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ImpressumIMPRESSUM
DIE SONNE – BRENNPUNKT DER KULTUREN DER WELT
Dokumentation der gleichnamigen Veranstaltungsreihe der Staatlichen Museen
zu Berlin und der Deutsche Bankstiftung im Rahmen der InselPerspektiven 2008 /
Andrea Bärnreuther (Hrsg.) / Mit Vorworten von Klaus Töpfer und Hermann
Scheer / Eine Publikation der Staatlichen Museen zu Berlin, der Deutsche Bank
Stiftung und der Edition Minerva – München: Edition Minerva, 2009
Abbildungen: Schutzumschlag: Sonnenkorona, © SOHO (ESA & NASA);
Haupttitel: Sonnenkorona bei der Sonnenfinsternis in Yiwu China am
1. August 2008, © Dr Francisco Diego, UCL
Herausgeberin: Andrea Bärnreuther
Konzeption und Projektleitung: Andrea Bärnreuther
Texte von: Jan Assmann, Felix Blocher, Eva Cancik-Kirschbaum, Arne Effenberger,
Manuela Fischer, Maria Gaida, Claus-Peter Haase, Thomas Macho,
Martin Maischberger, Harry Nussbaumer, Mathieu Ossendrijver, Elke Ruhnau,
Michael Stix, Martin Wallraff, Dietrich Wildung
Lektorat, Redaktion, Transkription der Gespräche/Podiumsdiskussion:
Andrea Bärnreuther
Grafische Gestaltung: Gini Klose, Oberhaching
Herstellung: Peschke Druck GmbH, München
© Staatliche Museen zu Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Autoren
und Edition Minerva.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-88609-661-9
www.smb.museum
www.museumsshop.smb.museum
EINE PUBLIKATION DER STAATLICHEN MUSEEN ZU BERLIN,
DER DEUTSCHE BANK STIFTUNG UND DER EDITION MINERVA
S NSDIE BRENN
PUNKT DER KULTUREN DER WELTO ENMIT VORWORTEN VON
KLAUS TÖPFER HERMANN SCHEER
HERAUSGEGEBEN VON
ANDREA BÄRNREUTHER
»LE SOLEIL NI LA MORT NE SE PEUVENT REGARDER FIXEMENT« »MAN KANN WEDER UNVERWANDT IN DIE SONNE BLICKEN NOCH IN DEN TOD«
FRANÇOIS DE LA ROCHEFOUCAULD
InhaltINHALTVorwort KLAUS TÖPFER
Vorwort HERMANN SCHEER
Dank
Grußwort
Einführung ANDREA BÄRNREUTHER
JAN ASSMANN Im Bild der Sonne – Konstruktionen von Göttlichkeit im Alten Ägypten
Gespräch JAN ASSMANN, DIETRICH WILDUNG, Gesprächsleitung THOMAS MACHO
Einführung
FELIX BLOCHER Sonne und Sonnengottheiten im Alten Vorderasien
MATHIEU OSSENDRIJVER Die Sonne im Alten Orient – Konzeptionen zwischen Mythos und Wissenschaft
Gespräch FELIX BLOCHER, MATHIEU OSSENDRIJVER, Gesprächsleitung EVA CANCIK-KIRSCHBAUM
Einführung
MARTIN WALLRAFF »Sonne der Gerechtigkeit« – Christus und die Sonne in der Spätantike
Gespräch MARTIN WALLRAFF und ARNE EFFENBERGER
Einführung
FRANÇOIS BERTEMES Die Sonne und ihre Bedeutung im religiös-mythologischen Kontext der Urgeschichte Alteuropas
Gespräch FRANÇOIS BERTEMES UND WILFRIED MENGHIN, Gesprächsleitung HANS-DIETER BIENERT
Einführung
HEINRICH VON STIETENCRON Die Sonne im Mythos und in der Zeitvorstellung des Alten und frühmittelalterlichen Indien
KARL-HEINZ GOLZIO Astronomie und Kalenderrechnung im Alten und frühmittelalterlichen Indien
Gespräch HEINRICH VON STIETENCRON und KARL-HEINZ GOLZIO, Gesprächsleitung THOMAS MACHO
Einführung
MARIA GAIDA Die Sonne bei den klassischen Maya – Astronomie und Dynastie
ELKE RUHNAU Tonatiuh – »Er geht und ist heiß«. Sonnengott und Sonnenkult der Azteken
MANUELA FISCHER Die Sonne bei den Inka – Symbol imperialer Macht
Gespräch MARIA GAIDA, ELKE RUHNAU, MANUELA FISCHER, Gesprächsleitung THOMAS MACHO
Einführung
Podiumsdiskussion Die Sonne zwischen Wissenschaft und Weltanschauung
EVA CANCIK-KIRSCHBAUM, MARTIN MAISCHBERGER, CLAUS-PETER HAASE, MARIA GAIDA,MICHAEL STIX, HARRY NUSSBAUMER, Gesprächsleitung THOMAS MACHO
HARRY NUSSBAUMER Die Sonne als Objekt wissenschaftlicher Forschung
AutorenBild- und TextnachweisImpressum
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VORWORT KLAUS TÖPFER
Professor Dr. Klaus Töpfer
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit a.D.
Exekutiv-Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), 1998-2006
»
«
Die Sonne – über alle Generationen der Menschheit hinweg hat sie die Menschen fasziniert, hat sie inspiriert
zu gläubigem Vertrauen und zu wissenschaftlicher Durchdringung. Über all diese Generationen hinweg eine Einbin-
dung in Mythen und Religionen. Ganze Kulturen haben sich aus dieser Hingabe zur Sonne heraus
entwickelt. Der Aton-Hymnus, der große Sonnengesang, mehr als 1300 Jahre vor Christi, in der Regierungszeit
des Echnaton entstanden, wohl von diesem Pharao selbst erfühlt. In vielen Gräbern in Hieroglyphen in Felsen
eingeschlagen. Die Sonne, personifiziert in dem großen Pharao. Nicht zu befragen, sondern zu verehren, für
die Ewigkeit einzuprägen in die Natur, in die Kultur, die bis zum heutigen Tag weiterer Entschlüsselungen
bedarf.
Die Sonne – wie wohl von keinem anderen in der christlichen Kultur besungen von dem großen Franz von Assisi.
Er lobt den Herrn mit der ganzen Schöpfung, »vor allem mit dem Herrn Bruder Sonne – er bringt uns den Tag – er
spendet uns Licht – schön ist er – und strahlend mit großem Glanz – von Dir Höchster ein Zeichen«. Schönheit und
Nützlichkeit, in den Glauben als Zeichen eingebunden. Nie einseitig und losgelöst von dem Menschen in seiner
jeweiligen Befindlichkeit zu betrachten.
Der Sonnengesang, damit die Mitgeschöpflichkeit der Schöpfung, dieses Echo auf den Römerbrief. In diesem ist
vermerkt, dass die ganze Schöpfung der Erlösung harrt. Eben nicht nur der Mensch. Eben nicht der Ausbeuter
der Natur, sondern der Teil der Schöpfung, der den Auftrag hat, Schöpfung zu bebauen und zu bewahren.
Die Sonne – unersetzbare Grundlage von Leben, von menschlichem Leben auf diesem Planeten Erde. Der große,
unerschöpfliche Energiespender. Die Herrin von Gezeiten und Wandel. Die Quelle von Inspiration für Menschen,
Gefühle und Gedanken in Kunst einzubinden.
Die Sonne – nicht technisch manipulierbar. Mittelpunkt des Gleichgewichts von Leben und Sterben, von Aufgang
und Untergang. Ehrfürchtig ist ihr zu begegnen, nicht ängstlich. Immer wieder die Welt und sich selbst öffnen zur
Sonne hin. Sich nicht abschotten und künstlich verdunkeln.
Es ist leichtfertig und oft tollkühn, sich nicht dem Gang der Sonne anzuvertrauen. Sinnvoll allein ist es, sie
schöpferisch zu nutzen für einen friedlichen Planeten, eine Welt, in der für alle Menschen die Wärme und die
Kraft der Sonne verfügbar ist. Eine Welt, in der die Sonne tagtäglich aufgeht, in der sie Hoffnung für Gemeinsamkeit
und Solidarität vermittelt. Es ist gut, sich von vielen unterschiedlichen Ausgangspunkten her der Sonne zu
widmen, sie zu erfühlen und sie zu bedenken. Kunst in allen ihren Facetten hat sie beeinflusst und wird sie weiter ent-
scheidend prägen.
VO
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OR
T
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VORWORT HERMANN SCHEER
Dr. Hermann Scheer MdB
Präsident von EUROSOLAR
Vorsitzender des Weltrats für Erneuerbare Energien
Träger des Alternativen Nobelpreises
Es gibt nach wie vor eine breite Ignoranz gegenüber dem einzigen naturwissenschaftlich haltbaren Ausweg aus der weltweiten ökologischen
Krise: dem weltweiten ausschließlichen Einsatz der erneuerbaren Energien und damit der vollständigen Ablösung atomarer und fossiler
Energienutzung. Auch weite Teile der Ökologiebewegung sind unbewusst semi-ökologisch, solange sie nicht erkennen, dass sie in allererster
Linie Solarbewegung sein müssen. Denn alle Umweltprobleme resultieren aus der Umwandlung nicht erneuerbarer Energien. Warum halten
selbst Umweltschützer noch immer die im Verhältnis zur grenzenlos verfügbaren Sonnenenergie marginalen fossilen Energiequellen als nicht
wirklich verzichtbar – von den Gefahren atomarer Energiequellen ganz zu schweigen? Warum wird das wirkliche Potenzial der Solarenergie
unterschätzt, warum verharrt das Denken im kleinen Karo der etablierten Energieversorgungsstrukturen? Warum stürzen sich Regierungen,
Unternehmen, Wissenschaftler, Architekten nicht auf diese Zukunftsoption? Hier müssen tief verwurzelte gedankliche Blockaden im Spiel sein
und damit kulturelle Prägungen im Energiedenken.
Insgesamt wird völlig verkürzt über Energie geredet. Sie gilt als spezielles Segment neben anderen Spezialgebieten. Diese totale Fehleinschätzung
drückt eine Verengung der Wissenschaftskultur aus, einen Verlust des universalen Denkens. Die Sonnenenergie ist die existenzielle Grund-
bedingung allen Lebens, und aktivierte Energieverfügbarkeit ist die Voraussetzung für die Entstehung von Zivilisationen. Die klassischen
Hochkulturen waren nur möglich durch überlegene Möglichkeiten der Energiebereitstellung, man denke etwa an die raffinierten Wassersysteme
Chinas oder Mesopotamiens – eine Erkenntnis, über die quasi eine Jalousie heruntergegangen ist. Man überträgt sie nicht mehr auf die
heutige Zeit.
Niemand hat diesen Gesamtzusammenhang überzeugender dargestellt als Wilhelm Ostwald in seinem Buch »Energetische Grundlagen der
Kulturwissenschaften« von 1909. Ostwald war Naturwissenschaftler und Chemienobelpreisträger, er nannte sich »Energiesoziologe«. Seine
Ausgangsthese: Der allgemeinste Begriff von Energie ist Arbeit. Oder auch umgekehrt: Der allgemeinste Begriff von Arbeit ist Energie. Daraus
ergeben sich drei Dimensionen der Arbeit: erstens die unmittelbare Arbeit der Sonne. Sie schlägt sich am deutlichsten in deren Wärme- und Licht-
angebot nieder und ist Voraussetzung für das Wachstum der gesamten Pflanzenwelt. Die zweite Form ist die unmittelbare menschliche
und tierische Arbeit; sie ist jedoch bereits abhängig vom ursprünglichsten, aktiven Energieeinsatz, nämlich der Nahrungsmittelzufuhr, also
wiederum von Sonnenarbeit.
Ursprünglich war die genutzte Energie stets Umgebungsenergie; je nach Region gab es zum Beispiel Holzkohle, Wasserräder oder Windmühlen.
Doch mit dem Industrialisierungsprozess und zunehmender Abhängigkeit von fernen Energiequellen entfremdete sich der Mensch von der
Natur, von seiner Arbeitsgeschichte, Siedlungs- und Kulturgeschichte. Viele kulturelle Errungenschaften – etwa das Wissen, wie man mit Hilfe der
Umgebungsenergie Agrikultur betreibt oder Häuser baut – verkümmerten oder gingen verloren. Die Befreiung von den lokalen Energie-
gegebenheiten sollte insgesamt mehr Freiheit schaffen. Doch im Ergebnis hat sie kulturelle Vielfalt zerstört, Arbeit und Leben uniformiert,
quasi gleichgeschaltet, und die Menschheit in vollständige Abhängigkeit von den fossilen Energieangeboten gebracht, deren Exkremente
nunmehr Weltzivilisation bedrohen.
Viele wehren sich zu Recht gegen Monokausalitäten in der Beschreibung von Problemen. Aber eine Monokausalität für alles Leben auf dem Erd-
ball gibt es doch, sie ist unbestreitbar: die Kraft der Sonne. Sie bestimmt auch im atomar/fossilen Zeitalter entschieden mehr als allgemein ange-
nommen wird. Nur wird sie von den Energiestatistiken, die nur kommerzielle Energieangebote zur Kenntnis nehmen, nicht erfasst. Doch anders
als der Tunnelblick der sich selbstvergessen zeigenden Zivilisation suggeriert, ist das solare Energiepotential, zu dem alle erneuerbaren Energien
gehören, überwältigend groß. Ihm verdankt der Erdball jährlich 15.000 mal mehr Energie als der Jahresverbrauch an atomaren und fossilen Ener-
gien ausmacht. Dennoch wird das überwältigend große Potential immer noch als nicht ausreichend denunziert, um auf atomare und fossile Ener-
gien – dieses relativ marginale Energiepotential – verzichten zu können. Mit dieser Haltung läuft die Zivilisation Gefahr, sich selbst zu margina-
lisieren. Es ist daher von existenzieller Bedeutung, endlich zu erkennen, dass der Wechsel zu erneuerbaren Energien vollständig sein kann und
muss – und dass er keine untragbare Belastung, sondern eine einzigartige und unaufschiebbare Menschheitschance ist.VO
RW
OR
T
Dank
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DANK
Die Sonne hat seit Jahrtausenden das Denken und Fühlen der Menschen beeinflusst und ihren Geist,
ihre Imagination und Phantasie wie kein anderer Himmelskörper angeregt und herausgefordert.
Heute ist es wieder die Sonne, die die Menschen nicht zuletzt angesichts des drohenden Klimawandels
zum Umdenken und zur Besinnung auf regenerative Energien bewegt und Wege in die Zukunft weist.
Damit rückt die Sonne erneut in den Brennpunkt, wobei sich wissenschaftliches, politisches und wirt-
schaftliches Interesse miteinander verknüpfen.
Die Publikation »Die Sonne – Brennpunkt der Kulturen der Welt« unternimmt den Versuch, im Blick
zurück Funken zu schlagen für ein transkulturelles, zukunftsweisendes Verständnis der Sonne. Ihr zu-
grunde liegt die gleichnamige Veranstaltungsreihe im Rahmen der »InselPerspektiven«, eines gemein-
samen Projekts der Staatlichen Museen zu Berlin und der Deutsche Bank Stiftung, im Jahr 2008.
Herrn Professor Dr. Klaus Töpfer und Herrn Dr. Hermann Scheer, die in ganz herausragender Weise mit
ihrem großen politischen und wissenschaftlichen Engagement für globale Verantwortung gegenüber
der Umwelt und nachhaltige Entwicklung stehen, sei für ihre Vorworte herzlich gedankt. Sie schlagen
die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart sowie in die Zukunft und eröffnen der Publikation
einen neuen Denkhorizont. Sie zeigen die Sonne als Kulturgenerator quer durch die Kulturen und
Zeiten hindurch bis heute sowie im Brennpunkt aktueller Fragestellungen und Herausforderungen, die
einen weltweiten Wandel hin zu erneuerbaren Energien sowie ein Um- und Neudenken in allen Be-
reichen der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im buchstäblichen Sinn NOTwendig machen.
Allen Autoren danke ich herzlich für ihre inspirierenden und wegweisenden Beiträge, ihr großes
Engagement sowie die schöne Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank gilt Herrn Michael Münch,
dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Deutsche Bank Stiftung, für die großzügige Förde-
rung der Publikation und der Veranstaltungsreihe auf dem Höhepunkt einer außerordentlich frucht-
baren langjährigen Zusammenarbeit.
Für die Übernahme der Publikation danke ich Herrn Friedhelm Schwamborn, Geschäftsführer der
Edition Minerva, sowie dem Verleger Hermann Farnung. Dass Gini Klose das Projekt mit großer Be-
geisterung und Engagement mitgetragen und ihm mit hoher Sensibilität und Professionalität eine so
anregende und unterschiedliche Rezeptionsebenen anbietende Gestalt verliehen hat, dafür sei ihr mein
herzlicher Dank gesagt.
Herr Professor Dietrich Wildung, Direktor des Ägyptischen Museums und Papyrussammlung, hat mit
dem Stichwort »Solar« den Stein ins Rollen gebracht und ein Projekt mit einer wunderbaren Eigen-
dynamik ins Leben gerufen. Ihm und seinem unermüdlichen Verlangen Brücken zu schlagen zwischen
den unterschiedlichen Kulturen und Zeiten sowie zwischen der Kunst und dem Publikum, sei diese Pu-
blikation als Zeichen des Dankes gewidmet: Im Zeichen der Sonne bedeutet ein Ende den fließenden
Übergang zu einem Neuanfang. Auf ihn dürfen wir gespannt sein.
Andrea Bärnreuther
GrußwortGRUSSWORT
Bereits seit 2001 halten auf Einladung der Staatlichen Museen zu Berlin und
der Deutsche Bank Stiftung im Rahmen der Veranstaltungsreihe InselPer-
spektiven namhafte Wissenschaftler Vorträge an wechselnden Orten auf der
Berliner Museumsinsel. Auf diese Weise begleitet die Stiftung die Sanierung
der Museen im Rahmen des »Masterplans« und regt zur Auseinandersetzung
mit dem großartigen kulturellen Erbe wie auch mit den Zukunftsfragen der
Museumsinsel an.
Die Veranstaltungsreihe »Die Sonne – Brennpunkt der Kulturen der Welt« im
Rahmen der InselPerspektiven im Jahr 2008 schlägt die Brücke zwischen den
unterschiedlichen Kulturen, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und
zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit.
Bildung und Kunst sind zentrale Förderbereiche der Deutsche Bank Stiftung.
Bildung, verstanden in einem transkulturellen, ganzheitlichen, sowohl auf-
klärerischen als auch zur Selbstentfaltung und zum Dialog anregenden Sinn,
ist der Leitgedanke, der alle Arbeitsschwerpunkte der Deutsche Bank Stiftung
verbindet. Wir initiieren eigene Projekte und gehen langfristige Partnerschaf-
ten ein. Unser besonderes Engagement gilt nachhaltigen Projekten, die sich
auf den Schnittstellen unserer Förderbereiche bewegen.
Wir freuen uns, mit der vorliegenden Publikation den Dialog der Wissen-
schaften untereinander zu fördern und die zukunftsgerichtete Auseinander-
setzung mit unserem kulturellen Erbe zu unterstützen.
Deutsche Bank Stiftung
Einführung
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Jedes Unternehmen, das die Komplexität der Sonne zu beleuchten sucht,
begibt sich auf einen Weg, der niemals an ein Ende gelangen wird. Die
Publikation »Die Sonne – Brennpunkt der Kulturen der Welt« will sich auf
diesen Weg machen und für Fragestellungen sensibilisieren, die Leben
und Tod zugleich umfassen. Dabei gilt: »Le soleil ni la mort ne se peuvent
regarder fixement« – »man kann weder unverwandt in die Sonne blicken
noch in den Tod«, um ein bekanntes Wort von François de La Roche-
foucauld aufzugreifen.1
In fast allen Kulturen begegnen wir dem Respekt vor der Macht der Sonne.2
Die Sonne schenkt Leben, aber bringt auch Tod und Verderben. Viele son-
nenbezogene Mythen kreisen um Tod und Regeneration. Die Sonne als
kosmische Ordnungsmacht, als für das Fortbestehen der Welt verantwort-
liche Gottheit steht für die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung.
Sie ist Gegenstand kultischer Verehrung. Dabei schließt die Konstruktion
von Göttlichkeit im Bild der Sonne die astronomische und astrologische
Auseinandersetzung mit dem Gestirn keineswegs aus, sondern ist im
Gegenteil sogar deren Triebfeder. Gerade in den auf Landwirtschaft basie-
renden Gesellschaften der europäischen Bronzezeit sowie in den präko-
lumbischen Kulturen Meso- und Südamerikas, der Maya, Azteken und
Inka, ist die Beobachtung der Sonne zur Erfassung jahreszeitlicher Zyklen,
wie sie sich in Kalendern niedergeschlagen hat, lebensnotwendig.
Zu den Pflichten der Herrscher der frühen Gesellschaften gehört die
Verantwortung dafür zu sorgen, dass die Sonne sich auf dem vorgeschrie-
benen Kurs weiterbewegt beziehungsweise die Sonne davor zu schützen,
von ihrer Bahn abzukommen. In der Bronzezeit zum Beispiel erweist sich
die Sonne als bedrohte Macht. Die Angriffe auf die Sonne werden zur
Lebensbedrohung der Menschen. Auch die Azteken sind ständig mit der
Wiederherstellung der Sonnenkräfte befasst. Nach dem Mythos wird die
neue Welt der Azteken, die »Fünfte Sonne«, sowie deren Leben spendende
Bewegung durch den Opfertod der Götter geschaffen. Um die kosmische
Ordnung zu erhalten und das Zentralgestirn mit Energie zu versorgen,
müssen die Menschen – nach dem Weltverständnis der Azteken – das
Opferritual ständig wiederholen.
Im Alten Ägypten ist die Sonne der Eine Ursprung der Welt und der Götter.
Mit der Sonne verbinden sich Vorstellungen von Universalität und Ewig-
keit. Die ständige Erneuerung der Schöpfung im täglichen Kreislauf der
Sonne beinhaltet das Versprechen der Wiedergeburt, die Hoffnung auf
Unsterblichkeit.
Die Identifikation oder Assoziation des Königs mit der Sonne findet sich
in zahlreichen Kulturen. Herrscher wie Echnaton, Alexander der Große,
der spätantike römische Kaiser Aurelian, der Moghul-Kaiser Akbar, der
Sonnenkönig der Inka oder der absolutistische Herrscher Louis XIV versu-
chen, ihre riesigen Reiche im Bild der Sonne zu einen und ihre Herrschaft
zu legitimieren und sakralisieren. Der 274 n. Chr. von Kaiser Aurelian zum
Reichsgott erhobene Sol Invictus absorbiert unzählige andere Gottheiten
und gibt Raum für ein neues religiöses Weltbild, in das sich der universale
Machtanspruch des Kaisers als Beherrscher des orbis terrarum einbetten
lässt. Die Subordination existierender Gottheiten unter eine Hauptgott-
heit eint die unterworfenen Völker unter einer Ideologie. Die Identifika-
tion der Sonne mit Wahrheit und Gerechtigkeit schließt auch ihre Wirk-
samkeit in rächender Funktion ein beziehungsweise als Richter über
Leben und Tod. Das frühe Christentum verehrt Christus als »Sonne der
Gerechtigkeit«, als »wahre Sonne« – Christus verus Sol –, Quelle allen Lichts.
Bei der Übertragung der spätantiken Sonnenverehrung auf Christus ver-
liert die Sonne ihre schöpferische Macht und wird zum Geschöpf. Der
Geburtstag Christi wird auf den 25. Dezember, den Festtag des spätantiken
Sol Invictus, gelegt. Der Tag nahe an der Wintersonnwende bedeutet auf-
grund der zunehmenden Länge der Tage den Anfang einer Zeit der Wieder-
erneuerung des Lebens. Das »reine Licht« der Sonne als Symbol umspannt
die Begriffe Wahrheit, Gerechtigkeit, Erkenntnis, geistige Erleuchtung so-
wie den Bereich des Bewusstseins, der bereits in den Veden, den ältesten
religiösen Texten Indiens, wie ein inneres Licht als sonnenhaft erkannt
und neben den Bereichen Leben und Zeit dem Sonnengott zugeordnet
wird. Dabei konstituiert das Licht großenteils die Fundamentalopposition
zur Welt des Bösen beziehungsweise der Finsternis.
DIE SONNE – BRENNPUNKT DER KULTUREN DER WELTEINFÜHRUNG ANDREA BÄRNREUTHER
Die Sonnenanbeter des Fin de siècle reißen sich die Kleidung vom Leib
und begrüßen, symbolisch gehäutet und seelisch gereinigt, in der auf-
gehenden Sonne den Anbruch einer neuen Zeit. Sonnenkult meint hier
die Feier des Selbst, Weltbejahung im Zeichen des Einschwingens in den
Rhythmus der Schöpfung. Im Kult der Sonne treffen unterschiedliche,
kaum kompatible Vorstellungswelten zusammen: die Utopie von einem
zivilisationsfreien Leben und der Glaube an den Erlösungscharakter
von Gewalt. Der spätrömische Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (204-
222 n. Chr., reg. 218-222), genannt Heliogabal, der ein Jahr nach seiner
Vertreibung aus Rom (217 n. Chr.) als Hohepriester des syrischen Sonnen-
gottes Elagabal zurückkehrte und als römischer Kaiser den östlichen
Elagabal-Kult zur Reichsreligion zu erheben suchte, wird zum Messias des
europäischen Ästhetizismus und Schutzheiligen der Dandies.
In »Also sprach Zarathustra« entwirft Friedrich Nietzsche die neue anti-
christliche Heilslehre der Selbstgestaltung im Sinn der Selbststeigerung.
Dabei greift er zum Bild der Sonne, um den Übermenschen als Inbegriff
des Menschenmöglichen und Antwort auf den Tod Gottes sinnfällig zu
machen, der kraft seiner schöpferischen Macht am Ungeheuren des Seins
partizipiert.
»Die Sonne geht auf. Das Individuum tritt in die Welt oder die Welt ins In-
dividuum«, mit diesen Worten umschreibt Richard Strauss die monumen-
talen Anfangstakte seiner Tondichtung »Also sprach Zarathustra«, eine
musikalische Morgenröte von epochaler Bedeutung.
Die Nationalsozialisten instrumentalisieren das »heilbringende« Sonnen-
rad, »Swastika«, das im germanischen Kulturkreis seit etwa 4000 v. Chr.
belegt ist, aber auch in der Antike, in Indien, China sowie im europäischen
Mittelalter, in der Neuzeit, im 19. Jahrhundert in okkulten und neo-
buddhistischen Zeitschriften, in völkischen Bewegungen. Als »germani-
sche Rune« und Geheimzeichen »urarischen Weistums« entwickelt sich
das Hakenkreuz in der Novemberrevolution zum Hauptkennzeichen der
Gegenrevolution und 1920 dann zum Parteizeichen der NSDAP. Mit dem
12-speichigen Rad im Boden des so genannten Obergruppenführersaals
über einer kuppelförmigen Krypta in der Wewelsburg verleiht Heinrich
Himmler der ehemaligen Kult- und Schulungsstätte der SS, des Ordens
unter dem Totenkopf, das Sinnbild einer höheren Ordnung, das als
»Schwarze Sonne« und Leitsymbol der neonazistischen Esoterikszene in
den neunziger Jahren auf der Website des Thule-Netzes weiterlebt.
In mehreren Zeichnungen und Skizzen von Joseph Beuys taucht der »Son-
nenstaat« auf. In Anlehnung an die 1602 im Gefängnis entworfene Schrift
des italienischen Dominikanermönchs Tommaso Campanella Civitas
solis, die Darstellung eines utopischen, als irdische Umsetzung einer gött-
lichen Ordnung begriffenen Gesellschaftssystems, stellt Beuys die Kraft
und Wärme der Sonne als »evolutionäre Grundsubstanz« in den Mittel-
punkt seiner Vision einer neuen Gesellschaft, die er als selbstbestimmte
demokratische Gesellschaft versteht.
Verbinden Nietzsche und Beuys mit dem Bild der Sonne die Utopie eines
›neuen Menschen‹ beziehungsweise einer ›neuen Gesellschaft‹ als Inbe-
griff des Menschenmöglichen, so gewinnt Albert Camus im extremen so-
laren Klima Algeriens Einsicht in eine andere Wahrheit der Sonne, eine
Wahrheit, die ihn Abstand zum Humanismus, das heißt zu einem Den-
ken, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, gewinnen lässt. Ange-
sichts der Erfahrung, an die Grenzen des Denkens zu stoßen, formt sich
Camus’ Credo, in welchem Sonne und Tod Schlüsselbegriffe für Wahrheit
sind: »So werde ich bewusst und gegen alle Vorurteile eine Wahrheit be-
kennen: die Wahrheit der Sonne, die auch die Wahrheit meines Todes ist.«
Anmerkungen1 Op. cit. Peter Sloterdijk, Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, Dialogische Untersuchungen, 113. 2 Siehe hierzu und zum Folgenden: Der Sonnenkult,
hrsg. v. Frank Böckelmann, Dietmar Kamper und Walter Seitter, Tumult – Schriften zur Verkehrswissenschaft, Bd. 24, Berlin/Wien 1999; Die Sonne. Das Gestirn in
der Kulturgeschichte, zusammengestellt und hrsg. v. Madanjeet Singh, UNESCO 1993, dt. Ausgabe Tübingen, Berlin 1994
116
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I. VORBEMERKUNGEN
Der Kosmos und seine Phänomene wie, allen voran, der »gestirnte Him-
mel«, den noch Kant nicht ohne religiöse Ergriffenheit betrachten konnte,
aber auch die Erscheinungen der den Menschen näheren Natur wie Blitz
und Donner, Meer, Gebirge und Wildnis, Quellen und Ströme, die Frucht-
barkeit der Felder und Bäume, das Vergehen und Wiederkehren der Vege-
tation bieten wohl überall auf der Welt die ursprünglichsten Formen einer
Erfahrung des Göttlichen – oder, wenn man so will, einer »Konstruktion
von Göttlichkeit«. Das gilt auch und ganz besonders für das Alte Ägypten,
dessen natürliche Umwelt von so eigentümlich klaren Gegensätzen ge-
prägt ist: dem Gegensatz zwischen Wüste und Flussoase, der keine Über-
gangszonen kennt, und dem Gegensatz zwischen dem immer strahlend
hellen Tag und der immer sternklaren tiefen Nacht, fast ohne Wolken, Ne-
bel und Unwetter, bis hin zu dem Gegensatz zwischen dem immer nach
Norden strömenden Nil und dem immer nach Süden wehenden Wind
sowie zwischen den vier Monaten der Überschwemmung, in der das gan-
ze Fruchtland unter Wasser steht und den restlichen acht Monaten, in der
die Felder bebaut und beerntet werden. Klare Gegensätze und ein einzigar-
tiges Gleichmaß strukturieren die ägyptische Natur, und es wundert nicht,
dass gerade dieses Volk den kosmischen und natürlichen Vorgängen mit
IM BILDDER SONNE –
KONSTRUKTIONENVON GÖTTLICHKEIT IM
ALTEN ÄGYPTEN
JAN ASSMANN
ganz besonderer Aufmerksamkeit und Andacht begegnete. Dabei nahm
alles, was mit der Sonne zusammenhing, von Anfang an den ersten Rang
ein und ließ sogar an einem bestimmten Punkt der ägyptischen Geschich-
te den Sonnenkult für einige Jahre in einen exklusiven solaren Monotheis-
mus umschlagen. Vor allem aber, und dieser Umstand gibt dem ägypti-
schen Beispiel sein überragendes menschheitsgeschichtliches Interesse,
haben es die Ägypter verstanden, ihrer auf die Natur und ganz besonders
auf die Sonne konzentrierten Andacht und Aufmerksamkeit in Hunderten
von Texten höchst beredten Ausdruck zu geben, sodass wir einen einzig-
artig detaillierten Blick in jenes Frühstadium der Religionsgeschichte tun
können, in dem die Konstruktionen von Göttlichkeit noch ganz von der
Natur bestimmt sind.
Vielleicht darf man, was die religionsgeschichtliche Entwicklung solcher
Konstruktionen von Göttlichkeit angeht, drei Stufen unterscheiden: Die
ursprünglichsten Formen von Göttlichkeit, davon kann man wohl ausge-
hen, sind innerweltliche beziehungsweise immanente, aber als über-
menschliche Mächte empfundene Phänomene. Davon sind dann als eine
zweite Stufe Konstruktionen von Göttlichkeit zu unterscheiden, die sich
21
zwar kosmisch manifestieren, aber weit über das Kosmische hinausgehen,
also zwar immanent erfahrbar sind, aber in der Immanenz nicht aufgehen.
Der spätantike Autor Praetextatus hat zwischen »enkosmischen« und
»hyperkosmischen« Göttern unterschieden1: diese Begrifflichkeit scheint
mir für diese beiden Konstruktionen von Göttlichkeit gut anwendbar. Ich
nenne sie daher die »enkosmische« und die »hyperkosmische« Stufe. Die
dritte Stufe schließlich stellt der Begriff der vollkommenen Außerweltlich-
keit oder Transzendenz Gottes dar. Sie nenne ich »akosmisch«. »Akos-
misch« ist zum Beispiel ein Gott, der die Welt aus dem Nichts erschaffen
hat und in dieser von ihm erschaffenen Welt nicht auffindbar ist, auch
nicht »im Bild der Sonne«, oder auch ein Gott, der mit der Welt nicht ein-
mal in Form der Schöpfung zu tun hat. Der radikal außerweltliche, trans-
zendente, »akosmische« Gott ist eine späte, das heißt spätantike Errungen-
schaft; mit ihm werden wir es hier, wo es um das Alte Ägypten gehen soll,
nicht zu tun haben. Wir werden uns nur mit den ersten beiden Konstruk-
tionen von Göttlichkeit, den »enkosmischen« und den »hyperkosmi-
schen« beschäftigen und fragen, in welchem, dem »enkosmischen« oder
dem »hyperkosmischen« Sinn, wir den Sonnengott der Alten Ägypter zu
verstehen haben.
Zwischen den drei Stufen in der Geschichte der Konstruktion von Gött-
lichkeit gibt es zahlreiche Übergänge, und es ist nicht immer leicht zu ent-
scheiden, ob eine bestimmte Gottesidee als »enkosmisch« oder »hyper-
kosmisch« oder »akosmisch« einzustufen ist. Wenn die Sonne als Gottheit
verehrt wird, haben wir es mit einer »enkosmischen« Konstruktion zu tun,
wenn es aber um eine Gottheit geht, die mit der Sonne keineswegs iden-
tisch, sondern nur »im Bild der Sonne« begriffen wird, sollte man eher von
einer »hyperkosmischen« Konstruktion sprechen. Der Begriff der Schöp-
fung, um ein anderes Beispiel zu geben, impliziert sowohl eine Verbin-
dung als auch eine Unterscheidung von Gott und Welt. In der christlichen
Tradition gibt es seit dem Hochmittelalter die Lehre vom Buch der Natur;
hier wird die Schöpfung als eine Offenbarung Gottes aufgefasst, in der sich
Gott ebenso zu erkennen gibt wie in seinem Wort. Bevor das Wort Gesetz
und dann Fleisch wurde, ist es zuallererst einmal Welt geworden. Ange-
sichts solcher Argumente wird man nicht von einer »akosmischen« Kon-
struktion von Göttlichkeit sprechen. Andererseits wird aber gerade durch
die Schöpfungstheologie ein scharfer Trennungsstrich zwischen Gott und
Welt gezogen und allem Kosmischen gerade aufgrund seiner Geschaffen-
heit jeder Anspruch auf Göttlichkeit abgesprochen. Diese Kategorien sind
also mit großer Vorsicht zu handhaben. Wenn wir mit dieser Frage an die
altägyptischen Befunde herantreten, sehen wir sofort, dass wir es hier mit
einer ganz eigentümlichen Vorstellung von ›Kosmos‹ zu tun haben, aus
der sich dann auch sofort die überragende und voll und ganz »enkosmi-
sche« Rolle des Sonnengottes ergibt.
II. DIE MYTHOLOGIE DES SONNENLAUFS
Die Alten Ägypter dachten sich den Kosmos in erster Linie als einen Pro-
zess oder, genauer, als Aktion, als ein Drama, einen Handlungszusam-
menhang kooperierender und widerstrebender Mächte, unter denen der
Sonnengott, das ist vollkommen eindeutig, die Hauptrolle spielte. Es geht
dabei aber weniger um den Sonnengott, seine Theologie oder Mythologie,
als vielmehr um den gesamten Handlungszusammenhang, den ich den
»Sonnenlauf« nennen möchte. Man könnte in diesem Zusammenhang
auch von einem Mythos sprechen, mit dem Unterschied freilich, dass die
Geschichte, als die sich für die Ägypter der scheinbare Umlauf der Sonne
um die Erde darstellt, nicht in illo tempore stattfand, sondern in ständiger
Gegenwart abläuft. Genauer gesagt läuft dieser Vorgang oder dieses Drama
nicht nur in der Zeit ab, sondern bringt die Zeit zuallererst hervor. Die Zeit
entsteht mit und durch den Sonnenlauf, und zwar jener Aspekt der Zeit,
den die Ägypter Neheh nennen.
Die Ägypter unterscheiden nämlich zwei Aspekte der Zeit. Das ist uns
fremd und nicht ganz einfach zu verstehen, aber wir müssen wenigstens
kurz darauf eingehen, wenn wir jene Konstruktion von Göttlichkeit, die
sich den Ägyptern im Bild der Sonne zeigte, einigermaßen umfassend in
den Blick bekommen wollen. Die Ägypter unterschieden also zwei Aspek-
te der Zeit; den einen nannten sie Neheh, den anderen djet. Neheh ist die
unaufhörliche Wiederkehr, die zyklische Zeit, das ist die Zeit des Sonnen-
laufs, und das Wort Neheh wird mit dem Bild der Sonne determiniert, so
wie auch alle anderen Zeitbegriffe – wie etwa Jahr, Jahreszeit, Monat, Tag,
Stunde, Augenblick und vieles andere mehr –, die es mit diesem Aspekt der
Zeit zu tun haben. Die andere Zeit djet ist demgegenüber die unveränder-
liche Dauer. Neheh ist die Zeit der Ereignisse, djet die Zeit der Bestände und
Resultate. Diese Dichotomie der Zeit ergibt sich aus der Zweiheit der As-
pekte, nämlich perfektiv und imperfektiv oder Vollendung und Verlauf, so
wie sich die uns geläufige Dreiteilung der Zeit in »Vergangenheit«, »Gegen-
wart« und »Zukunft« aus der Dreiheit der Zeitstufen ergibt. Diese Einzel-
heiten brauchen uns hier aber nicht weiter zu beschäftigen. Wichtig ist nur,
dass die Zeit Neheh im Bild der Sonne konzipiert wird; das ist die Zeit, für
die der Sonnengott steht, und die er durch den Sonnenlauf als unaufhör-
liche Wiederkehr generiert. Für die andere Zeit djet steht Osiris, der Herr-
scher des Totenreichs. Neheh und djet, Re und Osiris, Sonnenlauf und
Totenruhe bilden in Ägypten einen spannungsreichen Antagonismus, und
auch das ist wichtig im Blick zu behalten, wenn man sich mit den ägyp-
18
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tischen Konzeptionen von Sonnengott und Sonnenlauf beschäftigt, dass
es da nämlich auch immer noch das Andere gibt: das Reich des Osiris, des
Todes, der unwandelbaren Dauer, und dass die ägyptische Welt auf dem
Gleichgewicht zwischen diesen beiden Sphären beruht.
Der Sonnenlauf nun, von dem allein im Folgenden die Rede sein soll, bil-
det gewissermaßen den Pulsschlag des als Prozess gedachten Kosmos. Im
Sonnenlauf wiederholt sich die Schöpfung, die auf Ägyptisch »das Erste
Mal« heißt, das »Erste Mal« nämlich von etwas, das sich Morgen für
Morgen wiederholt.2 Daher heißt es immer wieder, dass der Sonnengott
am Morgen »aus dem Urwasser« aufsteigt. Das »Urwasser«, also das ägyp-
tische Äquivalent zum biblischen »tohuwabohu« und zum griechischen
»Chaos«, ist mit der Kosmogonie nicht überwunden, sondern umgibt und
durchdringt weiterhin die Erde, und alles, was damit in Berührung
kommt, erneuert sich wie beim »Ersten Mal«.3 Jeder Sonnenaufgang ist so
etwas wie eine kleine Kosmogonie. Damit ist schon einmal klar, mit was
für einer dramatischen Vorstellung von ›Kosmos‹ wir es hier zu tun haben.
Dieser dramatische Charakter des Sonnenlaufs tritt noch viel klarer hervor,
wenn man der Frage nachgeht, worin sich für die Ägypter die große und
die kleine Kosmogonie, also das »Erste Mal« und der allmorgendliche Son-
nenaufgang unterscheiden. (Abb. 1)
Der einzige Unterschied zwischen dem »Ersten Mal« und allen weiteren
Malen ist die Anwesenheit des Feindes. Das »Erste Mal« vollzieht sich oh-
ne Widerstand. Anders als etwa für die Mesopotamier vollzieht sich für die
Ägypter die Weltentstehung ohne Kampf und Konflikt. Bei seiner täglichen
Fahrt durch Himmel und Unterwelt jedoch stellt sich dem Sonnengott ein
Feind entgegen in Gestalt einer riesigen Wasserschlange, die das Urwasser
des Himmelsozeans auszusaufen und die Sonnenbarke auf den himm-
lischen Sandbänken stranden zu lassen droht. Der Sonnenlauf ist also
kein perpetuum mobile, sondern bedarf einer unausgesetzten Anstrengung,
kraft deren der Fortbestand der Welt, die Inganghaltung des kosmischen
Prozesses der Gravitation zu Stillstand und Auflösung abgerungen werden
muss, die von der Wasserschlange Apopis verkörpert wird. Das gibt dieser
Vorstellung von Kosmos ihren dramatischen Charakter. Das Gelingen des
Sonnenlaufs steht fortwährend auf dem Spiel. Im Bild der Sonne zeigt sich
den Ägyptern das Göttliche als Durchsetzung von Ordnung. Hier ist nicht
wie in der Bibel die Welt ein für alle Mal geschaffen und den Menschen zur
Bewohnung und Beherrschung übergeben, sondern sie wird ständig neu
geschaffen oder zumindest fortwährend in Gang gehalten durch dieselben
kosmogonischen Energien, die sie am Anfang hervorgebracht haben. Im
Sonnenlauf sind diese kosmogonischen Energien alltäglich am Werk, und
der Sonnengott ist zugleich der Schöpfer, der seine Schöpfung als Sonne
unaufhörlich erneuert, erhält, in Gang hält, ordnet und beherrscht.
Der Begriff der Herrschaft ist für den ägyptischen Mythos des Sonnenlaufs
zentral. Durch die Konfrontation mit Apopis gewinnt die Sonnenfahrt
den Charakter eines Sieges, ägyptisch: einer »Rechtfertigung gegen«. Re
muß sich gegen Apopis rechtfertigen, um die Herrschaft aufrechtzuerhal-
ten. Durch die Anwesenheit des Feindes gewinnt der Sonnenmythos über
seinen kosmischen Charakter als Erzeugung von Licht, Wärme und Zeit
hinaus auch den eminent politischen Sinn einer Ausübung von Herr-
schaft, als Durchsetzung von Gerechtigkeit und Ordnung (Ma’at).4 Diese
enge Verbindung von Sonne, Recht und Gerechtigkeit gilt übrigens min-
destens ebenso auch für Mesopotamien, für die mesopotamischen Kon-
struktionen von Göttlichkeit im Bild der Sonne, und sie ist auch noch in
vielen biblischen Texten greifbar.
Dieser politische Sinn des Sonnenlaufs als Durchsetzung von Recht und
Gerechtigkeit und als fortwährender Kampf gegen die gegenstrebigen
Mächte von Aufruhr, Auflösung und Stillstand bildet nun das wichtigste
Bindeglied, man könnte auch sagen: die Schnittstelle zwischen Himmel
und Erde. Der ägyptische Begriff für diese Schnittstelle ist achet, ein Wort,
das wir mit »Horizont« übersetzen. Dabei darf man aber nicht an den
Horizont denken, der von einem Betrachterstandpunkt abhängig ist und
sich mit der Bewegung dieses Betrachters verschiebt. Die ägyptische achet
ist eine festliegende Region zwischen Himmel und Erde, in der die Sonne
auf- und untergeht. Diese Region nun, das ist eine der ägyptischen Grund-
überzeugungen, lässt sich architektonisch realisieren oder repräsentieren.
Die Pyramiden zum Beispiel sind eine typische Repräsentation der achet;
Abb. 1 Die Tag- und Nachtfahrt der Sonne:
am Tag die Beherrschung der Welt, in der
Nacht die Belebung des Osiris, Papyrus des
Chonsurenep, 10. Jahrhundert v. Chr., Ägyp-
tisches Museum Kairo
2achet Chufu (»die achet des Cheops«) ist der Name der Cheops-Pyramide,
und sie ist offenbar gedacht, den in ihr ruhenden König in den Sonnenlauf
und andere himmlische Manifestationen der Neheh-Zeit zu integrieren.
Die Pyramide ist ein Sonnensymbol und dient dazu, das Band zwischen
Himmel und Erde zu festigen.
Vor allem aber ist diese Festigung und die Integration der Menschenwelt in
das kosmische Gelingen des Sonnenlaufs eine Sache des Kults. Dem
Kampf zwischen Re und Apopis schauen die Menschen nicht gleichgültig
zu, denn von seinem Ausgang hängt ihr Wohlergehen ab. Der Sonnenlauf
wird daher auf Erden mit Riten begleitet, die auf dem Parallelismus von
Kosmos und Königtum basieren.
Was gibt es nun daran für die Menschen mitzuwirken? Wenn die Welt
beim »Ersten Mal« ohne ihr Zutun in Gang gekommen ist, sollten doch
auch alle weiteren Male von menschlicher Mitwirkung unabhängig sein.
Warum müssen sich die Menschen hier einschalten? Gingen die Ägypter
im Ernst davon aus, die Sonne würde ohne ihr Zutun stehen bleiben? Das
wohl nicht. Es ging wahrscheinlich vielmehr darum, sich die kosmogoni-
schen Energien für das Gelingen ihrer eigenen Projekte, des Staates, des
Zusammenlebens, der Heilung und Gesundheit, von Geburt und Tod zu-
nutze zu machen. Nichts ist ja mehr auf Regeneration angewiesen als der
Mensch, der nicht nur in einer Welt des Verfalls und Verschleißes lebt, son-
dern auch sich selbst verschleißt und unaufhaltsam auf seinen Verfall zu-
läuft. Durch Einschaltung der Menschenwelt in die kosmischen Prozesse,
in denen man die Schöpfung am Werk sah, glaubte man an der kreativen
Erneuerung der Sonne Anteil zu gewinnen. So wie heutige Astronomen im
kosmischen Hintergrundrauschen das Echo des Urknalls vernehmen und
in der rasant auseinander strebenden Struktur des Universums das Fort-
wirken der Urexplosion beobachten, so erfuhr der Ägypter das Fortwirken
der kosmogonischen Energien im Zyklus von Tag und Nacht und der
scheinbaren Bewegung der Sonne um die Erde, die er als ein gewaltiges,
weltinganghaltendes, Ordnung schaffendes und Chaos abwendendes
Handeln deutete. Anders aber als heutige Kosmologen, die sich, wenn
nicht gerade im Auftrag der NASA und aus Interessen militärischer Kon-
trolle, dann aus wissenschaftlichem Interesse und theoretischer Neugierde
mit dem Weltall beschäftigen, entsprang das ägyptische Interesse für den
Sonnenlauf der Sehnsucht nach Regeneration. So wie die Sonne jeden
Morgen die Finsternis besiegt, so wollten die Ägypter ihre Feinde besiegen,
und so, wie die Sonne jeden Abend im Westen untergeht, um am nächsten
Morgen im Osten aufzuerstehen, so wollten auch die Ägypter im Tod in
den Westen eingehen. Um diesen Zusammenhang herzustellen zu kön-
nen, brauchte man die Riten. Sie dienten der Einbindung der menschli-
chen Dinge in das kosmische Gelingen. Die Welt, die sie in Gang hielten,
war eine symbolische Sinnwelt, in der Götter und Menschen, Staat und
Kosmos, Natur und Gesellschaft, menschliches Handeln und kosmische
Zyklen ein Ganzes bildeten. Dieses sinnerfüllte Ganze galt es rituell in
Gang zu halten. Wären die Riten eingestellt worden, dann wäre die Sonne
nicht stillgestanden. Aber die kreative und regenerative Energie, die sie in
ihrer Bewegung freisetzt, wäre den Menschen nicht mehr zugute gekom-
men. Pharao hätte gegen seine Feinde nicht mehr gesiegt, seine Gesetze
wären im Land nicht mehr befolgt worden, die Kranken hätten nicht mehr
geheilt werden können, die Toten hätten sich in ihren Gräbern nicht mehr
regeneriert.
Es gibt zahlreiche Texte, die diesen Zusammenhang zwischen rituellem
Handeln und politischem, sozialem und individuellem Wohlergehen
ganz klar zum Ausdruck bringen, zum Beispiel den folgenden Ausschnitt
aus einer längeren Abhandlung zum Thema:
WENN MAN DIE OSIRIS-ZEREMONIEN VERNACHLÄSSIGT
ZU IHRER ZEIT AN DIESEM ORT [...]
DANN WIRD DAS LAND SEINER GESETZE BERAUBT SEIN
UND DER PÖBEL WIRD SEINE OBEREN IM STICH LASSEN
UND ES GIBT KEINE BEFEHLE FÜR DIE MENGE.
WENN MAN DEN FEIND NICHT KÖPFT, DEN MAN VOR SICH HAT
AUS WACHS, AUF PAPYRUS ODER AUS HOLZ NACH DEN VORSCHRIFTEN DES RITUALS,
DANN WERDEN SICH DIE FREMDLÄNDER GEGEN ÄGYPTEN EMPÖREN
UND BÜRGERKRIEG UND REVOLUTION IM GANZEN LAND ENTSTEHEN.
MAN WIRD AUF DEN KÖNIG IN SEINEM PALAST NICHT HÖREN
UND DAS LAND WIRD SEINER SCHUTZWEHR BERAUBT SEIN.5
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Es geht also um eine magische Kausalität, die nicht automatisch wirkt,
sondern rituell ins Werk gesetzt werden muss. Der Zusammenhang zwi-
schen Ursache und Wirkung versteht sich nicht von selbst, er muss sprach-
lich artikuliert und kultisch dargestellt werden. Die Feinde Pharaos wer-
den mit dem Sonnenfeind gleichgesetzt und dessen Schicksal ausgeliefert,
nach dem Prinzip: »Komm zu Pharao, Re, fälle ihm seine Feinde wie er
dir Apopis gefällt und dir den Bösartigen bestraft hat«.6 Zugleich mit der
kosmischen ›Wohlfahrt‹ sollen diese Riten auch die politische ›Wohlfahrt‹
befördern und mit dem Sonnenlauf auch die pharaonische Herrschaft in
Gang halten. Das politische Handeln des Königs bildet das weltingang-
haltende, kosmosschaffende Handeln des Sonnengottes auf Erden ab. Zu
diesem Zweck und als sein Ebenbild7 hat der Sonnengott den König, das
heißt den Staat auf Erden eingesetzt. Hierzu gibt es einen sehr zentralen,
oft kopierten Text, in dem über die Beziehung von König und Sonnengott
unter anderem Folgendes gesagt wird:
RE HAT DEN KÖNIG N. N. EINGESETZT
AUF DER ERDE DER LEBENDEN
FÜR UNENDLICHE ZEIT UND
UNWANDELBARE DAUER
BEIM RECHTSPRECHEN DEN MENSCHEN,
BEIM ZUFRIEDENSTELLEN DER GÖTTER,
BEIM VERWIRKLICHEN DES RECHTS (MA’AT),
BEIM VERNICHTEN DES UNRECHTS (JSFET);
ER GIBT DEN GÖTTERN OPFERSPEISEN,
UND DEN VERKLÄRTEN TOTENOPFER.8
2
So wie Re im Himmel, so setzt der König auf Erden die Ge-
rechtigkeit durch und vertreibt das Unrecht. So wie der Son-
nenlauf nach dem Modell staatlicher Herrschaftsausübung
modelliert ist, so versteht sich die Herrschaftsausübung des
Königs als Abbild des Sonnenlaufs. Das ist das Prinzip der
mutuellen Modellierung, das dem mythischen Denken in
Ägypten zugrundeliegt. (Abb. 2)
Man gewinnt geradezu den Eindruck, als sei in Ägypten der
Staat in erster Linie um der Riten und der Monumente willen
entstanden, die das Irdische zum Himmel in Beziehung
setzen und die Menschenwelt in die kosmische Zeit der Wie-
derkehr und der unwandelbaren Dauer einbinden sollten.
Im Allgemeinen bevorzugt man ja für diese Frage eher mate-
rialistische Antworten und denkt an die kollektive und ko-
operative Organisation der Bewässerungsanlagen, der Vor-
rats- und Redistributionswirtschaft, der Ressourcengewin-
nung und Landesverteidigung, aber wenn man auf die ägyp-
tische Geschichte im Ganzen blickt, sieht man schnell, dass
es ganz andere Probleme sind, an deren Lösung und Opti-
mierung die Ägypter unablässig gearbeitet und in die sie
ihre wichtigsten Mittel an Aufmerksamkeit, manpower und
natürlichen Ressourcen investiert haben.
Der Mythos vom Sonnenlauf modelliert aber nicht nur die
ägyptischen Vorstellungen von Staat, politischer Herrschaft
und Wohlfahrt, sondern auch vom ganz persönlichen Heil
des einzelnen Menschen. Zwischen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang steigt der Sonnengott in die Unterwelt
hinab, erweckt die Toten aus ihrem Todesschlaf, spendet ih-
nen Licht und Luft, redet sie mit seinem Herrscherwort an
und weist ihnen Nahrung zu, richtet die Bösen und überwin-
det den Apopisdrachen, der sich ihm auch hier entgegen
stellt. Der Sonnengott teilt aber auch selbst das Schicksal der
Toten. Jeder Sonnenzyklus ist ein Lebenszyklus, in dem der
Sonnengott geboren wird, altert, stirbt und sich in der Unter-
welt zu einem neuen Zyklus verjüngt. Das ist der Punkt, in
dem sich Sonnen- und Osirismythos berühren und zu ei-
nem Doppelmythos vereinen. Re und Osiris verhalten sich
nämlich zueinander wie Ba-Seele und Mumie. (Abb. 3)
Linke Seite:
Abb. 2 Die Göttin Ma’at –
Wahrheit, Gerechtigkeit,
Ordnung, Harmonie,
Grab der Königin Nefertari,
um 1260 v. Chr.
Abb. 3 Die Gestalt, in der sich
Re und Osiris um Mitternacht
in der Tiefe der Unterwelt ver-
einigen, von Isis (rechts) und
Nephthys (links) geschützt,
Grab der Nefertari, um 1250 v. Chr.
22
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Nach ägyptischer Vorstellung verlässt der Ba, der den Körper zu Lebzeiten
beseelt hat, nach dem Tod den Leichnam und schweift frei durch Himmel,
Erde und Unterwelt, um sich des Nachts auf der Mumie niederzulassen. In
eben dieser Weise vereinigt sich in der sechsten Nachtstunde Re mit Osiris,
der als Mumie in der Tiefe der Unterwelt ruht.9 Aus dieser Vereinigung
wächst der Sonne die Kraft der Erneuerung zu.
In Osiris und Re vereinigen sich Anfang und Ende, Gestern und Morgen,
wie es im 17. Totenbuchkapitel heißt (Abb. 4):
WAS »GESTERN« BETRIFFT, DAS IST OSIRIS.
WAS »MORGEN« BETRIFFT, DAS IST RE.10
Abb. 4 Die Löwen »gestern«
und »morgen« umrahmen
die Hieroglyphe »Horizont«,
den Ort, an dem die Sonne
auf- und untergeht, Papyrus
Ani, um 1300 v. Chr., The
British Museum, London,
BM 10470
So gesehen erscheint der Sonnenmythos als die zentrale ägyptische Heils-
geschichte. Das Geheimnis des Heils und die große Verheißung der
Unsterblichkeit liegt in der Kreisbahn, die den Sonnengott im Verlauf ei-
nes jeden Tag-Nacht-Zyklus die Pole von Geburt und Tod durchlaufen
lässt. Im Sonnenmythos schwängert der Sonnengott seine eigene Mutter,
die Himmelsgöttin, indem er des Abends in ihren Mund eingeht und am
Morgen aus ihrem Schoß heraustritt, ein ewig kreisläufiger Prozess vater-
loser Reproduktion. Diese Ausdeutung des scheinbaren Kreislaufs der
Sonne um die Erde verleiht der ägyptischen Unsterblichkeitshoffnung
eine natürliche Evidenz. Die Sonne lebt vor, was jeder nachleben möchte:
Die Lebenslinie zum Kreis formen, zum Ursprung zurückkehren, den Tod
überwinden, indem er als Empfängnis vollzogen und mit der Geburt zur
Deckung gebracht wird. (Abb. 5)
2Abb.5 Die Sonne wird von der
Himmelsgöttin Nut am Abend
verschluckt und am Morgen
geboren, Ausschnitte aus dem
»Buch vom Tage«, Deckenmalerei
im Grab Ramses’ VI. in Theben,
12. Jahrhundert v. Chr.
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Abb. 6 Der »Uroboros« – die Schlange,
die sich in den Schwanz beißt –
als Symbol des solaren Kreislaufs und
der dadurch generierten unendlichen
Zeit, Goldschrein des Tutanchamun,
1340 v. Chr.
Von dem griechischen Arzt und Philosophen Alkmaion von Kroton, ei-
nem Schüler des Pythagoras, überliefert Aristoteles folgenden rätselhaften
Satz (Abb. 6):
ALKMAION SAGT, DASS DIE MENSCHEN DARUM
VERGEHEN, WEIL SIE NICHT DIE KRAFT HABEN,
DAS ENDE MIT DEM ANFANG ZU VERKNÜPFEN.11
Genau dies scheinen die Ägypter angestrebt zu haben. Daher wird der Sarg
der Himmelsgöttin Nut gleichgesetzt, und die Sarglegung nach dem Vor-
bild der Sonne als eine Rückkehr in den Mutterschoß vollzogen.12 (Abb. 7)
III. ECHNATON: DIE DESTRUKTION DER SOLAREN MYTHOLOGIE
Der Sonnenmythos fundierte also in Ägypten die Vorstellungen sowohl
des politischen als auch des individuellen Heils. Wenn man sich das klar
macht, versteht man, was es für die Ägypter bedeutet haben muss, als um
die Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. König Amenophis IV. von Ägypten,
der sich später »Echnaton« nannte, die traditionelle polytheistische Religi-
on Ägyptens beseitigte und an ihre Stelle den Kult eines einzigen Gottes,
der Sonne, setzte. Das ist der erste Akt einer Religionsstiftung, von der wir
in den Archiven der Menschheitsgeschichte hören. Echnaton erscheint als
der Erste einer Reihe, die sich dann in Moses, Zarathustra, Buddha, Jesus,
Mohammed fortsetzt. Echnatons Sonnengott ist nicht etwa der traditio-
nelle Sonnengott, der jetzt alle anderen Götter aus dem Feld schlägt und
sich an ihre Stelle setzt, sondern ein ganz neuer Gott. Echnaton machte die
Entdeckung, dass die Sonne nicht nur durch ihre ›Strahlung‹ Licht und
Abb. 7 Darstellung auf
der Innenseite zweier Sarg-
deckel, der 26. Dynastie
(7. Jahrhundert v. Chr.),
Sammlung des Ägyptolo-
gischen Instituts der Uni-
versität Heidelberg, und
der römischen Kaiserzeit
(3. Jahrhundert n. Chr.),
The British Museum,
London, BM 6705:
Die Himmels- und
Muttergöttin Nut breitet
sich über dem Toten aus,
um ihn in sich aufzu-
nehmen; links: Die »Son-
nenaffen« preisen den
Sonnengott, den die
Göttin in ihren erhobenen
Händen hält; rechts: Die
Tierkreiszeichen symbo-
lisieren den Himmel
3
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Wärme erzeugt, ohne die auf der Erde kein Leben möglich wäre. Das wuss-
te auch die alte Religion, die darum dem Sonnengott den Rang des Schöp-
fers und höchsten Gottes zuerkannt hatte. Vielmehr bringt die Sonne
durch ihre ›Bewegung‹ auch die Zeit hervor, wodurch – und das scheint die
entscheidende Entdeckung des Königs zu sein – nun schlechthin alles als
Werk der Sonne erklärbar wird, alles was sich im Licht zeigt und in der Zeit
entfaltet. Diese Entdeckung führte zu einer ganz neuen Konstruktion von
Göttlichkeit, die nun nicht mehr im Zeichen der inklusiven Vielheit, der
konstellativen Synergie stand, sondern im Zeichen der exklusiven Einheit.
Aus einer einzigen Quelle entströmen Licht und Zeit und damit das Gan-
ze der sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit. Man kann sich fragen,
ob es sich hier um einen Akt der Religionsstiftung oder nicht vielmehr um
einen Akt der radikalen Aufklärung handelt, und ob Echnaton nicht viel-
mehr in die Reihe der großen kosmologischen Revolutionäre gehört wie
Kopernikus, Newton und Einstein als in die Reihe der Religionsstifter wie
Moses, Buddha, Jesus und Mohammed. Aber diese Unterscheidung war zu
Echnatons Zeit völlig unzugänglich. Für Echnaton ging es zusammen mit
einer neuen Kosmologie auch um eine neue Konstruktion von Göttlich-
keit, von Kult und Religion. (Abb. 8)
Echnatons Gott war zwar nach wie vor ein kosmischer Gott, war er doch
die Sonne und stand allen in überwältigender Sichtbarkeit vor Augen.
Aber er war nicht mehr »enkosmisch« zu nennen im Sinn der konstellati-
ven Eingebundenheit in den kosmischen Prozess. An die Stelle der kon-
stellativen Eingebundenheit des Gottes in eine Götterwelt trat die ganz
neue Konstruktion eines Gegenübers von Gott und Welt, wobei die Welt
nun nicht mehr von innen beseelt war durch eine Vielzahl differenzierter
göttlicher Mächte, sondern nur noch Objekt und Gefäß des belebenden
Zustroms, den der »Eine Gott« in Form von Licht und Zeit ihr zuführt.
Der Hauptunterschied zwischen dem alten und dem neuen Sonnengott
besteht in der Konzeption des Sonnenlaufs. Nach traditioneller Vorstel-
lung bildet der Sonnenlauf, wie schon gesagt, so etwas wie den Pulsschlag
des kosmischen Lebens. Praktisch alle Götter waren an diesem Lebenspro-
zess beteiligt. Der Gott Echnatons ist bei seinem Umlauf allein. Er durch-
lebt nicht mehr, eingebunden in die Götterwelt, einen Lebenszyklus, son-
dern er belebt die Welt von außen. Aus dem intransitiven Prozess des Le-
bens ist der transitive Akt der Belebung geworden. In Echnatons Weltbild
gibt es keinen Feind mehr, der sich der Sonne bei ihrem Lauf entgegenstellt.
Damit hat der Prozess jede Dramatik eingebüßt. Diese neue Konzeption
des Sonnenlaufs hatte auch Auswirkungen auf den Kult. Eine der zentralen
Implikationen des neuen Weltbildes der Amarna-Religion bestand in der
Einsicht, dass diese Welt nicht vom Menschen in Gang gehalten werden
muss, da sie ja einzig dem Wirken des Sonnengottes entsprungen ist. Dieses
Wirken kann man nicht kultisch beeinflussen, man kann es nur als eine den
Menschen zugute kommende, ja sogar ihnen geltende Wohltätigkeit und
Fürsorge dankbar annehmen und bestätigen. Damit erhielten die Riten ei-
nen völlig neuen Sinn, der mit der sakramentalen Magie der traditionellen,
auf die Inganghaltung der Welt gerichteten Riten nicht mehr kompatibel war
und diese unannehmbar und unerträglich erscheinen ließ. (Abb. 9)
Echnatons einsamer Sonnengott hatte auch kein Gegengewicht mehr in
Gestalt des Osiris, des Totenreichs der ruhenden Dauer. In Echnatons Welt-
bild gibt es kein Jenseits, kein Totenreich, keine Unterwelt mehr. Die Toten
ruhen in ihren Gräbern, ihre Seelen ergehen sich bei Tag in Amarna. Das
Abb. 8 Echnaton und Nofretete
beim Opfer, Relief, 18. Dynastie
(Amarna-Zeit), um 1350 v. Chr.,
Ägyptisches Museum Kairo
Jenseits findet im Diesseits statt. Vielleicht lassen sich die vielen tiefgreifen-
den Unterschiede zwischen der traditionellen und der neuen Idee des Son-
nengottes am besten in der Beobachtung zusammenfassen, dass die Formel
»im Bild der Sonne« sehr gut auf den alten, aber überhaupt nicht auf den
neuen Sonnengott passt. Echnatons Sonne ist kein Bild, das für irgendetwas
steht, sondern nichts als die Sonne. Seine Theologie ist streng heliomorph;
nichts wird diesem Gott zugeschrieben, was sich nicht als Wirkung der Son-
ne erklären lässt. Echnatons Gott spricht nicht; er äußert sich in Licht und
Zeit, Strahlung und Bewegung. Echnatons Gott richtet nicht; mit gut und
böse, gerecht und ungerecht hat er nichts zu schaffen. Damit ist die zentra-
le Idee einer Konstruktion von Göttlichkeit im Bild der Sonne – die Idee der
Gerechtigkeit – aus der Religion verbannt. Man kann sich fragen, wie weit
in Bezug auf Echnatons Konstruktion von Göttlichkeit überhaupt noch von
einem Gott im theistischen, personalen Sinn gesprochen werden darf.
Schaut man genau hin, dann zeigt sich, dass dieser Gott seine personalen
Züge ausschließlich in Bezug auf den König und seine Familie entfaltet. Nur
ihnen halten seine Strahlenhände das Lebenszeichen entgegen, nur der
König darf ihn als Vater anreden und ihn als seinen Gott preisen. Für die
Menschen ist der Gott nichts als eine kosmische Energie, kein personales
Gegenüber, von dem sie sich Beistand und Rettung erhoffen könnten.
Was diese Reduktion des solaren Gottesbildes in Ägypten bedeutet, kann
man nur ermessen, wenn man den kosmischen Gott Echnatons mit älte-
ren Sonnenhymnen vergleicht, in denen die Sonne nicht nur Licht und
Leben, sondern auch ethische Orientierung spendet. Die folgende Strophe
stammt aus einem Hymnus der zweiten Zwischenzeit oder des späten
Mittleren Reichs, also lange vor Amarna:
[…] DER DAS FLEHEN HÖRT DESSEN, DER IN BEDRÄNGNIS IST,
WOHLGENEIGTEN HERZENS GEGENÜBER DEM, DER ZU IHM RUFT;
DER DEN FURCHTSAMEN ERRETTET AUS DER HAND
DES GEWALTTÄTIGEN UND RICHTET ZWISCHEN DEM ARMEN
UND DEM REICHEN; HERR DER ERKENNTNIS,
AUF DESSEN LIPPEN DAS SCHÖPFERWORT IST.13
Der schönste Lobpreis des Sonnengottes in seinem Schöpfer- und Hirten-
tum steht jedoch nicht in einem Sonnenhymnus, sondern in einem Text
der Weisheitsliteratur, der »Lehre für Merikare«, die vermutlich aus dem
Mittleren Reich stammt. Dort heißt es:
WOHLVERSORGT SIND DIE MENSCHEN, DAS «KLEINVIEH» GOTTES: IHNEN ZULIEBE SCHUF ER HIMMEL UND ERDE, ER BEZWANG DIE GIER DES WASSERS, UND SCHUF DIE LUFT, DAMIT SIE LEBEN KÖNNEN. SEINE EBENBILDER SIND SIE, HERVORGEGANGEN AUS SEINEM LEIBE.
IHNEN ZULIEBE GEHT ER AM HIMMEL AUF, FÜR SIE ERSCHUF ER DIE KRÄUTER, VIEH, VÖGEL UND FISCHE, (UM) SIE ZU ERNÄHREN. WENN ER SEINE FEINDE TÖTETE UND GEGEN SEINE KINDER VORGING, DANN NUR, WEIL SIE AUF REBELLION SANNEN.
IHNEN ZULIEBE LÄSST ER ES LICHT WERDEN, UM SIE ZU SEHEN, FÄHRT ER DAHIN. ER ERRICHTETE SICH EINE KAPELLE HINTER IHNEN, WENN SIE WEINEN, HÖRT ER. ER SCHUF IHNEN HERRSCHER »IM EI« UND MACHTHABER, UM DEN RÜCKEN DES SCHWACHEN ZU STÄRKEN.
ER SCHUF IHNEN ZAUBER ALS WAFFE, UM DEN ARM DES MISSGESCHICKS ABZUWEHREN, WACHEND ÜBER SIE TAG UND NACHT. DIE »KRUMMHERZIGEN« UNTER IHNEN HAT ER GETÖTET, WIE EIN MANN SEINEN SOHN UM SEINES BRUDERS WILLEN SCHLÄGT.14
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DU ERHABENER GOTT, DER SICH SELBST »BAUTE«,
DER JEDES LAND ERSCHUF UND WAS DARINNEN IST HERVORBRACHTE
AN MENSCHEN, HERDEN UND WILD UND
ALLEN BÄUMEN, DIE AUF DEM ERDBODEN WACHSEN –
SIE LEBEN, WENN DU FÜR SIE AUFGEHST.
DU BIST MUTTER UND VATER FÜR DIE, DIE DU ERSCHAFFEN HAST;
IHRE AUGEN – WENN DU AUFGEHST, SEHEN SIE DURCH DICH.
DEINE STRAHLEN HABEN DAS GANZE LAND ERHELLT,
JEDES HERZ FROHLOCKT BEI DEINEM ANBLICK,
DU BIST ERSCHIENEN ALS IHR HERR.
WENN DU UNTERGEHST IM WESTLICHEN LICHTLAND DES HIMMELS,
DANN SCHLAFEN SIE WIE IM ZUSTAND EINES, DER TOT IST;
IHRE KÖPFE SIND VERHÜLLT, IHRE NASEN VERSTOPFT,
BIS DASS DEIN AUFGANG EINTRITT IM ÖSTLICHEN LICHTLAND
DES HIMMELS.
[DANN] SIND IHRE ARME IN LOBGEBÄRDEN FÜR DEINEN KA;
DU HAST DIE HERZEN BELEBT MIT DEINER SCHÖNHEIT,
MAN LEBT, WENN DU DEINE STRAHLEN GEGEBEN HAST,
DAS GANZE LAND IST IM FEST.15
Ein größerer Gegensatz zwischen der traditionellen Ausdeutung
der Sonne als einer nicht nur belebenden, sondern richtenden und
rettenden, moralisch wertenden Weltzuwendung des Sonnen- und
Schöpfergottes und dem rein kosmisch verstandenen Licht- und
Zeitgenerator der Amarna-Religion lässt sich kaum denken. Auch
für Echnaton hat der Sonnengott die Welt um der Menschen willen
erschaffen und geht für sie am Himmel auf, um sie zu beleben.
Dieser fürsorglichen Erhaltung fehlt aber jeder ethische Aspekt.
Die Sonne scheint nun einmal über Gute und Böse, Gerechte und
Ungerechte. 3Abb. 9 Echnaton und Nofretete mit drei
Töchtern unter dem Sonnengott, Hausaltar,
18. Dynastie (Amarna-Zeit), um 1345 v. Chr.,
Kalkstein, Ägyptisches Museum und
Papyrussammlung (Inv.-Nr. 14145),
Staatliche Museen zu Berlin
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IV. DIE THEOLOGIE DES SONNENGOTTES
Wen wundert es, dass sich nach dem Tod des Königs Ägypten von diesen
radikalen Neuerungen schnell wieder abgewandt hat? Man ist aber nicht
einfach zur traditionellen Religion und ihren Konstruktionen von Gött-
lichkeit zurückgekehrt. Jetzt findet sich in den zahlreichen theologischen
Texten, die nach Amarna vor allem in Theben, der Stadt des Reichsgottes
Amun-Re entstehen, erstmals die Idee einer »hyperkosmischen« Gottheit.
Diese neue Theologie lässt sich weitgehend als eine Exegese des Gottes-
namens Amun-Re erklären: die Verbindung von Amun, dem »Verborge-
nen« (nichts anderes bedeutet der Name »Amun«) und Re, dem Sicht-
baren. Amun-Re ist der Inbegriff einer »hyperkosmischen« Gottheit, die
sich »enkosmisch« als Sonne zeigt, aber als »der Verborgene« weit über das
Kosmische hinausgeht. Amun-Re ist kein radikal transzendenter Gott, so
wie »der unbewegte Beweger« des Aristoteles, »das Eine« des Platonismus,
»der Schöpfer aus dem Nichts« der christlichen Theologie oder »der wel-
tenferne Gott« der Gnosis, weil er die Welt nicht von außen bewegt, son-
dern von innen beseelt und sich als Sonne in ihr zeigt, aber er geht eben als
»der Verborgene« auch weit über die Welt hinaus.
Angesichts dieser komplexen Verbindung von Immanenz und Transzen-
denz kann man die Wendung »im Bild der Sonne« in einem ganz neuen,
prägnanten Sinn auf die neue Konstruktion von Göttlichkeit anwenden.
Jetzt gilt die Sonne in erster Linie als Bild, als sichtbare Erscheinungsform
des unsichtbaren, verborgenen Gottes. Alles, was Echnatons heliomorphe
Theologie als Wirkungsweisen der Sonne erschlossen hat, wird nun er-
gänzt um die Ideen, für welche die Sonne immer schon gestanden hat, und
die nun in den Hymnen breit entfaltet werden, allen voran die Idee der
»rettenden Gerechtigkeit«, die sich der Armen und Bedrängten annimmt.
Anders als Echnatons Sonne, die über gerecht und ungerecht scheint, ist
Amun-Re ein Sonnengott, der sich über das Unrecht empört, der die Frev-
ler mit flammendem Zorn verfolgt und vernichtet und das belebende Licht
seiner Gnade den Frommen zuwendet. Das sind Vorstellungen, die schon
lange vor Echnaton in Texten greifbar sind, die Echnaton radikal verwor-
fen hat, und die nun in der Reaktion auf seinen Umsturz in ganz anderer
Ausführlichkeit zum Durchbruch kommen. Im Bild der Sonne zeigt sich
den Menschen das Richter- und Nothelfertum Gottes, seine liebende, aber
auch richtende Zuwendung, sein kosmisches, welterhaltendes Wirken,
aber auch seine ganz persönliche Aufmerksamkeit auf den Einzelnen, sei-
ne Nöte, aber auch seine Sünden und sein Vergehen.
Vergleicht man die Sonnenhymnen der Zeit vor und nach Amarna, so ver-
schiebt sich das theologische Interesse vom Sonnenlauf auf den Sonnen-
gott. Geht es vorher um das im Bild des Sonnenlaufs beschriebene konstel-
lative Zusammenwirken der Götterwelt, das den Kosmos als einen drama-
tischen Handlungszusammenhang konstituiert, so geht es jetzt um die
Theologie des höchsten Gottes, die sich den Priestern im Bild der Sonne er-
schließt. Man kann, wenn nicht geradezu von der Geburtsstunde, dann in
jedem Fall von einem unerhörten Aufblühen theologischer Reflexion in
Ägypten sprechen. Im Gegensatz zur Mythologie des Sonnenlaufs ist die
Theologie des Sonnengottes anti-konstellativ, sie beschreibt nicht das
weltinganghaltende Werden, Leben und Handeln des Gottes im Kreis der
Götterwelt, sondern das Wesen des Gottes, wie es sich den Theologen im
Bild der Sonne darstellt. Im Folgenden will ich versuchen, die Haupt-
aspekte dieser Theologie kurz zu charakterisieren. Es sind im Wesentlichen
drei: Verborgenheit, Schöpfung und Herrschaft. Vieles an dieser Theologie
geht gewiss weit in ältere Zeiten zurück, aber erst jetzt erfährt sie in den
Hymnen eine systematische Entfaltung.
5V. VERBORGENHEIT UND SCHÖPFUNG
Der Aspekt der Verborgenheit verbindet sich traditionell mit den Aspekten
der ursprünglichen Einzigkeit und spontanen Selbstentstehung des Got-
tes. Alles ist aus Gott entstanden, nachdem dieser selbst aus sich heraus
entstanden und als Sonne aufgegangen ist. Neu und eine Errungenschaft
der Nach-Amarna-Zeit ist die Idee, dass Gott nicht nur in der vorweltlichen
Urzeit, sondern auch unter den Bedingungen der geschaffenen Welt »der
Eine« und »der Verborgene« ist. Damit wandelt sich die Vorstellung vom
Sonnengott von einer »enkosmischen« zu einer »hyperkosmischen« Kon-
struktion von Göttlichkeit. Gott ist der überweltlich-Verborgene, der sich
innerweltlich als Sonne, aber nicht nur als Sonne, sondern als Welt mani-
festiert. Gott hat die Welt nicht nur aus sich hervorgebracht und geschaf-
fen, sondern er hat sich auch in sie verwandelt. Die Luft gilt als sein Atem,
der Ozean als sein Leib, Sonne und Mond als seine Augen:
SEIN RECHTES AUGE IST DER TAG,
SEIN LINKES AUGE IST DIE NACHT,
ER IST ES, DER DIE »GESICHTER« FÜHRT AUF ALLEN WEGEN.
SEIN LEIB IST DER NUN, WAS DARIN IST, DER NIL,
DER ALLES, WAS IST, HERVORBRINGT,
UND ALLES SEIENDE AM LEBEN HÄLT.
SEIN HAUCH IST ATEMLUFT FÜR JEDE NASE;
BESTIMMUNG UND GEDEIHEN IST BEI IHM FÜR JEDERMANN.16
ICH HEBE AN, DEINE GRÖSSE ZU VERKÜNDEN ALS HERR DER GÖTTER,
ALS BA MIT VERBORGENEN GESICHTERN UND GEWALTIGER HOHEIT;
DER SEINEN NAMEN VERBORGEN HÄLT UND SEIN BILD [GEHEIM,]
DESSEN GESTALT MAN NICHT ERKANNTE AM URBEGINN,
ALS DU ERSCHIENEN WARST IM URWASSER,
AUFGEGANGEN WARST IM STRAHLENGLANZ
UND LEUCHTETEST FÜR JEDES AUGE, DAS IN FINSTERNIS GEWESEN WAR.
DEINE HAUT IST DAS LICHT,
DEIN HAUCH IST DAS »LEBENSFEUER«,
ALLE KOSTBAREN EDELSTEINE SIND AN DEINEM LEIB VEREINIGT,
DEINE GLIEDER SIND DER LUFTHAUCH AN JEDER NASE,
MAN ATMET DICH EIN, UM ZU LEBEN.
DEIN GESCHMACK IST DER NIL,
MAN SALBT SICH MIT DEM GLANZ DEINES »LICHTAUGES«.
[…]
MAN KOMMT UND GEHT AUF DEINEM ANTLITZ,
IN DEINER ERSCHEINUNGSFORM ALS ERDGOTT.17
6
32
ASS
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GYP
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VI SCHÖPFUNG UND HERRSCHAFT
An diese zuletzt zitierten Verse schließt sich im gleichen Text die folgende
Passage an:
DER GEBOTE ERLÄSST FÜR JAHRMILLIONEN,
DESSEN HAND NICHT ZITTERT.
MIT FESTSTEHENDEM ORAKELSPRUCH,
WIRKUNGSVOLLEM GEBOT, DEM NICHTS MISSLINGT.
ER SCHUF EINE MAUER VON ERZ FÜR DEN,
DER »AUF SEINEM WASSER IST«,
KEIN ÜBEL TRIFFT DEN, DER AUF SEINEM WEGE WANDELT.
DER ZU DEM KOMMT, DER IHN RUFT,
GENEIGTEN HERZENS FÜR DEN, DER IHN ANBETET,
[DIE HAND?] AUSSTRECKEND DEM,
DER SEINEN NAMEN ANRUFT.
DER LEBENSZEIT GIBT UND DIE JAHRE VERDOPPELT FÜR DEN,
DER IN SEINER GUNST STEHT,
EIN GUTER BESCHÜTZER FÜR DEN, DER IHN IN SEIN HERZ GIBT,
EIN BEISTAND FÜR IMMER UND EWIG [...].20
Das Erstaunlichste dieser theologischen Hymnen ist, dass sie zwei so un-
terschiedliche, ja entgegengesetzte Aspekte des Göttlichen miteinander
verbinden können wie den Aspekt des »verborgenen Weltgottes« und des
»persönlichen Nothelfers«, der den Frommen belohnt, den Bösen bestraft
und den Verfolgten errettet. Ein Hymnus der gleichen Zeit preist Amun als
kosmischen Weltgott und als personhaften Richter und Retter:
DER ODEM DES LEBENS,
DER HAUCH DES NORDWINDS;
EIN HOHER NIL, VON DESSEN KA MAN LEBT,
DER GÖTTER UND MENSCHEN VERSORGT.
DIE SONNE DES TAGES, DER MOND DES ABENDS,
DER DEN HIMMEL QUERT, OHNE ZU ERMÜDEN.
GEWALTIG AN MACHTERWEISEN, MÄCHTIGER IST ER
ALS SACHMET, WIE EIN FEUER IM STURM;
HOCH AN GNADE, DER SICH UM DEN KÜMMERT,
DER IHN PREIST, DER SICH UMWENDET, UM DAS LEID ZU HEILEN.
DENN ER BLICKT AUF DIE MENSCHEN, KEINER IST, DEN ER NICHT
KENNT, UND ER HÖRT AUF MILLIONEN VON IHNEN.
WER VERMAG DEINEM ZORN ZU WIDERSTEHEN,
WER DAS RASEN DEINER GEWALT ABZUWENDEN? 21
Die Verborgenheit wird jetzt nicht nur als eine vorweltliche, sondern als
eine überweltliche Kategorie verstanden, als eine Form von Transzendenz.
Gott ist in der Welt und zugleich außerhalb ihrer, er ist zugleich offenbar
und verborgen:
BA-HAFTER, DER SICH IN VERKÖRPERUNGEN
VERKÖRPERT, HEILIG-VERBORGENER,
DEN MAN NICHT ERKENNEN KANN;
KÖNIG IST ER, DER DIE KÖNIGE ERSCHAFFT,
DER DIE LÄNDER KNÜPFT MIT DEM GEBOT,
DAS ER GESCHAFFEN HAT […]
GEHEIM AN VERKÖRPERUNGEN,
DEN MAN NICHT KENNEN KANN,
DER SICH VERBORGEN HAT VOR ALLEN GÖTTERN.
DER SICH ENTRÜCKTE ALS SONNE,
DIE NICHT ERKANNT WERDEN KANN,
DER SICH VERHÜLLTE VOR DEM,
WAS AUS IHM HERVORGING […]
STRAHLENDE FACKEL MIT GROSSEM LICHT,
MAN SIEHT KRAFT SEINES SEHENS.19
AMUN, DER SICH IN SEINER PUPILLE VERBIRGT,
BA, DER IN SEINEM AUGE ERSTRAHLT!
DER SICH OFFENBART IN VERKÖRPERUNGEN,
HEILIG-UNANTASTBARER, DEN NIEMAND KENNT,
DER LEUCHTET IN ERSCHEINUNGSFORMEN,
DER SICH VERBIRGT IN SEINEM LICHTAUGE;
DER GEHEIME, DESSEN GEHEIMNIS MAN NICHT KENNT!18 6Anmerkungen
In dieser Verbindung des Kosmischen und des Personhaften möchte ich
die besondere Leistung der ägyptischen Konstruktion von Göttlichkeit er-
blicken. Sie ist am Bild der Sonne gewonnen und wurzelt in der uralten
1 Siehe hierzu: Wolf Liebeschuetz, »The Significance of the Speech of Praetextatus«, in: Polymnia Athanassiadi and Michael Frede (eds.), PaganPolytheism in Late Antiquity, Oxford 1999, S. 185-205. 2 Zu ägyptischen Schöpfungsvorstellungen siehe James P. Allen, Genesis in Egypt. ThePhilosophy of ancient Egyptian Creation Accounts, Yale Egyptological Studies 2, New Haven 1988. – Susanne Bickel, La cosmogonie égyptienne avantle Nouvel Empire, Fribourg, Göttingen 1994. 3 Zur fortwirkenden Gegenwart des Urwassers in der geschaffenen Welt siehe: Erik Hornung, ChaotischeBereiche in der geordneten Welt, ZÄS (Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde) 81 (1956). – Zur Idee der Erneuerung vgl. ders., Verfallund Regeneration der Schöpfung, in: Eranos 1977, S. 411-449. 4 Vgl. hierzu Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägyp-ten, München (11990, 21995, 32001) 42006, S. 174ff. (Der Ursprung des Bösen: die Spaltung der Welt). – Vgl. auch ders., Ägypten. Eine Sinngeschichte,München, 1996, S. 211-222. 5 Pap. Jumilhac XVII,19-XVIII,11: Es handelt sich um eine wesentlich längere Darstellung des Zusammenhangs zwischenRiten und kosmischer wie politischer Ordnung, aus der oben nur einige Sätze zitiert wurden nach Jacques Vandier, Le Papyrus Jumilhac, Paris 1960,S. 129f. 6 pBM 10188,22.4, siehe hierzu: Raymond O. Faulkner, The Bremner-Rhind Papyrus, Journal of Egyptian Archaeology, vol. 23 (1937). 7 »BildGottes« ist im Ägypten des Neuen Reichs die häufigste Bezeichnung des Königs, siehe dazu Boyo Ockinga, Die Gottebenbildlichkeit im Alten Ägyp-ten und im Alten Testament, Wiesbaden 1984. – Auch in Mesopotamien ist der König »Bild Gottes«. Das hierfür verwendete Wort salmu entsprichtdem hebräischen Wort säläm, das im Buch Genesis (Gen 2,26-27) für den Menschen als Bild Gottes verwendet wird. 8 Zu diesem Text siehe: JanAssmann, Der König als Sonnenpriester. Ein kosmographischer Begleittext zur kultischen Sonnenhymnik in thebanischen Tempeln und Gräbern,ADAIK (Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo) 7, Glückstadt 1970. 9 Siehe hierzu: Erik Hornung, Die Nachtfahrtder Sonne. Eine altägyptische Beschreibung des Jenseits, Zürich 1991. 10 Erik Hornung, Das Totenbuch der Ägypter, Zürich 1979, S. 60f. 11 «Tousanthropous phesin Alkmaion dia touto apollysthai, hoti ou dynantai ten archen to telei proshapsai.« Fr. 2 nach Aristoteles, Probl. 17.3, sieheHermann Diels und Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, Berlin 1934-35, S. 215. 12 Zu dieser Idee siehe: Jan Assmann, Tod undJenseits im Alten Ägypten, München 12001, München 2003, 7. Kapitel: Der Tod als Heimkehr, S. 219-246. 13 Zitiert nach Jan Assmann, ÄgyptischeHymnen und Gebete, Zürich und München 1975, ÄHG Nr. 87C. 14 Ebd., S. 44. 15 Ebd., S. 213f., Nr. 91. 16 Ebd., S. 320, Nr. 141. 17 Hymnus Ramses’III., Assmann, ebd., S. 409f., Nr. 196. 18 Amunhymnus im Tempel von Hibis, ebd., S. 301, Nr. 130. 19 Jenseitsdekret für Paynedjem, ebd., S. 310f.,Nr. 131. 20 Jenseitsdekret für Paynedjem, ebd., S. 311f., Nr. 131. 21 Der Hymnus der »Stele der Verbannten«, siehe Jürgen von Beckerath, in: RdE (Revued’Egyptologie) 20, 1968, S. 736; Assmann, ebd., S. 70f. 22 pLeiden I 344 Strophe 10, s. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete, 2. Aufl., Fribourgund Göttingen 1999, S. 552f.
DER AUF DER ERDE GEHT, WÄHREND SEIN HAUPT IM HIMMEL IST,
UND SEINE DOPPELFEDER SICH MIT DEN STERNEN VERMISCHT […].
SEINE SONNE IST IM HIMMEL, SEINE SCHRITTE SIND AUF DEN HÖHEN
UND [DRINGEN BIS AN DIE] GRENZEN.
FERNER, DER NAH IST, ZU HÖREN, DER DAS HERZ ERFREUT, WENN MAN ZU IHM RUFT.
DER SEINE HAND REICHT DEM, DER IN BEDRÄNGNIS IST,
DER KOMMT AUF DIE STIMME DESSEN, DER ZU IHM FLEHT.
EIN GÜTIGER IST ER, EIN HERR DER GNADE, DER MILDE IST,
AUCH WENN MAN AN SEINEM NAMEN VORÜBERGEHT.
DER DEN SCHWACHEN RETTET VOR DEM GEWALTTÄTIGEN,
DER DAS KIND AUFZIEHT, DAS OHNE VATER UND MUTTER IST.
[...]
[...] SEIN ABSCHEU IST DIE WIDERSETZLICHKEIT. DER GERECHTE,
DER DIE SÜNDER VERNICHTET IN JENEM SEINEM NAMEN »HERR DER GERECHTIGKEIT«.22
Verbindung der Sonne mit den Motiven der Schöpfung und der Herr-
schaft. Ich möchte schließen mit einer Passage aus einem Hymnus, der ver-
mutlich noch in die Vor-Amarna-Zeit gehört:
Diskussion
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Jan Assmann und Dietrich Wildung im Gespräch
Gesprächsleitung: Thomas Macho
IM BILD DER SONNE –
KONSTRUKTIONEN VON GÖTTLICHKEIT IM ALTEN ÄGYPTEN
THOMAS MACHO
Ich denke, ich spreche auch in Ihrem Namen, wenn ich zunächst
einmal Jan Assmann danke für diesen reichen und anschaulichen
Vortrag, den wir nun diskutieren wollen und dürfen. Wir werden da-
bei über Zeit reden, über das, was Kosmos heißt, die Sterne, die Son-
ne und das Licht, und wir werden sicherlich auch auf den religions-
geschichtlichen Entwurf zu sprechen kommen, den Jan Assmann
ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem Enkosmischen,
dem Hyperkosmischen und dem Akosmischen vorgestellt und am
Beispiel der Echnaton-Revolte dargestellt hat. Schließlich werden
wir auch die Frage etwas näher erörtern, wie sich Analogien knüpfen
lassen zwischen dem Sonnenlauf am Tage, dem Sonnenlauf im Jahr,
dem Mondlauf und dem Lebenslauf der Menschen, der je nachdem,
um welchen Menschen es sich handelt, unterschiedliche Bedeutung
haben mag. Zunächst möchte ich aber Dietrich Wildung bitten,
seine Gedanken, Bemerkungen, Kommentare und Anregungen zum
Vortrag von Jan Assmann vorzutragen und zusammenzufassen.
DIETRICH WILDUNG
Nach diesem typischen Assmann-Vortrag würde ich am liebsten
meine Gedanken in dem Wunsch zusammenfassen: Wie schön wä-
re es, wenn wir darüber nicht diskutieren müssten, sondern diesen
Worten ganz ruhig und still nachlauschen und nachsinnen könnten.
Ich meine mit »diesen Worten« einerseits die persönlichen Erklärun-
gen des Referenten, vor allem aber die Worte der Alten Ägypter. Und
dies ist kein Widerspruch, denn die Worte der Alten Ägpyter, die Sie
heute Abend aus dem Mund von Jan Assmann gehört haben, sind
Übersetzungen altägyptischer Texte aus der Feder von Jan Assmann.
Und hierin sehe ich eines seiner ganz großen Verdienste, mit denen
er die längst überfällige Rehabilitierung der altägyptischen Kultur in
Gang gesetzt hat, einer Kultur, die bisweilen mit dem Adjektiv »vor-
griechisch« belegt wird, einem Adjektiv, das nicht selten pejorativen
Charakter hat. Diese Denktradition, die die altägyptische Kultur und
Literatur nur als vorgriechisch wahrnimmt und bestimmt, wenn es
denn überhaupt vor den Griechen eine Literatur gegeben haben soll-
te, ist heute Abend eindrucksvoll widerlegt worden. Die geistige Tie-
fe, aber auch die sprachliche Qualität von Texten, die bis in die Zeit
um 2000 v. Chr. zurückreichen, ist hier vor Ihnen ausgebreitet wor-
den. Das allein ist schon ein Geschenk an uns alle und an die Ägyp-
tologie. Als mich vor Jahren ein Kollege von Jan Assmann an der Hei-
delberger Universität fragte, »sagen Sie mal, ist denn Jan Assmann Diskussion
unser Kollege Wolfhart Westendorf zu nennen, der die ägpytische
Religion auch in afrikanische Sonnenmythen eingebunden hat. Das
Problem ist, dass wir uns, was die afrikanischen Überlieferungen an-
geht, gewissermaßen in einem enthistorisierten Raum bewegen; wir
wissen nicht, wie alt diese Vorstellungswelten sind, und können
nicht entscheiden, was auf Ägypten eingewirkt und was von dort
ausgestrahlt hat. In Ägypten sind die Texte datiert, wir kommen bis
an den Anfang des 3. Jahrtausends v. Chr. zurück. Selbstverständlich
– darüber hat Frobenius gearbeitet (Das Zeitalter des Sonnengottes,
1904) – ist der Sonnenmythos in Afrika ungeheuer verbreitet, in vie-
len Sonnenmythen ausbuchstabiert, und da gibt es auch manche
Ähnlichkeiten mit dem Ägyptischen – zum Beispiel die Vorstellun-
gen des Verschluckt-Werdens und des Wiedergeboren-Werdens der
Sonne. Also, das ist ein weites Feld, das muss ich anderen überlassen,
das habe ich nicht bestellt.
Nun zur Frage nach der historischen Komponente, danach wo das
3. Jahrtausend bleibt und wo die Tiere, andere Konstruktionen von
Göttlichkeit. Wenn wir an das 3. Jahrtausend v. Chr. denken, dann
treten uns selbstverständlich zuerst die Pyramiden entgegen als das
eindrucksvollste Zeugnis dieser Zeit. Die Pyramiden haben es ohne
Zweifel mit der Sonne zu tun, aber auch mit dem König. Die domi-
nierende Konstruktion von Göttlichkeit im 3. Jahrtausend ist der
Herrscher. Das scheint mir eine typisch ägyptische Idee zu sein, dass
Herrschen eine göttliche Tätigkeit ist. Herrschen kommt keinem
Menschen zu; über die anderen Menschen herrschen kann nur ein
Gott. Folglich ist der Pharao ein Gott, das heißt, die Rolle, die er
spielt, ist göttlich. Und das passt sehr gut zur Situation einer Kultur,
die als erste in der bekannten Geschichte der Menschheit, um 3000
v. Chr., einen großen Staat errichtet hat. In Mesopotamien entstan-
den Stadtstaaten, viele kleinere politische Gebilde, Ägypten ist der
erste große »Flächenstaat«. Das ist eine kaum zu überschätzende po-
litische Leistung. Und das Ungeheuerliche dieser zivilisatorischen
und politischen Leistung spiegelt sich in der Ungeheuerlichkeit der
Rolle des Herrschers, die nirgendwo sonst so überlebensgroß wie in
Ägypten konzipiert wurde. Dass der König als Gott auf Erden regiert
und sich nach dem Tode zum Himmel aufschwingt, um sich mit
dem Sonnengott als seinem Vater wieder zu vereinigen, diese Idee
von Himmelfahrt und Gottessohnschaft stammt aus dem ägypti-
schen Königsbild und ist von dort in uns näher stehende Theologien
und Christologien gewandert. Diese großartige Konzeption des
Herrschers hängt mit dem erstmaligen Projekt eines solchen politi-
schen Gebildes zusammen. Und dies drückt sich in den Pyramiden
aus, die nun dem König als Grabdenkmal und zugleich auch als ein
Medium der Vereinigung mit der Sonne dienen. Auch die genaue
Einpassung in den Sonnenlauf ist hier zu erwähnen. Die Pyramiden
überhaupt noch Ägpytologe«, antwortete ich ihm, »nein – Gott sei
Dank! – schon seit langem sehr viel mehr als das«. Durch seinen
weiten Blick hat Jan Assmann es verstanden, die Ägyptologie aus der
Enge des Vorgeschichtlichen zu erlösen und als eine der ganz großen
Kulturen, Literaturen, Religionen und selbstverständlich auch
Kunstepochen dieser unserer Welt in den Mittelpunkt des Bewusst-
seins zu stellen. Da ist noch viel zu tun, und wenn Jan Assmann
gestern einen Vortrag zum Thema »Angst und Kultur am Beispiel des
Alten Ägypten« im Rahmen der Psychiatrisch-Psychotherapeuti-
schen Mittwochsgespräche in der Schlossparkklinik gehalten hat,
heute hier in den Museen zum Thema »Konstruktionen von Gött-
lichkeit in Alt-Ägypten« spricht, morgen in der Berlin-Brandenburgi-
schen Akademie der Wissenschaften mit Christian Meyer zur Frage
»Woher kommt die Politik?« diskutiert und schließlich am Samstag
auch noch in Leipzig referieren wird, dann ist damit wieder ein klei-
ner Schritt auf dem Weg der Ägyptologie in das »kulturelle Gedächt-
nis«, um einen von ihm geprägten Begriff zu verwenden, getan. Ich
würde mir also wünschen, diesen Texten nachlauschen zu können,
aber ich bin auch glücklich darüber, einige wenige Fragen an unse-
ren Referenten stellen zu können. Dabei handelt es sich um folgen-
de zwei Fragen: erstens die Frage nach der historischen Komponen-
te der Konstruktion von Göttlichkeit im Bild der Sonne im 3. Jahr-
tausend v. Chr. in der Pyramidenzeit und zweitens die Frage nach der
geographischen Komponente, wobei mir beide Fragen zusammen-
zuhängen scheinen. Zweifellos ist die Vorstellung des Göttlichen im
Bild der mächtigen Tiere, des Chthonischen, eine ebenso starke Vor-
stellung von der Präsenz des Göttlichen wie die Vorstellung des
Göttlichen im Bild der Sonne. Und das scheint mir mit einem geo-
graphischen Spezifikum zusammenzuhängen, nämlich mit der tie-
fen Verwurzelung der Alten Ägypter im afrikanischen Kontinent, –
ein Aspekt, der bis heute wenig gewürdigt worden ist. Und meine
ganz konkrete Frage an unseren Referenten ist: Wie steht es mit der
Konstruktion des Göttlichen im Bild und in der Idee der Sonne in
afrikanischen Mythologien und in afrikanischen Konstruktionen
von Göttlichkeit, wobei wir es fast ausschließlich mit schriftlosen
Kulturen zu tun haben?
JAN ASSMANN
Mein Zugang zum Alten Ägypten, der kommt vom Norden und
nicht vom Süden. Ich habe als Ägyptologe und Gräzist angefangen
und bin über die Griechen zu den Ägyptern gekommen, und die
Afrikaner breiten sich im Süden aus. Man kann auch den Weg über
die Ethnologie gehen, über die Afrikanistik; da wäre zum Beispiel
Diskussion
sind ganz genau orientiert und entsprechen in ihren vier Flächen
den vier Phasen des Sonnenlaufs. Diese überhöhte Göttlichkeit
des Herrschers ist die Signatur des 3. Jahrtausends. Das wird dann
im 2. Jahrtausend zurückgenommen. Dann ist der Herrscher nicht
mehr so sehr der Gott auf Erden, dann ist er der Sohn, der dem Vater
verantwortlich ist.
Doch nun zur Konstruktion von Göttlichkeit im Bild der Tiere: Der
Tierkult ist der exotischste Aspekt der ägyptischen Religion. Er hat
die klassische Antike entsprechend befremdet, um nicht zu sagen
›skandalisiert‹. Und das Eigenartige ist, dass der König und die heili-
gen Tiere auf einer Stufe stehen, nämlich hinsichtlich des Prinzips,
dass sich das Göttliche auf Erden inkarniert. Vielleicht ist das ein
afrikanischer Gedanke, dass sich das Göttliche im König und in den
Tieren inkarniert; man müsste einen Afrikanisten fragen. Auf jeden
Fall ist dieser Gedanke in Ägypten tief eingewurzelt. Dort findet man
die immer stärker werdende Überzeugung, dass die heiligen Tiere
ebenso wie der König Garanten der Gegenwart des Göttlichen auf
Erden sind. Die Apisstiere werden bestattet und einbalsamiert und
bereits zu Lebzeiten verehrt wie der König. Sie tragen auch ähnliche
Titel. Also, die Götter lassen sich viel intensiver auf das Irdische ein als
dies in anderen Religionen der Fall ist. Dahinter steht der Gedanke
der Inkarnation und dieser betrifft eben die Tiere und den König. Die
Tiere sind nicht als solche Gott, sie sind Gefäße göttlicher Inkarna-
tion. Und dazu kommen noch die Götterbilder als Gefäße göttlichen
Einwohnens. Die Bilder, die Tiere, der König: Für die Ägypter geht die
Welt unter, wenn die Götterbilder zerstört werden, wenn die heiligen
Tiere geschlachtet werden, und wenn das Königtum verschwindet.
DIETRICH WILDUNG
Wie kommt es, dass jener Gott Amun, der Verborgene, der Unsicht-
bare, im Mittleren Reich, ungefähr um 2000 v. Chr. – bis zu dieser
Zeit war er, wenn überhaupt, nur menschengestaltig dargestellt wor-
den –, auf einmal in einer Gestalt dargestellt wird beziehungsweise
en vogue kommt, die an Tierlichkeit, an Tierwesenhaftigkeit kaum
noch zu übertreffen ist. Lepsius, der ein prachtvolles Exemplar die-
ses Tieres nach Berlin gebracht hat, vier Tonnen schwer, spricht von
dem »fetten Hammel«, den 300 einheimische Arbeiter zum Nil
schleppen mussten, um ihn auf den Weg nach Berlin zu bringen. Al-
so herrscht hier nicht ein gewisser Widerspruch zwischen der Un-
sichtbarkeit Amuns, der als Amun-Re mit dem Sonnengott ver-
knüpft wird, und der überdeutlichen Sichtbarkeit der zentralen
Gottheit des Neues Reiches in Gestalt eines Widders, das heißt in ei-
nem recht prosaischen Viech?
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JAN ASSMANN
Diese Fragen rühren an Bereiche, die uns weitgehend verschlossen
sind. Die Beziehung zwischen Amun und dem Widder ist ein Myste-
rium. Es gibt ein paar Tiere in Ägypten, sehr kuriose Tiere, die als
heilige Tiere verehrt werden, aber es gibt auch einige Tiere, die über
ihre Funktion als heilige Tiere hinaus große metaphorische Strahl-
kraft haben und in Hymnen immer wieder vorkommen, nämlich
der Falke, der Stier, der Löwe, der Widder. Und da gibt es gewisse
Zuordnungen: Der Falke steht für Schnelligkeit, Aggressivität, die
Luft, den Himmel, der Stier für Kraft, chthonische Virilität, der Löwe
für das Königliche – das hat sich ja bis in die abendländische He-
raldik erhalten –, der Widder steht für Würde, auch für greisenhafte
Würde, wenn man an Atum, die als Widder dargestellte greisenhafte
Nachtgestalt des Sonnengottes denkt. Wenn der Sonnengott altert,
dann wird er zu einem Widder und durchfährt als solcher die Unter-
welt. Der Amun-Widder wiederum wird mit einem Wort bezeichnet,
das ägyptisch »Hoheit« heißt und den Gedanken des Erhabenen,
Majestätischen veranschaulicht. Also, es ist nicht so sehr der geile
Bock, an den man hier denken muss, sondern ein majestätisches
Tier, dessen Anblick Hoheit und Würde ausstrahlt. Das ist uns ein
bisschen fremd, aber wir müssen eben versuchen, uns hineinzuden-
ken in die assoziative Aura dieser Tiere für die Ägypter, und da ist es
ganz klar, dass der Gott Amun der Gott der majestätischen Würde
ist. Hoheit, Majestät kommt in den Amun-Hymnen immer wieder
vor als eines seiner charakteristischen Prädikate. Die Amunhaftig-
keit hat nichts mit Verborgenheit zu tun. Dass die Etymologie des
Wortes Amun als der Verborgene so sehr in den Vordergrund tritt,
das scheint mir eine Sache der Nach-Amarna-Theologie zu sein, die
die Idee des verborgenen Gottes in den Vordergrund gestellt hat.
THOMAS MACHO
Ich würde nun gerne zwei Fragen stellen. Die eine Frage geht in Rich-
tung Organisationsgeschichte, Alltagspraxis, auch zur Umsetzung
von kultischen Techniken, die etwas mit der Zeit zu tun haben. Du
weißt von meiner alten Liebe und Arbeit an der Kalendergeschichte,
und da fällt mir auf, dass von den Tieren, die jetzt zur Diskussion ste-
hen, zumindest drei, also Löwe, Widder und Stier, bis heute noch als
Meilensteine im Jahreslauf der Sonne eine Rolle spielen. Ich wüsste
gern, in welchem Zusammenhang die Theologie der Zeit und der
Sonne mit diesen sehr viel pragmatischeren Fragen nach der Organi-
sation eines Sonnenkalenders, eines Sonnenjahres steht. Und diese
Diskussion
Fragen sind deshalb als pragmatisch zu bezeichnen, weil die Sonne
so unfair ist, sich nicht den ganzen Zahlen zu fügen und daher fünf
Sondertage zu brauchen, um den Sonnenkalender zu formieren etc.
Und nun die andere Frage: Ist uns das Enkosmische beziehungswei-
se das, was dieser Begriff beinhaltet, überhaupt zugänglich? Sind wir
durch unsere Art von kultureller und religiöser Grammatik nicht im-
mer schon auf der Seite des Hyperkosmischen? Ist es nicht von daher
außerordentlich kompliziert, sich zum Beispiel Tiergottheiten vor-
zustellen, die weder dem entsprechen, was man früher einmal in der
Ethnologie Animismus oder Totemismus genannt hat, noch inkar-
nationstheologisch zu verstehen sind? Denn wenn ich Dich richtig
verstanden habe, dann vollzieht das Denken über Inkarnation im-
mer schon einen Schritt aus dem Kosmotheismus heraus, denn
dann wird ein Prinzip vorausgesetzt, das sich im Kosmos, in der
Sonne, im Tier oder im König manifestiert, aber auch noch etwas an-
deres ist. Gibt es im Enkosmischen streng genommen Inkarnation?
JAN ASSMANN
Was die erste Frage betrifft, so ist der Sonnenlauf der Generator der
Zeit, aber da gibt es auch noch einen Registrator, das ist der Mond.
Der Thot, der Mondgott, ist der Gott des Kalenders, der Schrift, der
Registrator. In Ägypten muss man sich die Götterwelt kooperativ
oder konstellativ vorstellen, also Sonne und Mond arbeiten zusam-
men, der Mond ist gewissermaßen der Großwesir des Herrschers –
des Königs Sonne –, der alles mit dem Medium der Schrift und der
Rechenkunst verwaltet. Was den ägyptischen Kalender betrifft, so ist
der von einer ungeheuren Komplexität, das werden wir heute Abend
nicht erschöpfend behandeln können. Die Ägypter kannten drei
Kalender: den Mondkalender, den Sonnenkalender und den Siri-
uskalender. Denn der ägyptische Neujahrstag ist am 16. Juli, das ist
der Tag, an dem nach 70-tägiger Unsichtbarkeit der Sirius erstmals
wieder vor Sonnenaufgang am Morgen sichtbar ist. Das ist zugleich
auch der Tag, an dem die Nilüberschwemmung beginnt – einer der
eigenartigen Koinzidenzen, die für den Ägypter die göttliche Ord-
nung des Kosmos sinnfällig machen. Mit dem heliakischen Frühauf-
gang des Sirius und dem Einsetzen der Nilüberschwemmung be-
ginnt das Jahr, und es beginnt immer unabhängig von den Mond-
monaten und dem Sonnenjahr Mitte Juli. Beide, Sonnen- und
Mondjahr, werden nach diesem Siriusaufgang kalibriert. Wie das im
einzelnen funktioniert, ist in der Ägyptologie immer noch umstrit-
ten. Aber vielleicht haben wir nun einen Eindruck von der Komple-
xität der Sache gewonnen.
Worüber ich nicht gesprochen habe: über den Tierkreis und den Jah-
reslauf der Sonne. Denn dies sind Phänomene, die erst in der Spät-
zeit so richtig bedeutend werden, und auch erst unter babyloni-
schem Einfluss.
Nun zur zweiten Frage, ob nicht mit dem Konzept der Inkarnation
etwas Hyperkosmisches angesprochen sei. Wenn sich ein Gott im
Irdischen inkarniert, dann ist das ja etwas, das von außen kommt.
Nach ägyptischer Vorstellung ist alles Lebendige ein Inkarnations-
phänomen und impliziert eine Größe, die die Ägypter Ba nennen:
die Vorstellung der Seele, die beim Tod eines Menschen den Körper
verlässt und dann frei durch Erde, Himmel und Unterwelt schweift.
Dieser Ba inkarniert sich im Körper zu Lebzeiten, und diese Bezie-
hung zwischen Ba und Körper, die wird in Ägypten zum Modell für
die Manifestation des Göttlichen im Innerweltlichen und zuletzt so-
gar ganz allgemein für die Beziehung zwischen Gott und Welt, so-
dass dann die Welt insgesamt als Körper dieses verborgenen Gottes
erscheint. Das Lebewesen ist ein bipolares Wesen, es hat eine Seele
und einen Körper. Das Inkarnationsphänomen ist rein enkosmisch,
da ist keine Metaphysik im Spiel. Das Leben ist eben bipolar, hat mit
beiden Aspekten zu tun. Das wird nun aber zum Modell, wie man
die hyperkosmische Gottheit denken kann, indem man den Kos-
mos als Körper und die Gottheit als Seele auffasst – beides sind
selbstverständlich Metaphern.
DIETRICH WILDUNG
Thomas Machos zweite Frage veranlasst mich zu einigen methodo-
logischen Überlegungen. Jan Assmann hat darauf hingewiesen, dass
es für ihn in den Jahren seines Studiums sowie in den ersten Jahren
seiner beruflichen Tätigkeit eine Herangehensweise an Ägypten aus
europäischer Perspektive gewesen ist. Es konnte gar nicht anders
sein. Denn die Ägyptologie stand und steht heute zum Teil noch in
jener Tradition, die Alt-Ägypten nur begreifen konnte aufgrund grie-
chischer und lateinischer Texte und Berichte auf der einen Seite und
auf der anderen aus Berichten im Alten und Neuen Testament, also
aus Sekundärquellen. Die Entzifferung der Hieroglyphen und damit
die Ägyptologie ist eine Liaison fructueuse zwischen Frankreich und
Preußen oder Paris und Berlin gewesen: auf den ersten entscheiden-
den Schritt von Jean-François Champollion 1822 in Paris folgte ein
fast ebenso entscheidender Schritt in den dreißiger und vierziger
Jahren des 19. Jahrhunderts in Berlin durch Richard Lepsius, denn
Champollion wäre ohne Lepsius erst Jahrzehnte später internatio-
nal mit seiner Entzifferung anerkannt worden. Wir sind heute einen
Diskussion
38
DIS
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SSIO
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Sonne, das Verschluckt-Werden durch die Mutter, das Wiedereinge-
hen in den Mutterleib und das Wiedergeboren-Werden. Wie konnte
es passieren, dass der Mond seine Funktion, im Wechsel von Abnah-
me und Zunahme das Motiv der Schwangerschaft schlechthin zu
repräsentieren – eine Funktion, die er in zahlreichen Kulturen aus-
geübt hatte – verlor und zum Registrator wurde? Thot, der als Vertre-
ter des Mondes mit der überschwangeren Himmelsgöttin befasst ist,
macht doch zumindest noch eine Frage notwendig: Hat das
Verschwinden des Mondes auch mit dem Verschwinden anderer
Geschlechterorientierungen im politischen Herrschaftsbereich zu
tun, oder würdest Du das für das Alte Ägypten ausschließen?
JAN ASSMANN
Zumindest kann man sagen, dass das Weibliche nicht nur in der
ägyptischen Götterwelt, sondern auch in der Realwelt eine unge-
wöhnlich bedeutende Rolle spielt. Die Rolle der Frau im Alten Ägyp-
ten sticht sehr positiv ab nicht nur vom Alten, sondern auch vom
Modernen Orient – den Frauen ging es im Alten Ägypten besser,
würde ich sagen. Isis hat zum Schluss den Sieg davongetragen. Um-
so merkwürdiger ist, dass in der Tat der Gegensatz von männlich-
weiblich bei Sonne und Mond keine Rolle spielt. Beide sind männ-
lich, der Sonnen- und der Mondgott. Ich wüsste jetzt kein weibliches
Wort für Mond. Die Himmelsgöttin als solche ist weiblich. Das ist
doch auch schon merkwürdig. Sonst ist immer der Himmel männ-
lich – »als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst« – und die »Mutter
Erde« weiblich. Bei den Ägyptern ist es umgekehrt (wie ja auch
schon Herodot festgestellt hat, dass bei den Ägyptern alles anders
herum ist). Dass so herausragende Himmelskörper wie Sonne und
Mond männlich sind, hängt mit der Beziehung zusammen, in der
sie mit der weiblichen Himmelsgottheit stehen. Da ist eben der Ge-
gensatz männlich-weiblich konstruiert als der Gegensatz zwischen
den Himmelskörpern und der Himmelsgöttin. Die Weiblichkeit des
Himmels hat zur Folge, dass fast alles was vom Himmel umschlos-
sen wird, männlich ist – mit einigen Ausnahmen wie zum Beispiel
dem Sirius, der auch eine Göttin, eine Erscheinungsform der Isis ist,
das heißt, es gibt auch weibliche Sterne, diese hängen dann aber wie-
der mit Isis zusammen.
wesentlichen Schritt weiter, wir sind mehr und mehr in der Lage, auf
Ägypten zu blicken mit den Augen der Alten Ägypter selbst. Das ha-
ben Sie heute auf exemplarische Weise miterlebt, viele Minuten lang
haben die Ägypter zu Ihnen gesprochen durch den Mund des Refe-
renten. Das ist ein ganz epochaler Schritt. Wenn hier vor einem Jahr-
hundert einer der Großen unseres Faches, Adolf Erman, der Direktor
des Ägyptischen Museums, darüber gesprochen hätte, hätte er viel-
leicht seine »Religion der Ägypter« mitgebracht, ein Handbuch, das
wie so viele überlebte Bücher immer noch in hohen Auflagen nach-
gedruckt wird. In diesem Handbuch steht über jene Unterwelt-
bücher, die heute eine wichtige Quelle für uns waren, dass es sich
hier um die abstruse Phantasie ägyptischer Priester gehandelt hätte.
Erman weigert sich, sich mit diesem Bild- und Textmaterial ausein-
anderzusetzen. Hätte er es nur ordentlich übersetzt, dann hätte er
gemerkt, welche geistige Tiefe in diesen Bildern und Texten steckt. Es
waren Jan Assmann und Erik Hornung, die uns in den letzten Jahren
die Augen und Ohren für die Alt-Ägypter geöffnet haben. Dabei tut
dieser Blick, der von Europa allmählich nach Ägypten wandert, im
Grunde nichts anderes als was bei den Alten Griechen in vorbildhaf-
ter Weise schon einmal geschehen ist, dann aber im europäischen
Klassizismus vergessen wurde: Herodot reiste als Gräkozentriker
nach Ägypten und kehrte als Ägyptomane zurück. Von nun an sah
er alle menschliche Gesittung aus Ägypten kommen, Solon,
Pythagoras etc. – Jan Assmann hat darüber geschrieben.
Ich wünschte mir als einen dritten Schritt, dass der Blick von Norden
auf Ägypten, der zu einer Art Innenansicht zu werden beginnt, nun
noch ergänzt würde durch den Blick von Süden auf dieses Land und
dabei die innerafrikanischen Verwurzelungen und Verbindungen
aufdeckte. Wir sind dabei: Sie wissen, dass sich das Ägyptische Mu-
seum in Berlin ebenso sehr für den antiken Sudan wie für das antike
Ägypten engagiert, und ich bin überzeugt, dass wir auch noch eine
ganz andere Sicht auf Alt-Ägpyten gewinnen, wenn wir das, was
Champollion und Lepsius 1822 und in den 30er Jahren für das Alte
Ägypten getan haben, in möglicherweise schon einigen Jahren für
die heute zwar lesbare, aber immer noch nicht übersetzbare meroi-
tische Sprache (3. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.), die
erste Schriftsprache des Schwarzen Afrika, erreichen – die Fortschrit-
te in letzter Zeit sind beträchtlich.
THOMAS MACHO
Ich würde zum Schluss noch gerne Jan Assmann auf das Verhältnis
zwischen Mond und Sonne in Bezug auf die Geschlechterfrage an-
sprechen. Das hast Du ja wunderschön dargestellt: den Tageslauf der
Einführung
DIE SONNE IM ALTEN ORIENT – KONZEPTIONENZWISCHEN MYTHOS UND WISSENSCHAFT
EINFÜHRUNG ANDREA BÄRNREUTHER
Einführung
Jan Assmann hat in seinem Beitrag »Im Bild der Sonne – Konstruktionen
von Göttlichkeit im Alten Ägypten« drei Phasen der Entwicklung unter-
schieden. In der Frühphase konstruiert der Mythos vom Sonnenlauf einen
Handlungszusammenhang dramatischen Charakters, der in ständiger
Gegenwart abläuft und die Zeit zuallererst hervorbringt. Sonnenlauf und
Totenruhe bilden ein spannungsreiches Gleichgewicht. Der Sonnenmy-
thos entfaltet den politischen Sinn einer Ausübung von Herrschaft, Durch-
setzung von Gerechtigkeit und Ordnung. Die Einschaltung der Menschen-
welt in das kosmische Geschehen in Form von Riten geschieht, um Anteil
zu gewinnen an der kreativen Erneuerung des Kosmos, im Wunsch nach
Regeneration. Zwischen rituellem Handeln und politischem, sozialem
und individuellem Wohlergehen herrscht eine magische Kausalität. Der
Mythos vom Sonnenlauf modelliert die ägyptische Vorstellung von Staat
und Gesellschaft.
Der revolutionäre Akt der Religionsstiftung durch Echnaton, der einen
exklusiven Solar-Monotheismus begründet, schafft einen neuen Gott. Er
entdeckt die Sonne als Gestirn, die durch Strahlung Licht und Wärme er-
zeugt. Alles was sich im Licht zeigt und in der Zeit entfaltet, ist Werk des
Sonnengottes: das Ganze der sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit.
Die neue Kosmologie beinhaltet eine neue Konstellation von Göttlichkeit,
eine neue Konstruktion des Gegenübers von Gott und Welt: weg von der
Konstruktion des Sonnenlaufs, wo alle Götter am Lebensprozess beteiligt
sind, und hin zum transitiven Akt der Belebung. Der Gott Echnatons be-
lebt die Welt von außen. Der Prozess hat jede Dramatik eingebüßt, und
dies hat auch Auswirkungen auf den Kult: Der Prozess muss nicht von
Menschen beeinflusst werden, sakramentale Riten werden unannehmbar.
Der Sonnengott hat kein Gegengewicht in Osiris, es gibt kein Jenseits, kein
Totenreich, keine Unterwelt; das Jenseits findet im Diesseits statt. Echna-
tons Sonnengott ist streng heliomorph, er äußert sich in Licht und Zeit, er
spricht und richtet nicht. Die zentrale Idee der Gerechtigkeit ist aus der Re-
ligion verbannt. Der Gott entfaltet seine personalen Züge ausschließlich in
Bezug auf den König.
Nach dem Tod Echnatons hat sich Ägypten von den Neuerungen abge-
wandt und ältere Vorstellungen neu zum Ausdruck gebracht. In der Nach-
Amarna-Zeit entsteht insbesondere in Theben der Inbegriff einer hyperkos-
mischen Gottheit, die sich enkosmisch zeigt, aber als der Verborgene weit
über das Kosmische hinausgeht: eine komplexe Verbindung von Imma-
nenz und Transzendenz. Im Bild der Sonne: Die Sonne wird verstanden als
die sichtbare Erscheinungsform des unsichtbaren Gottes, mit dem sich die
Idee der rettenden Gerechtigkeit verbindet, die lebende und richtende Zu-
wendung. Drei Hauptcharakteristika konstituieren die Sonnentheologie:
Verborgenheit, Schöpfung, Herrschaft, wobei zwei entgegengesetzte Aspek-
te miteinander verknüpft werden: der kosmische verborgene Weltgott und
der persönliche Nothelfer beziehungsweise personhafte Richter und Retter.
Gerade in der Verbindung des Kosmischen mit dem Personhaften liegt die
besondere Konstruktion von Göttlichkeit in Ägypten.
Dass der Glaube an die göttliche Macht der Sonne in seinen Ursprüngen
nicht wissenschaftsfeindlich ausgerichtet, sondern im Gegenteil ein Impe-
tus für die Entwicklung wissenschaftlicher Methoden zur Beobachtung der
Gestirne und ein Schrittmacher auf dem Weg astronomischer Prognostik
gewesen ist, das zeigen die folgenden Beiträge zur Sonne in den Kulturen
des Alten Vorderen Orients, in denen Mythos und Wissenschaft keines-
wegs im Widerspruch zueinander stehen, und wo sich über einen Zeit-
raum von vier Jahrtausenden beobachten lässt, wie Erkenntnisfortschritte
und Arbeit am Mythos Hand in Hand gehen.
DIE SONNE IM ALTEN ORIENT – KONZEPTIONENZWISCHEN MYTHOS UND WISSENSCHAFT
EINFÜHRUNG ANDREA BÄRNREUTHER
1 2DIE SICHTBAREN WURZELN UNSERER ASTRONOMISCHEN KULTUR
Die direkt sichtbaren Wurzeln unserer heutigen Astronomie liegen im
antiken Griechenland. Das betrifft sowohl die Kosmogonie, also die Frage
nach dem Entstehen der Erde, der Sonne und des Universums, als auch die
mathematische Astronomie, die sich mit dem Kalender sowie den Plane-
tenbahnen beschäftigt. Wenn Thomas von Aquin über die Schöpfungsge-
schichte spricht, so ist das eigentlich ein Dialog mit Aristoteles und Platon,
und unsere mathematische Astronomie bis und mit Kopernikus ist die
Anwendung des »Almagest«, in welchem Ptolemäus um 150 n. Chr. das
antike astronomische Wissen zusammengefasst hat.
Auch die Astrologie bezog Technik und Leitideen aus der griechischen
Antike. Es war wiederum Ptolemäus, der mit seinem »Tetrabiblos« das um-
fassendste Standardwerk der Astrologie geschrieben hat, das wir aus der
Antike kennen. Damit beeinflusste er auch die muslimische Astrologie wie
diese wiederum die westliche Astrologie. Im mittelalterlichen Westen war
der Perser Abu Ma'shar (787-886 n. Chr.), bei uns bekannt als Albumasar,
der wichtigste Vertreter der islamischen Astrologie. Seine Werke wurden
1133 n. Chr. von Johannes von Sevilla ins Lateinische übersetzt und
fanden große Verbreitung. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts befassten
sich Astronomen nicht mehr mit Astrologie.
212
NU
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WIS
SEN
SC
HA
FT
DIE SONNE ALS OBJEKT
WISSENSCHAFTLICHERFORSCHUNG
HARRY NUSSBAUMER
DIE KOPERNIKANISCHE WENDE
Die griechischen Wurzeln zeigen sich erneut in der Zeit des kopernikani-
schen Paradigmenwechsels (1543 bis circa 1640). Damals wurde das alte
geozentrische Weltbild durch das heliozentrische ersetzt. Nicolaus Koper-
nikus (1473-1543), Johannes Kepler (1571-1630) und Galileo Galilei
(1564-1642) waren die Schlüsselfiguren jener Wende.
Kopernikus zeigte, dass sich die beobachteten Planetenbahnen viel einfa-
cher erklären lassen, wenn man annimmt, die Sonne sei der unbewegte
Zentralkörper des Universums. Hinter dem Werk von Kopernikus und
Kepler stand als Triebfeder der Wunsch, den platonischen Idealen zu genü-
gen. Diese erfordern, dass Planeten in gleichmäßiger Geschwindigkeit auf
Kreisbahnen gleiten.
Den Bruch mit diesem Dogma vollzog Kepler. Tycho Brahes (1546-1601)
qualitativ sehr hoch stehenden Beobachtungen der Planetenbahnen, ins-
besondere jener von Mars, überzeugten Kepler von der Unhaltbarkeit des
platonischen Ideals. Zugleich versah er die Sonne mit einer unvergleichbar
höheren Bedeutung als sie je zuvor gehabt hatte. Kepler sah in der Sonne
das Symbol für Gottvater. Die Zuweisung solcher Symbolgehalte war
nichts Neues. Das Neue bei Kepler war, dass er der Sonne eine physikali-
sche Bedeutung im modernen Sinn zugewiesen und damit astrophysikali-
sches Neuland betreten hat.
Abb. 1 Johannes
Kepler, »Mysterium
Cosmographicum«,
1596, ETH-
Bibliothek Zürich,
Sammlung
Alte Drucke
»Platonische Körper«
und Planetenbahnen.
In den fünf »Plato-
nischen Körpern«
bestehen alle Ober-
flächen aus demsel-
ben gleichseitigen
Vieleck, und in jeder
Ecke stoßen gleich
viele dieser Vielecke
zusammen.
3
214
NU
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DIE FASZINATION DER SONNE UND IHRE NEUBEWERTUNG DURCH KEPLER
Kepler ist eine faszinierende Persönlichkeit. Er bewegte sich im Mittelalter
und in der Neuzeit; er war ein Mensch der Renaissance und Naturwissen-
schaftler im heutigen Sinn. Seine Inspiration bezog er von den Pythago-
räern und von Platon. Er war gläubiger Christ, zugleich aber auch Astrolo-
ge, und er glaubte an einen gesetzmäßigen und erkennbaren Aufbau des
Universums. Er war überzeugt, dass Gott dem Menschen Verstand gegeben
habe, um ihn an der geometrischen Schönheit der Schöpfung teilhaben zu
lassen. In sein Weltbild gehörten ein beseeltes Universum und die Trinität,
also die christliche Dreifaltigkeit Gottes mit der Kugel als ihrem Symbol.
Für Kepler war das Universum in einer Kugel enthalten, mit der Sonne im
Zentrum; um die Sonne herum imaginierte er die Planeten und Kometen
sowie die Sterne in der begrenzenden Kugelschale. Das solare Zentrum
verkörperte für Kepler Gottvater, der äußere Rand mit den Sternen den
Sohn und der Raum dazwischen den Heiligen Geist. Die vom Zentrum
ausgehenden Strahlen waren für ihn das Symbol für die Erschaffung und
Erhaltung des Universums.
In seinem Erstlingswerk »Mysterium cosmographicum« (1596) suchte
Kepler das Geheimnis zu lüften, weshalb Gott ausgerechnet sechs und
nicht eine andere Anzahl Planeten geschaffen habe, und weshalb diese ge-
rade im beobachteten Abstandsverhältnis kreisten. Zur Erklärung zog er
die fünf »Platonischen Körper« heran, die von den Pythagoräern »Weltfi-
guren« genannt wurden, und verband sie mit den Planetenbahnen um die
unbewegliche Sonne (Abb. 1). Was konnte plausibler erscheinen, als dass
der Schöpfer die fünf Abstände zwischen jenen sechs himmlischen Sphä-
ren – gemeint sind die Planetenbahnen – den fünf Figuren entnommen
habe, und zwar in der Reihenfolge, dass zwischen den Sphären von Saturn
und Jupiter der Würfel zu denken sei, zwischen Jupiter und Mars das Tetra-
eder, zwischen Mars und Erde das Dodekaeder, zwischen Erde und Venus
das Ikosaeder und zwischen Venus und Merkur das Oktaeder? Die durch
Ineinanderschachtelung der »Platonischen Körper« gegebenen Bahnra-
dien sollten nach Keplers Meinung eine Entsprechung in den Verhältnis-
sen der Umlaufzeiten finden. Sein Suchen nach Gesetzen war eine Suche
nach Harmonien. Damit erzielte er eine erstaunliche Genauigkeit. Doch
Kepler war in erster Linie Wissenschaftler. Das zeigte sich, als er einige
Jahre nach seiner Spekulation über die »Platonischen Körper« herausfand,
dass seine Theorie mit den Beobachtungen Tycho Brahes unvereinbar war.
Da ließ er die Theorie der »Platonischen Körper« fallen und fand dafür
seine drei berühmten Gesetze über die Planetenbahnen.
Kepler versah die Sonne mit einem fast göttlichen Nimbus. Während Gior-
dano Bruno etwa um dieselbe Zeit ein unendliches Universum propagier-
te und die Sonne als einen normalen Stern unter unzählbar vielen anderen
Sonnen sah, verteidigte Kepler die Einzigartigkeit der Sonne als über jeden
anderen Stern erhabenen Zentralkörper eines endlichen Universums. Kep-
ler suchte nach der kosmischen Harmonie. Diese war seiner Auffassung
nach nur in einem begrenzten Universum denkbar.
Für Kepler war die Sonne das Symbol des Schöpfergottes. Wie verhält sich
dieser Glaube zu Keplers wissenschaftlicher Erkenntnis? Kepler war ein Pio-
nier, der die Astronomie stark geprägt hat. In der platonisch-aristotelischen
Tradition wird der Lauf des Himmelsgefüges durch die äußere Schale des
unbewegten Bewegers angetrieben. Nach christlichem Verständnis ist Gott
mit seinen Engeln für einen reibungslosen Lauf des Himmels verant-
wortlich. Kepler vollzog einen Paradigmenwechsel. Nach seiner Auffassung
treibt die Sonne den Lauf der Planeten. Das war weit mehr als philosophi-
sche Spekulation. Im Jahr 1600 hatte Gilbert in London ein wissenschaft-
liches Buch über den Magnetismus veröffentlicht. Kepler ließ sich davon
inspirieren. Mit einer sehr gewagten Hypothese behauptete er, die Sonne
drehe sich um sich selbst. Er nahm nun zusätzlich an, die Sonne habe – so
wie die Erde – ein Magnetfeld, und die sich drehende Sonne ziehe mit ih-
rem sich ebenfalls drehenden Magnetfeld die Planeten mit sich. Als Galileo
dann mittels der Sonnenflecken nachwies, dass sich die Sonne tatsächlich
um ihre eigene Achse dreht, gratulierte ihm Kepler überschwänglich.
Kepler sah sich zweifellos in einer mystischen Verbindung mit dem helio-
zentrischen Universum. Und doch hieße es nicht nur zu kurz zu greifen,
sondern ganz bös daneben, wollte man Kepler vor allem als Mystiker fei-
ern. Keplers Leistung lag eben gerade darin, dass er die wissenschaftliche
Wahrheit suchte und bereit war, liebgewonnene Vorstellungen aufzuge-
ben, wenn sie sich als unhaltbar erwiesen hatten. Er ließ das Ideal des Krei-
ses fallen, als er aus Tychos Beobachtungen sah, dass Planeten sich auf El-
lipsen und nicht auf Kreisen bewegen. Und er ließ sein wundervolles Uni-
versum der »Platonischen Körper« fallen, als er merkte, dass das Univer-
sum nach anderen Proportionen aufgebaut ist. In »Astronomia Nova«
(1608) hat Kepler sein Credo folgendermaßen formuliert:
AUF DIE MEINUNGEN DER HEILIGEN ABER ÜBER DIESE
NATÜRLICHEN DINGE ANTWORTE ICH MIT EINEM EINZIGEN
WORT: IN DER THEOLOGIE GILT DAS GEWICHT DER AUTORITÄT,
IN DER PHILOSOPHIE ABER DAS DER VERNUNFTGRÜNDE.
HEILIG IST ZWAR LAKTANZ, DER DIE KUGELGESTALT DER ERDE
LEUGNETE, HEILIG AUGUSTINUS, DER DIE KUGELGESTALT ZUGAB,
ABER ANTIPODEN LEUGNETE, HEILIG DAS OFFIZIUM UNSERER
TAGE, DAS DIE KLEINHEIT DER ERDE ZUGIBT, ABER IHRE
BEWEGUNG LEUGNET. ABER HEILIGER IST MIR DIE WAHRHEIT,
WENN ICH BEI ALLER EHRFURCHT VOR DEN KIRCHENLEHRERN
AUS DER PHILOSOPHIE BEWEISE, DASS DIE ERDE RUND UND
RINGSUM VON ANTIPODEN BEWOHNT, GANZ UNBEDEUTEND
UND KLEIN IST UND AUCH DURCH DIE GESTIRNE HIN EILT.
45
Keplers Hypothese will eine wissenschaftliche Erklärung für die Bewegung
der Planeten sein und keine mythologische. Seine Erklärung zur motori-
schen Kraft der Sonne war falsch. Das schmälert ihre Bedeutung keines-
wegs, sie hat befruchtend gewirkt. Kepler half mit, die Wissenschaft aus
den Fesseln der Religion und der Autoritätsgläubigkeit zu lösen und die Er-
scheinungen am Himmel rein wissenschaftlich zu erklären. Fünfzig Jahre
nach Keplers Tod hat der Kreis um Hooke, Newton und Halley die volle
Bedeutung der Keplerschen Gesetze und seiner Hypothese einer aus der
Sonne heraus wirkenden, die Planeten bewegenden Kraft erkannt und da-
raus die Gravitationskraft entdeckt.
DESCARTES – DIE SONNE ALS EIN GEWÖHNLICHER STERN IN EINEM SICHWANDELNDEN UNIVERSUM
Eine zumeist unbeachtete geistige Wende setzte um 1640 mit René Des-
cartes (1596-1650) ein. Er brachte die Evolution in die philosophische
und wissenschaftliche Diskussion ein. Danach wurde unser Universum
nicht so geschaffen, wie es sich jetzt zeigt, denn das Universum ist in einem
ständigen Entwicklungsprozess begriffen. Auf die Sonne bezogen bedeu-
tet das: Die Sonne existiert nicht seit Beginn des Universums, sie ist irgend-
wann im Lauf der Zeit entstanden und sie wird auch wieder vergehen. Die-
ses Bild steht in krassem Gegensatz zum biblischen Schöpfungsbericht;
entsprechend vorsichtig war Descartes, als er diese Gedanken 1644 in sei-
nen »Principia Philosophiae« veröffentlichte.
HERSCHELS PHANTASTISCHE IDEEN ÜBER DIE SONNE
Friedrich Wilhelm Herschel (1738-1822) – seine Publikationen signierte
er als William Herschel, 1816 wurde er zum Ritter Sir William geschlagen –
entdeckte im Jahr 1781 den Planeten Uranus und stürzte damit den letzten
Pfeiler des antiken Weltsystems. Er war ein außerordentlich begabter
Beobachter. Der ehemalige deutsche Militärmusiker wurde zu einem Para-
dewissenschaftler am englischen Königshof und zum damals weltweit
berühmtesten Astronomen.
Das Lesen der Vorträge, die Herschel vor der Royal Society in London hielt
und anschließend publizierte, versetzt uns in eine Zeit, als die Natur der
Sonne und der Sterne noch völlig schleierhaft war. In einem Vortrag vom
18. Dezember 1794 freut sich Herschel über die Kenntnisse, die in den
hundert Jahren seit Newton gewonnen wurden. Die Distanzen im Son-
nensystem seien nun bekannt, frohlockt er, wir kennen die Geschwindig-
keit des Lichts und die Masse der Sonne, wir wissen, dass die Sonne rotiert
und kennen die Rotationsachse, und man könnte meinen, es gäbe diesem
Wissen nichts mehr hinzuzufügen. Und doch, fährt Herschel fort, sind wir
noch Ignoranten: Wir wissen nicht, woraus die Sonne besteht.
Herschel hatte die Oberfläche der Sonne ausgiebig beobachtet; er kannte
das Kommen und Verschwinden der Sonnenflecken. Seine Spekulationen
über eine bewohnte Sonne, die er 1795 in den »Philosophical Transac-
tions« veröffentlichte, sind höchst amüsant zu lesen. Er meinte, die Sonne
sei von der gleichen Natur wie die Planeten, sie habe eine leuchtende Scha-
le und sei wohl bevölkert von Bewohnern, deren Organe den Besonder-
heiten des riesigen Sonnenkörpers angepasst seien (Abb. 2). Die Meinung,
Sonnenflecken seien Löcher in einer solaren Wolkendecke, durch die wir
Abb. 2 William
Herschel, Philo-
sophical Transac-
tions of the Royal
Society of London,
1801, Part I,
Plate XVIII
Herschels bewohnte
Sonne: Herschel
gibt eine detaillierte
Beschreibung der
von ihm beobachte-
ten Sonnenflecken
und spekuliert dann
über eine bewohnte
Sonne.
6216
NU
SS
BA
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ER –
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SEN
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die kühlere Sonnenoberfläche sehen, wiederholte er noch einmal 1801.
Nicht nur die Sonne, sondern auch den Mond und die andern Planeten
stellte er sich bewohnt vor. Der Mond sei zwar von der Erde stark verschie-
den, aber auch auf der Erde gebe es Lebewesen, die unter stark unterschied-
lichen Bedingungen existieren – Vögel, die in der Luft und Fische, die im
Wasser leben. Also könnten, so folgerte er, Lebewesen auch den Bedingun-
gen des Mondes oder der Sonne angepasst sein. Das Jahrhundert von Jules
Verne war angebrochen!
Aus Herschels Sonnenbeobachtungen resultierten nicht nur Spekulatio-
nen über eine bewohnte Sonne, sondern auch die Entdeckung der Infra-
rotstrahlung (Abb. 3), worüber er 1800 berichtete. Er sandte das Sonnen-
licht durch ein Prisma. Das Spektrum der Sonne ist eine Auflösung des
Lichts nach seinen Farben, wie man es im Regenbogen sieht. Als er die
Wärmewirkung unter den verschiedenen Farben maß, entdeckte er, dass
von Blau gegen Rot die Wärme zunimmt. Und nun folgte die große Über-
raschung: Jenseits des sichtbaren Rot war die Wärme noch stärker als im
sichtbaren Bereich. Das heißt, zwischen der sichtbaren und der unsicht-
baren Strahlung besteht kein fundamentaler Unterschied. Sichtbarkeit
und Empfindung für Farbe sind eine Angelegenheit unserer Augen, die nur
einen beschränkten Wellenlängenbereich sehen. Man sieht: Wilde Speku-
lationen und seriöse Wissenschaft lagen eng beieinander.
KIRCHHOFFS FRAGE NACH DER MATERIALITÄT DER SONNE
Herschels Entdeckung der Infrarotstrahlung und die kurz darauf erfolgte
Entdeckung der ultravioletten Strahlung durch Johann Wilhelm Ritter
führten zu einem fundamentalen Wandel unserer Vorstellungen vom
Licht. Das Licht – und die Sonne ist eine stets präsente Quelle von Licht –
ist eine elektromagnetische Strahlung, die durch die Schwingung elektri-
scher Ladungen entsteht und sich als elektromagnetische Welle fortsetzt
Abb. 3 Philosophical
Transactions of the Royal
Society of London, 1801,
Part I, Plate XI
Die Entdeckung der
Infrarotstrahlung: Her-
schels Messungen der
Wärmeverteilung im
Sonnenspektrum
beziehungsweise ausbreitet. In stark eingeschränkter Analogie mag man
sich eine Welle vorstellen, die im Teich entsteht, wenn man einen Stein
hineinwirft. Röntgenstrahlung, ultraviolettes, sichtbares, infrarotes Licht
und Radiowellen unterscheiden sich nur hinsichtlich ihrer Wellenlänge.
Sie bringen uns jene Wärme, die Pflanzen und Tieren das Leben schenkt,
in ihrem kurzwelligen Anteil tragen sie aber auch die Energie, die unsere
Zellen zerstört und zu Krebs und Tod führt.
Im Jahr 1814 gewann Fraunhofer 1814 aus dem Sonnenlicht ein Spektrum
von sehr hoher Qualität. Die Erklärung des Spektrums gelang Gustav
Robert Kirchhoff (1826-1887) und Robert Wilhelm Bunsen (1811-1899)
7
energie oder Licht. Die verschiedenen Energieformen sind einander eben-
bürtig in dem Sinn, dass bei der Umwandlung der einen in eine andere die
Gesamtenergie erhalten bleibt.
Als man Mitte des 19. Jahrhunderts die Energieabstrahlung der Sonne
messen und berechnen konnte, stellte sich auch gleich die Frage: Wie
erzeugt die Sonne diese Energie? Als Energiequelle wurde der Einfall von
Kometen erwogen; das liefert allerdings viel zu wenig Energie. Dann er-
kannte man, dass das langsame Schrumpfen der Sonne den bisherigen
Energieverbrauch für ungefähr dreißig Millionen Jahre hätte decken kön-
nen. Das ist zu kurz, um die geologischen Erscheinungen der Erde zu er-
klären. Einstein brachte die erlösend wirkende Erklärung mit seiner wohl
berühmtesten Formel E= mc2. Anfänglich wurde spekuliert, dass Proton
und Elektron miteinander verschmelzen könnten, und dass aus dieser An-
nihilation oder Paarvernichtung der Teilchen die der Einsteinschen For-
mel entsprechende Energiemenge in Form von Strahlung frei würde. Mit
den damaligen Vorstellungen über den Lebenslauf der Sterne ergab sich
daraus für die Sonne ein Alter von etwa 40 Milliarden Jahren – wie sich
später zeigte, ist das zu hoch gegriffen.
Als der Belgier Georges Lemaître 1927 die Expansion des Universums ent-
deckte, brachte das hohe Alter der Sonne die Kosmologen in arge Bedräng-
nis. Aus der Expansion berechneten sie für das Universum ein Alter von
etwa einer Milliarde Jahren. Die Sonne konnte doch wohl kaum älter sein
als das Universum! Die Lösung kam um 1950, als die Prozesse der Kern-
fusion und damit der Energieerzeugung im Innern der Sonne berechenbar
wurden. Die weiteren Fortschritte der Astrophysik und der Geologie erge-
ben heute für das Universum ein Alter zwischen 13 und 14 Milliarden Jah-
ren und etwa 4,6 Milliarden Jahre für die Sonne und das Sonnensystem.
im Jahr 1859. (Abb. 4). Das war ein Durchbruch von großer kultureller
Bedeutung. Aus den Spektren können die Astrophysiker die chemischen
und physikalischen Eigenschaften der Sonne und der Sterne lesen. Nun
war auch die Frage endgültig gelöst, woraus die Sonne besteht. Die Sonne
besteht aus Elementen, die wir auch auf der Erde finden. Die aristotelische
Trennung des Universums in himmlische und irdische Materie wurde
damit zur historischen Kuriosität; die Erde und die Himmelskörper beste-
hen aus ein- und derselben Materie.
Zu dieser Zeit verschwand der Einfluss der Religion beziehungsweise Mys-
tik auf die Astronomie. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ersetzte Charles
Darwin die biblische Schöpfungsgeschichte mit der Erschaffung von
Adam und Eva durch die Evolutionslehre. Die Erklärung der Natur und des
Universums in mathematischer Form, die um 1600 mit Galileo in der Phy-
sik und mit Kepler in der Astronomie begonnen hatte, wurde zum kultu-
rellen Allgemeingut. Die Sonne war zu einem Objekt der Astrophysik
geworden. Sie hat dadurch keineswegs an Faszination verloren.
WIE ALT IST DIE SONNE?
Wer streng biblisch denkt und dabei dem Wortlaut folgt, wird das Alter der
Sonne dem Alter des Universums gleichsetzen. Zugleich wird mit Bezug-
nahme auf die Bibel ein Erdalter von 7000 Jahren behauptet. Hingegen
fanden die Geologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Erde wohl
seit mehreren Milliarden Jahren existiert. Da muss man dieses Alter auch
der Sonne zugestehen. Doch woher bezieht die Sonne die Energie, um
während solch langer Zeiträume zu strahlen? Der in der Mitte des 19. Jahr-
hunderts entstandene moderne wissenschaftliche Begriff der Energie hat
uns gelehrt, dass verschiedene Energieformen ineinander verwandelbar
sind: Bewegungsenergie in Elektrizität oder Wärme, Wärme in Bewegungs-
Abb. 4 Joseph Fraunhofer,
Denkschriften der König-
lichen Academie der
Wissenschaften zu
München, 5, 193-225
Fraunhofers Spektrum von
1814/15: Die Spektren
enthalten praktisch alle
Informationen, die wir von
der Sonne und den andern
leuchtenden Himmels-
körpern besitzen.
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Abb. 5 Hubble
Space Teleskop,
groß: Protoplaneta-
rische Scheiben – Ein
Auschnitt aus dem
Orionnebel, in dem
haufenweise neue
Sterne und Planeten-
systeme entstehen;
rechts oben klein:
Protoplanetarische
Scheibe im Orion-
nebel: Versteckt im
Zentrum der Staub-
scheibe entsteht ein
neuer Stern. Aus den
Staubscheiben kann
sich ein Planeten-
system bilden.
(Fotos: © NASA/ESA)
98
Die Untersuchung des Sonnen- und Sternlichts hatte bereits in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass diese Himmelskörper aus uns be-
kannten Elementen bestehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten die
Fortschritte in der Physik (Strahlungstheorie, Thermodynamik, Kernphy-
sik), dass die Sonne physikalisch als riesiger Gasball betrachtet werden
kann. Als Energiequelle wurde bereits um 1920 die Fusion von leichteren
in schwere Elemente vermutet. Weitere Arbeiten in den fünfziger und sech-
ziger Jahren brachten dann Klarheit über die Einzelheiten der Energiege-
winnung. Ab jener Zeit wurde es möglich, den gesamten Lebenszyklus der
Sterne mit theoretischen Modellrechnungen zu erfassen und damit das
Leben der Sterne und der Sonne von ihrer Geburt bis zum Tod nach- oder
vorzuzeichnen.
Ein Durchbruch im Verständnis der Geburt des Sonnensystems kam, als
das Hubble Space Teleskop im großen Orionnebel jene Staub- und Gas-
scheiben entdeckte, in denen jetzt neue Sterne und Planetensysteme ent-
stehen. (Abb. 5) So dürfen wir uns das Frühstadium unseres Sonnensys-
tems vor viereinhalb Milliarden Jahren vorstellen.
DAS HEUTIGE BILD DER SONNE
Die Sonne ist ein riesiger Gasball, etwa hundertmal größer als die Erde. An
ihrer Oberfläche strahlt sie mit einer Temperatur von 5.800 Grad. Im Kern
ist sie um 15 Millionen Grad heiß; dort erzeugt sie durch Kernfusion von
Wasserstoff in Helium die an der Oberfläche abgestrahlte Energie. In dem-
selben Sinn wie die Planeten um die Sonne laufen, dreht sie sich um sich
selbst. Für eine Umdrehung benötigt sie ungefähr einen Monat, etwa 25
Tage am Sonnenäquator, 30 Tage in der Nähe des Nord- und Südpols.
Sonnenflecken werden seit der Zeit von Galileo systematisch beobachtet
und untersucht. Ihre Häufigkeit wechselt in einem elfjährigen Rhythmus.
Die einzelnen Flecken haben je nach Größe eine Lebensdauer von einigen
Tagen bis zu mehreren Monaten. Sie entstehen, indem starke Magnet-
felder die Zufuhr heißer Gase aus tieferen Schichten behindert; die Tempe-
ratur im Fleck ist dann noch etwa 4000 Grad. (Abb. 6)
Einen höchst sonderbaren Aspekt ihrer Natur gibt die Sonne während der
Sonnenfinsternis preis: die Sonnenkorona. Über der für uns normalerwei-
se sichtbaren Oberfläche liegt eine dynamisch sehr aktive Gashülle, in der
die Temperatur auf über eine Million Grad steigt. Aus der Korona bricht
der Sonnenwind mit 300 bis 500 Kilometern pro Sekunde in den interpla-
netaren Raum. Der Wind braust auch an der Erde vorbei, wird hier aber
teilweise durch das Erdmagnetfeld zu den Polen geleitet. Beim Zusam-
menstoß mit den Molekülen der Erdatmosphäre werden diese zum Leuch-
ten angeregt: so entstehen die Nordlichter. (Abb. 7)
Die Bilder der Sonne zeigen, dass ihre Faszination durch die wissenschaft-
liche Erforschung eine weitere Dimension gewonnen hat.
WIE ENTSTEHEN STERNE, WIE ENTSTAND DIE SONNE?
Für Kopernikus, Kepler und Galileo war die Entstehung der Sonne kein
zentrales Thema. Wenngleich sie nicht der Ansicht waren, die Aussagen
der Bibel seien immer buchstäblich zu nehmen, so zweifelten sie doch
nicht an deren prinzipieller Richtigkeit: Die Sonne, die Erde und die Ge-
stirne des Himmels sind von Gott so erschaffen worden, wie wir sie sehen.
Descartes predigte ein ganz anderes ›Evangelium‹; seine Botschaft hieß
»Evolution«. Um sich gegen die Verfolgung der Kirche abzusichern, offe-
rierte er zuerst ein Lippenbekenntnis seiner Bibelgläubigkeit, um dann zu
fragen: Was wäre geschehen, wenn Gott die Materie bloß erschaffen und
sie dann sich selbst überlassen hätte? Und er beantwortete die Frage mit
seiner grundlegend neuen Version zur Entstehung des Universums.
Descartes kannte die Gravitationskraft noch nicht. Er sah das formende
Element in der Bewegung, die sich vor allem in Wirbeln manifestiert. Die
Wirbel formen Himmelskörper und können sie auch wieder auflösen. Das
grundsätzlich Neue an diesen Spekulationen war die Idee der Entwick-
lung: Das Universum ist kein statisches Gebilde, ein für allemal geschaf-
fen, sondern ein sich fortwährend entwickelndes System.
Hundert Jahre nach Descartes griff der Philosoph Immanuel Kant das
Thema der Evolution erneut auf. Er war ein Bewunderer Newtons und or-
tete die Gravitation als jene Kraft, die das Universum formt und verändert.
Durch ihre zusammenziehende Wirkung hat sie auch die Sonne und die
Erde aus der ursprünglich diffusen Materie geschaffen. Um 1800 argu-
mentierte der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749-
1827) in demselben Sinn. Während sich Kant im Vorwort zu seiner Natur-
lehre noch dafür entschuldigt, dass seine Evolutionslehre nicht mit der
Bibel übereinstimmt, ist von Laplace die Antwort auf Napoleons Frage
nach einem Schöpfergott überliefert: »Sire, auf eine solche Hypothese war
ich nicht angewiesen.« – Die Wissenschaft verzichtete seit dieser Zeit end-
gültig auf göttliches Wirken und Eingreifen.
Die auf Beobachtung gestützte Diskussion um die Entstehung der Sonne
und der Sterne begann um 1800. Herschel beobachtete ein nebliges Gebil-
de, in dessen Zentrum er einen Stern sah; er nannte das einen »Planetari-
schen Nebel«. Er glaubte, es handle sich um einen im Entstehen begriffe-
nen Stern. Herschels überragende Autorität garantierte dieser Spekulation,
die sich später als falsch erweisen sollte, eine allgemeine Akzeptanz. Die
Frage nach der Entstehung der Sterne und der Sonne war für die gebildete
Welt von einer theologischen zu einer naturwissenschaftlichen geworden
und ihr Gegenstand von einem theologischen zu einem naturwissen-
schaftlichen Phänomen ›mutiert‹.
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9Abb. 6 Die Oberfläche der
Sonne mit Sonnenflecken,
links: die Sonne mit etlichen
Sonnenflecken, aufgenom-
men am 13. Oktober 1989
(Foto: © NSO/AURA/NSF);
links unten: Sonnenfleck mit
dunkler Umbra, umgeben
von der etwas helleren
Penumbra. Gut zu sehen ist
auch die granulare Struktur
der Sonnenoberfläche. In
den 300 bis 1000 Kilometer
großen hellen Granulen
steigt das heiße Gas von
unten an die Oberfläche
(Photosphäre), wird dann
durch die Abstrahlung
abgekühlt und sinkt an den
dunkeln Rändern wieder
nach unten.
(Foto: © T. Rimmele [NSO],
M. Hanna [NOAO]/AURA/
NSF)
Abb. 7 Die äußere
Sonnenatmosphäre,
rechts oben: die Sonnen-
korona während der
Sonnenfinsternis vom
August 2008
(Foto: © Franceso Diego,
University College
London);
rechts unten: Koronabögen
steigen aus aktiven Gebieten
– oft mit Sonnenflecken
assoziiert – in die heiße
Korona. Sie werden durch
das Magnetfeld geformt.
Heißes Plasma schießt
entlang des Bogens.
Das Bild wurde im ultra-
violetten Licht aufgenom-
men und dann in sichtbare
Farben übersetzt
(Foto: © NASA/Trace Team).