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„Negativität der Erkenntnis“ in Kafkas Er-
Texten Universität Augsburg Philologisch-Historische Fakultät Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Dozent: Friedmann Harzer Hauptseminar: Franz Kafka, ‚Zürauer Aphorismen’
8 LP Arndt Knoop [email protected]
Matrikelnummer: 1168090 Lehramt an Gymnasien, Fächer: Deutsch, Sozialkunde 8. Fachsemester Abgabe der Arbeit: 21.10.2014
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 1 2. Negativität der Erkenntnis – Kienlechners Welt/Wahrheit-Paradigma 1
3. Analyse und Interpretation ausgewählter Texte 4
#1 4 #10 6
#9 8 #2 9 #19 10 #29 11 #17 12 #14 14 #3 15 4. Fazit 16 5. Literaturverzeichnis 18 6. Anhang 7. Erklärung
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1. Einleitung
Ziel dieser Arbeit ist es die von Sabine Kienlechner verfasste Analyse zum Prozess der
Erkenntnisgewinnung1, wie er Kienlechner nach in den aphoristischen Texten2 Franz Kafkas
dargestellt wird, auf die unter dem Titel „Er – Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920“3 erschienenen
Kurztexte desselben Autors zu übertragen. Hierzu wird in drei Schritten vorgegangen: Zuerst soll das
Prinzip von der Negativität der Erkenntnis, welches Kienlechner als wesentlich für die Rezeption von
Kafkas aphoristischen Texten bezeichnet, dargestellt und erläutert werden, um es in einem zweiten
Schritt auf oben erwähnte Texte anzuwenden. Ein dritter Schritt widmet sich anschließend einem
Fazit zu Kienlechners Theorie und den mit ihr erzielten Interpretationen sowie der Reichweite dieser.
2. Negativität der Erkenntnis – Kienlechners Welt/Wahrheit-Paradigma
Das Paradigma, welches Kienlechner in ihrem Text herausarbeitet, wird in Kafkas Texten primär
durch die Abgrenzung zweier Bereiche des Seins voneinander definiert4. Da Kienlechners Analyse sich
auf Kafkas Reflexionen zum biblischen Sündenfall stützt5, bezeichnet sie jene Bereiche mit den
Begriffen „Welt“ und „Paradies“ (Ich werde diesen Begriff später in den meiner Meinung nach
passenderen Begriff „Wahrheit“ überführen).6 Diese Bezeichnungen sind jedoch nicht wörtlich zu
verstehen und die Autorin hält eine religiöse Interpretation der Texte für ausgeschlossen.7 Vielmehr
sind die Begriffe repräsentativ für komplexere Konzepte, deren Bedeutung sich nicht in der Semiotik
einzelner Wörter erschöpft, sondern grade durch die Herauslösung aus üblichen
Bedeutungszusammenhängen charakterisiert ist8: In diesem konkreten Fall nutzt Kafka somit
lediglich kulturell geprägte Bilder und damit verknüpfte Bedeutungen als Bausteine für gedankliche
Konstrukte, in denen sie einen noch weiteren Bedeutungshorizont aufspannen sollen.
1 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981. 2 Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006. 3 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 210-218. 4 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.28 f. 5 Ebenda, S. 19ff. 6 Ebenda, S. 27. 7 Ebenda, S. 33ff. 8 Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S. 714.
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Die beiden Bereiche sind korrelativ9 zueinander angeordnet und durch verschiedene Konzepte
genauer definiert: Der Seins-Bereich Paradies zeichnet sich durch Außerzeitlichkeit und hiermit
einhergehenden Konsequenzen für andere Dimensionen bzw. „Gegensätze“10 aus11, das Sein ist in
diesem Bereich somit durch Unteilbarkeit definiert:
„Das Leiden ist das positive Element dieser Welt, ja es ist die einzige Verbindung zwischen
dieser Welt und dem Positiven.
Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen des
Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer
anderen Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.“12
Durch das Konzept der Unteilbarkeit ist der Seins-Bereich des Paradieses auch mit Kafkas Konzept
von Wahrheit deckungsgleich. Der dem Unteilbarkeitsaspekt inhärenten Logik nach kann man beides
sogar als deckungsgleich bezeichnen:
„Es gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht
erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“13
Aus den zitierten Aphorismen lässt sich ableiten, dass der Seins-Bereich Welt negativ, d.h. durch
Erkenntnis der fehlenden Unteilbarkeit (s.u.), vom Seins-Bereich Wahrheit her definiert ist. Die
charakterisierenden Konzepte folgen demnach dem Prinzip der Teilbarkeit (konträr zu Unteilbarkeit):
„Das Leiden, das doch zunächst eine negative Empfindung zu sein scheint, ist deshalb das
positive Element dieser Welt, weil es Negation dieser Welt ist; oder anders ausgedrückt:
Leiden ist Empfinden und Ausdruck der Negativität des irdischen Daseins.
[…] Ist nun das Leiden Ausdruck der Negativität dieser Welt, so müßte die Welt, befreit von
ihrem negativen Gegensatz, das Positive sein; das heißt mit anderen Worten: die Welt ist
negatives Korrelat zum Bereich des Paradieses.“14
Der gedankliche Prozess einer Schlussfolgerung auf einen durch Unteilbarkeit der Dinge
charakterisierten Seins-Bereich Wahrheit aus der, für den Menschen empfindbaren, Unzulänglichkeit
eines Seins-Bereichs Welt, welcher durch Teilbarkeit, d.h. die fehlende Befreiung vom Gegensatz, in 9 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.28. 10 Aufhebung der Relativität 11 Ebenda, S. 29. 12 Ebenda, S. 28. 13 Ebenda, S. 16. 14 Ebenda, S. 28.
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all seinen Aspekten charakterisiert ist, bezeichnet Kienlechner als Erkenntnis (der Negativität).15
Dieser Prozess, als Teil des Seins-Bereichs Welt, ist selbst immer noch negativ vom Seins-Bereich
Wahrheit her definiert („[…] wer sie erkennen will muss Lüge sein“): Es ergibt sich somit die
Negativität der Erkenntnis, welche sich in folgendem Zitat Kafkas äußert:
„Die Erkenntnis ist beides, Stufe zum ewigen Leben und Hindernis vor ihm.“ 16
Kienlechner drückt diese Schlussfolgerung wie folgt aus:
„Damit ist jedoch der Ort der Erkenntnis notwendig getrennt vom Ort der Wahrheit, oder
anders ausgedrückt: Erkenntnis ist nur möglich im Zustand des vom Orte der Wahrheit
Vertriebenseins [Interpretation im Zusammenhang der Aphorismen, welche die Bildsprache
des Sündenfalls benutzen]: Dies bestimmt die Erkenntnis als negativ.“17
Für die Lösung des Hindernis-Aspekts des Erkennens, welcher sich - wie oben bereits beschrieben -
aus seiner Weltinhärenz ergibt, führt die Autorin folgenden Text Kafkas an:
„Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der
Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon,
bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! Also
etwas Böses – und nur wenn man sich hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet:
>Um dich zu dem zu machen, der du bist<.“18
Kafka fordert hier die Selbstzerstörung, welche - der bisher dargestellten Argumentation folgend –
am Ende eines „Prozeß[es] der Negation“19 (aus dem Seins-Bereich Welt hinaus) zu stehen hat,
welcher Erkenntnis darstellt. D.h. dessen Abschluss beschreibt eine Lösung von der Zeitlichkeit und
somit allen anderen Dimensionen bzw. Gegensätzen20: Schlussendlich wird auch der Tod von seinem
Gegensatz befreit. Die von Kafka aufgestellten Paradoxe, welche durch den Versuch der
Vereinbarung der beiden oben erwähnten Seinsbereiche entstehen, sind die Fläche, auf welcher sich
die negative Definition von Welt gegenüber der von Wahrheit spiegelt und vom Denkenden erkannt
werden kann. Kunst selbst kann analog verstanden werden und stellt eine solche Fläche dar, die den
15 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.29. 16 Ebenda, S. 30. 17 Ebenda, S. 30. 18 Ebenda, S. 29f. 19 Ebenda, S. 30. 20 Vgl.: Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S. 715: „Das Ich muss als […] Störfaktor angesehen werden, der im üblichen Sinne „stimmiges“ Denken aus seiner Bahn wirft“.
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Zugang zu Wahrheit durch Zusammenspiel ihrer indirekten/negativen Auswirkungen mit einem Raum
ermöglicht, in dem noch Platz für Bedeutungen abseits gesellschaftlicher Distinktionen ist21.
3. Analyse und Interpretation ausgewählter Texte
Im Folgenden werden ausgewählte Texte der 29 Stücke aus dem Textkonvolut „Er – Aufzeichnungen
aus dem Jahr 1920“ unter dem von Kienlechner entdeckten Paradigma analysiert und interpretiert.
Die hier gewählten Texte sollen das Paradigma in Bezug auf verschiedene Dimensionen (z.B.:
Individuum vs. Sozialität, Gedanke vs. Realität) genauer analysieren und teilweise erweitern sowie
Grundlagen des Paradigmas und Beziehungen der einzelnen Bestandteile beleuchten. Im Anhang
dieser Arbeit findet sich ein durchnummerierter Ausdruck der 29 Texte, um Verweise auf Texte des
Konvolutes geben zu können, die für das Verständnis und die Auffächerung des gezeichneten
Weltbildes interessant sind, deren Analyse hier jedoch nicht speziell ausformuliert worden ist. Die
Bearbeitung löst sich des Weiteren von der Reihenfolge der Texte im Buch, um den Aufbau von
Konzepten Kafkas besser nachzuvollziehen zu können und Parallelen zu verdeutlichen.
#1:
„Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo
wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augenblick Bereitsein verlangt, Zeit sich vorzubereiten, und selbst
wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt, das heißt, kann man überhaupt
eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen? Deshalb ist er auch schon längst
unter den Rädern, merkwürdiger- aber auch tröstlicherweise war er darauf am wenigsten vorbereitet.“22
Grundlage dieses ersten Textes ist Kafkas Bearbeitung des Wortfeldes „bereit sein“ aus einer
personalen Erzählsituation23 über Nutzung von dessen Polysemie und daraus hervorgehenden
Anregungen sowie Bedeutungserweiterungen, die über den wiederholten Gebrauch des hieraus
entstehenden Bedeutungskomplexes in einem sich fortentwickelnden Kontext ausgearbeitet werden.
Der erste Satz beschäftigt sich mit einem Zwang zum „Bereitsein“, der mangelnden Zeit, um ein
solches zu erreichen, und einem als „quälend“ wahrgenommenen Gefühl des Reflektors, um sich
anschließend einer Reflektion über das Wofür, d.h. der dahinter stehenden „Aufgabe“ bzw. einem
21 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S. 48ff. (Negativität der künstlerischen Erkenntnis) 22 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 210. 23 Zeigt Merkmale des personalen Erzählens nach Stanzel (Innerperspektive, Er-Bezug), aus: Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München, 2009, S.92.
9
Grund für das Bereitsein, zuzuwenden. Der zu betrachtende Charakter einer solchen „Aufgabe“, d.h.
ihr inhärentes Bedeutungskonzept, wird aufgespannt durch die Frage nach der Artifizialität von
„Aufgaben“ unter dem Primat eines Zeitkonzepts: Eine „Aufgabe“ ist erst durch die Fähigkeit zu
vorausplanendem Denken bzw. der chronologischen Approximation von Abläufen und deren
Umsetzung sowie einem damit einhergehenden Zeitkonzept (Bearbeitung durch den Menschen ->
Artifizialität), d.h. durch Intelligenz, als etwas definiert, das „Vorbereitung“ verlangt. Eine Aufgabe ist
somit Aktion statt Reaktion. Der „quälende“ Charakter des Lebens ergibt sich in erster Instanz somit
aus unserer Fähigkeit zu komplexerem Denken und in einem zweiten Schritt aus der zeitlichen
Diskrepanz, die bei der Umsetzung von komplexen Konzepten in die Wirklichkeit entstehen24. Da jede
bewusste Tätigkeit, welche sich durch diese Prozesshaftigkeit auszeichnet, „Aufgabe“ ist, die in die
Umwelt (Bedürfnisse, Soziale Wirklichkeit) eingebettet und somit auch von ihr beeinflusst ist, wird
ebenso das Denken selbst Aufgabe: Für den Menschen kann keine Tätigkeit als natürlich bezeichnet
werden, da die Fähigkeit zu Denken ihn zwar zum einen ein Stück weit von der bloßen Reaktion
befreit25, ihm zum anderen jedoch ein Bewusstsein für Prozesshaftigkeit bzw. Zeitlichkeit ermöglicht,
welches ihn dem Bedürfnis zum „Bereitsein“ unterwirft. Die nicht endende „Vorbereitung“, die der
dargestellten Logik nach jede zielgerichtete Denkbewegung darstellt, lässt den Menschen daher
„unter die Räder“ kommen ohne, dass er darauf vorbereitet sein kann.
Das hieraus entstehende Paradox einer niemals abschließbaren Vorbereitung zeigt in Kienlechners
Paradigma eine Unzulänglichkeit an, die Kafkas Welt-Bereich eigen ist: Zeitlichkeit. Diese
Unzulänglichkeit betrifft wie oben dargestellt auch das Denken selbst, womit im Paradigma
Kienlechners interpretiert werden muss, dass die Zeitlichkeit des Denkens zum einen Voraussetzung
für Erkenntnis ist, es zum anderen nicht qualifiziert, um Wahrheit direkt zu erkennen, sondern nur
negativ über Indizien zur Wahrheit führt. Befreit von seiner Unzulänglichkeit bzw. seinem Gegenteil
(hier vor Allem Zeitlichkeit) würde sich das Paradox aufheben und Denken könnte zu (positiver)
Erkenntnis werden. Da dies jedoch nicht möglich ist, muss die Unterwerfung unter den Seins-Bereich
Welt die Qualität von Erkenntnisfähigkeit als negativ klassifizieren. In diesem Text findet sich somit
eine argumentative Grundlage für die Teilung der beiden Seins-Bereiche in Kienlechners-Paradigma
auf kleinster Ebene.
Der zweite Satz der Reflektion lässt sich noch einmal als Indiz für den oben genannten
Selbstzerstörungsaspekt in Kafkas Texten lesen: Der Denkende merkt bei Beginn des oben
dargelegten Gedankenganges nicht, dass er bereits in diesem gefangen ist. Die Selbstzerstörung zur
24 Vgl. #9. 25 Vgl. #10.
10
Aufhebung des Paradoxes ist nicht zu vermeiden, wenn das quälende Gefühl des Bereitseins
wegfallen soll.
#10
„Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des
Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich
der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die
anderen von ihr überzeugen zu können), in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen
bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt
werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit
peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar
nicht so, daß man sagen könnte: »Ihm ist das Hämmern ein Nichts«, sondern »Ihm ist das Hämmern ein wirkliches
Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch
wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.
Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine
Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals
kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art
Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht,
sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des
›Wunsches‹ ergeben.“26
Der Text beginnt mit der Schilderung eines innerdiegetischen Settings in einer Ich-Erzählsituation27
über die ersten beiden Sätze, aus welchem im Anschluss eine innerperspektivische Erzählung folgt,
die sich mit dem „Wunsch“ des Erzählers auseinandersetzt „eine Ansicht des Lebens zu gewinnen
[…], in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig
mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde“. Die
Beschreibung der angesprochenen Lebensansicht, in welcher das Leben zum einen als der
Veränderung unterworfen begriffen wird („natürliches schweres Fallen und Steigen“), zum anderen
jedoch mit den Bedeutungen, die sich im kombinierten Wortfeld der Wörter „Nichts“, „Traum“ und
„Schweben“ ergeben, charakterisiert ist, kann auf die beiden Seins-Bereiche des Kienlechner-
Paradigmas übertragen werden:
Das „Fallen und Steigen“ charakterisiert das Leben als zeitlich und somit primär dem Seins-Bereich
Welt zugehörig. Das oben angesprochene kombinierte Wortfeld kann als Einbettung des
Unteilbarkeitsaspektes und somit eines Wahrheitspartikels in den Seins-Bereich Welt interpretiert
werden, von einem abstrakten unteilbaren Konzept („Nichts“) über ein Symbol für Bewusstsein in
26 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 212f. 27 Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München, 2009, S. 92.
11
einem Grenzbereich zur Realität („Traum“) zu einem Gefühl („Schweben“)28. Der Erzähler konstruiert
hier somit ein Gedankenspiel, in dem eine Unzulänglichkeit, die ihre Ursache in der Welt selbst hat
(Denken als weltlicher Prozess) durch Suche nach einem Zugang zur Wahrheit (Erkenntnis), welcher
im von Kienlechner aufgestellten Paradigma nur negativ hergestellt werden kann, abgemildert oder
behoben werden soll und stellt somit ein Paradox auf, welches durch Übertragung auf ein folgendes
Beispiel noch weiter zugespitzt wird.
Die Bedeutung der Tätigkeit „Hämmern“ soll im Gedankenspiel um den Wahrheitspartikel
Unteilbarkeit („Nichts“)erweitert werden, wodurch diese Tätigkeit „noch wirklicher und […] noch
irrsinniger“ würde, da sie von ihrem Gegenteil befreit wäre. Die hiermit einhergehende
Gleichzeitigkeit der Dinge kann als Bedeutungszerlösung durch Bedeutungserweiterung um jede
andere Bedeutung für das Gedankenmodell des Erzählers verstanden werden. Die Unvereinbarkeit
der beiden Seins-Bereiche tritt hervor („irrsinnig“) und fordert die Auflösung des Paradoxes im
abschließenden Absatz:
Die Erzählsituation wechselt zu einer personalen Erzählsituation und der Erzähler wird vollends zum
Reflektor („er“). Der Wechsel ergibt sich als Notwendigkeit aus der Auflösung des Paradoxes für eine
Entität, die dem Seins-Bereich Welt inhärent ist. Die Person, welche der Reflektor zum Zeitpunkt der
Erzählung ist muss sich, da er im Seins-Bereich Welt Veränderung unterliegt, von der Person, die das
Gedankenmodell entworfen hat, unterscheiden, welcher Wahrheit (Konzept von „Nichts“ als
Wahrheitspartikel) nur als durch Selbstzerstörung bzw. den Tod erreichbar erkannt hat - da dieser
negativ von einem Standpunkt ohne Ich her bestimmt ist29 - indem er durch das Gedankenmodell
einen Bedeutungsraum zwischen Denken und Fühlen aufgespannt hat30 und somit eine Annäherung
an Wahrheit abseits einer Zerstörung des Ich möglich ist. Die Erkenntnisfähigkeit hierzu hat der
Reflektor bereits von Beginn an, jedoch hindern ihn soziale Einbindungen an der Wahrnehmung von
Erkenntnis, da er die Bedeutungsverengung, die die „Autorität“ bzw. Gesellschaft vornimmt, vorerst
noch aufbrechen muss, um wieder Erkenntnisfähig zu werden ( - teleologische Bedeutungsmuster
sollen abgelegt werden). Hieraus gewinnt die Aussage „ […]und – das war allerdings notwendig
verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können[…]“ zum einen ironischen
Charakter, da es um den Wunsch einer reproduzierten Verklärung der Erkenntnisfähigkeit geht, zum
anderen setzt Kafka mit dem vorliegenden Text exakt die vom Erzähler gewünschte Fähigkeit um,
indem er dem Leser über das Paradox ein Aufbrechen von Bedeutungen ermöglicht, auf welchem
28 Vgl.: „Besondere Methode des Denkens. Gefühlsmäßig durchdrungen. Alles fühlt sich als Gedanke, selbst im Unbestimmtesten.“ – Kafka, aus: Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S.714. 29 Vgl.: „[…] es würde mir genügen knapp neben mir zu stehen, es würde mir genügen, den Platz auf dem ich stehe als einen anderen erfassen zu können“ - Kafka, Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S. 710. 30 Ebenda, S. 714.
12
sich Erkenntnis als Negativ abbilden kann31. Jedoch ist dieser Prozess nur eine Symptombehandlung,
„eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit“, wie oben beschrieben, jedoch nicht
die Lösung (Selbstzerstörung).
#9
„Er sieht zweierlei: das Erste ist die ruhige, mit Leben erfüllte, ohne ein gewisses Behagen unmögliche
Betrachtung, Erwägung, Untersuchung, Ergießung. Deren Zahl und Möglichkeit ist endlos, selbst eine Mauerassel
braucht eine verhältnismäßig große Ritze, um unterzukommen, für jene Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz
nötig, selbst dort, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdringend, noch zu Tausenden und
Abertausenden leben. Das ist das Erste. Das Zweite aber ist der Augenblick, in dem man vorgerufen Rechenschaft
geben soll, keinen Laut hervorbringt, zurückgeworfen wird in die Betrachtungen usw., jetzt aber mit der
Aussichtslosigkeit vor sich unmöglich mehr darin plätschern kann, sich schwer macht und mit einem Fluch
versinkt.“
Charakteristisch für diesen Text ist eine Darstellung, in welcher sich zwei Betrachtungen gegenüber
stehen. Die erste Darstellung lässt sich als Repräsentant für den Seins-Bereich Wahrheit im
Kienlechner Paradigma interpretieren. Es wird vom Reflektor entlang der Begriffe „Betrachtung,
Erwägung, Untersuchung, Ergießung“ eine weiterhin als „endlos“ klassifizierte Art des Denkens
vermittelt, die sich üblichen Bindungen des Seins-Bereichs Welt zu entziehen scheint. Kafka nutzt
hierfür das Bild der Mauerassel, um zu verdeutlichen, dass selbst die kleinsten Dinge einem
Mindestmaß an Begrenzung unterliegen (hier: räumliche Begrenzung), und stellt diesem die oben
angesprochene Fähigkeit zum Denken gegenüber, für welche sich auf den ersten Blick keine solchen
Begrenzungen zu ergeben scheinen, d.h. eine Fähigkeit zur Erkenntnis, die eine Verbindung zur
Wahrheit ermöglicht. Es muss im Paradigma Kienlechners an dieser Stelle ein Paradox entstehen, da
der dargestellte Wahrheitspartikel aus seiner inhärenten Bedeutung heraus nicht Teil des Seins-
Bereichs Welt sein kann, sondern nur indirekt erreicht werden kann (Auch die geschilderte Art des
Denkens ist den Dimensionen der Seins-Bereichs Welt unterworfen). Die Zweite Betrachtung grenzt
die Fähigkeit zur Erkenntnis somit wieder ein und unterwirft sie den Notwendigkeiten des Seins-
Bereichs Welt, in welchem Pragmatismus und Zeitlichkeit bestimmende Momente sind. Die
Unvereinbarkeit des Lebens mit der Wahrheit muss für den Reflektierenden zur „Aussichtslosigkeit“
(Zweigeteilt: Aussichtslosigkeit mit einem solchen Denken im Seins-Bereich Welt zu bestehen und
Unvermeidbarkeit des Todes, d.h. Verlust von Unbefangenheit) führen, derer er mit Resignation 31 Vgl. Ebenda, S. 715.: „Die Umkehrungen und Ablenkungen, denen Kafka seine Denkfiguren und Bilder unterwirft, sind nicht als der verzweifelte Versuch, das Ich aus der Verknüpfung der Dinge – die es verwirrt –herauszudrängen, und diese damit ins „Reine, Wahre, Unveränderliche“ zu heben. (TGB 534) Dass dieses „Herausdrängen“, die Antwort auf das Ja und Nein, das er zu sagen hätte, nichts anderes sein konnte, als der Tod, hat Kafka verzweifeln lassen; nur das Schreiben ahnte er so etwas wie eine Möglichkeit des „Herausspringens“, einen Ausweg, der nicht der Tod war.“
13
begegnen muss (Selbstzerstörungsaspekt). Dass diese Einbettung von Kafka als „Rechenschaft
ablegen“ betitelt wird, lässt die Interpretation zu, dass auch die Mechanismen der Gesellschaft für
eine Unterdrückung von Erkenntnisfähigkeit verantwortlich gemacht werden und die Begrenzung
von Erkenntnisfähigkeit ihren Grund zwar in seiner Verankerung im Seins-Bereich Welt hat,
menschliche Bedeutungseingrenzungen dies jedoch noch verstärken.32
#2
„Alles, was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle
des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der
Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle
Tiefen hinunter abbrechend. Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um sich.“33
Der Text baut auf der Erkenntnisfähigkeit des Reflektors auf, welche durch eine Art des Denkens
gekennzeichnet ist ähnlich derer, die bereits in der Erläuterung zu Text #9 beschrieben wird: Es
existieren scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten für den erkenntnisfähigen Denker abseits weltlicher
Limitationen („unmögliche Fülle des Neuen“), somit wird abermals auf die Einbettung eines
Wahrheitspartikels in den Seins-Bereich Welt eingegangen. Die vom Reflektor erwarteten
Fähigkeiten müssen jedoch ausbleiben. Grund ist in Kienlechners Paradigma die Unvereinbarkeit der
beiden Seins-Bereiche, die sich im Text durch die Feststellung des Reflektors, dass die Überführung
seiner Gedanken in die Realität nur zu „dilettantisch[en]“ Resultaten führt, äußert. Die Ursache
hierfür lässt sich folgendermaßen Mutmaßen: Die Unüberführbarkeit von bestimmten Wahrheits-
Konzepten in den Seins-Bereich Welt, resultierend aus der negativen Definition des einen aus der
anderen, müsste die Gesetze der Realität sprengen, da sie die Grenzen zwischen den Dimensionen
(Die Befreiung Gegenteile) aufzuheben hätte. D.h. selbst wenn es möglich wäre, würde eine
Zerstörung jeglicher Bedeutungen dies hinfällig machen. Somit hat der Reflektor unter der
Gebundenheit an die Zeit zu leiden („Unmögliche Fülle des Neuen“). Der letzte Satz geht noch einmal
auf das gefühlte Paradox ein: Der Reflektor verleugnet „manchmal“, dass er selbst Teil der Welt ist
und nimmt sich aus der Gleichung heraus, um im Sinne der Erkenntnis ein Paradox erzeugen zu
können, welches ihm einen negativen Eindruck von Wahrheit ermöglicht, kurz bevor er wieder
erkennen muss, dass das Paradox nur Mittel zum Zweck ist und er sich die Wahrheit nicht zu eigen
32 Vgl. #10: „sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum täuschen lassen“, aus: Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 214. 33 Ebenda, S. 210.
14
machen kann (Unteilbarkeit), sondern lediglich fähig ist sie zu approximieren. Diese Approximation
bedeutet im Seins-Bereich Welt jedoch immer noch keine Befreiung vom Gegenteil, sondern diese ist
nur mit der Zerstörung des Ich zu erreichen (für den Reflektor als auch den Rest der Welt).
#19
»Du machst aus Deiner Not eine Tugend.«
»Erstens tut das jeder, und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe
nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«
»Daraus eben machst du deine Tugend.«
»Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur deinetwegen. Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme
ich Schaden an meiner Seele.«34
Bei diesem Text handelt es sich um den einzigen Dialog in den „Er“-Texten. Die Dialog-Struktur bringt
ein innerdiegetisches Setting und sogleich eine verstärkte Verankerung des Dargestellten in den
Seins-Bereich Welt mit sich und bricht mit der ansonsten typischen personalen Erzählsituation eines
unbekannten Reflektors. Dennoch weist auch dieser Text reflektierende Elemente auf, die sich aus
den verschiedenen Bedeutungen, die dem Konzept „Tugend“ im Kontext des Dialogs zuweisbar sind,
ergeben. Beginnend mit dem vom ersten Sprecher genannten Sprichwort „Aus seiner Not eine
Tugend machen“, d.h. eine schlechte Lage positiv für sich nutzbar zu machen“, entwickelt der zweite
Sprecher ein Paradox: Jeder Mensch tue dies und gerade er tue dies nicht (Obwohl er Teilmenge von
„Jeder Mensch“ ist). Die Integration des Textes in Kienlechners Paradigma lässt ein Aufbrechen des
Paradoxes, welches auf der Kumulation einer Oberflächenbedeutung und einer Tiefenbedeutung von
„Aus seiner Not eine Tugend machen“ im Erkenntnis-Kontext in eben diesem Sprichwort beruht, zu,
indem das „in einem fiebrigen Dunst [leben]“ als Verbleib des Menschen im Seins-Bereich Welt
interpretiert wird, welcher durch Leiden als Ausdruck seiner Negativität definiert ist (s.o.). Hierzu hat
sich jeder Mensch bewusst oder unbewusst entschieden („Erstens das tut jeder“). Das Nicht-
Tätigwerden hin zu einer Verbesserung der eigenen Lage (Erreichen von Wahrheit) durch
„Trockenlegung der Sümpfe“ (Selbstzerstörungsaspekt) lässt schließen, dass der zweite Sprecher
diese Entscheidung im Gegensatz zu anderen bewusst getroffen hat: Der zweite Sprecher ist zu
Erkenntnis fähig. „Aus seiner Not eine Tugend machen“ hat für ihn eine andere Bedeutung als für
„jeden“ anderen, da es für ihn nicht mehr bedeutet sich im „Seins-Bereich“ Welt zu arrangieren,
sondern durch Selbstzerstörung aus diesem herauszutreten, weil ihm als zur Erkenntnis fähiger
34 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S.215.
15
Person die Unvereinbarkeit der beiden Seins-Bereiche bereits bewusst ist. Den Grund hierfür
schildert der erkenntnisfähige Sprecher in seiner zweiten wörtlichen Rede als soziale Verpflichtung
gegenüber dem ersten Sprecher („Damit du freundlich zu mir bleibst nehme ich Schaden an meiner
Seele“).
Der zweite Satz des ersten Sprechers führt den in diesem Gedanken angestoßenen Charakter von
Erkenntnis im Zusammenspiel mit Sozialität noch weiter. Meiner persönlichen Interpretation nach
wird hier ausgesagt, dass genau dieses Verweilen des zweiten Sprechers im Seins-Bereich Welt - trotz
Fähigkeit zur Erkenntnis – ein Schöpfen von Tugend aus Not darstellt, da die Selbstzerstörung ein
Beheben der Not (Leben im Seins-Bereich Welt) darstellen würde und nicht ein mit ihr Leben. Der
erste Sprecher verdeutlicht dem zweiten Sprecher hierzu gleichzeitig, dass er nicht alleine der
Erkenntnis unterworfen ist. Mit dem Satz „Wie jeder, ich sagte es schon.“ nimmt Kafka noch einmal
ironischen Bezug auf die mangelnde Präzision der Sprache, indem er den zweiten dem ersten
Sprecher durch Wiederholung einer ursprünglich auf die Oberflächenbedeutung des Sprichwortes
bezogenen Bedeutung anzeigen lässt, dass er nun die Tiefenbedeutung des Sprichwortes verstanden
hat und die Verbindung zu einer anderen Erkenntnisfähigen Person, wichtiger als das schlussendlich
ohnehin unausweichliche übertreten in den Seins-Bereich der Wahrheit ist, womit Welt somit
Elemente enthält, die sich im anderen Seins-Bereich nicht gleichwertig wieder finden lassen
(Diversifizierung durch Differenzierung). In diesem Text findet sich innerhalb der „Er-Texte“ eine als
positiv interpretierbare Äußerung über die Sozialität des Menschen, die ihn nicht nur von Erkenntnis
abhält, sondern Erkenntnis als verbindendes menschliches Element schildert.35 Eine positive Wertung
von Sozialität findet sich ansonsten nur noch in Text #13.
#29
„Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg
nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn
nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn doch
zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst,
und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten
Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und
wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.“36
Der Schlüssel zu diesem Text ergibt sich aus den Eigenschaften der beiden Gegner, die als
Repräsentation der beiden Seins-Bereiche betrachtet werden können. Übersetzt man die räumlichen
35 Vgl.: #9, #10. 36 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S.217f.
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Dimensionen des vom Reflektor geschilderten Bildes in eine zeitliche Interpretation, so drängt der
erste Gegner zu Veränderung. Das Ziel des zweiten Gegners ist es jegliche Veränderung rückgängig zu
machen. Im Paradigma Kienlechners kann der erste Gegner als Repräsentant für den Seins-Bereich
Welt interpretiert werden, welcher sich durch zeitliche, räumliche etc. Ausdifferenzierung definiert,
der zweite Gegner als Repräsentant für den Seins-Bereich Wahrheit, welcher durch Lösung von
jeglichen Dimensionen charakterisiert ist. Die Frage „wer kennt eigentlich seine Absichten“ in Bezug
auf die Reflektorfigur, ist als Kommentar hinsichtlich von Erkenntnis zu verstehen: Da er keinen
direkten Einblick in die Wahrheit hat, sondern sich nur Bilder von dieser im Rahmen seiner
Erkenntnisfähigkeit machen kann, welche weiter oben als negativ definiert wurde37, entsteht für den
Reflektor die Frage für welchen Seins-Bereich er sich entscheiden soll, d.h. die Frage nach der
Selbstzerstörung, die am Ende der Wahrheitssuche stehen muss: Die Wahrheit hält den Menschen
vom Leben ab und das Leben drängt den Menschen wiederum in Richtung der Wahrheit38. Zur
Vereinbarkeit der beiden konstruiert der Reflektor eine Situation, in welcher das Ich sich von seiner
Position löst und aus dem Konflikt heraustritt, um diesen von außen bewerten zu können („aus der
Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander
kämpfenden Gegner erhoben wird“)39 und abseits beider Seins-Bereiche zu existieren.
Neu in diesem Text ist eine klare Gleichbewertung der Seins-Bereiche gegenüber einer sonst üblichen
Einschränkung des Menschen durch den Seins-Bereich Welt und das diesen qualifizierende Leiden
und somit eine Neubewertung der Reichweite der eigenen Erkenntnisfähigkeit in Hinsicht auf die
Bewertung der beiden Seins-Bereiche.
#17
„Er will keinen Trost, aber nicht deshalb, weil er ihn nicht will, – wer wollte ihn nicht, sondern, weil Trost suchen
heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum
mehr zu wissen, für wen man Trost sucht, und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden,
wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt.“40
Kafka schafft in diesem Text seinen Raum zwischen Denken und Fühlen entlang des Begriffes „Trost“
und dem Spiel mit den Bedeutungen dieses Begriffes als auch den Bedeutungsräumen, die die
37 Vgl. #1. 38 Endgültig wird dies also entschieden, wenn der Mensch sich im Sinne der Wahrheit gegen Veränderung, d.h. für die Selbstzerstörung entschieden hat, oder das Leben ihn am Ende in die Wahrheit drängt (ich würde dieses Bild als natürlichen Tod interpretieren). 39 Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S. 710. 40 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 214f.
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unterschiedlichen Konnotationen in Zusammenspiel mit der Frage nach dem Sinn und der Funktion,
die „Trost“ für den Reflektor haben kann.
„Trost“ gemeingebräuchlich interpretiert als „Milderung von Leiden41“ ist in Kienlechners Paradigma
in erster Hinsicht als eine Verschleierung von Wahrheit zu verstehen,42 da Erkenntnis weitgehend von
Leid als negativem Anzeiger im Seins-Bereich Welt für den Seins-Bereich Wahrheit abhängig ist (s.o.).
Dieser Interpretation folgend argumentiert der Reflektor, dass das Erkennen der Unzulänglichkeit der
eigenen Existenz fundamentaler Bestandteil eben dieser ist und die oben angesprochene
Verschleierung von Erkenntnis dem Menschen den einzigen „wirksamen“ Trost, welcher hiernach das
erschaffen eines Konzeptes von Wahrheit durch das Individuum ist, versagt43. Die Differenzierung
von „wirksamem“ und „wahrem“ Trost dient noch einmal der Verdeutlichung der Unvereinbarkeit
der beiden Seins-Bereiche: Wahrheit kann im Seins-Bereich Welt nicht erreicht werden. Der Logik
von Kienlechners Paradigma folgend würde das Erreichen von Wahrheit Trost ohnehin obsolet
machen. Der Teilsatz, „[…] weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben zu widmen, am Rande
seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen für wen man Trost sucht
[…]“ der sich auf die Unmöglichkeit des Erreichens von „wirksamem“ Trost bezieht, begründet sich
darin, dass für den Seins-Bereich Welt Leid konstituierendes Element ist, welches sich folglich in
jedem Aspekt dessen zu äußern hat, sodass Erkenntnis schlussendlich nicht vermeidbar ist.
Eine andere Interpretation setzt noch einmal an der Differenzierung von „wahrem“ und
„wirksamem“ Trost an. „Wahrer Trost“ wird als im Seins-Bereich Welt nicht zu erreichen geschildert
(Wahrheit ist unteilbar) und „wirksamer Trost“ als Vorstufe zu eben jenem ursprünglich gesetzten
Ziel, nachdem die Unerreichbarkeit des ersteren sich herausstellt („nicht einmal imstande zu sein“):
wirksamer Trost stellt den Weg zur Wahrheit, d.h. im Seins-Bereich mögliche Approximation, und
somit Erkenntnis dar. Diese Prämisse ändert nun wiederum den Kontext für das Verständnis des
Resttextes. Die Suche nach Erkenntnis kann nun selbst als entrückendes Moment verstanden
werden, d.h. aus weltlichen Zusammenhängen entrückend (z.B. sozialen Beziehungen usw.), welches
ein „Leben“ im Seins-Bereich Welt nicht möglich macht und zu einer Aufgabe des Selbst zugunsten
des vergeblichen Erreichens von Wahrheit („kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht“) führt:
Das Existenz-Paradox lässt sich lediglich durch die Selbstzerstörung beheben.
41 http://www.duden.de/rechtschreibung/Trost 42 Vgl.: „Das Leiden ist das positive Element dieser Welt, ja es ist die einzige Verbindung zwischen dieser Welt und dem Positiven“, aus: Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.29. 43 Voraussetzung für diese Interpretation ist ein unbewusstes Gefühl für die Unzulänglichkeit der Existenz. Vgl. Aphorismus Nr. 50: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdruckmöglichkeiten dieses Verborgen-Bleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.“, aus: Aphorismus 97, aus: Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006, S.61.
18
Die Spannung zwischen der Unausweichlichkeit der Suche nach Erkenntnis im Leben eines
Individuums und der wiederum lebensverneinenden Forderung eben dieser ist die
Paradigmenerweiterung, die dieser Text mit sich bringt.
#14
„Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als
lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie, die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die
er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser
unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.“44
Gliedert man diesen Text in Kienlechners Paradigma ein, so ergeben sich zwei Motive, die sich den
jeweiligen Seins-Bereichen zuweisen lassen. Auf der einen Seite findet sich das Gebunden-Sein des
Reflektors an eine „unbekannte Familie“ dem auf der anderen Seite ein Bedürfnis des Entlassen-
Werdens gegenübersteht. Der Reflektor spezifiziert nicht genauer wohin er entlassen werden
möchte, doch lässt sich gerade deswegen interpretieren, dass hier auf den von Kienlechner
herausgearbeiteten Selbstzerstörungsaspekt Bezug genommen wird: Das Ziel, in das der Reflektor
entlassen zu werden anstrebt, ist der Seins-Bereich Wahrheit und somit ohnehin kein in
Begrifflichkeiten des Seins-Bereichs Welt (Repräsentant ist die „unbekannte Familie“) fassbares
Konzept. Es geht lediglich um den Akt der Befreiung vom Gegenteil, d.h. der Weltlichkeit, in diesem
müssen dem Unteilbarkeitskonzept entsprechend Weg und Ziel deckungsgleich sein.
Die Rede von einem „unbekannten Gesetz“ lässt sich als Entrückung des Reflektors aus den
weltlichen Bezügen verstehen, in die er als Teil des Seins-Bereichs Welt noch eingebettet ist, die er
jedoch bereits hinter sich gelassen hat und die im Text eine Ausdifferenzierung der Begriffe „Leben“
und „Denken“ nach sich ziehen: Die Lebens- und Denkmuster, denen er folgt, sind nicht die eigenen,
sondern die Anderer, welche noch Teil des Seins-Bereichs Welt sind. Diesem Gegenüber steht sein
persönliches Lebens- und Denkmuster, welches in Abgrenzung zu Ersterem als erkenntnisgeleitet zu
verstehen ist und danach strebt sich von den Bezügen des Seins-Bereichs Welt zu lösen („Er lebt nicht
wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens“).
Charakteristisch für diesen Text ist somit das Gefühl von einem unfreiwilligen, da nicht
nachvollziehbarem, Gebunden-Sein an den Seins-Bereich Welt durch eine soziale Einbindung des
Reflektors, in der im Vergleich zu Text #19 Erkenntnis jedoch nicht als verbindendes Moment
zwischen den Menschen verstanden wird, sondern als entfremdendes.45
44 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 213f 45 Vgl. #13: Hier wird die Entfremdung vom Seins-Bereich Welt noch mit einer gewissen Melancholie betrachtet, die der Reflektor als „Lebenskraft […] selbst“ beschreibt. Die Ambivalenz der Entrückung zum Seins-Bereich Welt und der Stellung des Reflektors zu dieser, könnten ihren Grund in der nur negativ zu erreichenden
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#3
„Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war
ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zu Hause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der
Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entging ihm draußen, selbst
verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen
war er.“46
In diesem Text behandelt Kafka die Suche nach einem Zugang zum Seins-Bereich Wahrheit aus dem
Seins-Bereich Welt heraus in der verschiedenen Bearbeitung und Weiterentwicklung des zweideutig
verwendeten Bildes vom Menschen als Gefangener. Ganz im Sinne Kienlechners muss auch hier
wieder die eigentliche Bedeutung negativ aus dem aufgebauten Paradox konstruiert werden. Der
Gefangene wird, da er abgeschnitten von den Begrifflichkeiten und eindimensionalen Bedeutungen
einer außerhalb seiner Zelle existierende Gesellschaft bzw. Welt ist und sich somit ohne die sich
hieraus ergebenden Begrenzungen47 auf Erkenntnisgewinn konzentrieren könnte, in seiner
Erkenntnisfähigkeit nicht eingeschränkt. Es würde somit ein Raum abseits von den Einflüssen des
Seins-Bereichs Welt geschaffen werden, der in seinem Idealzustand einen Wahrheitspartikel
approximiert. Dieses Bild eines Wahrheitspartikels wird von Kafka nun zu einem zum Seins-Bereich
Welt durchlässigen Konzept des Gefangenseins umgebaut („[…] der Gefangene war eigentlich frei, er
konnte an allem teilnehmen […]“). Das Bild wandelt sich von einer Exklusion des Selbst zugunsten der
Erkenntnisgewinnung zu einem Gefangensein im Sinne der Wahrheitssuche durch die Einbettung in
einen Welt-Kontext („Käfig“), um sich anschließend einer Befreiung des Selbst aus auch eben diesem
zuzuwenden („Die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen war er“).
Im in dieser Arbeit verwendeten Paradigma ist dieser letzte Schritt als Repräsentant für den oben
ausgeführten Selbstzerstörungsaspekt anzusehen.
Die Besonderheit des Textes ist somit die Veranschaulichung der Befreiung des Selbst vom Seins-
Bereichs Welt und der notwendigen Erkenntnisse, die hierfür notwendig sind: Abschottung zur
Bewahrung und zum Ausbau der Erkenntnisfähigkeit, Erkennen der Eingrenzung und Hinderung
durch den Seins-Bereich Welt und anschließend die Erkenntnis einer Möglichkeit zur
selbstbestimmten Befreiung aus weltlichen Zusammenhängen.
Erkenntnis und dem damit verbundenen Zweifel haben, welcher sich zwangsläufig aus der Negativität und somit Fehlbarkeit von Erkenntnis begründet, der der Mensch als Teil des Seins-Bereichs Welt unterliegt (vgl.: „[…]wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“ (s.o.)). 46 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 210. 47 Vgl. #14, #18.
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4. Fazit
Im Rahmen der Analyse haben sich 5 wesentliche Gegensatzpaare herauskristallisiert, die sich
entlang der beiden Seins-Bereiche arrangieren lassen. Für das Verständnis ist jedoch fundamental,
dass es sich bei diesen Gegensatzpaaren um Idealtypen handelt, die durch Interpretation der von
Kafka in seinen Texten geschaffenen Bedeutungsräume entstanden sind und eine Zuspitzung einer
Vielzahl von hervorgerufenen Assoziationen darstellen. Ein einzelner Text weist somit stets mehrere
Gegensatzpaare auf, die auch von den im Folgenden vorgestellten Idealtypen abweichen müssen48
und auch indirekt ihre Repräsentation im Erkenntnis-Paradigma haben können.
Ein erstes Gegensatzpaar beschäftigt sich mit Zeitlichkeit auf der Seite des Seins-Bereichs Welt und
Zeitlosigkeit auf der Seite des Seins-Bereichs Wahrheit, dieses Charakteristikum wurde von
Kienlechner bereits herausgearbeitet (s.o.) und findet sich in den Texten #1, #8, #23, #25 und #29.
Auf eine neue Grundlage wird in den Er-Texten die in der Analyse zu Text #1 herausgearbeitete
Artifizialität des Denkens selber gestellt, die sich aus der Prozesshaftigkeit einer jeden Tätigkeit ergibt
und die Negativität der Erkenntnis rechtfertigt, sich jedoch bereits in Aphorismus Nr. 80 findet („Es
gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen;
wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“49). Das Gegensatzpaar „Zeit vs. Zeitlosigkeit“ scheint somit die
wesentlichste Unterscheidung zwischen den Seins-Bereichen zu sein. Vor allem da Denken in seinem
Prozess selber weitgehend von anderen Dimensionen befreibar zu sein scheint (z.B. der
Räumlichkeit).50
Das zweite Gegensatzpaar besteht aus den Konzepten „Realität“ auf der Seite des Seins-Bereichs
Welt und „Fähigkeit des Denkens“ als Repräsentant des Seins-Bereichs Wahrheit, da sich in diesem
eine gewisse Befreiung von Dimensionen bzw. Gegenteilen ermöglicht oder zumindest eine
Verquickung dieser (Abstraktion von Zeit). Maßgebend ist dieses Gegensatzpaar in den Texten #1, #6,
#7, #9, #11, #20, #22 und #26. Dieses Gegensatzpaar ist in der Abgrenzung seiner Pole wesentlich
durch das erste Gegensatzpaar dominiert. Die Wechselwirkungen zwischen den Polen sind in den
Texten meist durch eine Dominanz des Poles „Realität“ gekennzeichnet. Dies hat seinen Grund in der
von diesem Pol ausgehenden Definitionskraft der benutzten Begrifflichkeiten (Der Mensch ist Teil der
Realität und hat sich mit dieser zu arrangieren), von denen sich Kafka mit seiner Kunst zu lösen
versucht51 und auf der anderen Seite der Unüberführbarkeit (als extrem) von vom Seins-Bereich Welt
48 Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S. 714. 49 Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006, S.89. 50 Vgl. #9. 51 Vgl.: „Besondere Methode des Denkens. Gefühlsmäßig durchdrungen. Alles fühlt sich als Gedanke, selbst im Unbestimmtesten.“ – Kafka, aus: Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S.714.
21
gelöster Konzepte in eben diesen. Hieraus resultiert das Gefühl des Gefangenseins, welches sich z.B.
in Text #6 äußert und somit eng mit dem Gegensatzpaar „Eingrenzung vs. Freiheit“ verbunden ist,
das sich in den Texten #2, #3, #4, #5, #15, #17, #20, #27 und #29 finden. Es werden in den Er-Texten
vor allem die Erkenntnis der Unfreiheit behandelt (#6), die Rolle des Selbst in diesem Kontext (z. B.
#4, #5 oder #29) und der Prozess der Befreiung (#3), welcher eng mit dem Gegensatzpaar „Leben vs.
Tod“ verbunden ist und sich hier als logische Forderung aus dem Erkenntnisgewinn ergibt. Bedingt
durch die Negativität der Erkenntnis und damit verbundener Unmöglichkeit des Erreichens von
Wahrheit während des Lebens ergeben sich in den analysierten Texten jedoch auch zweifelnde
Momente gegenüber der Selbstzerstörung (#752), während ansonsten die Einschränkung des Selbst
durch das Gebundensein ans Leben vorherrscht. Leitendes Motiv ist dieses Gegensatzpaar unter
anderem in den Texten #3, #4, #5, #19 #22, #23, #24 und #28.
Das letzte Gegensatzpaar „Gesellschaft vs. Individuum“ ist im Grunde eine Sonderform des
Gegensatzpaares „Eingrenzung vs. Freiheit“. Indem es sich jedoch um ein das menschliche Leben
stark dominierendes Phänomen handelt, wird es in den Texten zu einem eigenen Leitmotiv. In den
meisten Texten des Er-Konvoluts wird das Erkenntnisgeleitete Individuum von den Verpflichtungen,
die die Gesellschaft an es stellt, zurückgehalten bzw. behindert im Sinne einer Erkenntnisgewinnung
(#12) oder in Hinblick auf die Selbstzerstörung (#14). Eine gesonderte Position nimmt hier Text #19
ein, in welchem Sozialität von zwei sich gegenseitig als erkenntnisgeleitete Personen erkennenden
Individuen zur Aussetzung der Selbstzerstörung führt. Das Gegensatzpaar findet sich in den Texten
#3, #9, #10, #11, #12, #13, #14, #18, #19, #21 und #23.
Schlussendlich denke ich, dass Kienlechners-Paradigma sehr gut geeignet ist, um auf die Texte des Er-
Konvoluts angewendet zu werden, da diese inhaltlich in enger Verwandtschaft zu den anderen
meditativen Texten Kafkas stehen, vor allem den Aphorismen. Die von Kafka zur Darstellung seiner
Gedanken genutzten Bilder unterscheiden sich zwar, jedoch lassen sich die wesentlichen Konzepte
sowie die Kafka beschäftigende Problematik von zwei Weisen des Seins oder Seins-Bereichen
wiederfinden. Die hervorragende Leistung des Paradigmas ist somit einen Bezugsrahmen für fast
jede Aussage eines jeweiligen Textes zu schaffen, der ein tieferes Verständnis der Komplexität von
Kafkas Gedankenspielen und eine bessere Entfaltung der von Kafka aufgespannten Bedeutungen und
Konzepte ermöglicht, d.h. ein tiefgreifendes Verständnis schafft.
Dem gegenüber steht natürlich das von Kafka angestrebte Ziel ein Denken entfernt von
vorkonzipierten Bedeutungen zu schaffen, d.h. den oben bereits des Öfteren erwähnten Raum
zwischen Denken und Fühlen. Die von Kafka mutmaßlich gewünschte Leichtigkeit und Natürlichkeit
der erweckten Assoziationen wird somit eingegrenzt.
52„Jammer“ als Repräsentant für Welt, „Sonne“ als Repräsentant für Wahrheit interpretiert.
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Literaturverzeichnis
Bücher
Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München, 2009.
Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006.
Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984.
Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem
Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981.
Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“, In: DVjs 42
(1968), S. 702-744.
Internetquellen
http://www.duden.de/rechtschreibung/Trost
Anhang:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-aphorismen-166/3
23
Anhang
Er – Aufzeichnungen aus dem Jahr 1920
#1
Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augenblick Bereitsein verlangt, Zeit sich vorzubereiten, und selbst wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt, das heißt, kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merkwürdiger- aber auch tröstlicherweise war er darauf am wenigsten vorbereitet.
#2
Alles, was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle Tiefen hinunter abbrechend. Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um sich.
#3
Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zu Hause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entging ihm draußen, selbst verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen war er.
#4
Er hat das Gefühl, daß er sich dadurch, daß er lebt, den Weg verstellt. Aus dieser Behinderung nimmt er dann wieder den Beweis dafür, daß er lebt.
#5
Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg, an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig.
#6
Er fühlt sich auf dieser Erde gefangen, ihm ist eng, die Trauer, die Schwäche, die Krankheiten, die Wahnvorstellungen der Gefangenen brechen bei ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben nur Trost ist, zarter kopfschmerzender Trost gegenüber der groben Tatsache des Gefangenseins. Fragt man ihn aber, was er eigentlich haben will, kann er nicht antworten, denn er hat – das ist einer seiner stärksten Beweise – keine Vorstellung von Freiheit.
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#7
Manche leugnen den Jammer durch Hinweis auf die Sonne, er leugnet die Sonne durch Hinweis auf den Jammer.
#8
Die selbstquälerische, schwerfällige, oft lange stockende, im Grunde doch unaufhörliche Wellenbewegung alles Lebens, des fremden und eigenen, quält ihn, weil sie unaufhörlichen Zwang des Denkens mit sich bringt. Manchmal scheint ihm, daß diese Qual den Ereignissen vorhergeht. Als er hört, daß seinem Freund ein Kind geboren werden soll, erkennt er, daß er dafür schon als früher Denker gelitten hat.
#9
Er sieht zweierlei: das Erste ist die ruhige, mit Leben erfüllte, ohne ein gewisses Behagen unmögliche Betrachtung, Erwägung, Untersuchung, Ergießung. Deren Zahl und Möglichkeit ist endlos, selbst eine Mauerassel braucht eine verhältnismäßig große Ritze, um unterzukommen, für jene Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz nötig, selbst dort, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdringend, noch zu Tausenden und Abertausenden leben. Das ist das Erste. Das Zweite aber ist der Augenblick, in dem man vorgerufen Rechenschaft geben soll, keinen Laut hervorbringt, zurückgeworfen wird in die Betrachtungen usw., jetzt aber mit der Aussichtslosigkeit vor sich unmöglich mehr darin plätschern kann, sich schwer macht und mit einem Fluch versinkt.
#10
Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können), in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: »Ihm ist das Hämmern ein Nichts«, sondern »Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.
Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des ›Wunsches‹ ergeben.
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#11
Er beweist nur sich selbst, sein einziger Beweis ist er selbst, alle Gegner besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, daß sie ihn widerlegen (er ist unwiderlegbar), sondern dadurch, daß sie sich beweisen.
#12
Menschliche Vereinigungen beruhen darauf, daß einer durch sein starkes Dasein andere an sich unwiderlegbare Einzelne widerlegt zu haben scheint. Das ist für diese Einzelnen süß und trostreich, aber es fehlt an Wahrheit und daher immer an Dauer.
#13
Er war früher Teil einer monumentalen Gruppe. Um irgendeine erhöhte Mitte standen in durchdachter Anordnung Sinnbilder des Soldatenstandes, der Künste, der Wissenschaften, der Handwerke. Einer von diesen Vielen war er. Nun ist die Gruppe längst aufgelöst oder wenigstens er hat sie verlassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht einmal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sogar vergessen, was er damals darstellte. Wohl gerade durch dieses Vergessen ergibt sich eine gewisse Traurigkeit, Unsicherheit, Unruhe, ein gewisses die Gegenwart trübendes Verlangen nach den vergangenen Zeiten. Und doch ist dieses Verlangen ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.
#14
Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie, die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.
#15
Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.
#16
Vor der Auslage von Casinelli drückten sich zwei Kinder herum, ein etwa sechs Jahre alter Junge, ein sieben Jahre altes Mädchen, reich angezogen, sprachen von Gott und von Sünden. Ich blieb hinter ihnen stehen. Das Mädchen, vielleicht katholisch, hielt nur das Belügen Gottes für eine eigentliche Sünde. Kindlich hartnäckig fragte der Junge, vielleicht ein Protestant, was das Belügen der Menschen oder das Stehlen sei. »Auch eine sehr große Sünde«, sagte das Mädchen, »aber nicht die größte, nur die Sünden an Gott sind die größten, für die Sünden an Menschen haben wir die Beichte. Wenn ich beichte, steht gleich wieder der Engel hinter mir, wenn ich nämlich eine Sünde begehe, kommt der Teufel hinter mich, nur sieht man ihn nicht.« Und des halben Ernstes müde, drehte sie sich zum
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Spaße auf den Hacken um und sagte: »Siehst du, niemand ist hinter mir.« Ebenso drehte sich der Junge um und sah dort mich. »Siehst du«, sagte er ohne Rücksicht darauf, daß ich es hören müßte, oder auch ohne daran zu denken, »hinter mir steht der Teufel.« »Den sehe ich auch«, sagte das Mädchen, »aber den meine ich nicht.«
#17
Er will keinen Trost, aber nicht deshalb, weil er ihn nicht will, – wer wollte ihn nicht, sondern, weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht, und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden, wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt.
#18
Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen. Der Mensch sieht, selbst wenn er unfehlbar wäre, im anderen nur jenen Teil, für den seine Blickkraft und Blickart reicht. Er hat, wie jeder, aber in äußerster Übertreibung, die Sucht, sich so einzuschränken, wie ihn der Blick des Mitmenschen zu sehen die Kraft hat. Hätte Robinson den höchsten oder richtiger den sichtbarsten Punkt der Insel niemals verlassen, aus Trost oder Demut oder Furcht oder Unkenntnis oder Sehnsucht, so wäre er bald zugrunde gegangen; da er aber ohne Rücksicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fernrohre seine ganze Insel zu erforschen und ihrer sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde in einer allerdings dem Verstand notwendigen Konsequenz schließlich doch gefunden.
#19
»Du machst aus Deiner Not eine Tugend.«
»Erstens tut das jeder, und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«
»Daraus eben machst du deine Tugend.«
»Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur deinetwegen. Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele.«
#20
Alles ist ihm erlaubt, nur das Sichvergessen nicht, womit allerdings wieder alles verboten ist, bis auf das eine, für das Ganze augenblicklich Notwendige.
#21
Die Enge des Bewußtseins ist eine soziale Forderung.
Alle Tugenden sind individuell, alle Laster sozial. Was als soziale Tugend gilt, etwa Liebe, Uneigennützigkeit, Gerechtigkeit, Opfermut, sind nur ›erstaunlich‹ abgeschwächte soziale Laster.
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#22
Der Unterschied zwischen dem ›Ja‹ und ›Nein‹, das er seinen Zeitgenossen sagt, und jenem, das er eigentlich zu sagen hätte, dürfte dem vom Tod und Leben entsprechen, ist auch nur ebenso ahnungsweise für ihn faßbar.
#23
Die Ursache dessen, daß das Urteil der Nachwelt über den Einzelnen richtiger ist als das der Zeitgenossen, liegt im Toten. Man entfaltet sich in seiner Art erst nach dem Tode, erst wenn man allein ist. Das Totsein ist für den Einzelnen wie der Samstagabend für den Kaminfeger, sie waschen den Ruß vom Leibe. Es wird sichtbar, ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im letzten Fall war er ein großer Mann.
#24
Die Kraft zum Verneinen, dieser natürlichsten Äußerung des immerfort sich verändernden, erneuernden, absterbend auflebenden menschlichen Kämpferorganismus, haben wir immer, den Mut aber nicht, während doch Leben Verneinen ist, also Verneinung Bejahung.
Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Absterben ist nur eine Erscheinung innerhalb der inneren Welt (die bestehen bleibt, selbst wenn auch sie nur ein Gedanke wäre), eine Naturerscheinung wie jede andere, weder fröhlich noch traurig.
#25
Die Strömung, gegen die er schwimmt, ist so rasend, daß man in einer gewissen Zerstreutheit manchmal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmitten welcher man plätschert, so unendlich weit ist man nämlich in einem Augenblick des Versagens zurückgetrieben worden.
#26
Er hat Durst und ist von der Quelle nur durch ein Gebüsch getrennt. Er ist aber zweigeteilt, ein Teil übersieht das Ganze, sieht, daß er hier steht und die Quelle daneben ist, ein zweiter Teil aber merkt nichts, hat höchstens eine Ahnung dessen, daß der erste Teil alles sieht. Da er aber nichts merkt, kann er nicht trinken.
#27
Er ist weder kühn noch leichtsinnig. Aber auch ängstlich ist er nicht. Ein freies Leben würde ihn nicht ängstigen. Nun hat sich ein solches Leben für ihn nicht ergeben, aber auch das macht ihm keine Sorgen, wie er sich überhaupt um sich selbst keine Sorgen macht. Es gibt aber einen ihm gänzlich unbekannten Jemand, der sich um ihn – nur um ihn – große fortwährende Sorgen macht. Diese ihn betreffenden Sorgen des Jemand, besonders das Fortwährende dieser Sorgen, verursachen ihm manchmal in stiller Stunde quälende Kopfschmerzen.
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#28
Am Sicherheben hindert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefühl des Gesichertseins für jeden Fall, die Ahnung eines Lagers, das ihm bereitet ist und nur ihm gehört; am Stilleliegen aber hindert ihn eine Unruhe, die ihn vom Lager jagt, es hindert ihn das Gewissen, das endlos schlagende Herz, die Angst vor dem Tod und das Verlangen ihn zu widerlegen, alles das läßt ihn nicht ruhen und er erhebt sich wieder. Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufällige, flüchtige, abseitige Beobachtungen sind sein Leben.
#29
Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.
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Erklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Hausarbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt auch für Zeichnungen, Skizzen, bildliche Darstellungen sowie für Quellen aus dem Internet.
Augsburg, den 21.10.2014
(Arndt Knoop)