), anglo-irischer Schriftsteller, der u. a. ironische Gesellschaftskomödien und geistvolle historische Dramen ver­faßte.

10 Zu den Ähnlichkeiten, die in einzelnen Motiven zwischen »Romulus der Große« und zwei Dramen Frank Wedekinds bestehen, siehe Kap. II, S. 28.

11 (Iat.) ,der Gott aus der Maschine<; im antiken Theater die durch eine be­sondere Maschine bewerkstelligte Erscheinung eines Gottes, der die dra­matische Verwicklung löste. Heute bezeichnet der Ausdruck allgemein die unerwartete oder künstlich bewirkte Lösung von Verwicklungen oder Problemen.

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irgendwie verpufft, auch wenn ich sie hinterher, sobald Romulus wieder allein ist, als notwendig begreife. >Wenn dann die Germanen da sind<, sagt Romulus, >sollen sie her­einkommen.< Nicht weil die Germanen besser sind; aber weil das römische Imperium, so wie es sich verschuldet hat, unaufhaltsam zu Ende ist. >Gerechtigkeit ist etwas Fürchterliches<, sagt Romulus ein­mal. Seine Haltung ist von einer Unerbitterlichkeit, die un­ser Lachen durchaus zum Einfrieren brächte, wäre nicht der burleske Schluß. Wieso, fragt man sich später, konnte ich überhaupt lachen? Jede große Komödie setzt eine Beja­hung voraus, eine durchaus zweifellose, und vielleicht gibt es drum kaum eine moderne Komödie; es scheint mir ent­scheidend, daß Dürrenmatt nicht einfach den Ausverkauf einer Kultur zeigt, was eine zynische oder sarkastische Farce lieferte und weiter nichts, sondern im Mittelpunkt einen Menschen, der diesen Ausverkauf vollzieht im Sinne einer Erkenntnis, im Sinne einer unerschütterlichen Be­jahung, die allein alles andere was geschieht, als Komödie erscheinen läßt. Woher aber die Bejahung? Zweierlei ließe sich denken. Ein Revolutionärer, der den Untergang einer Kultur bejaht, weil er eine bekömmlichere erwartet; nur ist die Bejahung der Revolutionäre, wie es scheint, selten so krampflos, daß ihnen das Verneinte wirklich zur Komödie würde. Wie viele Revolutionäre gibt es, die Humor haben? Das andere ist die Bejahung, wie sie Dürrenmatt besitzt, die religiöse - die zu erläutern, wie gesagt, nicht meine Sache ist; nur wissen wir, daß das Religiöse, wo es ernst wird, immer eine erschreckende Erscheinung ist, ein Ding, das nicht unterzubringen ist in unserer christlichen Gar­tenlaube, ein Ärgernis. Die Uraufführung, die das Stadttheater Basel heraus­brachte, ist durch zwei hervorragende Leistungen be­stimmt: die Regie von Ernst Ginsberg, der dem Wesen dieser Dichtung spürbar verbunden ist, und die schauspie-

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lerische Leistung von Kurt Horwitz, der in diesem Romu­lus eine seiner besten Rollen gefunden hat; eine Kongru­enz der eigenen Persönlichkeit. Von den übrigen Darstel­lern sind es Margrit Winter und Bernhard Wicki, die als Rea und Aemilian eine der großartigsten Szenen zur Er­füllung bringen. Erwähnt sei auch das glückliche Bühnenbild, das von Edu­ard Gunzinger stammt, und die Tatsache, daß die Premiere zu einem Triumph wurde - und das für einen Dichter, der das gefällige Mittelmaß so rücksichtslos überragt! Nun müßte es bloß noch so sein, daß dieser Mann nicht zum Auswandern genötigt wird, weil seine Heimat, das reichste Land in Europa, ihn nicht zu ernähren vermag.«

Max Frisch: Friedrich Dürrenmatt. Zu seinem neuen Stück »Romulus der Große«. In: M. E: Ge­sammelte Werke in zeitlicher Folge. Hrsg. von Hans Mayer unter Mitw. von Walter Schmitz. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976. S. 344-346. - © Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.

WOLFGANG DREws kritisiert in der »Frankfurter Allge­meinen Zeitung« vom 29. Mai 1958 die »Deutsche Erstauf­führung der [ersten] Neufassung« in München:

»Früher wurde Geschichte geschrieben, heute wird sie ent­larvt. Der verschmitzte Shaw kichert hinter den Kulissen, und seine Schüler merken es nicht. [ ... ] Cleopatras Julius Cäsar: ein MenschY Romulus Augustus: eine Schwankfi­gur. Wenn Shaw den ersten römischen Kaiser belächelt: so könnte es gewesen sein. Wenn Dürrenmatt den letzten weströmischen Kaiser bespaßt: so kann es nicht gewesen sein. >Der Dichter ist Herr über die Geschichte<, erklärt Lessing, aber er betont das Wort Herr, unterstreicht dop­pelt das Substantivum Dichter. Der, ansonsten hochge­schätzte, Dramatiker Friedrich Dürrenmatt nimmt für

12 Gemeint ist Shaws Schauspiel »Caesar und Cleopatra~ (1901; dt. 1904).

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diesmal das Herrenrecht in Anspruch, ohne die Verpflich­tung zu erfüllen. [ ... ] Für seine abendfüllende Tätigkeit [das Verzehren von Hühnereiern] braucht Majestät zunächst einmal zwei Akte, von denen mindestens einer zuviel ist, weil der Witz nicht reicht, die Satire flach bleibt und außerdem nur al­bernde Mätzchen gereicht werden, die Dietrich Haugk un­ter angestrengtem Verleugnen seiner Begabung harmlos und heftig ausbreitet. Im dritten Akt erinnert Dürrenmatt zurückhaltend an den tüchtigen Autor mit dem selben Personalausweis. Er ver­rät uns, was er beabsichtigte. Er hat seinen Goethe gelesen und sich gemerkt, daß der Täter kein Gewissen besitzt, daß Handeln leicht, Denken schwer ist. Romulus, vom Augustulus zum Augustus befördert, beschließt, sein Reich durch Indolenz13 zu retten. Ein hübscher Zug, der propagiert werden müßte; die wahre Souveränität eines Souveräns, dem für dieses Übermaß altrömischer Tugend nur die standfeste Berner Gelassenheit fehlt. Schade, wie­der eine Enttäuschung. Nach dem blutigen Massaker, mit dem die gotischen Schwerter ihrem geschichtlichen Auf­trag Genüge tun, behauptet der weise Herrscher, seines Amtes sei es, Roms Richter zu sein. Daher der Entschluß zur Unentschlossenheit, die schöne prinzipielle Faulheit wird gerechtfertigt. Jammerschade. Das ist keine dramati­sche Idee, sondern eine Ausrede. Der Vorhang schließt sich, und jetzt lachen die Hühner. Dürrenmatt ist ein erfindungsreicher Dramatiker, zu sei­nen nützlichsten Einfällen gehört die Reprise14 als Urauf­führung. Die Kammerspiele brachten die »Deutsche Erst­aufführung der Neufassung«. E. F. Fürbringers Titelheld ist zynisch-elegant, nicht behaglich-feist. Ein salonfähiger Mare Aurel mit guten Denkermanieren, ein Philosoph

13 Unempfindlichkeit (gegen Schmerz); Gleichgültigkeit. 14 Wiederaufnahme eines älteren (eventuell überarbeiteten) Bühnenstücks

in den Spielplan.

2. Kritiken der Aufführungen 43

ohne Text. Er sprach die Bonmots, als ob sie geschrieben wären; er schliff den Witz; der fehlte. Er spielte die ima­ginäre Rolle wie eine Realität. Der gefolterte Patrizier Wölfgang Kieling, der abenteuerlich der Gefangenschaft entrann, kam aus MeiningenlS, scheußlich verstümmelt, blutbesudelt, vom echtheitsbesessenen Theaterherzog ge­schminkt. Um so überraschender, daß er ganz vernünftig redete und spielte. Die langerwarteten Germanen traten, die längstermüdeten Zuschauer atmeten auf. Peter Lührs vollbärtiger Fürst Odoaker gab, den Baedeker in der Hand, eine Lektion Kunst- und Kriegsgeschichte; saftige und sachliche, schmunzelnd-intelligente Komik. Sein Nef­fe Theoderich: Horst Rüschmeier, ein strammer Kriegs­bold mit Gehorsamkeitskomplex. Ein paar Minuten lang, die fünfzehnhundert Jahre zusammenraffen, führt uns der Autor auf die Höhe der Situation. Gerd Richters Ausver­kaufs-Imperium, durch die kaiserliche Villa in Campanien repräsentiert, roch überzeugend nach Pappe und Leim. Ende eines Weltreichs, Schluß des Kabaretts.«

Wolfgang Drews: Rettung durch Indolenz. Dür­ren matts »Romulus der Große~ in München. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 122. 29. Mai 1958. S. 8.

Am 10. Januar 1962 fand im Music Box Theatre am New Yorker Broadway die Premiere von Gore Vidals (geb. 1925) amerikanischel' Bearbeitung des Dürrenmattschen Dramas unter dem Titel »Romulus« statt. »Romulus« brachte es auf immerhin 69 Aufführungen am Broadway, obwohl die Kritiken, die zumeist Dürrenmatts Original­drama lobten und sich lediglich gegen die seinen Gehalt

15 Die ~Meininger., das Schauspielensemble des Hoftheaters des Herzog­tums Sachsen-Meiningen, zeichneten sich durch Streben nach historischer Echtheit und Realismus in Kostüm und Dekoration aus, wodurch sie in zahlreichen Gastspielen (1874-90) einen großen Einfluß auf die Entwick­lung des europäischen Theaters ausübten.

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verwässernde Bearbeitung richteten, vernichtend waren. Der folgende Auszug aus einer anonymen Kritik in der ~ew Yorker Zeitschrift »Theatre Arts« möge als Beispiel dIenen:

»Romulus, as Gore Vidal & Co. have rechristened Fried­rich D?rrenmatt's ~omulus the Great, has justly under­go.ne tItular. truncatIOn. For there is nothing great about thls evacuatlon on Dürrenmatt's remarkable original. What hath Gore wrought? T? give a mere rudimentary ac­count of the changes the emment author of The City and the Pillar and Visit to a Small Planet has made, I would need at least every page of this magazine, just as I had to cover every available white space on my program with some - only so me -: of t.he utterly inexcusable departures. The changes ~all mamly .mto the following four categories. Cuts: Anythmg that mtght tax the comprehension of an average .audience, or did tax that of the adapter and his crew ~dIrector, actors, producers). Additions: Absolutely anythmg t~at struck the adapter and company as amusing, or that bUllds up the part of a star to suit his specialties and eg?, or. that p~ovides ~or a local joke such as traveling comedlans ms~rt mto theIr ~aterial according to the city they are playmg. Explanatwns: countless dues hints pl~nts, elaborations to make whatever might elude' or sur~ prIse an uneducated playgoer understandable and predict­ahle, unsubtle and unstunning. Atmosphere: Substitution for a tone of intense, grotesque, bitter wit (>a difficult, h~avy co~~dy< !?ürrenmatt calls his play) of a magma of fhmsy, fhttmg fhppancy, far too facile to be funny - in s~ort, a camp~ n.ot as the word was used by the Roman le­gIOns, but as It IS understood by legions of ballet dancers fashion designers, interior decorators, and members oE other entertainment industries.«

[Anon.:] Romulus. In: Theatre Arts (New York) 46 (März 1962) S. 62.

2. Kritiken der Aufführungen 45

GÜNTER SEUREN weist in seiner Kritik einer Düsseldorfer Inszenierung auf Schwächen in der Konzeption der Ge­stalt des Romulus hin:

»Von Dürrenmatts Farce >Romulus der Große< in der ~er Aut<;>r die Dek~d~nz des römischen Imperiu~s prak­tIs~h.glelchsetz.t mIt emem bankerotten Gegenwartsgeist, eXIStIeren zweI Fassungen. In der ersten disqualifiziert Romulus, der letzte Kaiser Roms, der 476 von dem Ger­manen Odowaker abgesetzt wurde, die feindlichen Hor­den, erscheint er noch als der ungebeugte moralische Sie­ger. In der zweiten Fassung, deren Vorzüge gegenüber der erst~n auf der Hand liegen und die Hansjörg Utze­rath mIt Recht auf das Programm der Düsseldorfer >Kammerspiele< setzte, bleiben Romulus nur noch die Gest~n und Worte der militärischen und geistigen Kapi­tulatIon. Dürren~att .machte aus. ihm eine schillernde Figur mit ei­nem kaIserlIchen FatalIsmus und einem ironischen Be­wußtsein dessen, was Wahrheit und was Verblendung ist. Dürrenmatt konzipierte diesen ersten Mann des Staates als Gegner von späten, unwirksam gewordenen Idealen: Hel­d~ntum, Vaterlan?sliebe, Kampfeswille. Es wird allerdings mcht g~nz plausibel, daß Dürrenmatt in dem passiven, g~nz seIn~n Alltagsbanalitäten ergebenen Romulus den RIchter semes heruntergekommenen Reiches sieht. Dür­renmatts Protagonist sieht zu sehr von der hohen Warte i~s peinlich.~ Ge~räng~; Ro.mulus wird nicht heimgesucht, mcht gequalt, mcht In semer überlegenen Rhetorik er­sch?tt:rt. Nic~t ~inmal de~ in der Misere des Krieges desil­lusIOnIerte romtsche KrIeger, der von Romulus eine Recht~e~tigung for~ert, kann den >Keep-smiling<-Stil des morallSlerenden KaIsers ändern. Er hat ja so recht, der ein­sa~e, verkannte, nonchalante Mann an der brüchigen SpItze des Staates. Dürrenmatts tragisch gemeinter Romu­lus ist oft nahe daran, eine Kokotte seiner Selbsterkenntnis

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zu werden, wo man eigentlich mehr eine sich tragisch win­dende Marionette erwarten dürfte. [ ... ] Dürrenmatts Stück ist Theater für Ohr und Auge. Es ent- . hält die Binsenwahrheiten von Lakaien, die in der Branche grau geworden sind, es hat jenen weltverachtenden Gestus, mit dem der Pleite-Imperator die letzten goldenen Lor­beerblätter seines Cäsarenkranzes verteilt, es versinkt schließlich in die Melancholie und Resignation von Fein­den - Romulus und Odowaker -, die sich auf den Trüm­mern ihrer Ideale begegnen, Gemeinsamkeiten feststel­lend. Ihr Gespräch wird zum Dialog über Menschlichkeit, der leider in der Inszenierung von Bogdan Jerkovic unter der mangelnden Ebenbürtigkeit der Spiel partner leidet. Wankas [Darsteller des Romulus] philanthropische Hei­terkeit kann man hier akzeptieren, sein Gegenüber aber bleibt, dank gewisser rheinischer Charakteristika, ein Düs­seldorfer Teutone. Mit Romulus, dem Individualisten, hat Dürrenmatt die Fahne einer besseren Welt nicht ganz ein-gezogen.«

Günter Seuren: Theater für Auge und Ohr. Dür­ren matts »Romulus der Große« in den Düsseldor­fer Kammerspielen. In: Handelsblatt. Nr. 184. 24. September 1964. S. 14.

Aus der Sicht marxistischen Glaubens an Sinn und Ziel der Geschichte setzt sich die folgende ostdeutsche Rezension von INGRID SEYFARTH mit der Ost-Berliner Gastspielauf­führung der Städtischen Bühnen Hildesheim auseinander:

»Eines ist an dieser >unhistorisch historischen Komödie<, von der bis jetzt drei Fassungen vorliegen, die zweifellos auf die Unzufriedenheit des Autors mit der Formung die­ses Werks hinweisen, unverkennbar: Es geht Dürrenmatt bei der außerordentlich >freien< Behandlung der Ursachen und Fakten, die zum Untergang des weströmischen Reichs unter dem Kaiser Romulus im Jahre 476 führten, nicht um die exakte Darstellung historischer Vorgänge; in diesem

2. Kritiken der Aufführungen 47

Ausverkauf des Imperiums ist ein Teil seiner Absage an die imperialistische Welt enthalten. ,Ich bezweifle nicht die Notwendigkeit des Staats, aber ich bezweifle die Notwen­digkeit unseres Staats<, des Staats nämlich, der >die Gewalt< und >die Tyrannei< wählte, obwohl er >die Wahrheit< kannte. Aber in diesem Dilemma entscheidet sich Romu­lus, >ein untragischer Mensch<, dazu, >nichts zu tun<, und das erhebt er zu seiner ,politischen Einsicht<; er rät deshalb: ,Lerne die Furcht zu besiegen. Das ist die einzige Kunst, die wir in der heutigen Zeit beherrschen müssen.< Diese Haltung des hühnerzüchtenden Kaisers ist eine durchaus mögliche, eine für die Komödie reizvolle und ergiebige Haltung für Situationen und geistreiche Aper~us, aber der in der Endkonsequenz angezweifelte Sinn allen histori­schen HandeIns, die absolute Verwerfung ethischer Be­griffe - hier ist es vor allem der Vaterlandsbegriff -läßt für mich kein ungetrübtes Vergnügen zu. Vielleicht ist das auch eine Antwort auf die Frage des Hildesheimer Inten­danten, der in einer Pressekonferenz feststellte, daß unser vor allem jugendliches Publikum wenig über die >Pointen< gelacht habe. Warum sollte ein junger Arbeiter oder ein Student bei uns aber lachen, wenn Romulus >philoso­phiert<: , Vaterland nennt sich der Staat immer dann, wer:n er sich anschickt, auf Menschenmord auszugehen< - das 1st nicht ihre Meinung über das Vaterland.«

Ingrid Seyfanh: Berlin: Theater der Freundschaft. Gastspiel Städtische Bühnen Hildesheim. »Romu­lus der Große« von Friedrich Dürrenmatt. In: Theater der Zeit 13 (1965) H. 20. S.30.

OITO KUHN berichtet über eine Fernsehinszenierung Hel­mut Käutners für den Sender Freies Berlin:

»Helmut Käutner konnte sich leider in seiner Fernseh-In­szenierung nicht recht entscheiden zwischen Schauder und Scherz: aus den Mündern einiger seiner Darsteller klangen

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48 111. Zur Wirkungsgeschichte

Dürrenmatts Worte wie Boulevard-Philosophie. So blieb es den beiden kolossalen Hühnerzüchtern Romuald Pekny (Romulus) und Wolfgang Lukschy (Odoaker) vorbehal­ten, die Philosophie zum bissigen Scherz zu machen. Zwi­schen Hühnervolk und Hosenträgern, inmitten übermü­deter Helden, alle Kaiser und Regime überdauernden Kammerdienern, den Machthabern einer neuen Zeit wie Cäsar Rupf und Odoakers Neffen Theoderich, allgegen­wärtigen Mitläufern im Kostüm des >kleinen Mannes< und >Berufsflüchtlingen< wie Zeno, dem Isaurier, lasen sie dem Zeitalter der Macht und Staatsvergötzung die Leviten. Es spricht für Dürrenmatts ätzenden Humor, daß er den Hühnerhof zum Tribunal machte. Käutners Kameramann wußte mit dieser erweiterten Szenerie nicht so viel anzu­fangen - er verharrte zumeist in der Halbtotalen. Zu we­nig Großaufnahmen gab es, und der Schnitt war gemäch­licher, als es das Stück erlaubte. Dennoch mußte man dem Sender Freies Berlin danken, daß man die selten gespielte >ungeschichtlich-historische Komödie< endlich einmal zu sehen bekam.«

Dtto Kuhn: »Ausverkauf einer Kultur«. Helmut Käutner inszenierte Dürrenmatts »Romulus der Große«. In: Ruhr-Nachrichten. 8. Juni 1965.

Die folgende Rezension einer Züricher Premiere vom 31. 12. 1980 ist voller Lobes über Autor und Inszenierung:

»>Romulus der Große< gehört zu den besten Stücken von Friedrich Dürrenmatt: die Inszenierung zu den stimmig­sten, die wir von Gerhard Klingenberg kennen. Am Büh­nenbild von Järg Zimmermann können wir einen Superla­tiv sparen: weil dieser Künstler ohnehin nie enttäuscht hat, oder es ist schon so lange her, daß man sich nicht mehr er­innert. Von Bühnenbild und Regie und Text erhält der Zu­schauer einen ersten Wink; und dann einen zweiten; die Gleichheit der Winke zeugt von der Einheit des Ganzen.

2. Kritiken der Aufführungen 49

Der erste sagt: Nehmt nicht ernst, was nun kommt; der zweite: Lacht aber erst, wenn ihr's versteht. Gelacht wird freilich über die einzelnen Pointen - und Klingenberg ist man dankbar, daß er sie unbeeilt kommen und gehen läßt, ihrer Wirkung aus dem Wortlaut von Rede und Gegenrede vertraut und nie die Situationskomik über­dosiert. [ ... ] Jetzt aber, im vierten Akt, geht auch die Rechnung des Kai­sers nicht auf; seine Richterrolle gerät ihrerseits ins Absurde; die Opfer, die er hat bringen lassen, werden von der Ge­schichte nicht honoriert, sein Selbstopfer wird nicht einmal angenommen. - Charles Regnier ist der dritte Zürcher Ro­mulus und, wenn das Gedächtnis nicht trügt, der erste, dem zum Schluß die Wendung ins Komisch-Vergebliche glückt­der nicht verharrt im >Überlegenheits gefühl des ethisch Rückversicherten< (eine Formulierung Max Rychners16

), in eben der Richterpose des Kaisers, die manchen wohl impo­nieren könnte, aber auf Kosten der vollen Mehrdeutigkeit. Verspielt fängt er an, verschärft seine Nachlässigkeit ins scheinbar Zynische, richtet sich auf zu momentweise fast bestechender Größe und sinkt zurück in kopfschüttelndes Staunen vor den krausen Einfällen der Geschichte. Neben dieser reifen, durchgestalteten Leistung tut sich Ansprechendes hervor: der Hosenfabrikant Cäsar Rupf, ak­kurat und witzig von Peter Ehrlich dargestellt, der Germa­nenfürst Odoaker, von Wolfgang Reichmann mit biederer Hellsicht humorvoll ausgestattet, die Kammerdiener Achil­Ies und Pyramus (Heinrich Trimbur und Erwin Parker), der Kunsthändler Apollyon (Wolfgang Stendar). Und durch­aus Achtbares, wie der Kriegsminister, von Klaus Knuth, oder der Ostkaiser Zeno, von Rene Scheibli gespielt.«

Hg. [d. i. Hanno HelblingJ: Wiedersehen mit »Ro­mulus«. Silvesterpremiere im Schauspielhaus Zü­rich. In: Neue Zürcher Zeitung. 3. April 1981.

16 Max Rychner (1897-1965), schweizerischer Schriftsteller und Literarur­kritiker.

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IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

ELIsABETH BRocK-SuLzER sieht im »Romulus« zwei

Neuerungen im Schaffen Dürrenmatts verwirklicht:

»Mit >~omulus der Große< geschieht ein wichtiger Um­

bruch Im Schaffen Dürrenmatts: er bekennt sich eindeutig

zur Komödie, ein Standpunkt, den er streng durchgehal­

ten hat. Immerhin hat er aber den >Meteor< nur noch Ko­

mödie genannt, weil sich eben >kein anderer Ausdruck als

ebenso praktisch< erweise. Warum nun nicht einfach

>Stück< oder >Drama<? Wahrscheinlich deswegen, weil

Dürrenmatt nicht in die Unverbindlichkeit, die diesen bei­

den Wörtern anhaftet, abbiegen möchte und weil im Be­

griff der Komödie der Gegenpol des Tragischen, auf das

!?ürrenmatt nie verzichtet hat, greifbarer bleibt. Noch

eIne andere Wendung geschieht im >Romulus<: Dürren­

matt versagt sich jegliche Selbstherrlichkeit des Wortes es

!st nun .streng bezogen auf die Theaterfigur und darf n{cht

InS ~rnsche ausbre~hen. Zweifellos bedeutete das ein Op­

fer fu~ den Autor, eIne selbstgewählte Zucht, der Dürren­

matt sich aber mehr und mehr unterworfen hat. Daß seine

Gestalten >Sprache werden und sonst nichts<, daß das ein

Theaterschriftsteller >immer wieder anzustreben habe< das

geschieht nun verschwiegener, unauffälliger, aber ~icht weniger rein. Die Sprache bricht nicht mehr aus der Ge­

stalt aus, sie reißt die Gestalt mit sich als deren innerstes Wesen.«

Elisabeth Brack-Sulzer: Dürrenmatt in unserer

Zeit. Eine Werkinterpretation nach Selbstzeugnis­

sen. 5.-7. Tsd. Basel: Friedrich Reinhardt, 1971. S.24f.

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 51

An anderem Orte weist sie auf die gattungs mäßige Bedeu-

tung der Hühner hin: .

»Romulus scheint sich nur für Hühnerzucht zu interessie­

ren. Züchtete er Rosen oder Pferde, so wäre er viel gesell­

schaftsfähiger. Warum gerade Hühner? Dürrenmatt fand

das Motiv in einer Überlieferung, aber das Huhn ist auch

bei näherem Zusehen eine enorm theatergemäße Figur: es

folgt der Regel von der Einheit der Zeit mit höherem Ge­

schick als die meisten Klassiker. Jeden Tag legt es sein Ei,

oder sollte es wenigstens. Nun dauert diese Komödie von

einem Frühstück zum nächsten - weder Rosen noch

Pferde könnten sich in diesem Zeitraum so beweiskräftig

legitimieren. Es ist nötig, hier solches Küchenlatein der

Ästhetik anzubringen, denn nur so ist dem Vorwurf zu be­

gegnen, Dürrenmatt habe mit seinem Hühnerhof, der zu­

dem kaiserlich benamst wird, seinem Hang zum Kalauer

gefrönt. Die Hühnerzucht hat unter allen bäuerlichen Be­

schäftigungen jene Promptheit, die dem dramatischen

Zeitraffer angemessen ist. Immerhin wird das natürlich

nicht unmittelbar klar; ein unwilliges Lachen ist denn auch

meistens die erste Reaktion des Publikums, wenn es Ro­

mulus und seinen Hühnern zum erstenmal begegnet.«

Elisabeth Brack-Sulzer: Friedrich Dürrenmatt. Sta­

tionen seines Werkes. 3., erg. Auf] . Zürich: Verlag

der Arche, 1970. S. 48 f. © 1960, 1964, 1970 und

1973 by Verlags AG Die Arche, Zürich.

ARMIN ARNOLD arbeitet die Unterschiede zu den früheren

Werken heraus und weist auf die verfremdende Wirkung

der Anachronismen hin:

»Zwischen den Uraufführungen von dem Blinden und Ro­

mulus dem Großen (am 25. April 1949 in Basel) liegen nur

fünfzehn Monate, aber Dürrenmatt scheint in dieser Zeit

ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Romulus hat

- auf den ersten Blick - mit den früheren Werken kaum

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52 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

mehr etwas gemeinsam. Aus einem !<-ierkegaard l ist ein Spengle~ geworden, ein ~pengler m~t dem Humor von Parkinson3

• Von Gott ist mcht mehr die Rede; auf der Welt geht es nach wie vor übel zu, aber Gott wird nicht me~r dafür verantwortlich gemacht, sondern der Mensch, dIe Natur des Menschen, der Zufall. Neben di~ser Wandlung im Gedanklichen hat sich eine Wandlung m der Sprache und in der Bühnentechnik vollzogen. Die Personen. ~er­den zum ersten mal durch ihre Sprache charaktenslert. Während vorher die eine oder andere Figur das Publikum durch gelegentlichen Jargo~ oder Dialekt~usdrücke s~ho­ckierte, sprechen nun gewIsse Personen mnerhalb emes bestimmten Sprachbereichs. [ ... ] Statt daß also der gele­gentliche Jargon- o~er Dialekta~sdruck aus dem Munde irgendeines Schauspleler~ sc~?cklert, verfremdet nun d:r Auftritt von Personen wIe Casar Rupf und Apollyon, dIe laut Vorwissen des Publikums im fünften Jahrhu~~ert s~ fehl am Platze sind wie die Sprache des MerkantIlIsmus des zwanzigsten Jahrhunderts, ~ie s.ie ~ebrauche~. Der Zu­schauer wird immer wieder destlluslOmert: er weiß, daß. et­was mit dem fünften Jahrhundert auf der Bü.hne m~ht stimmt daß Parallelen mit der Gegenwart zu zIehen smd und - daß er sich im Theater befindet.«

Armin Arnold: Friedrich Dürrenmatt. Berlin: Col­loquium-Verlag, 5. erg. Auf]. 1986. (Köpfe des 20. Jahrhunderts. 57.) S. 33 f.

Sören Aabye Kierkegaard (1813-55), dänis~her Theol.oge un.d Philos?ph, über den der Student Dürrenmatt ursprünghch eme Dlssertatlon schreIben

wollte. h'l h, ~ 2 Oswald Spengler (1880-1936), deutscher Geschichtsp IOSOP u. a. er-

fasser von »Der Untergang des Abendlandes.~ (2 Bde:, 1 9~ 8-22). . 3 Cyril Northcote Parkinson (geb. 1909), enghs~.her H!stonke~ und PublI­

zist, der durch seine humorvollen "Gesetze« uber dIe EntwIcklungsten-denzen von Bürokratien bekannt wurde. . .

4 Eigtl. die Bezeichnung für das ökonomische System des .Abs.olutlsmus Im 17. und 18. Jh ., das zur Gewinnung ~~n Geldquellen dIe Fo:derung des Außenhandels und damit die IntenslVlerung der eigenen Wmschaft er­strebte.

I V. Zur Interpretation (Literaturkritik) 53

Für KARL S. GUTHKE »schwenkt das Stück unzweideutig in die Komödie hinüber«:

»In Romulus dem Großen, >einer ungeschichtlichen histo­rischen Komödie< (1949, 2. Fassung 1957), die den Unter­gang des römischen Reiches als Leistung eines Kaisers sieht, der es für seine Pflicht hält, den Niedergang durch systematisches Nichtstun zu beschleunigen, streift Dür­renmatt hin und wieder die bekannte tragikomische Bau­form der Entgegensetzung von tragischem Hintergrund und lachenerregender Hauptperson, aber indem sich nach und nach die Wertakzenruierung verschiebt, Romulus als der wahrhaft humane Mensch sichtbar wird und der Ver­fall als Untergang des nicht Lebenswerten, schwenkt das Stück unzw?ideutig in die Komödie hinüber, die zwar noch ihren tiefen Ernst besitzt, aber keine Tragik. >Eine schwere Komödie< nennt sie Dürrenmatt, nicht eine tragi­sche [ ... ].«

Karl S. Guthke: Geschichte und Poetik der deut­schen Tragikomödie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1961. S. 381 f.

CHRISTIAN MARKUS ]AUSLIN sieht hingegen im letzten Akt »eine Wendung zur Tragödie«:

»Wie hat Romulus sich die Welt vorgestellt? Er hat die Sinnlosigkeit allen Heldentums durchschaut. Er wollte deshalb >zerfallen lassen, was zerbrechen mußte, und wollte zertreten, was dem Tode gehörte<. Aber diese Handlung erweist sich als sinnlos, weil nach dem Unter­gang seines Reiches wieder ein neues Reich entsteht; das Volk bleibt sich immer gleich, >es will das Heldentum<, und auf einen toten Theoderich folgen >tausend neue Theode­riche<. Das Stück nimmt hier eine Wendung zur Tragödie, deren Katastrophe aber derjenigen der klassischen Tragödie ge­nau entgegengesetzt ist, denn nicht der Tod, sondern das

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54 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

Weiterleben ist für Romulus, der ja im Tod die Erfüllung seines Lebens sah, zur Tragik geworden. Dies meint wohl Dürrenmatt, wenn er von Romulus sagt, daß seine >Tragik gen au in der Komödie seines Endes, in der Pensionierung< liege [so S. 80]. Von hier aus läßt sich nun auch feststellen, daß das ganze Leben von Romulus auf einem tragischen Irrtum aufgebaut war. Er ist der Ansicht, daß der Helden­tod für das Imperium sinnlos ist. Aber er sieht zunäc~st nicht ein, daß auch der von ihm gewählte Opfertod II? Grunde ein Heldentod ist; er baut also sein Leben auf eI­nem Irrtum auf, für den er bereit ist, seine Familie aufzu­opfern, und muß am Schluß einsehen, daß dieser Verzicht sinnlos war. [ ... ] Man kann daher nicht einfach wie Guthke behaupten, daß das Stück >unzweifelhaft in die Komödie< hinübergeht [so S.53], denn einen gewissen Spielraum behaup~et das Tragische, wie wir feststellten, so~ohl am. Ende WIe auch durch das ganze Stück hindurch In der FIgur des Romu­lus. Ein letztes ist noch nachzutragen, nämlich eine Bemerkung zur formalen Struktur des Stückes. Dürrenmatt versteht es hier, die klassische Forderung nach Einheit von Ort und Zeit scheinbar weitgehend zu erreichen. Das Stück dauert genau von einem Frühstück des Kaisers bis zum nächsten; dieses nimmt er beide Male im Arbeitszimmer ein. Die da­zwischen liegenden Akte spielen am ~ac~mit~ag im Park und nachts im Schlafzimmer. Durch die EInheIt des Ortes zu Beginn und am Ende des Stückes wird diese E.inhe~~ f~r das ganze Stück zu~indest .vorgetäu~cht. ~as 1:1Itte~. ubn­gens, um die EinheIt der Zelt zu erreichen, 1st dIe Huhner­zucht, wie E. Brock klar festgestellt hat [so S.51]. Der Hühnerzucht dürfen wir aber noch eine zusätzliche Auf­gabe zuschreiben. Indem Dürrenmatt deutlich werde!1 läßt, daß das Huhn in der Lage ist, die Einheit der KlaSSI­ker einzuhalten, stellt er diese Einheit als künstlerisches Ideal in Frage, d. h., er parodiert sie mit eben dieser Lei-

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 55

denschaft des Kaisers. Die hühnerzüchtenden Kaiser (Ro­mulus und Odoaker) haben zweifellos eine große, gro­teske Wirkung. Die Parodie wird hier also durch ein gro­teskes Mittel hervorgerufen.«

Christian Markus Jauslin: Friedrich Dürrenmatt. Zur Struktur seiner Dramen. Zürich: Juris-Verlag, 1964. S. 54 f.

In Anlehnung an Dürrenmatts eigene Klassifizierung in den »Theaterproblemen« (vgl. S.97) wird Romulus auch in der Sekundärliteratur mehrfach als »mutiger Mensch« interpretiert, so Z. B. von ]OSEF SCHERER:

»[Dürrenmatts] Werk ist nicht nur Protest gegen eine ab­strakte (entleerte) Bühne, sondern ebenso sehr gegen die Anonymität der Masse. Immer wieder stellt sich in seinen Komödien ein einzelner >mutiger< Mensch gegen die Masse derer, die nur mehr Geschobene ihrer Wahnideen sind, heißen diese nun Staat, Gerechtigkeit, Macht oder Brüder­lichkeit. Da ist Romulus, ein Kaiser, der sich in scheinbarer Behag­lichkeit an seine Hühnerzucht verliert, während sein Welt­reich in Trümmer geht. Und doch steigert er sich in seiner weisen Nar.~heit zu beängstigender Größe, erweist sich als der einzig Uberlegene, neben dem die Bravourleistung ei­nes Spurius Titus zu einer bloßen Farce ausartet. Diese Helden von Römern glauben mit ihren >heroischen< Leis­tungen eine auf Lüge und Tyrannei gebaute Machtidee zu retten und zerschellen an dem einen, der nicht die Macht, sondern den Menschen will. Sie hatten die Wahrheit ge­kannt, aber den leichteren Ausweg der Gewalt gewählt, wußten um die Menschlichkeit und verlegten sich auf die Tyrannei. Aber dort, wo die äußere große Geste nicht mehr von der inneren Größe des Menschen getragen wird, verfällt eben dieses Mühen der Lächerlichkeit. Man mag sich dann kleiner Buben erinnern, die in den überlangen

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56 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

Kleidern ihrer Eltern die Welt der Großen mimen wollen. Aber während die Kleinen um ihr Spiel wissen, haben die Großen gar nicht bemerkt, daß ihr Heldentum längst zu einer Pose geworden ist. Aemilian sucht seine geschändete Offiziersehre zu retten und spürt nicht, daß er nichts an­deres als ein geschändetes Opfer eben jener Macht ist, die . er mit seinem und dem Opfer seiner Braut zu >retten< sucht. Aber Romulus opfert keine Menschen für ein Idol, verschachert nicht seine Tochter an einen Hosenfabrikan­ten, nur damit das >Reich< gerettet wird, eher gibt er eben dieses Reich aus der Hand wie eine Münze, die sich selbst verraten hat. Damit läßt Dürrenmatt die Wahnidee des Machtstaates an einem einzigen Menschen zerbrechen, der noch den Mut hat, wirklich ein Mensch zu sein.«

Josef Scherer: Der mutige Mensch. Versuch einer Deutung von F. Dürrenmatts Menschenbild. In: Stimmen der Zeit 169 (1962) S. 308.

Mit der Rolle von Zufall und »schlimmstmöglicher Wen­dung« im »Romulus« setzt sich TIMO TIUsANEN auseinan­der:

» When piloting his ship along the winding fairway into the harbor, Dürrenmatt introduces or implies several con­cepts which were to play focal roles in his later practice and theory as a tragicomedian. These concepts are >absurd<, >chance<, and >the worst possi­ble turn<. Both Romulus and Odoaker find themselves in an absurd situation, as the calculations on which they have based their entire line of action prove to be wrong. Romu­lus' lifelong ambition has been to be a judge of his own case, the case of the other nations of antiquity versus the empire of Rome. He has condemned to death both the empire and hirnself. On the other hand, Odoaker has given in to his beJligerent nephew and started the war

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 57

against Rome only to submit his Teutons to Romulus, an avowed pacifist. Both find themselves in an utterly absurd situation. Romulus has to beg Odoaker to kill hirn - yet this is only a panic reaction, for killing Romulus would not deter Theodoric from entering into power, it would only smooth his path. The situation questions man's abi­lity to reason: [ ... ] This absurd situation is brought about by chance. It was pure chance, not included in Romulus' calculations, that his adversary would also be a chicken farmer and a paci­fist. No~ did Odoaker suppose that his adversary would expect hirn to act the role of executioner. Dürrenmatt has called chance an ambiguous concept, open to several inter­pretations. [ ... ] It also drives Dürrenmatt's plots into their >worst possible turn< [ ... ]. Retirement is for Romulus, as mentioned above, the worst >of all possible fates<. Yet he resigns hirnself to it, not as a proud hero of tragedy, but as a humble hero of modern tragicomedy. Dürrenmatt's pro­tagonists, both on the stage and in the novels, are over and over again brought to a breaking-point, where they have to admit that human reason is not in control over this world of ours. A genuine tragicornedian, Dürrenmatt is questioning the existence of a world order. >The absolute grotesque<, as the problem of the sense or senselessness of our lives, can be seen behind the constellation of Romulus the Great. There is an absurd, incalculable element in life, there is chance as a limit to man. Dürrenmatt needs this limit; his own relation to chance is ambiguous. The posi­tive side of chance is that it means a gap in the chain of logic, and a weapon to fight formulas with. Whether for good or bad, chance has a role on Dürrenmatt's stage. The train may rush into a vacuum, the ruler of the Teutons may prove to resemble a peace-Ioving Swiss farmer. Not to despair in the absurd situations caused by chance, not to give in when facing the worst possible turn in their fate, is the solution for Dürrenmatt's >men of courage<. Romulus

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58 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

and Odoaker are men of courage. In Romulus the Great there is courage in the middle of quasi-courageous attitu­des, and real heroism behind the masks of clowning and mockheroism. There is a kind of world order re-estab­lished in Romulus' and Odoaker's minds - an order in­cluding the possibility of blind and absurd chance.«

Timo Tiusanen: Dü rrenmatt. A Study in Plays, Prose, Theory. Princeton (N. J.): Princeton Uni­versity Press, 1977. S. 85 f.

Für HANs-JüRGEN SYBERBERG ist die ,>eigentliche Inten­tion des Dramas, und damit der >Anspruch<, den die Pro­blematik erhebt, [ ... ] Weltdeutung und Sinndeutung des Lebens. Die Frage nach der ,Schuld< des Romulus, Odoa­kers, des Ämilian oder der Spukgestalten des Hofes muß undeutbar bleiben, da sie zu vielgesichtig ist, vielmehr lei­tet sie auf die zentrale Frage über: ist die Welt so beschaf­fen, nämlich ausweglos, und wenn, wie soll man ihr begeg­nen? Die besondere Antwort, die das Drama gibt, durch­bricht den Gefügecharakter des Werkes durchaus, aber die besondere Zurückhaltung ihrer Verkündigung (im Ge­spräch Romulus-Odoaker) verhindert jede Didaktik, sie erscheint vielmehr als unverbindliche Variable vieler Er­kenntnis- und Deutungsmöglichkeiten. Die variable Haltung der denkbaren Möglichkeiten, die das Drama anbietet, ist: Das Schicksal wird als teilweise selbstverschuldet, aber doch ohne andere Wahl, als unab­wendbarer Zwang auf sich genommen. Jede Gegenwehr ist nutzlos, >sinnlos<. Man muß sein Geschick tragen mit aller Lächerlichkeit und Tragik, die der Ausweglosigkeit inne­wohnt. (Daß diese Ausweglosigkeit nicht nur das bewußte Werk der Zerstörungsabsichten des Romulus ist, beweist die in der Zukunft von Odoaker vorausgesehene Ausweg­losigkeit der Germanen. Die Ausweglosigkeit ist nicht nur willentlich heraufbeschworene Situation des Romulus. Sie muß als ein Grundzustand der menschlichen Existenz an-

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 59

genommen werden.) Die höchste Form der Re-aktion auf die Ausweglosigkeit der Situation ist hier die Einsicht, >Sinn in den Unsinn zu legen<, so zu tun, >als ginge hienie­den die Rechnung auf, als siegte der Geist über die Materie Mensch<, das heißt, man möge mit dem vollen Bewußtsein der Lächerlichkeit und des Vergeblichen >versuchen . .. die Welt treu zu verwalten<. So wird die Frage nach der >Schuld< des Menschen zu einer Frage an die Schuld der Welt, die in die Einsicht mündet, daß diese Welt aus sich und aus der unvermeidlichen Mit­schuld des Menschen, den Menschen immer wieder in die Situation der Ausweglosigkeit aussetzt, auf die er nur noch die Wahl hat, sie anzuerkennen und zu tun, was noch möglich ist, oder zu verzweifeln. Dieses Noch-Mögliche zeigt sich hier als die Beschränkung auf den kleinen Be­reich (z. B. die Liebe zum Menschen, nicht zum Vaterland) oder die persönliche Tapferkeit im Bestehen des Unver­meidlichen, ohne Absicht, für eine Allgemeinheit retten oder opfern zu wollen. Aber diese Möglichkeit wird im vollen Bewußtsein gewählt, daß dies nur eine Variable vie­ler Möglichkeiten sein kann. Es haftet ihr das Hinfällige eines tragischen und lächerlichen Versuchs an.«

Hans-Jürgcn Syberberg: Zum Drama Friedrich Dürrenmatts. Zwei Modellinterpretationen zur Wesensdeutung des modernen Dramas. München: Verl ag Un i-Druck. ' 1965. S. 80f.

Für KURT MARTI ist »Romulus« ein »provozierendes Stück wider die Verteidigungs-Neurose« der Schweiz:

»Nachdem die Aggressionsdrohung [des Dritten Reiches] dahin gefallen war, wirkte und wirkt der erlebte Schock traumatisch bis heute nach. Viele Schweizer litten an >Ver­teidigungs-Neurose< (Arnold Künzli), fühlten sich dau­ernd bedroht und hielten alsbald den russischen Kommu­nismus für jene Macht, die die Existenz der Schweiz nicht

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weniger bedrohte als seinerzeit die Nazis - ungeach~et der Tatsache, daß von einem inneren oder äußeren Angnff des Kommunismus auf die schweizerische Unabhängigkeit seit 1945 im Ernst nie die Rede sein konnte. 1949 entwarf Friedrich Dürrenmatt in der ungeschichtlichen histori­schen Komödie >Romulus der Große< ein Gegenbild zu der Verteidigungs-Neurose: er stellte in Romulus einen Herrscher auf die Bühne, der vor den anstürmenden Ger­manen unter Verzicht auf alle sich in solchem Fall anbie­tende Verteidigungsphraseologie mit human-christlicher Dialektik freiwillig kapituliert. Die komödiantische Irrea­lität dieses Machthabers erklärt am ehesten das verwun­derliche Faktum, daß dieses provozierende Stück wider die Verteidigungs-Neurose dennoch den fast ungeteilten Bei­fall des schweizerischen Publikums finden konnte. Nur A. H. Schwengeler, die Tendenz der Komödie richtig err~­tend, aber als frivoles Spiel mit höchsten Werten verurtei­lend, rief ein flammendes >Nein!< und schrieb: >Mag er in seiner Komödie Bubenbergs Wort: ,So lang in uns eine Ader lebt, gibt keiner nach!' mit vielen andern ins Läch~r­liche ziehen:5 - der das Wort sprach, überdauerte Im Geist Generationen von Nihilisten. Er wird auch Dürren­matts ,Romulus' überdauern ... < (>Der Bund<, 18. Januar 1951.) Trotz des Beifalls, den Dürrenmatts komödiantische The-rapie der Verteidigungs-Neurose fand, blieb die Neurose und konnte sich bei Gelegenheit in einer >Hexenjagd< äußern, wie sie Walter Matthias Diggelmann in seinem Roman >Die Hinterlassenschaft< (1965) dargestellt hat am Modell des >Pogroms von T.<.«

Kurt Marti: Die Schweiz und ihre Schriftsteller. Die Schriftsteller und ihre Schweiz. Zürich: EVZ­Verlag, 1966. (Polis . Evangelische Zeitbuchreihe.) S.28f.

5 Vgl . S. 12, Anm. zu Solange noch eine Ader in uns lebt, gibt keiner nach.

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 61

HENNING RISCHBIETER sieht »Romulus« als »Satire auf den frühen Anti-Kommunismus«:

»Merkt der heutige Leser noch, daß Dürrenmatt damals, vor .nun schon fast zwei Jahrzehnten, ein Zeitstück ge­schneben hat? Daß er eine Satire schrieb auf den frühen Anti-~ommunismus, auf die erste Nervosität angesichts des >Eisernen Vorhangs< (Churchill 1946), des Scheiterns der Allianz des zweiten Weltkriegs, der Atombombe in sowjetischem Besitz? Daß die erstaunte Replik seines >Helden<: >Ist Kultur etwas, das man retten kann?< auf die späteren kalten Krieger gemünzt war, die sich damals schon anschickten, das >Abendland< zu retten? Inzwischen rückte >Romulus der Große< aus dem Zeitbe­zug heraus, das Stück erscheint heute als eigentümlich ele­gante, fast glatt-witzige Bekundung der Dürrenmattschen Weitsicht: fatalistische Erwartung des Untergangs, der Ka­tastrophe, die Sinnlosigkeit als Signum des Geschichtlichen -. un? stoischer Glaub~ des >mutigen<, des untergangs-ein­Sichtigen Menschen, hier des kaiserlichen Hühnerzüchters Romulus, der es geradezu als seine Aufgabe betrachtet, fal­len zu lassen, was zum Fall bestimmt ist - und sei es ein Weltreich, die zivilisierte Welt. Auf die wunderbare Weise der Konversations-Komödie gehen dem Romulus auch bei diesem sinistren Geschäft die Pointen nicht aus, verläßt ihn seine schier übermenschliche Gelassenheit nicht. Wie ernst gemeint ist dieser Untergang, wenn ihm so weise be­gegnet (und nachgeholfen) wird? Dür~en.matt läßt kein~ der explosiven (surrealistischen, gar dadaistischen) Techlllken, denen Peter Weiss sich auslie­fert, in sein nach Mustern des 19. Jahrhunderts, von der Salonkomödie bis zur Posse, verfertigtes Stück ein - er >rettet< dadurch die Figur (die Person?) des weisen Kaisers die sein Stück durchaus trägt. Immerhin: mindestens zu; Entstehungsze~t schockierte sein Werk, wenigstens das deutsche Publikum, nämlich als mitten in der Pointen-

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62 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

Posse ein geschundener Heimkehrer, .ein lädierter? leiden­der Held auftrat, Ämilian. Ein Publikum, das SIC~ eben mit der expressiven Larmoyanz von Bor~erts Helm~e~­rer Beckmann6 identifiziert hatte, fühl~e sICh doch arg Irri­

tiert, als dieser andere entlassene Knegsgef~ngene unter die kalte Dusche der Witze des Romulus genet. Aber das ist, wie gesagt, fast zwanzig Jahre her.« .

Henning Rischbieter: Nachwort. In: Karlhemz Braun (Hrsg.): Deutsches Theater der Gegenwart. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967. 5. 631 f. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.

HANS WAGENER arbeitet die zeitkritischen Aspekte. des Stückes im Hinblick auf die jüngste deutsche Geschichte

heraus: »Das Dritte Reich spiegelt sich kaleidoskop~rtig .sowohl in Germanien als auch in Ro~. Romulus 1st eme Art Antihitler ein Herrscher über emen tota~en Staat, der a~s dessen Richter den Totalitarismus sa.bouert ~n~ be~u h t zu runde richtet. Er ist eine konstru~erte ~ntl-hlstons~ e F g r die _ leider - nur Denkmöghchkelt war und 1st. T~~~; dieses unhistorischen, konstruierten Char~kt.~~s hat Dürrenmatt aber immer wieder bewu~t a~f die Jungste deutsche Geschichte angespielt, um zwei (mcht nur) e~lro~

.. ' h Krankheiten unseres Jahrhunderts abzuurtel en. palSC e ff . h I' h b . d g Nationalismus und Krieg, die 0 enS1C t IC el e .en zusammengehören, und um dies zu tun, hat er selfo1en Romulus das >System unterwanden~( la~sen. Das Dntte

R . h 'bt ihm nur die konkrete hlstonsche Handhabe, elC gl . kr' 'k d' H d

das Anschauungsmaterial zur Zelt .1t1 . an le an, denn da es sich um eine eben erst. hls:onsc~. gewordene Epoche handelt, wissen wir, wohm sie gef~hrt h~t .. Es geht Dürrenmatt also nicht (nur) um das Dntte Reich, es

H 1 . Wolfgang BorchertS (1921-47) Heimkehrerdrama »Drau-

6 auptgesta t 1ß

ßen vor der Tür« (1947).

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 63

geht ihm um die Verurteilung des Mißbrauchs von Macht­und Gewaltpolitik jeden Staates, des deutschen und/oder auch des römischen, der als Spiegel des 20. Jahrhunderts dient. Anspielungen auf das Dritte Reich konkretisieren diese Kritik lediglich durch Bezug auf ein jüngstes histori­sches Beispiel, vor dessen Wiederholung er implizit war­nen möchte. [ ... ] Die Botschaft ist klar. Mit pädagogisch erhobenem Zeigefinger erteilt uns Romulus/Dürrenmatt hier eine Lektion in Sachen Patriotismus, rechnet er ab mit dem emotionalen Mißbrauch von pseudoheiligen Begriffen, unter deren Zeichen die deutschen Armeen zur Schlacht­bank marschiert waren. In der Verfolgung der durch Ge­spräche aufklärenden Hebammenmethode fungiert Ro­mulus als ein aufgeklärter und aufklärender Sokrates. Und mehr noch: Indem er Rea die Ehe mit dem Hosen­fabrikanten verbietet und die Liebe zu einem Menschen höher stellt als die Vaterlandsliebe, redet er hier einer ethischen Wertskala das Wort, die dem eben überlebten >Du bist nichts, dein Volk ist alles< diametral entgegenge­setzt ist. Sinnvolles Leben wird hier als nur im Kleinen, im Privatbereich noch möglich gesehen, während sich der staatlich-politische Bereich für Dürrenmatt als unkontrol­lierbarer, unaufhaltsamer Walzgang von Ungeheuern dar­stellt . Abrechnung mit Nationalismus und martialischem Geist waren in den endvierziger und fünfziger Jahren im Nach­kriegseuropa der Heimkehrenden und knapp Überleben­den an der Tagesordnung, und auch Dürrenmatts Anti­militarismus und Pazifismus ist wie der vieler seiner Zeitgenossen aus dem Erlebnis des Zweiten Weltkrieges geboren. Wie sich die Heftigkeit dieser allgemeinen Milita­rismuskritik Mitte der fünfziger Jahre mit dem Abschluß der Pariser Verträge (Oktober 1954) und der Integrierung der europäischen Verteidigung in die NATO legte, so eben auch bei Dürrenmatt: Antimilitarismus und Mißtrauen ge-

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genüber dem Patriotismus spielen in seinem Werk nur von 1947 bis 1955 eine hervorragende Rolle.«

Hans Wagener: Heldentum heute? Zum Thema Zeitkritik in Dürrenmatts »Rornulus der Große«. In: Facetten. Studien zum 60. Geburtstag Friedrich Dürrenmam. Hrsg. von Gerhard P. Knapp und Gerd Labroisse. Bern / Frankfurt a. M. / Las Ve­gas: Lang, 1981. 5.195-197.

Mit dem im »Romulus« enthaltenen Geschichts- und Menschenbild Dürrenmatts setzt sich MANFRED DURZAK kritisch auseinander: » Wenn Dürrenmatt in seiner >Anmerkung II< schreibt: >Auch lockte es mich, einmal einen Helden nicht an der Zeit sondern eine Zeit an einem Helden zugrunde gehen zu l~ssen [ ... ]< [so S. 80], so ist gerade diese Absicht in den beiden ersten Akten des Stückes kaum verwirklicht wor­den. Ja, man könnte in der hier vorgebrachten Kritik sog~r noch weiter gehen und die These vom Zugrun?eg:hen ei­ner Zeit an einem Helden als einen Rückfall m elOe Ge­schichtskonzeption ansehen, die Dürrenmatt ?ereits in sei­nem Erstlingsstück überwunden hat. Ka~ es Ihm.dor~ dar­auf an nachzuweisen, daß der einzelne Im geschIChtltchen Prozeß sinnlos agiert, daß das geschichtliche Geschehen nicht von der Absicht einzelner, sondern von unkontrol­lierbaren Zufalls momenten vorangetrieben wird, so er­scheint im Romulus, wenn auch freilich in der Negation, das alte Postulat von der geschichtsprägenden Kraft des einzelnen. Allerdings tritt ein Unterschied. hervor: R~mu­lus handelt nicht im Dienste der GeschIChte und Ihrer Fortentwicklung, sondern arbeitet gegen s~e, um ~~e .be­wußt zu ruinieren. Was sich nach außen hm als narnsch präsentiert, nämlich .seine Hühn~rleidenschaft, s?ll sich dennoch als Kalkül elOer systematischen DestruktIOn von . Geschichte offenbaren. Hat der große einzelne bisher also stets an der Progression der Geschichte mitgewirkt, so ar- .

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 65

beitet er bei Dürrenmatt az:! der Destruktion, aber im Grundsätzlichen liegt Übereinstimmung vor: Dem einzel­nen wird offensichtlich die Möglichkeit zugestanden, in den Lauf der Geschichte einzugreifen und ihn zu beein­flussen. [ ... ] Freilich darf trotz dieser nicht zu bezweifelnden Aus­gangslage von Dürrenmatts Romulus-Drama nicht unter­schlagen werden, daß Dürrenmatt seine These bereits in der zweiten Fassung von 1957 zu korrigieren versucht. Denn Romulus' Rechnung geht keineswegs auf. Als auf Grund seiner Untätigkeit dem Siegeszug der Germanen keinerlei Widerstand entgegengesetzt wird und Odoaker ihn schließlich als Sieger in seinem Sommersitz in Campa­nien aufsucht, erwartet ihn nicht der Tod, mit dem er ge­rechnet hat, sondern die menschliche Anerkennung Odoa­kers, der seiner Weisheit Reverenz erweist, sich ihm als Kaiser unterwerfen will und ihn - bei Romulus' Weige­rung - mit einer fürstlichen Rente in den idyllischen Ruhe­stand schickt. Unter diesem Aspekt richtet sich die histori­sche Entwicklung letzten Endes doch gegen Romulus, indem sie ihn mit einer völlig unerwarteten Konsequenz seiner Politik des Nichtstuns konfrontiert und seine De­struktion des Imperiums mit einem ruhigen, wirtschaftlich abgesicherten Lebensabend belohnt. Unter der Perspektive der historischen Entwicklung erweist sich Romulus also gegen seine bessere Einsicht doch als Werkzeug der Ger­manenexpansion, die an die Stelle des römischen Imperi­ums ihr germanisches Imperium setzen wird. Die beiden Weisen, Romulus und Odoaker, dem bereits vor seinem Neffen Theoderich graut, der zum Idol der Germanen geworden ist und das neue Imperium aufbauen will, sind letztlich >gescheiterte Politiker<. Das Resümee, das Romulus gegen Ende des Stückes formuliert, stellt zu­gleich seine Einsicht in die Täuschung dar, die sein Nichts­tun gegen seinen Willen heraufführte: >[ ... ] ich wollte Schicksal spielen, und du wolltest das deine vermeiden,

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66 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

nun ist es unser Schicksal geworden, gescheiterte ~olitiker darzustellen.< [ ... ] Der einzelne gesteht also let~tlich d~ch seine Ohnmacht vor dem historischen Prozeß eIn, der sIch wider alle Erwartung autonom entwic~elt. .. . In diesem Sinne stellt der konventIOnelle KomodIen­schluß, das Happy-End des Romulus, die schlimmst-m~g­liche Wendung dar, die die Dinge nehmen konnten: eIne Wendung nämlich, die Romulus' gesamte~ v~ran~egange­nes Tun oder vielmehr Nichtstun als unSInnig WIderlegt. Er gesteht selbst ein: >Es ist alles absu.rd g~.worden, ,,:,as ich getan habe<. Hatte sich Romulus, wIe Durrenmatt I.n der >Anmerkung !< dargelegt hat, als ein >als ~arr ~erkleI.deter Weltenrichter< gesehen [so S. 71], so h~t SIch dIe ~enchts­situation der Wirklichkeit gegenüber, In der er SIch selbst dominierend glaubte, gegen Ende gru~dlegend geändert. Aus dem Richter ist sozusagen der Debnquent geworden, mit dem die Wirklichkeit abrechnet. [ ... ] Mag also Dürrenmatt v,?m Ende ~eines Stück~s her. die vergleichsweise restauratIve Geschlchtskonzepuon seIner Hauptfigur Romulus widerlegen, der glaubt, den ge­schichtlichen Prozeß beeinflussen zu können und dennoch letztlich von ihm beeinflußt wird und ihm überantwortet ist so ist unter anderm Aspekt dennoch an dieser Kritik ge~enüber der überbetonten Rolle ~es einzelnen ~estzuhal­ten. Der einzelne wird nicht nur 1m Rahmen dIeser Ge­schichtskonzeption stilisiert, wobei frei!ich diese Stilisie­rung gegen Ende wieder aufgehoben. wIr~? sondern auch von der moralischen Wertung her, dIe Durrenmatt allzu unvermittelt in die Person des Romulus projiziert. [ ... ] Und in der Charakteristik von Romulus selbst heißt es noch genauer: >Man sehe gen~u. hin, v::as für einen Me.n­schen ich gezeichnet habe: WItZIg, gelost, human, geWIß, doch im Letzten ein Mensch, der mit äußerster Härte und Rücksichtslosigkeit vorgeht, [ ... ] ein gefährlicher Bursche, der sich auf den Tod hin angelegt hat [ ... ]< [so S. 79 f.]. Aber wie steht es mit dieser Formulierung >im Letzten ein

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 67

Mens.ch<, wie steht es um diese so pauschal behauptete Ka­tegone der Me?schlichkeit als Bedingung seiner Dramen­charaktere? Bnngt Dürrenmatt hier nicht ein moralisch akzentuiert~s, .von ~iner Wertentscheidung gezeichnetes Menschenbdd InS SPIel, das eine Alternative Zum chaoti­schen. Gesc~ichtsprozeß aufzeigen soll, das den einzelnen angeSIchts eIner sinnlosen Geschichte in einer Art Trotz­reaktion als Wert verabsolutiert?«

Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart: Reclam, 1972. S. 61-63.

Einen detaillierten Vergleich zwischen »Romulus« und dem Drama »Die Physiker« nehmen WOLFRAM BUDDECKE und HELMUT FUHRMANN vor:

»Als eine Art Vorstudie zu den Physikern hat man die >un­geschichtliche historische< Komödie Romulus der Große (1949,4. F. 1964) verstanden [ ... ], das erste Stück mit dem Dürrenmatt nach seinen frühen Dramen Es steh; geschrie­ben (1947) und Der Blinde (1948) in der Schweiz und in Westdeutschland nennenswerte Aufführungserfolge erzie­l~n k~nnte. Tatsächlich sind gewisse strukturelle Analo­gIen flicht zu ü~ersehen. Wie Ro~ulus durch die Liquidie­rung des Impenum Romanum dIe Völker der Erde von ei­n~r blutigen Hypothek befreien möchte, so will Möbius ~le Welt vor den katas.trophalen Konsequenzen seiner Er­fmdung bewahren. Belde flüchten, um ihre Mission erfül­len zu können, in eine Maske: Romulus in die des vertrot­telten Hühnerzüchters, Möbius in die des Irren. Für beide ko.m~t die Stunde der Demaskierung, in der sie mit ein­dnnghchen Reden ihre Haltung rechtfertigen. Beide haben um der Verwirklichung ihrer Ziele willen Schuld auf sich laden I?üssen. Romulus trägt die Verantwortung für den Tod >VIeler Unglücklicher<, Möbius ist Zum Mörder einer Krankenschwester geworden, die ihn liebend durchschaut

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68 IV Zur Interpretation (Literaturkritik)

hat. Beide müssen am Ende erkennen, daß ihr Einsatz ver­geblich war. Romulus hat zwar Rom liquidieren können, nicht aber das Prinzip der Macht, nach dem es angetreten war; denn das germanische Weltreich, das zu g:ünden Theoderich sich berufen fühlt, ist das neue Rom, die neue Schädelstätte der Menschheit. Möbius hat zwar seine Ma­nuskripte vernichtet, aber die Auswertung der entschei­denden Formeln nicht zu verhindern vermocht. Gravie­render als diese Analogien sind freilich die Unterschiede, die im Werk vergleich festzustellen sind. In den Physikern, wo der Zufall objektiv die >schlimmstmögliche Wendung< herbeiführt, während er in der Romulus-Komödie allen­falls für das Scheitern des subjektiven Sühne- und Opfer­dranges der Titelfigur verantwortlich ist, konzentriert sich die Darstellung konsequent auf die Profilier~.lOg der K:rn­paradoxie, die eben darin besteht, daß Möb1U~ kraft elOes nicht vorhersehbaren Zufalls gerade das bewirkt, was er verhindern möchte. Im Romulus dagegen ist das primäre Interesse auf die Aufklärung der Frage gerichtet, wie die Figuren des Stückes auf die extreme Ausgangssituation reagieren. Der vom Kaiser forcierte totale Konkurs des Imperiums zwingt die Menschen seiner Umwelt, ihr wah­res Gesicht zu zeigen. Scharenweise enthüllen sie sich. als falsche oder als irregeleitete Helden, als bloße RhetorIker des Widerstandes, die ihr persönliches Sicherheitsbedürf­nis rationalisierend zum Ausdruck der Virtus Romana7

umzufälschen versuchen, oder als subjektiv aufrichtige, objektiv aber höchst fragwürdige, weil überholte~ si.tt­lichen Prinzipien fanatisch folgende Märtyrer. Der elOzlge wirkliche Held scheint Romulus selbst zu sein, der freilich erst in dem Augenblick, als er die Nichtigkeit seines An­spruches auf einen heroischen Sühnetod akzeptiert und das (wie er sagt) >Ensetzlichste< auf sich n~mmt: nämlich ,,:,eit~r zu leben als Gescheiterter, als lächerlicher StaatspenslOnar

7 {Jat.} römischen Tugend.

IV Zur Interpretation (Literaturkritik) 69

der Germanen, zum wahrhaft >mutigen Menschen< wird. Sich nicht der Verzweiflung zu überlassen, sondern dem Sinnlosen dieser Welt ein unpathetisches Ja zu den be­g:enzten humanen Möglichkeiten entgegenzusetzen _ dIese Kraft, die Romulus mit wenigen anderen Gestalten Dürrenmatts teilt, vermögen Möbius und seine Physiker­Kollegen angesichts der Totalität der Katastrophe nicht mehr aufzubringen. Ihre ins Publikum gesprochenen ~chlußwort~, mi~ de?en. sie mechanisch ihre Rollen repe­tieren, als selen sie wlrkhch zu dem geworden, was sie bis­lang nur simulierten, schließen jede Sinngebung aus.«

Wolfram Buddecke / Helmut Fuhrmann: Das deurschsprach~ge Drama seit 1945: Schweiz, Bun­desrepublik, Osterreich, DDR. Kommentar zu ei­ner Epoche. München: Winkler, 1981. S. 37f.

ALUN STEER sieht das Rom des Romulus als Spiegelbild des heutigen Europa und Amerika, und verwendet ab­schließend den Marxismus als Beispiel:

»And the effect of this kind of juxtaposition of the ancient and modern worlds si to persuade us to see the world of Romulus as the mirror-image of our own: this crumbling Roman Empire is transmuted into a symbol of the deca­dent, materialistic societies of contemporary Europe and America. [ ... ] Romulus, haggling with the art-dealer Apollyon, asks whether he wants to buy the remaining busts of the Ro­man emperors. Apollyon replies that he will have to take another look at them, because (he explains) >Für Büsten ist die Nachfrage gering, eigentlich gehen heute nur die von großen Boxern und üppigen Hetären.<8 It is the juxtaposition of the two words >boxer< and >het­a::ra< that does the trick here. The anachronism transforms

8 Friedrich Dürrenmatt, Werkausgabe in dreißig Bänden, hrsg. in Zsarb. mit dem Autor, Bd. 2, Zürich 1980, S. 22.

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70 IV Zur Interpretation (Literaturkritik)

the anclent world into a reflection of our own, for we rec­ognize that it is in our world that the people's heroes are not statesmen, poets or philosophers but athletes, pin-ups and pop-stars; and it is in our world, after alt, that a film star rose to become leader of the most powerful nation on earth. [ ... ] Romulus der Große is, I believe, very much a play for our times. In his essay on the theatre, entitled Theaterpro­bleme, Dürrenmatt wrote: >... das Allgemeine entgeht meinem Zugriff. Ich lehne es ab, das Allgemeine in einer Doktrin zu finden, ich nehme es als Chaos hin<.9 [ . . . ] By >das Allgemeine< Dürrenmatt means, I think, a mo­ral synthesis, an overall interpretation of existence that gives meaning and purpose to life, such as was once pro­vided for Western civilization by the Christian faith. Dür­renmatt asserts that he cannot find such an interpretation - or, at least, a satisfactory interpretation - in any doctrine; instead, he accepts the fact that we live in Babel, among a chaos of -isms all competing for our credence. Take one of them, Marxism. Like Romulus, Karl Marx was morally re­pelled by the societies in which he Jived. He constituted hirnself into as severe a judge of capitalist society as Ro­mulus is of the decadent Roman Empire. Like Romulus, Marx believed in the historical inevitability of the down­fall of his society. Like Romulus, he believed it to be the duty of the intellectual not merely to understand this, but to align hirnself with the ineluctable forces of history and to hasten the process of disintegration. Like Romulus, he believed in translating a moral stance into a programme of positive action: it was his proud boast, after all, that his philosophy went beyond all past philosophies in seeking not merely to interpret the world, but also to change it.10

9 Friedrich Dürrenmatt, TheaterprobJeme, Zürich 1955, S. 49. 10 Karl Marx, »Thesen über Feuerbach«, in : K. M., Early Writings, introd.

by Lucio Colletti and transl. by Rodney Livingstone, Harmondsworth 1975, S. 423.

IV Zur Interpretation (Literaturkritik) 71

And finally, if Marx is far more sanguine than Romulus in the final outcome he predicts - the creation of a classless s?ciety - Romulus too regards his goal as a definitive solu­tion and a validation of his existence. The fact that these paraJlels can be drawn will convey s~me idea of the relevance of this play to the modern pre­dlcament. Of course, the play is not about Marxism. But what it is c<:,~cerned to demonstrate is Dürrenmatt's pro­found sceptIClsm about the capacity of any such doctrine - Marxism, Freudianism, neo-Darwinism, Exlstentialism, what~ver - to give a satisfactory, workable interpretation of eXlstence. [. .. ] Of course satire too presupposes a moral vision. But what this play shows is that anyone who attempts to translate such avision into a programme of action or a total inter­pretation of life is reaching beyond the narrow limits within which human understanding may hope to compre­hend the real world in its unyielding intractability.

AJun Steer: Delusion and ReaJity in Friedrich Dürrenmatts »Romulus the Great«. In: Journal of European Studies 18 (1988) S.240, 250f. -© 1988 Sales Publications Ltd, London.

MICHAEL SCHMITZ zufolge gelingt Dürrenmatt »jene typi­s~he ~lastizität seiner Komödiengestalten, insbesondere d~e selller mutigen Menschen«, indem er sie durch »polare fIgurenkonzeptionen« (Spurius Titus Mamma und Ämi­lian) sowie durch Perspektivenwechsel charakterisiert:

»Die Peripetie und die Katastrophe des >Romulus<, erster und zweiter Perspektivenwechsel folgen kurz aufeinander. Ende des dritten Aktes zeigt sich das vermeintliche Opfer Romulus, der ~em Anschlag der Patrioten zum Opfer fal­len soll, als Richter Roms und Herr der Lage, der sein Handeln. auf .d~n Ei?marsch der Germanen hin angelegt hat. Gleichzeitig gellOgt es Romulus, seine Passivität zu

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72 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

legitimieren. Der Untergang Roms ist durch die unre~ht-'mäßig an geeignete Macht, die vor Menschenmor? nicht zurückschreckte, gerechtfertigt. Der Unt~rga?g wlr.d von Romulus als Sühne gedeutet, als Sühne, m die er sich als letzter Kaiser Roms einbezieht. Er bietet sich selbst als Opfer an. [WA 11, S. 91 ff) . Doch bereits Mitte des vierten Aktes erfolgt eme erneute Korrektur des Romulus-Bildes durch Odoaker, der Ro­mulus' Pläne durchkreuzt und ihn scheinbar endgültig zum Narren werden läßt (zweiter Perspektivenwechsel). Dürrenmatt faßt die Entdeckungsszene Odoakers und die Erkenntnis des Romulus in wenigen Worten zusammen -Romulus' Reaktion in einer interpretierenden Regieanwei­sung: >ODOAKER. Ich bin nicht gekommef!' dic~ zu t?ten, Kaiser von Rom. Ich bin gekommen, mzch mzt memem ganzen Volk dir zu unterwerfen. ROMULUS ist tödlich er­schrocken. [Ebd. S. 106.] Die Regieanweisung markiert nicht nur den abrup~en Übergang vom bisher burlesken Wortwechsel der Sich spielerisch nähernden Hauptfiguren Romulus und Odoa­ker zum ernsthaften Duktus der monologischen Standort­bestimmungen des Römers und des Ger~anen, sond~rn eröffnet in der neuen Situation Romulus eme neue Mog­lichkeit, sich als mutiger Mensch zu bestätigen und endgül­tig der Narrheit zu entledigen. Er ~ei~t sich erneut ?er Lage gewachsen, als er seine >PenslOmerung< akzeptiert und Odoaker ermutigt, sich ebenfalls der neuen >Aufgabe als König von Italien< zu stellen. [Ebd., S. ! 11 ff.] C?,doaker bestätigt die wiederhergestellte menschlIche Große des Romulus, indem er die germanischen Truppen vor Romu­lus salutieren läßt. [Ebd., S. 113] Damit wird auch Dürrenmatts Kriterium für Romulus' Existenz als mutiger Mensch - das gleich.e gilt fü~. C?doak:r - deutlich: seine Reaktion auf das Scheitern, praZlser, die gelassene Art, mit der Romulus auf das Scheitern sein~r Pläne reagiert. Der mutige Mensch Romulus erkennt sem

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 73

S~hei.t~rn an, schränkt sein,e Ziele auf das >Eigene< - eine vle]zltlerte Formel Dürrenmatts für das beschränkte Betä­tigungsfeld seiner reduzierten Helden - ein und vermag im Verzicht auf das heldische Selbstopfer und durch das be­wußte Weiterleben auf unerwartete Weise zu sühnen. Die äußere Situation ist zwar aussichtslos für Romulus doch die >verlorene Weltordnung wird in [seiner] Brust ';'ieder hergestellt<, wie Dürrenmatt eines seiner Hauptanliegen in den >Theaterproblemen< resümiert. [WAXXIV, S. 63.]«

Michael Schmitz: Friedrich Dürrenmatts Aristo­phanes-Rezeption, Eine Studie zu den mutigen Menschen in den Dramen der 50er und 60er Jahre. St.Ottilien: EOS-Verlag, 1989, (Dissertationen, Philosophische Reihe, 5.) S,99-101. - © 1989 EOS-Verlag, St, Ottilien.

Unter der Überschrift »Friedrich Romulus der Große« charakterisiert BENJAMIN HENRICHS Romulus als »Vor­und Doppelgänger« Dürrenmatts:

»>Romulus der Große<, 1949 in Basel uraufgeführt, ist (bei den Göttern!) nicht Friedrich Dürrenmatts bestes Stück gewesen und schon gar nicht sein berühmtestes. Aber viel­leicht sein heiterstes, humanstes und aufschlußreichstes _ denn es enthält ein Selbstportrait des Dichters Dürren­ma.tt,. das. gen~uer besehen .ein verwirrendes Doppelpor­tralt 1St, em gbtzerndes, spnngendes Vexierbild. Der letzte Kaiser im Stück des jungen Dürrenmatt tritt auf wie ein Vor- und Doppelgänger des alten Dürrenmatt. Re­gieanweisung: >Seine Majestät kann, der bitteren Weltlage zum. Hohn, ganz unvergleichlich scherzen und plaudern, fast Jeder Satz ein funkelnder Aphorismus - eine kleine Unsterblichkeit inmitten der hinfälligen Welt.< [ ... ] Der Kaiser Romulus muß aber auch schon Friedrich Dür­renmatts Schriften zum Theater gekannt haben, denn wie sein Schöpfer befindet er kategorisch: >Wer so auf dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur noch Komödien

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74 IV. Zur Interpretation (Literaturkritik)

verstehen.< Auch Dürrenmatts berühmtestes Aper~u (das kein Nachrufer nicht zitieren darf) könnte schon des Kai­sers kaiserlichen Lippen entschlüpft sein: >Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst-mög-liche Wendung genommen hat.< ... Welch eine wundervolle, liebenswerte Figur Ist dieser letzte Kaiser! Und welch ein wundervoller, liebenswerter, mitreißender Komödiendichter war Friedrich Dürren­matt! Romulus und Friedrich feiern zwillingsbrüderlich den Sieg des Witzes über den grämlichen Weltgeist, den Triumph der Hühner über ~as H~ldentum . Alle Phrasen getötet, alle stolzen Posen lacherlich g~macht: Dem. bru­talen Vernichtungseifer der Weltgeschichte eIne beInahe göttliche, also ganz und gar menschliche Faulheit entge-gengesetzt. [ . .. ] . Gewiß ist nur: Dürrenmatt selber war so etwas wie der letzte Kaiser im untergehenden Reich des Nachkriegs­Welttheaters. [ ... ] Dürrenmatt war vielleicht der letzte, der das Monumental­projekt >Welttheater< entschlossen weitertrieb, der (wie ~in Astronom aus der Ferne) die ganze große Weltkugel Im Blick haben wollte, nicht nur die kleine Kugel des mensch­lichen Kopfes. Denn nicht einfach >Komödien< wo~lte er schreiben, sondern >Weltgleichnisse< - ~nd deren .Zelt w~r abgelaufen, als der Dichter gerade vierZig war. >Die p.?ysl­ker< (1962) waren sein letzter >Welterfolg< - der Stucke­schreiber hat ihn um beinahe drei Jahrzehnte überlebt. Ohne sichtbare Anzeichen von Verzweiflung oder Verbit­terung. Eine Majestät über fünfzig .eben, dann über sech­zig, beinahe siebzig - ruhig, behaglIch u~.d klar. [ ... ] Den Zwilling des Romulus, den Autor Durrenmat~, h~ben unsere Theater in den letzten Jahren behandelt Wle emen kaiserlichen Pensionisten - sie haben ihn mit aller gebüh­renden Verehrung vergessen. Das ist grausam und unge­recht, aber im Dürrenmattschen Sinne auch vollkommen logisch: Auch die Theatergeschichte ist erst dann zu Ende

IV. Zur Interpretation (Literaturkritik) 75

gedacht, wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung ge-nommen hat. « .

Benjamin Henrichs: Friedrich Romulus der Große. In: Michael Haller (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt. Uber die Grenzen. Fünf Gespräche. München/Zü­rich: Piper, 1993. S. 152-156. [Zuerst in: Die Zeit. 21. Dezember 1990.J - Mit Genehmigung von Benjamin Henrichs, Berlin.

Hatte Alun Steer bereits auf aktuelle Parallelen zwischen Rom und Europa bzw. Amerika hingewiesen, so führt HANSGERD DELBRücK diese, das Stück weiterhin aktuali­sierend, fort:

>~.Man hat, was A.merika an.langt, in Romulus der Große langst so etwas wie prophetische Qualitäten entdeckt. Als Alun . Steer in seinem Aufsatz von 1988 auf die Spiegel­funktion der Komödie für unsere Zeit hinwies, sah er das zusammenbrechende Römische Reich in der Komödie >transmuted into a symbol of the decadent, materialistic societies .of contemporary Europe and America,< und ' er belegte diese Interpretation damit, daß seither ein Filmstar, Ronald Reagan, zum Führer der mächtigsten Nation der Erde aufgerückt war. Dabei bezog sich Steer nur auf ein W<;'rt des Antikenhändlers Apollyon, dem zufolge sich der Zeitgeschmack mehr für Boxer (also fürs Showbusiness) als für Kaiserbüsten interessiere. Darüber hinaus gibt es aber natürlich die Parallele, daß es sich bei Romulus selbst g~nau wie bei Reagan um einen Schauspieler handelt. Und die Parallele geht weiter, da ja derselbe Präsident Reagan, der auf den Gegensatz von Gut und Böse so fixiert war ~ie Romulus, wiederum wie dieser fähig war umzulernen: m Gorbatschow, dem Präsidenten der bedrohlichsten Ge­genmacht Amerikas, sah er zuletzt ebenso den Freund wie Romulus in dem Germanenführer Odoaker. Seither sind beide Präsidenten in Pension, und da das Reich der Sowjetunion schneller verfiel als das Reich der

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76 IV Zur Interpretation (Literaturkritik)

Amerikaner, fühlt man sich fünf Jahre nach dem Aufsatz von Steer durch Dürrenmatts Komödienversion des zer­fallenden römischen Reichs nicht mehr nur an die materia­listischen Gesellschaften des Westens erinnert, sondern mindestens ebenso an die kommunistischen Gesellschaften des Ostens. Man ist mithin eher geneigt, Gorbatschow -selbst wenn er kein Schauspieler war - als Reagan mit Ro­mulus zu parallelisieren, zumal es sich bei der Pensionie­rung Gorbatschows wie bei Romulus zugleich um die Ab­schaffung des Amtes handelte. Die Stelle des Odoaker der Komödie wurde aus solchem Blickwinkel von Gorbat­schows Nachfolger Jelzin besetzt, dessen Amt im Vergleich zu dem Gorbatschows um ebenso vieles kleiner wurde wie das Königsamt des Odoaker im Vergleich zu dem Kaiser­amt des Romulus. In Wahrheit ist aber, selbst wenn sich da neben den dia­gnostischen auch prognostische Qualitäten von Dürren­matts Komödie bewährt haben sollten, natürlich aus dem Stück in keiner Weise eine Prognose für die Frage abzulei­ten, ob die Regierungsjahre Jelzins und seiner Nachfolger einmal >zu den glücklichsten dieser wirren Erde zählen< werden oder ob sich im Gegenteil, nach Art des Theode­rich der Historie (oder der ersten Führer der Sowjet­union), die Fehler der Führer des gerade untergegangenen Reichs in den Fehlern des neuen wiederholen und vermeh­ren werden. Nicht umsonst ist es unmöglich, Romulus in einem eindeutigen (ausschließenden) Sinne entweder mit einem amerikanischen oder mit einem sowjetischen Präsi­denten zu parallelisieren: Dürrenmatt war in seiner Komö­die im Unterschied zu Brecht an einer Stellungnahme für oder gegen eine bestimmte Wirtschaftsordnung, oder gar für oder gegen eines der beiden großen politischen Sys­teme seiner Zeit, nicht interessiert. [ ... ] Der immer wieder neue Versuch aller Dramenfiguren, ihre Geschichte in den positiven Mythos der Vaterlandsretter zu heben, endet in immer erneutem Scheitern und führt,

IV Zur Interpretation (Literaturkritik) 77

wenn andere es anders versuchen zu dem gle' h . w: h h . h . , IC en m . a ~ elt ~u: sc em~aften Neuanfang wie ZUvor. Mö' en

SIe sich mIt Ihren Zielen und Idealen auch' . I g von' d h . Im emze nen

eman e: untersc eld~n - und das Stück lebt davon !aß detwa seme .AnachroOlsmen als solche wahrgenomme~

~r .en -, so gl.bt ~s doch nach dem Verständnis der Ko­rO~le sut spec:e hlsto.riae nichts Neues unter der Sonne ti~ch~m~ us sPheg~ln sIch wie in einem Brennglas die poli~ Ro 1 ~.rrsc erflguren der Historie, vom Rom-Gründer . m~ uso uber Caesar und Augustus zu Nero und Hitler Ja, WIe WIr gesehen haben, noch über diese h' R' gan Gorb t h J 1 . maus zu ea­

'. . a sc ow, e zm und so fort. Alle im Stück d' k oder Indirekt vertreten F h b' Ire t Individ r" . p. e~ Iguren a en Ihre persönliche Id .. ~a ~tat bI~ß nnzlp Zugunsten einer kollektiven

entltat emge u t.«

Hansgerd DeJbrück: Antiker und moderner Hel­den~Mythos In I)u.rrenmatts »ungeschichtlicher hi­stonscher Komodle« »Romulus der Große« In' The Ge:man Qua~e.rly 66 (1993) S. 308-31'0. ~ © Amencan Assoclatlon of Tcachers of German.

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V. Äußerungen Dürrenmatts zu seinem Stück

1. »Anmerkungen I-IV« und »Zehn Paragraphen« zu »Romulus der Große«

Die folgenden vier »Anmerkungen« zu seinem Stück hat Dürrenmatt in der Werkausgabe in dieser Reihenfolge zu­sammengestellt. »Anmerkung I« wurde für den Sammel­band »Komödien I« (Zürich: Verlag der Arche, 1957) ge­schrieben; »Anmerkung II« 1949 für das Programmheft der Uraufführung am Stadttheater Basel. »Anmerkung III« wurde 1973 verfasst, und »Anmerkung IV« 1980 für den zweiten Band der Werkausgabe. Die »Zehn Paragraphen zu >Romulus der Große«< wurden 1949 für das Programmheft der Uraufführung geschrieben.

Anmerkung I zu »Romulus der Große«

Eine schwere Komödie, weil sie scheinbar leicht ist. Damit kann der Literaturbeflissene deutscher Sprache schon gar nichts anfangen. Stil ist, was feierlich tönt. So wird er im Romulus nichts als eine bloße Witzelei sehen und das Stück irgendwie zwischen Theo Lingen 1 und Shaw ansie­deln. Dieses Schicksal ist jedoch für Romulus nicht ganz so unpassend. Er spielte zwanzig Jahre den Hanswurst, und seine Umgebung kam nicht darauf, daß auch dieser U n­sinn Methode hatte. Dies sollte zu denken geben. Meine Figuren sind nur von der Gestalt her darzustellen. Dies gilt für den Schauspieler und .für den Regisseur. Prak­tisch gesprochen: Wie soll etwa Amilian dargestellt wer­den? Er ist tage-, vielleicht wochenlang marschiert, auf

1 Theo Lingen (1903-78), deutscher Film- und Bühnenschauspieler; Komi­ker.

1. »Anmerkungen I-IV« und »Zehn Paragraphen« 79

Schleichwegen, durch zerstörte Städte, und nun erreicht er d~s H~us des Kai~ers, ~as er doch kennt, und nun fragt er: ~Ie Villa des Kaisers In Campanien? Ist in diesem Satz Dicht das ungläubige Erstaunen spürbar über den verhüh­nerten und heruntergekommenen Zustand der Villa die doch die Residenz darstellt, wird die Frage rhetorisch 'wir­ken und auch? wenn er seine Geliebte fragt, bang und ge­bannt: Wer bist du? Er kennt sie wirklich nicht mehr er hat sie wirklich vergessen, ahnt, dass er diesen Menschen einmal kannte, liebte. Ämilian ist die Gegengestalt zu Romulus. Sein Schicksal ist menschlich zu sehen, mit den Augen des Kaisers gleichsam, der hinter der Fassade der geschändeten Offiziersehre »das tausendfach besudelte Opfer der Macht« erspäht. Romulus nimmt Ämilian ernst, als den Menschen, der gefangen, gefoltert wurde der un­glücklic~ ist. ~as er nicht akzeptiert ist die F~rderung: »Geh, DI~m eIn Messer«, die Verschacherung der Gelieb­ten, damit das Vaterland lebe. Menschlichkeit ist vom Schauspieler hinter jeder meiner Gestalten zu entdecken so~st lassen sie sich gar nicht spielen. Dies gilt für all; meme Stücke. ~.ine besondere, zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich noch fur den Darsteller des Romulus selber. Ich meine die Schwierigkeit, die darin liegt, daß er dem Publikum nicht allzu schne}l sy:mpathisc~ erscheinen .darf. Das ist leicht ge­sagt und Vielleicht fast Dicht zu erreichen doch als Taktik im Auge zu behalten. Das Wesen des Kai;ers darf sich erst im dritten Akt enthüllen. Im ersten Akt muß der Aus­spruch des Präfekten: »Rom hat einen schändlichen Kai­ser", ~~ zwei~en je~er ~mili~ns; »Der Kaiser muß weg", begreiflIch sem. Halt Im dntten Akt Romulus Gericht über die Welt, hält im vierten die Welt Gericht über Ro­mulus. Man sehe genau hin, was für einen Menschen ich gezeichnet habe, witzig, gelöst, human, gewiß, doch im letzten ein Mensch, der mit äußerster Härte und Rück­sichtslosigkeit vorgeht und nicht davor zurückschreckt,

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80 v. Außerungen Dürrenmatts zu seinem Stück

auch von andern Absolutheit zu verlangen, ein gefähr­licher Bursche, der sich auf den Tod hin angelegt hat; das ist das Schreckliche dieses kaiserlichen Hühnerzüchters, dieses als Narr verkleideten Weltenrichters, dessen Tragik gen au in der Komödie seines Endes, in der Pensionierung liegt, der dann aber - und nur dies macht ihn groß - die Einsicht und die Weisheit hat, auch sie zu akzeptieren.

Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in dreißig Bänden. Hrsg. in Zsarb. mit dem Autor. [In diesem und im folgenden Kapitel zit. als: WA.] Bd. 2. Zü­rich: Diogenes Verlag, 1980. S. 119 f. - © Diogenes Verlag AG, Zürich.

Anmerkung 11 zu »Romulus der Große«

Romulus Augustus war 16, als er Kaiser wurde, 17, als er abdankte und in die Villa des Lukull nach Champanien zog. Die Pension betrug 6000 Goldmünzen, und seine Lieblingshenne soll Roma geheißen haben. Das ist das Historische. Die Zeit nannte ihn Augustulus, ich machte ihn zum Mann, dehnte seine Regierungszeit auf 20 Jahre aus und nenne ihn den >Großen<. Es ist vielleicht wichtig, daß man mich gleich versteht: Es geht mir nicht darum, einen witzigen Mann zu zeigen. Hamlets Wahnsinn ist das rote Tuch, hinter dem sich der Degen verbirgt, der Claudius gilt, Romulus gibt einem Weltreich den Todesstoß, das er mit seinem Witz hinhält. Auch lockte es mich, einmal einen Helden nicht an der . Zeit, sondern eine Zeit an einem Helden zugrunde gehen zu lassen. Ich rechtfertige einen Landesverräter. Nicht ei­nen von denen, die wir an die Wand stellen mußten, aber einen von denen, die es nie gibt. Kaiser rebellieren nicht, wenn ihr Land unrecht hat. Sie überlassen dies den Laien und nennen es Landesverrat, denn der Staat fordert immer Gehorsam. Aber Romulus rebelliert. Auch wenn die Ger-

1. »Anmerkungen I-IV« und »Zehn Paragraphen« ' 81

manen kommen. Dies sei gelegentlich zur Nachahmung empfohlen. Ich will mich präzisieren. Ich klage nicht den Staat, der recht, sondern den Staat an, der unrecht hat. Das ist ein Unterschied. Ich bitte, den Staaten scharf auf die Finger zu sehen, und sehe ihnen scharf auf die Finger. Es ist nicht ein Stück gegen den Staat, aber vielleicht eins gegen den Groß­staat. Man wird meine Worte sophistisch nennen. Das sind s~e nicht. Dem Staat gegenüber soll man zwar klug wie eme Schlange, aber um Gottes willen nicht sanft wie eine Taube sein. Es handelt sich nur um Binsenwahrheiten. Aber heute ist eine Zeit, in der es leider nur noch um Binsenwahrheiten geht. Tiefsinn ist Luxus geworden. Das ist das etwas Pein­liche unserer Situation und die besondere Schwierigkeit, sich schriftstellerisch mit ihr auseinanderzusetzen. Ich will nicht unsere Mängel mit der Zeit ausreden, doch sollte auch die Zeit uns ausreden lassen. Sie fährt uns aber immer wieder mit ihren Handlungen über den Mund. Wir haben es nicht leicht.

Ebd. S. 120f.

Anmerkung III zu »Romulus der Große«

Bevor ich den Romulus schrieb, hatte ich mich monatelang mit dem Turmbau zu Babel herumgeschlagen und eben den vierten Akt begonnen, als ich das Manuskript ver­brannte. Ich stand ohne Stück da, doch hatte das Basler Theater den Turmbau zu Babel schon geplant, Horwitz erwartete von mir ein Stück. Der Zufall kam mir zu Hilfe. Ich hatte eine Novelle St~indbergs gelese?, »Attila«. Am Schluß dieser Erzählung Wird von der Heimkehr zweier Männer nach dem Tode Attilas berichtet, eines Römers und eines Fürsten der Rugier, und dann schließt Strindberg: »Später erneuerten

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82 . v. Äußerungen Dürrenmatts zu seinem Stück

sie die Bekanntschaft, aber unter anderen und größeren Verhältnissen, denn Edekos Sohn war Odoaker, der den Sohn Orestes stürzte, und der war kein anderer als der letzte Kaiser Romulus Augustus. Er hieß sonderbarer­weise Romulus, wie Roms erster König, und Augustus, wie der erste Kaiser. Und er beschloß sein Leben als Ver­abschiedeter, mit einer Pension von sechstausend Gold­münzen, in einer Villa in Campanien, die vorher Lucullus besessen hatte. « Wir wohnten damals in einem Weinbauernhaus, jeden Abend holte ich im Bauernhaus, das jenseits der Straße in einer Wiese lag, Milch. Es war ein Wintermonat, Dezem­ber oder Januar, und ich holte die Milch in tiefer Dunkel­heit, doch kannte ich auch so den Weg. Während des Milchholens nun, die fünfzig Meter hin, während des kur­zen Gesprächs mit dem Bauern, darauf während der fünf­zig Meter, die ich zurücklegen mußte, um heimzukehreri, konzipierte ich die ganze Komödie, in der Weise, daß mir als erstes die Schlußsätze jedes Aktes klar wurden: »Rom hat einen schändlichen Kaiser.« »Dieser Kaiser muß weg.« »Wenn dann die Germanen da sind, sollen sie hereinkom­men. « »Damit hat das römische Imperium aufgehört zu existieren.« Auf diesen vier Schlußsätzen konstruierte sich die Handlung wie von selbst. Strindberg verdanke ich deshalb zwei Stücke, den Romulus und Play Strindberg. Dazu kam, daß ich vor dem Romulus Fontanes »Der Stechlin«2 gelesen hatte: Auch der alte Dubslav von Stechlin, eine meiner Lieblingsfiguren, ist ein geistiger Vater meines letzten Kaisers von Rom gewor­den.

Ebd. S. 122f.

2 Theodor Fontanes Roman »Der Stechlin« erschien 1899.

1. »Anmerkungen I-IV« und »Zehn Paragraphen« 83

Anmerkung IV zu »Romulus der Große«

Romulus der Große wurde von mir 1957 für das Schau­spielhaus Zürich neu bearbeitet, wobei ich besonders den viert~n Akt umgestaltete. Doch scheint mir die Urfassung des vIe~en ~ktes wert~ nich~ ganz in Vergessenheit zu ge­~aten; sie seI deshalb hIer WIedergegeben. Er erweckte, als Ihn das Basler Theater in Stuttgart spielte, erheblichen Pr.otest .. Besonders Odoakers Ankündigung: »Ich kehre mit melOen hunderttausend Soldaten im Trauermarsch nach G~rmanien zurück und klettere mit meinem ganzen Volk ".'Ieder auf die Bäume« stieß auf laute Mißbilligung. Zu m~lOem Er~taunen sah ich auf meiner folgenden aben­teuerltchen ReIse Carossas3 Rat: »Kehrt wieder zurück in die heiligen :x'älder? lernt wieder den alten Gesang« als Spruchband uber elOe Straße gespannt. Wenn zwei das gleiche schreiben ...

Ebd . S. 123.

Zehn Paragraphen zu »Romulus der Große«

§ 1 Der Verfasser ist kein Kommunist, sondern Berner.

§2 Der Verfasser ist von Natur aus gegen die Weltreiche.

§ 3 Romulus, Zeno der Isaurier und Odoaker sind historische Persönlichkeiten.

§4 Ebenso die Schwiegermutter Verina.

§ 5 Dagegen war Romulus fünfzehn, als er Kaiser wurde und sechzehn, als er Kaiser gewesen war. '

3 Hans Carossa (1878-1956). deutscher Schriftsteller.

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84 v. Äußerungen Dürrenmatts zu seinem Stück

§ 6 Der Feldherr Orestes war eigentlich sein Vater.

§7 Zwar haben römische Soldaten schon Jahrhunderte vorher in Germanien Hosen getragen.

§ 8 Schon Nero soll ein Monokel gehabt haben.

§9 Romulus und Julia.

§ 10 Spargelwein wurde aus Spargelwurzeln gewonnen.

Ebd. S. 124.

2. Aus: »Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D.«

Als Beitrag zu einer Festschrift des Basler Theaterverlags Reiss zum 60. Geburtstag DÜRRENMATIS äußerte dieser sich 1980 in einem >Selbstinterview< zu seinen Komödien. Über den »Romulus« heißt es:

»Romulus der Große ist F. D's erste Komödie. Er schrieb sie im Winter 1948/49. Den Stoff fand er angedeutet in der Novelle Strindbergs, Attila, die endet: >Orestes und Edeko reisten am selben Morgen; und sie vergaßen niemals diese Hochzeit, die sie zum ersten Male zusammengeführt hatte. Später erneuerten sie die Bekanntschaft, aber unter andern und größeren Verhältnissen. Denn Edekos Sohn war Odo­aker, der den Sohn des Orestes stürzte, und der war kein anderer als der letzte Kaiser Romulus Augustus. Er hieß sonderbarer Weise Romulus, wie Roms erster König, und Augustus, wie der erste Kaiser. Und er beschloß sein Le­ben als Verabschiedeter, mit einer Pension von sechstau­send Goldmünzen, in einer Villa in Campanien, die vorher

2. Aus: »Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. « 85

Lucullus besessen hatte.< Die absurde Diskussion, die in Deutschland schon aufkam, ob die Attentäter vom 20. Juli 1944 Landesverräter gewesen seien oder nicht, brachte F. D. auf die Idee, den letzten Kaiser Westroms, >Romulus Augustulus<, ein fünfzehnjähriges Unschuldslamm, in ei­nen mehr als fünfzigjährigen Landesverräter auf dem Thron zu verwandeln, der sein Reich den Germanen aus­liefert, weil er nicht mehr an das Recht des römischen Im­periums glaubt, sich zu verteidigen. Wie Hamlet den Wahnsinnigen spielt, spielt Romulus den >schlechten< Kai­ser. Dominiert Romulus in der ersten Fassung absolut, setzt ihm F. D. in der 1957 geschriebenen zweiten Fassung im vierten Akt seine dialektische Gegenfigur entgegen: Odoaker; in der ersten Fassung eine der komödiantischen Gestalten der Handlung, ist er nun - 'im Gegensatz zu Ro­mulus, der an das Recht glaubt, ein Weltreich zu vernich­ten - jener, der nicht an das Recht glaubt, ein Weltreich zu errichten. Romulus verdammt die Vergangenheit, Odoaker fürchtet die Zukunft, aber beide müssen als Politiker han­deln: Romulus liquidiert das weströmische, Odoaker er­richtet das germanische Imperium und ruft einen ge­schichtslosen "Frieden aus, der nur einige wenige Jahre dauern kann, da hinter beiden, Romulus und Odoaker, der Henker beider lauert: Theoderich. In dieser zweiten Fas­sung wird F. D's dramaturgische Neigung deutlich: die Personen seiner Komödie vor einen tragischen Hinter­grund zu setzen, sie gleichsam tragisch zu grundieren. Seine Menschen werden in einigen Komödien durch ihr Denken gerechtfertigt und durch ihr Schicksal zwar gefällt, aber nicht widerlegt, oder aber, in anderen Komödien, durch ihr Schicksal ad absurdum geführt. Romulus gehört ~er ersten Gattung an. Romulus' Heiterkeit liegt in seiner Uberzeugung, Odoaker werde ihn töten; er opfert Rom, weil er sich selbst opfern will, aber er opfert unfreiwillig jene, die fliehen und die er hätte retten wollen; und indem ihn Odoaker pensioniert, wird er, der vorher komisch tra-

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86 V. Äußerungen Dürrenmatts zu seinem Stück

gisch war, tragisch komisch. Nicht umsonst gab F. D. auf meine Frage, warum er seine Stücke Komödien nenne, zur Antwort: >Stücke sind wie ein rollender Ball: die eine Hälfte bezeichnet die Ästhetik als Tragödie, die andere als Komödie. Da bei einem rollenden Ball nicht auszumachen ist, welche Hälfte oben und welche unten ist, nenne ich meine Stücke eben Komödien.<<<

WA xxv. S. 143-145.

VI. Texte zur Diskussion: Zur Dramaturgie Friedrich Dürrenmatts

1. Dürrenmatts Korriödienbegriff: Über Einfall und Distanz; Zufall und schlimmstmägliche Wendung

In seinem Vortrag »Theaterprobleme« (1954) führt DÜR­REN MATT aus:

»Doch die Aufgabe der Kunst, soweit sie überhaupt eine Aufgabe haben kann, und somit die Aufgabe der heutigen Dramatik ist, Gestalt, Konkretes zu schaffen. Dies vermag vor allem die Komödie. Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Ko­mödie - sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei Moliere! - eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz be­griffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige. Die Tragödie überwindet die Distanz. Die in grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz, den Versuch der Athener, in Sizilien Fuß zu fassen, verwandelt sie in das Unternehmen der Vögel, ihr Reich zu errichten, vor dem Götter und Menschen kapitulieren müssen. Wie die Komödie vorgeht, sehen wir schon in der primitivsten Form des Witzes, in der Zote, in diesem . gewiß bedenk­lichen Gegenstand, den ich nur darum zur Sprache bringe, weil er am deutlichsten illustriert, was ich Distanz schaffen nenne. Die Zote hat zum Gegenstand das rein Geschlecht­liche, das darum, weil es das rein Geschlechtliche ist, auch gestaltlos, distanzlos ist und, will es Gestalt werden, eben Zote wird. Die Zote ist darum eine U rkomödie, ein Trans­ponieren des Geschlechtlichen auf die Ebene des Komi­schen, die einzige Möglichkeit, die es heute gibt, anständig

1 Eigtl. Jean-Baptiste Poquelin (1622-73), französischer Komödiendichter.

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88 V I. Texte zur Diskussion

darüber zu reden, seit die Van de Veldes2 hochgekommen sind. In der Zote wird deutlich, daß das Komische darin besteht, das Gestaltlose zu gestalten, das Chaotische zu formen. Das Mittel nun, mit dem die Komödie Distanz schafft, ist der Einfall. Die Tragödie ist ohne Einfall. Darum gibt es auch wenige Tragödien, deren Stoff erfunden ist. Ich will damit nicht sagen, die Tragödienschreiber der Antike hät­ten keine Einfälle gehabt, wie dies heute etwa vorkommt, doch ihre unerhörte Kunst bestand darin, keine nötig zu haben. Das ist ein Unterschied. Aristophanes dagegen lebt vom Einfall. Seine Stoffe sind nicht Mythen, sondern er­fundene Handlungen, die sich nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart abspielen. Sie fallen in die Welt wie Geschosse, die, indem sie einen Trichter aufwerfen, die Gegenwart ins Komische, aber dadurch auch ins Sichtbare verwandeln. Das heißt nun nicht, daß ein heutiges Drama nur komisch sein könne. Die Tragödie und die Komödie sind Formbegriffe, .?ramaturgische Verhaltensweisen, fin­gierte Figuren der Asthetik, die Gleiches zu umschreiben vermögen. Nur die Bedingungen sind anders, unter denen sie entstehen, und diese Bedingungen liegen nur zum klei­neren Teil in der Kunst. Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verant­wortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne je­den. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Re­chen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht un­sere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leis-

2 Theodor Hendrik van de Velde (1873-1937), niederländischer Frauenarzt und Sexualforscher, berühmt geworden durch sein Buch »Die vollkom­mene Ehe. (1926), das viele Auflagen erlebte.

1. Dürrenmatts Komädienbegriff 89

tung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe, wie ja die apokalyptischen Bilder des Hiero­nymus Bosch3 auch grotesk sind. Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer ge­sichtslosen Welt, und genau so wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr. Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervor­bringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öff­nenden Abgrund, so sind ja schon viele Tragödien Shake­speares Komödien, aus denen heraus das Tragische auf­steigt. [ ... ] Endlich: Durch den Einfall, durch die Komödie wird das anonyme Publikum als Publikum erst möglich, eine Wirk­lichkeit, mit der zu rechnen, die aber auch zu berechnen ist. Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, ver­führt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde. Die Komödie ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder ge­rät und immer noch geraten wird. Die Tragödie dagegen setzt eine Gemeinschaft voraus, die heute nicht immer ohne Peinlichkeit als vorhanden fingiert werden kann: es gibt nichts Komischeres etwa, als in den Mysterienspielen der Anthroposophen· als Unbeteiligter zu sitzen.

WA XXIV. S. 20f., 24f., 60-64.

3 Hieronymus Bosch (um 1450-1516), niederländischer Maler. 4 Vertreter der von Rudolf Stein er (1861-1925) begründeten Lehre vom

Menschen in seiner Beziehung zur übersinnlichen Welt.

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90 VI. Texte zur Diskussion

In der Erzählung »Die Panne« (1955) entwickelt DÜRREN­MATT geradezu eine Art >Dramaturgie der Panne<:

»Das Schicksal hat die Bühne verlassen, auf der gespielt wird um hinter den Kulissen zu lauern, außerhalb der gülti~en Dramaturg.ie, im. Vor?ergrund wird al~es z~m Unfall die KrankheIten, dIe Knsen. Selbst der Kneg wIrd abhän~ig davon, ob die Elektronen-Hirne sein Rentieren voraussagen, doch wird di~s nie der ~all. sein, weiß man, gesetzt die Rechenmaschmen funkuomeren, nur noch Niederlagen sind mathematisch denk~)ar;.we~e n~r, ~enn Fälschungen stattfinden, ~erbote~e Em~n~fe 10 dI~ ku~.st­lichen Hirne doch auch dIes wemger pemhch als dIe Mog­lichkeit daß eine Schraube sich lockert, eine Spule in Unord~ung gerät, ein Taster falsch reagiert, Weltunterga~g aus technischem Kurzschluß, Fehlschaltung. So droht kem Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sond.ern Verkeh.rsun~älle, Deichbrü­che infolge Fehlkonstruktion, ExplOSIOn emer Atombom­benfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Labo­ranten, falsch eingestellte Brutmaschinen .. In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubIgem Ran~e nebst Reklamewänden für Bally-Schuhe, Studebaker, EIscreme und den Gedenksteinen der Verunfallten sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, indem aus einem D~tze~d­gesicht die Menschheit blickt, Pech sich o~ne ~bsl~ht lOS Allgemeine weitet, Gericht und ~e~echtlgkeit slchtb~r werden, vielleicht auch Gnade, zufalhg aufgefangen, WI­dergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen.«

WA xx. $.39.

In DÜRRENMATTS Kriminalroman »Das Versprechen« (1958) stellt Dr. H., der Kommandant der Kantonspolizei Zürich, der Logik des traditionellen Kriminalromans den Zufall entgegen:

1. Dürrenmatts Komödienbegriff 91

»Nein,ich ärgere mich vielmehr über die Handlung in eu­ren Romanen. Hier wird der Schwindel zu toll und zu un­verschämt Ihr baut eure Handlungen logisch auf; wie bei einem Schachspiel geht es zu, hier der Verbrecher, hier das Opfer, hier der Mitwisser, hier der Nutznießer; es genügt, daß der Detektiv die Regeln kennt und die Partie wieder­holt, und schon hat er den Verbrecher gestellt, der Gerech­tigkeit zum Siege verholfen. Diese Fiktion macht mich wütend. Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil bei­zukommen. Dabei, zugegeben, sind gerade wir von der Polizei gezwungen, ebenfalls logisch vorzugehen, wissen­schaftlich; doch die Störfaktoren, die uns ins Spiel pfu­schen, sind so häufig, daß allzu oft nur das reine Berufs­glück und der Zufall zu unseren Gunsten entscheiden. Oder zu unseren Ungunsten. Doch in euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle, und wenn etwas nach Zufall aussieht, ist es gleich Schicksal und Fügung gewesen; die Wahrheit wird seit jeher von euch Schriftstellern den dramaturgischen Regeln zum Fraße hingeworfen. Schickt diese Regeln endlich zum Teufel. Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu große Rolle. Unsere Gesetze fußen nur auf Wahr­scheinlichkeit, auf Statistik, nicht auf Kausalität, treffen nur im allgemeinen zu, nicht im besonderen. Der Einzelne steht außerhalb der Berechnung. Unsere kriminalistischen Mittel sind unzulänglich, und je mehr wir sie ausbauen, desto unzulänglicher werden sie im Grunde. Doch ihr von der Schriftstellerei kümmert euch nicht darum. Ihr ver­sucht nicht, euch mit einer Realität herumzuschlagen, die sich uns immer wieder entzieht, sondern ihr stellt eine Welt auf, die zu bewältigen ist. Diese Welt mag vollkommen sein, möglich, aber sie ist eine Lüge. Laßt die Vollkommen­heit fahren, wollt ihr weiterkommen, zu den Dingen, zu

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92 VI. Texte zur Diskussion

der Wirklichkeit, wie es sich für Männer schickt, sonst bleibt ihr sitzen, mit nutzlosen Stilübungen beschäftigt.«

»Denn gerade dadurch, daß es nun eben diese grausige Pointe leider Gottes gibt, als das Unvorauszuberechnende, als das Zufällige, wenn Sie wollen, werden seine [des Kri­minalkommissars Dr. Matthäi] Genialität, sein Planen und Handeln nachträglich um so schmerzlicher ad absurdum geführt, als dies vorher der Fall war, da er nach der Mei­nung der Kasernenstraße irrte: Nichts ist grausamer als ein Genie, das über etwas Idiotisches stolpert. Doch hängt bei einem solchen Vorkommnis alles davon ab, wie sich nun das Genie zu dem Lächerlichen stellt, über das es fiel, ob es dieses hinnehmen kann oder nicht. Matthäi konnte es nicht akzeptieren. Er wollte, daß seine Rechnung auch in der Wirklichkeit aufgehe. Er mußte daher die Wirklichkeit verleugnen und im Leeren münden. So endet denn meine Erzählung auf eine besonders triste Weise, es ist eigentlich geradezu die banalste aller möglichen >Lösungen< einge­treten. Nun, das gibt es eben bisweilen. Das Schlimmste trifft auch manchmal zu. Wir sind Männer, haben damit zu rechnen, uns dagegen zu wappnen und uns vor allem klar darüber zu werden, daß wir am Absurden, welches sich notwendigerweise immer deutlicher und mächtiger zeigt, nur dann nicht scheitern und uns einigermaßen wohnlich auf dieser Erde einrichten werden, wenn wir es demütig in unser Denken einkalkulieren. Unser Verstand erhellt die Welt nur notdürftig. In der Zwielichtzone seiner Grenze siedelt sich alles Paradoxe an. Hüten wir uns davor, diese Gespenster >an sich< zu nehmen, als ob sie außerhalb des menschlichen Geistes angesiedelt wären, oder, noch schlimmer: Begehen wir nicht den Irrtum, sie als einen ver­meidbaren Fehler zu betrachten, der uns verführen könnte, die Welt in einer Art trotziger Moral hinzurichten, unternähmen wir den Versuch, ein fehlerloses Vernunftge­bilde durchzusetzen, denn gerade seine fehlerlose Voll-

1. Dürrenmatts Komödienbegriff 93

kommenheit wäre seine tödliche Lüge und ein Zeichen der schrecklichsten Blindheit.«

WA XXII. S. 18f., 145f.

Anläßlich seines Dramas »Die Physiker« schrieb DÜRREN­MAlT für den Sammelband »Komödien 11« (Zürich, Verlag der Arche, 1962) einige Thesen zu seiner Dramaturgie nie­der.

21 Punkte zu den Physikern 1 Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Ge­schichte aus.

2 Geht man von einer Geschichte aus, muß sie zu Ende ge­dacht werden.

3 Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.

4 Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.

5 Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Hand­lung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.

6 Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.

7 Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin, wann und wo wer zufällig wem begegnet.

8 Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.

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94 VI. Texte zur Diskussion

9 Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchten, was sie zu vermeiden suchten ,(z. B. Oedipus).

10 Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd ( sinnwidrig).

11 Sie ist paradox.

12 Ebensowenig wie die Logiker können die Dramatiker das Paradoxe vermeiden.

13 Ebensowenig wie die Logiker können die Physiker das Paradoxe vermeiden.

[ ... ] 17 Was alle angeht, können nur alle lösen.

18 Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern.

19 Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.

20 Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirk-lichkeit aus.

21 Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr stand­zuhalten oder sie gar zu bewältigen.

WA VII. S. 91-93.

1. Dürrenmatts Komädienbegriff 95

Zu seinem Drama »Die Wiedertäufer« 1967) verfaßte DÜRRENMATT »Dramaturgische Überlegungen«, in denen er einleitend verschiedene Formen der Dramatisierung ei­nes Stoffs anhand eines »Modells Scott« skizziert:

»Shakespeare hätte das Schicksal des unglücklichen Robert Falcon Scotr doch wohl in der Weise dramatisiert, daß der tragische Untergang des großen Forschers durchaus dessen Charakter entsprungen wäre, Ehrgeiz hätte Scott blind ge­gen die Gefahren der unwirtlichen Regionen gemacht, in die er sich wagte, Eifersucht und Verrat unter den anderen Expeditionsteilnehmern hätten das Übrige hinzugetan, die Katastrophe in Eis und Nacht herbeizuführen; bei Brecht wäre die Expedition aus wirtschaftlichen Gründen und Klassendenken gescheitert, die englische Erziehung hätte Scott gehindert, sich Polarhunden anzuvertrauen, er hätte zwangsläufig standesgemäße Ponys gewählt, der höhere Preis wiederum dieser Tiere hätte ihn genötigt, an der Ausrüstung zu sparen; bei Beckett6 wäre der Vorgang auf das Ende reduziert, Endspiel, letzte Konfrontation, schon in einen Eisblock verwandelt, säße Scott anderen Eisblö­cken gegenüber, vor sich hinredend, ohne Antwort von seinen Kameraden zu erhalten, ohne Gewißheit, von ihnen noch gehört zu werden. Doch wäre auch eine Dramatik denkbar, die Scott beim Einkaufen der für die Expedition benötigten Lebensmittel aus Versehen in einen Kühlraum einschlösse und in ihm erfrieren ließe. Scott, gefangen in den endlosen Gletschern der Antarktis, entfernt durch unüberwindliche Distanzen von jeder Hilfe, Scott, wie gestrandet auf einem anderen Planeten stirbt tragisch, Scott, eingeschlossen in den Kühl­raum durch ein läppisches Mißgeschick, mitten in einer Großstadt, nur wenige Meter von einer belebten Straße

5 Roben Falcon Scott (1868-1912), englischer Polarforscher, der bei einer Expedition zum Südpol auf dem Rückweg mit seinen Begleitern umkam.

6 Samuel Beckett (1906-1989), irischer Schriftsteller.

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96 VI. Texte zur Diskussion

entfernt, zuerst beinahe höflich an die Kühlraumtüre klopfend, rufend, wartend, sich eine Zigarette anzündend, es kann ja nur wenige Minuten dauern, dann an die Türe polternd, darauf schreiend und hämmernd, immer wieder, während sich die Kälte eisiger um ihn legt, Scott, herumge­hend, um sich Wärme zu verschaffen, hüpfend, stampfend, turnend, radschlagend, endlich verzweifelt Tiefgefrorenes gegen die Türe schmetternd, Scott, wieder innehaltend, im Kreise herumzirkelnd auf kleinstem Raum, schlotternd, zähneklappernd, zornig und ohnmächtig, dieser Scott nimmt ein noch schrecklicheres Ende, und deshalb ist Ro­bert Falcon Scott im Kühlraum erfrierend ein anderer als Robert Falcon Scott erfrierend in der Antarktis, wir spü­ren es, dialektisch gesehen ein anderer, aus einer tragischen Gestalt ist eine komische Gestalt geworden, komisch nicht wie einer, der stottert, oder wie einer, der vom Geiz oder von der Eifersucht überwältigt worden ist, eine Gestalt, komisch allein durch ihr Geschick: Die schJimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wen-dung in die Komödie.« WA X. S. 127f.

2. Der mutige Mensch

In DÜRRENMATIS Kriminalroman »Der Verdacht« (1951) sagt der Jude Gulliver zu dem Kriminalkommissar Bär­lach:

>>>Wir können als einzelne die Welt nicht retten, das wäre eine ebenso hoffnungslose Arbeit wie die des armen Sisy­phos; sie ist nicht in unsere Hand gelegt, auch nicht in die Hand eines Mächtigen oder eines Volkes oder in die des Teufels, der doch am mächtigsten ist, sondern in Gottes Hand, der seine Entscheide allein fällt. Wir können nur im einzelnen helfen, nicht im gesamten, die Begrenzung des armen Juden Gulliver, die Begrenzung aller Menschen. So

2. Der mutige Mensch 97

sollen wir die Welt nicht zu retten suchen sondern zu be­st~?en, da.s einzige wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser spaten Zeit noch bleibt.«<

WA XIX S. 264.

Auch i.~ seinem Vo~rag »Theaterprobleme« (1954) behan­delt DURRENMATI dIe Frage des >mutigen Menschen<:

»Nun liegt der Schluß nahe, die Komödie sei der Aus­druck der Verzweiflung, doch ist dieser Schluß nicht zwin­gend. ~ewiß, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser ~elt sI~ht, kann v~rzweifeln, doch ist diese Verzweiflung mcht eIne Folge dIeser Welt, sondern eine Antwort die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort ~äre das Nichtverzweifeln, der Entschluß etwa die Welt zu be­stehen, in d~r wir oft leben wie Gulliver dnter den Riesen. Auch der mmmt Distanz, auch der tritt einen Schritt zu­rück, der. s~inen Gegner einschätzen will, der sich bereit ?1acht, mit Ih~ z~ kämpfen ~der ihm zu entgehen. Es ist lIl~me~ noch mogItch, de.n mutlg~n Menschen zu zeigen. DI.es 1st denn au~? emes memer Hauptanliegen. Der BI.lßde, Romulus, Ubelohe, Akki sind mutige Menschen. DIe verlorene Weltordnung wird in ihrer Brust wieder hergestellt, das Allgem~ine. en~geht meinem Zugriff. Ich lehne es ab, das Allgememe m ewer Doktrin zu finden ich n~hme es als Chaos hin. Die Welt (die Bühne somit: die dIes~ We~~ bedeutet) st:ht für mich als ein Ungeheures da, als ew Ratsel an UnheIl, das hingenommen werden muß ~or d.~m es jedoch kein Kapitulieren geben darf. Die Wel; 1st gr<?ßer denn der Mensch, zwangsläufig nimmt sie so be­drohlIche Züge an, die von einem Punkt außerhalb nicht bedrohlich wären, doch habe ich kein Recht und keine Fä­?igkeit, mich außerhalb zu stellen. Trost in der Dichtung 1st oft nur allzu billig, ehrlicher ist es wohl den mensch-lichen Blickwinkel beizubehalten.« '

WA XXIV. S. 63 f.

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VII. Literaturhinweise

1. Ausgaben

»Romulus der Große. Eine ungeschichtliche Komödie in vier Ak­ten« erschien in folgenden Fassungen und Ausgaben:

[Erste Fassung von 1949:] Basel: Reiss Bühnenvertrieb, 1956. (Ty-

poskript.] ... [Zweite Fassung von 1956:] Zunch: Verlag der Arche, 1958. [Dritte Fassung von 1961:] Zürich: Verlag der Arche, 1961. - Auch in: Spectaculum IV. Sechs moderne Theaterstücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1961. S. 81-133. [Vierte Fassung von 1963:] Zür.ich: Verlag der Arche, 1964. [Fünfte Fassung von 1980:] Zünch: Verlag der Arche, 1980. (Wer~­ausgabe. Bd. 2.) - Das~.: Friedrich. Dürrenmatt: We~kausgabe 10

dreißig Bänden. Hrsg. 10 Zsarb. mit dem Autor. [DIese Ausgabe wird zitiert als: WA.] Bd. 2. Zürich: Diogenes Verlag, 1980.

Neben deutschsprachigen Schul ausgaben (besorgt von S. A. M. Gaastra, Amsterdam 1961, l1966; Hugh F. Garten, Boston 1962) erschienen Übersetzungen ins Englische (London 1964; New Y?rk 1965), Französische (Paris 1961) und Portugiesisc~e (Buenos Alf~s 1960). Außerdem erschien eine Broadway-Bearbeitung des amen­kanischen Schriftstellers Gore Vidal (New York 1962, 1966).

2. Forschungsliteratur

a) Bibliographien

Hansel,Johannes: Friedrich-Dürrenmatt-Bib~iographie. Ba? Hom­burg / Berlin / Zürich 1968. (Bibliographien zum StudIUm der deutschen Sprache und Literatur. 3.) .' ..

Hönes Winfried: Bibliographie zu Fnednch Durrenmatt. In: Hei~z Ludwig Arnold (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt 1. Mün-chen 1976. (text + kritik. 50/51.) S. 93-108. ..

Jonas, Klaus W.: Die Dürrenmatt-Literatur (1947-1967). In: Bor­senblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe.

24 (1968) S. 1725-38. ..' Keel, Daniel: [Friedrich Dürrenmatt.] Blbhograpme. In: D. K.

VII. Literaturhinweise 99

(Hrsg): Über Fri~drich Dürrenmatt. Essays und Zeugnisse von Gottfned Benn biS Saul BeJlow. 4. verb. und erw. Auf!. Zürich 1990. (Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in dreißig Bänden. Bd. 30.) S. 469-523.

Wilbert-Collins, Elly: [Friedrich Dürrenmatt.] In: E. w.-C.: A Bibliography of Four Contemporary German-Swiss-Authors. Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Robert Walser, Albin Zollin­ger. The authors' publications and the Iiterary criticism relating to their works. Bem 1967. S. 13-32.

b) Zu Autor und Werk allgemein

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- (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt H. München 1977,21984. (text + kritik. 56.)

- Friedrich Dürrenmatt. Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold. Zürich 1976.

Badertscher, Hans: Dramaturgie als Funktion der Ontologie. Eine U~tersuchung zu Wesen und Entwicklung der Dramaturgie Fnedrich Dürrenmatts. BernlStuttgart 1979. (Sprache und Dich­tung. N. F. 27.)

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Der Verlag Philipp Reclam jun. dankt für die Nachdruckgenehmi­gung den Rechteinhabern, die durch den Quellennachweis oder einen folgenden Copyrightvermerk bezeichnet sind. Das Copy­right für die zahlreichen Textauszüge aus: Friedrich Dürrenmatt, »Werkausgaben in dreißig Bänden«, Zürich 1980, in Kapitel V und VI liegt beim Diogenes Verlag, Zürich. Für einige Autoren waren die Rechtsnachfolger nicht festzustellen. Hier ist der Verlag bereit, nach Anforderung rechtmäßige Ansprü­che abzugelten.