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3 „Negativität der Erkenntnis“ in Kafkas Er- Texten Universität Augsburg Philologisch-Historische Fakultät Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Dozent: Friedmann Harzer Hauptseminar: Franz Kafka, ‚Zürauer Aphorismen’ 8 LP Arndt Knoop [email protected] Matrikelnummer: 1168090 Lehramt an Gymnasien, Fächer: Deutsch, Sozialkunde 8. Fachsemester Abgabe der Arbeit: 21.10.2014

Kafka, Kienlchner - Er und Negativität · Negativität der Erkenntnis – Kienlechners Welt/Wahrheit-Paradigma Das Paradigma, welches Kienlechner in ihrem Text herausarbeitet, wird

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„Negativität  der  Erkenntnis“  in  Kafkas  Er-

Texten Universität Augsburg Philologisch-Historische Fakultät Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Dozent: Friedmann Harzer Hauptseminar:  Franz  Kafka,  ‚Zürauer  Aphorismen’

8 LP Arndt Knoop [email protected]

Matrikelnummer: 1168090 Lehramt an Gymnasien, Fächer: Deutsch, Sozialkunde 8. Fachsemester Abgabe der Arbeit: 21.10.2014

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1 2. Negativität der Erkenntnis – Kienlechners Welt/Wahrheit-Paradigma 1

3. Analyse und Interpretation ausgewählter Texte 4

#1 4 #10 6

#9 8 #2 9 #19 10 #29 11 #17 12 #14 14 #3 15 4. Fazit 16 5. Literaturverzeichnis 18 6. Anhang 7. Erklärung

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1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist es die von Sabine Kienlechner verfasste Analyse zum Prozess der

Erkenntnisgewinnung1, wie er Kienlechner nach in den aphoristischen Texten2 Franz Kafkas

dargestellt wird, auf  die  unter  dem  Titel  „Er  – Aufzeichnungen  aus  dem  Jahre  1920“3 erschienenen

Kurztexte desselben Autors zu übertragen. Hierzu wird in drei Schritten vorgegangen: Zuerst soll das

Prinzip von der Negativität der Erkenntnis, welches Kienlechner als wesentlich für die Rezeption von

Kafkas aphoristischen Texten bezeichnet, dargestellt und erläutert werden, um es in einem zweiten

Schritt auf oben erwähnte Texte anzuwenden. Ein dritter Schritt widmet sich anschließend einem

Fazit zu Kienlechners Theorie und den mit ihr erzielten Interpretationen sowie der Reichweite dieser.

2. Negativität der Erkenntnis – Kienlechners Welt/Wahrheit-Paradigma

Das Paradigma, welches Kienlechner in ihrem Text herausarbeitet, wird in Kafkas Texten primär

durch die Abgrenzung zweier Bereiche des Seins voneinander definiert4. Da Kienlechners Analyse sich

auf Kafkas Reflexionen zum biblischen Sündenfall stützt5, bezeichnet sie jene Bereiche mit den

Begriffen  „Welt“  und  „Paradies“ (Ich werde diesen Begriff später in den meiner Meinung nach

passenderen  Begriff  „Wahrheit“  überführen).6 Diese Bezeichnungen sind jedoch nicht wörtlich zu

verstehen und die Autorin hält eine religiöse Interpretation der Texte für ausgeschlossen.7 Vielmehr

sind die Begriffe repräsentativ für komplexere Konzepte, deren Bedeutung sich nicht in der Semiotik

einzelner Wörter erschöpft, sondern grade durch die Herauslösung aus üblichen

Bedeutungszusammenhängen charakterisiert ist8: In diesem konkreten Fall nutzt Kafka somit

lediglich kulturell geprägte Bilder und damit verknüpfte Bedeutungen als Bausteine für gedankliche

Konstrukte, in denen sie einen noch weiteren Bedeutungshorizont aufspannen sollen.

1 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981. 2 Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006. 3 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 210-218. 4 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.28 f. 5 Ebenda, S. 19ff. 6 Ebenda, S. 27. 7 Ebenda, S. 33ff. 8 Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  (1968),  S. 714.

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Die beiden Bereiche sind korrelativ9 zueinander angeordnet und durch verschiedene Konzepte

genauer definiert: Der Seins-Bereich Paradies zeichnet sich durch Außerzeitlichkeit und hiermit

einhergehenden Konsequenzen für andere Dimensionen bzw.  „Gegensätze“10 aus11, das Sein ist in

diesem Bereich somit durch Unteilbarkeit definiert:

„Das Leiden ist das positive Element dieser Welt, ja es ist die einzige Verbindung zwischen

dieser Welt und dem Positiven.

Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen des

Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer

anderen Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz,  Seligkeit  ist.“12

Durch das Konzept der Unteilbarkeit ist der Seins-Bereich des Paradieses auch mit Kafkas Konzept

von Wahrheit deckungsgleich. Der dem Unteilbarkeitsaspekt inhärenten Logik nach kann man beides

sogar als deckungsgleich bezeichnen:

„Es  gibt  nur  zweierlei:  Wahrheit  und  Lüge.  Wahrheit  ist  unteilbar,  kann  sich  also  selbst  nicht  

erkennen;  wer  sie  erkennen  will,  muß  Lüge  sein.“13

Aus den zitierten Aphorismen lässt sich ableiten, dass der Seins-Bereich Welt negativ, d.h. durch

Erkenntnis der fehlenden Unteilbarkeit (s.u.), vom Seins-Bereich Wahrheit her definiert ist. Die

charakterisierenden Konzepte folgen demnach dem Prinzip der Teilbarkeit (konträr zu Unteilbarkeit):

„Das  Leiden,  das  doch  zunächst  eine  negative Empfindung zu sein scheint, ist deshalb das

positive Element dieser Welt, weil es Negation dieser Welt ist; oder anders ausgedrückt:

Leiden ist Empfinden und Ausdruck der Negativität des irdischen Daseins.

[…]  Ist  nun  das  Leiden  Ausdruck  der  Negativität  dieser Welt, so müßte die Welt, befreit von

ihrem negativen Gegensatz, das Positive sein; das heißt mit anderen Worten: die Welt ist

negatives  Korrelat  zum  Bereich  des  Paradieses.“14

Der gedankliche Prozess einer Schlussfolgerung auf einen durch Unteilbarkeit der Dinge

charakterisierten Seins-Bereich Wahrheit aus der, für den Menschen empfindbaren, Unzulänglichkeit

eines Seins-Bereichs Welt, welcher durch Teilbarkeit, d.h. die fehlende Befreiung vom Gegensatz, in 9 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.28. 10 Aufhebung der Relativität 11 Ebenda, S. 29. 12 Ebenda, S. 28. 13 Ebenda, S. 16. 14 Ebenda, S. 28.

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all seinen Aspekten charakterisiert ist, bezeichnet Kienlechner als Erkenntnis (der Negativität).15

Dieser Prozess, als Teil des Seins-Bereichs Welt, ist selbst immer noch negativ vom Seins-Bereich

Wahrheit her  definiert  („[…]  wer  sie  erkennen  will  muss  Lüge  sein“): Es ergibt sich somit die

Negativität der Erkenntnis, welche sich in folgendem Zitat Kafkas äußert:

„Die  Erkenntnis  ist  beides,  Stufe  zum  ewigen  Leben  und  Hindernis  vor  ihm.“  16

Kienlechner drückt diese Schlussfolgerung wie folgt aus:

„Damit ist jedoch der Ort der Erkenntnis notwendig getrennt vom Ort der Wahrheit, oder

anders ausgedrückt: Erkenntnis ist nur möglich im Zustand des vom Orte der Wahrheit

Vertriebenseins [Interpretation im Zusammenhang der Aphorismen, welche die Bildsprache

des Sündenfalls benutzen]: Dies bestimmt die Erkenntnis als negativ.“17

Für die Lösung des Hindernis-Aspekts des Erkennens, welcher sich - wie oben bereits beschrieben -

aus seiner Weltinhärenz ergibt, führt die Autorin folgenden Text Kafkas an:

„Erkenne  dich  selbst,  bedeutet  nicht:  Beobachte  dich.  Beobachte dich ist das Wort der

Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon,

bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! Also

etwas Böses – und nur wenn man sich hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet:

>Um  dich  zu  dem  zu  machen,  der  du  bist<.“18

Kafka fordert hier die Selbstzerstörung, welche - der bisher dargestellten Argumentation folgend –

am  Ende  eines  „Prozeß[es] der Negation“19 (aus dem Seins-Bereich Welt hinaus) zu stehen hat,

welcher Erkenntnis darstellt. D.h. dessen Abschluss beschreibt eine Lösung von der Zeitlichkeit und

somit allen anderen Dimensionen bzw. Gegensätzen20: Schlussendlich wird auch der Tod von seinem

Gegensatz befreit. Die von Kafka aufgestellten Paradoxe, welche durch den Versuch der

Vereinbarung der beiden oben erwähnten Seinsbereiche entstehen, sind die Fläche, auf welcher sich

die negative Definition von Welt gegenüber der von Wahrheit spiegelt und vom Denkenden erkannt

werden kann. Kunst selbst kann analog verstanden werden und stellt eine solche Fläche dar, die den

15 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.29. 16 Ebenda, S. 30. 17 Ebenda, S. 30. 18 Ebenda, S. 29f. 19 Ebenda, S. 30. 20 Vgl.: Neumann,  Gerhard:  Umkehrung  und  Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  (1968),  S.  715:  „Das  Ich  muss  als  […]  Störfaktor  angesehen  werden,  der  im  üblichen  Sinne  „stimmiges“  Denken  aus  seiner Bahn  wirft“.

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Zugang zu Wahrheit durch Zusammenspiel ihrer indirekten/negativen Auswirkungen mit einem Raum

ermöglicht, in dem noch Platz für Bedeutungen abseits gesellschaftlicher Distinktionen ist21.

3. Analyse und Interpretation ausgewählter Texte

Im Folgenden werden ausgewählte Texte der 29 Stücke aus  dem  Textkonvolut  „Er  – Aufzeichnungen

aus  dem  Jahr  1920“  unter  dem  von  Kienlechner  entdeckten  Paradigma analysiert und interpretiert.

Die hier gewählten Texte sollen das Paradigma in Bezug auf verschiedene Dimensionen (z.B.:

Individuum vs. Sozialität, Gedanke vs. Realität) genauer analysieren und teilweise erweitern sowie

Grundlagen des Paradigmas und Beziehungen der einzelnen Bestandteile beleuchten. Im Anhang

dieser Arbeit findet sich ein durchnummerierter Ausdruck der 29 Texte, um Verweise auf Texte des

Konvolutes geben zu können, die für das Verständnis und die Auffächerung des gezeichneten

Weltbildes interessant sind, deren Analyse hier jedoch nicht speziell ausformuliert worden ist. Die

Bearbeitung löst sich des Weiteren von der Reihenfolge der Texte im Buch, um den Aufbau von

Konzepten Kafkas besser nachzuvollziehen zu können und Parallelen zu verdeutlichen.

#1:

„Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo

wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augenblick Bereitsein verlangt, Zeit sich vorzubereiten, und selbst

wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt, das heißt, kann man überhaupt

eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen? Deshalb ist er auch schon längst

unter den Rädern, merkwürdiger- aber auch tröstlicherweise war er darauf am wenigsten vorbereitet.“22

Grundlage dieses ersten Textes ist Kafkas Bearbeitung des  Wortfeldes  „bereit  sein“ aus einer

personalen Erzählsituation23 über Nutzung von dessen Polysemie und daraus hervorgehenden

Anregungen sowie Bedeutungserweiterungen, die über den wiederholten Gebrauch des hieraus

entstehenden Bedeutungskomplexes in einem sich fortentwickelnden Kontext ausgearbeitet werden.

Der erste Satz beschäftigt sich mit einem Zwang  zum  „Bereitsein“, der mangelnden Zeit, um ein

solches zu erreichen, und einem als  „quälend“ wahrgenommenen Gefühl des Reflektors, um sich

anschließend einer Reflektion über das Wofür, d.h. der dahinter stehenden „Aufgabe“ bzw. einem

21 Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S. 48ff. (Negativität der künstlerischen Erkenntnis) 22 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 210. 23 Zeigt Merkmale des personalen Erzählens nach Stanzel (Innerperspektive, Er-Bezug), aus: Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München, 2009, S.92.

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Grund für das Bereitsein, zuzuwenden. Der zu betrachtende Charakter einer solchen „Aufgabe“, d.h.

ihr inhärentes Bedeutungskonzept, wird aufgespannt durch die Frage nach der Artifizialität von

„Aufgaben“ unter dem Primat eines Zeitkonzepts: Eine „Aufgabe“ ist erst durch die Fähigkeit zu

vorausplanendem Denken bzw. der chronologischen Approximation von Abläufen und deren

Umsetzung sowie einem damit einhergehenden Zeitkonzept (Bearbeitung durch den Menschen ->

Artifizialität), d.h. durch Intelligenz, als etwas definiert, das „Vorbereitung“ verlangt. Eine Aufgabe ist

somit Aktion statt Reaktion. Der „quälende“  Charakter des Lebens ergibt sich in erster Instanz somit

aus unserer Fähigkeit zu komplexerem Denken und in einem zweiten Schritt aus der zeitlichen

Diskrepanz, die bei der Umsetzung von komplexen Konzepten in die Wirklichkeit entstehen24. Da jede

bewusste Tätigkeit, welche sich durch diese Prozesshaftigkeit auszeichnet, „Aufgabe“ ist, die in die

Umwelt (Bedürfnisse, Soziale Wirklichkeit) eingebettet und somit auch von ihr beeinflusst ist, wird

ebenso das Denken selbst Aufgabe: Für den Menschen kann keine Tätigkeit als natürlich bezeichnet

werden, da die Fähigkeit zu Denken ihn zwar zum einen ein Stück weit von der bloßen Reaktion

befreit25, ihm zum anderen jedoch ein Bewusstsein für Prozesshaftigkeit bzw. Zeitlichkeit ermöglicht,

welches ihn dem Bedürfnis  zum  „Bereitsein“  unterwirft.  Die nicht endende „Vorbereitung“, die der

dargestellten Logik nach jede zielgerichtete Denkbewegung darstellt, lässt den Menschen daher

„unter die Räder“ kommen ohne, dass er darauf vorbereitet sein kann.

Das hieraus entstehende Paradox einer niemals abschließbaren Vorbereitung zeigt in Kienlechners

Paradigma eine Unzulänglichkeit an, die Kafkas Welt-Bereich eigen ist: Zeitlichkeit. Diese

Unzulänglichkeit betrifft wie oben dargestellt auch das Denken selbst, womit im Paradigma

Kienlechners interpretiert werden muss, dass die Zeitlichkeit des Denkens zum einen Voraussetzung

für Erkenntnis ist, es zum anderen nicht qualifiziert, um Wahrheit direkt zu erkennen, sondern nur

negativ über Indizien zur Wahrheit führt. Befreit von seiner Unzulänglichkeit bzw. seinem Gegenteil

(hier vor Allem Zeitlichkeit) würde sich das Paradox aufheben und Denken könnte zu (positiver)

Erkenntnis werden. Da dies jedoch nicht möglich ist, muss die Unterwerfung unter den Seins-Bereich

Welt die Qualität von Erkenntnisfähigkeit als negativ klassifizieren. In diesem Text findet sich somit

eine argumentative Grundlage für die Teilung der beiden Seins-Bereiche in Kienlechners-Paradigma

auf kleinster Ebene.

Der zweite Satz der Reflektion lässt sich noch einmal als Indiz für den oben genannten

Selbstzerstörungsaspekt in Kafkas Texten lesen: Der Denkende merkt bei Beginn des oben

dargelegten Gedankenganges nicht, dass er bereits in diesem gefangen ist. Die Selbstzerstörung zur

24 Vgl. #9. 25 Vgl. #10.

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Aufhebung des Paradoxes ist nicht zu vermeiden, wenn das quälende Gefühl des Bereitseins

wegfallen soll.

#10

„Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des

Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich

der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die

anderen von ihr überzeugen zu können), in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen

bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt

werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit

peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar

nicht so, daß man sagen könnte: »Ihm ist das Hämmern ein Nichts«, sondern »Ihm ist das Hämmern ein wirkliches

Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch

wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.

Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine

Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals

kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art

Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht,

sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des

›Wunsches‹  ergeben.“26

Der Text beginnt mit der Schilderung eines innerdiegetischen Settings in einer Ich-Erzählsituation27

über die ersten beiden Sätze, aus welchem im Anschluss eine innerperspektivische Erzählung folgt,

die  sich  mit  dem  „Wunsch“  des  Erzählers  auseinandersetzt „eine Ansicht des Lebens zu gewinnen

[…],  in  der  das  Leben  zwar  sein  natürliches  schweres  Fallen  und  Steigen  bewahre,  aber  gleichzeitig  

mit  nicht  minderer  Deutlichkeit  als  ein  Nichts,  als  ein  Traum,  als  ein  Schweben  erkannt  werde“.  Die  

Beschreibung der angesprochenen Lebensansicht, in welcher das Leben zum einen als der

Veränderung  unterworfen  begriffen  wird  („natürliches  schweres  Fallen  und  Steigen“),  zum  anderen  

jedoch  mit  den  Bedeutungen,  die  sich  im  kombinierten  Wortfeld  der  Wörter  „Nichts“,  „Traum“  und  

„Schweben“  ergeben,  charakterisiert  ist,  kann  auf die beiden Seins-Bereiche des Kienlechner-

Paradigmas übertragen werden:

Das  „Fallen  und  Steigen“  charakterisiert das Leben als zeitlich und somit primär dem Seins-Bereich

Welt zugehörig. Das oben angesprochene kombinierte Wortfeld kann als Einbettung des

Unteilbarkeitsaspektes und somit eines Wahrheitspartikels in den Seins-Bereich Welt interpretiert

werden,  von  einem  abstrakten  unteilbaren  Konzept  („Nichts“)  über  ein  Symbol  für  Bewusstsein  in  

26 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 212f. 27 Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München, 2009, S. 92.

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einem Grenzbereich  zur  Realität  („Traum“)  zu  einem  Gefühl  („Schweben“)28. Der Erzähler konstruiert

hier somit ein Gedankenspiel, in dem eine Unzulänglichkeit, die ihre Ursache in der Welt selbst hat

(Denken als weltlicher Prozess) durch Suche nach einem Zugang zur Wahrheit (Erkenntnis), welcher

im von Kienlechner aufgestellten Paradigma nur negativ hergestellt werden kann, abgemildert oder

behoben werden soll und stellt somit ein Paradox auf, welches durch Übertragung auf ein folgendes

Beispiel noch weiter zugespitzt wird.

Die  Bedeutung  der  Tätigkeit  „Hämmern“  soll  im  Gedankenspiel  um  den  Wahrheitspartikel

Unteilbarkeit („Nichts“)erweitert  werden,  wodurch  diese  Tätigkeit  „noch  wirklicher  und  […]  noch  

irrsinniger“  würde,  da  sie  von  ihrem  Gegenteil  befreit  wäre. Die hiermit einhergehende

Gleichzeitigkeit der Dinge kann als Bedeutungszerlösung durch Bedeutungserweiterung um jede

andere Bedeutung für das Gedankenmodell des Erzählers verstanden werden. Die Unvereinbarkeit

der beiden Seins-Bereiche  tritt  hervor  („irrsinnig“)  und  fordert  die  Auflösung  des  Paradoxes  im  

abschließenden Absatz:

Die Erzählsituation wechselt zu einer personalen Erzählsituation und der Erzähler wird vollends zum

Reflektor  („er“). Der Wechsel ergibt sich als Notwendigkeit aus der Auflösung des Paradoxes für eine

Entität, die dem Seins-Bereich Welt inhärent ist. Die Person, welche der Reflektor zum Zeitpunkt der

Erzählung ist muss sich, da er im Seins-Bereich Welt Veränderung unterliegt, von der Person, die das

Gedankenmodell entworfen hat, unterscheiden, welcher Wahrheit (Konzept von „Nichts“  als  

Wahrheitspartikel) nur als durch Selbstzerstörung bzw. den Tod erreichbar erkannt hat - da dieser

negativ von einem Standpunkt ohne Ich her bestimmt ist29 - indem er durch das Gedankenmodell

einen Bedeutungsraum zwischen Denken und Fühlen aufgespannt hat30 und somit eine Annäherung

an Wahrheit abseits einer Zerstörung des Ich möglich ist. Die Erkenntnisfähigkeit hierzu hat der

Reflektor bereits von Beginn an, jedoch hindern ihn soziale Einbindungen an der Wahrnehmung von

Erkenntnis,  da  er  die  Bedeutungsverengung,  die  die  „Autorität“  bzw.  Gesellschaft  vornimmt,  vorerst  

noch aufbrechen muss, um wieder Erkenntnisfähig zu werden ( - teleologische Bedeutungsmuster

sollen abgelegt werden).  Hieraus  gewinnt  die  Aussage  „  […]und  – das war allerdings notwendig

verbunden – schriftlich  die  anderen  von  ihr  überzeugen  zu  können[…]“  zum  einen  ironischen  

Charakter, da es um den Wunsch einer reproduzierten Verklärung der Erkenntnisfähigkeit geht, zum

anderen setzt Kafka mit dem vorliegenden Text exakt die vom Erzähler gewünschte Fähigkeit um,

indem er dem Leser über das Paradox ein Aufbrechen von Bedeutungen ermöglicht, auf welchem

28 Vgl.:  „Besondere  Methode  des  Denkens.  Gefühlsmäßig  durchdrungen.  Alles fühlt sich als Gedanke, selbst im Unbestimmtesten.“  – Kafka, aus: Neumann,  Gerhard:  Umkehrung  und  Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  (1968),  S.714. 29 Vgl.:  „[…]  es  würde  mir  genügen  knapp  neben  mir  zu  stehen,  es  würde  mir  genügen, den Platz auf dem ich stehe  als  einen  anderen  erfassen  zu  können“    - Kafka, Neumann, Gerhard: Umkehrung und Ablenkung, Franz Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  (1968), S. 710. 30 Ebenda, S. 714.

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sich Erkenntnis als Negativ abbilden kann31. Jedoch ist dieser Prozess nur eine Symptombehandlung,

„eine  Verbürgerlichung  des  Nichts,  ein  Hauch  von  Munterkeit“, wie oben beschrieben, jedoch nicht

die Lösung (Selbstzerstörung).

#9

„Er sieht zweierlei: das Erste ist die ruhige, mit Leben erfüllte, ohne ein gewisses Behagen unmögliche

Betrachtung, Erwägung, Untersuchung, Ergießung. Deren Zahl und Möglichkeit ist endlos, selbst eine Mauerassel

braucht eine verhältnismäßig große Ritze, um unterzukommen, für jene Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz

nötig, selbst dort, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdringend, noch zu Tausenden und

Abertausenden leben. Das ist das Erste. Das Zweite aber ist der Augenblick, in dem man vorgerufen Rechenschaft

geben soll, keinen Laut hervorbringt, zurückgeworfen wird in die Betrachtungen usw., jetzt aber mit der

Aussichtslosigkeit vor sich unmöglich mehr darin plätschern kann, sich schwer macht und mit einem Fluch

versinkt.“

Charakteristisch für diesen Text ist eine Darstellung, in welcher sich zwei Betrachtungen gegenüber

stehen. Die erste Darstellung lässt sich als Repräsentant für den Seins-Bereich Wahrheit im

Kienlechner Paradigma interpretieren. Es wird vom Reflektor entlang  der  Begriffe  „Betrachtung,  

Erwägung,  Untersuchung,  Ergießung“ eine weiterhin  als  „endlos“  klassifizierte  Art  des  Denkens  

vermittelt, die sich üblichen Bindungen des Seins-Bereichs Welt zu entziehen scheint. Kafka nutzt

hierfür das Bild der Mauerassel, um zu verdeutlichen, dass selbst die kleinsten Dinge einem

Mindestmaß an Begrenzung unterliegen (hier: räumliche Begrenzung), und stellt diesem die oben

angesprochene Fähigkeit zum Denken gegenüber, für welche sich auf den ersten Blick keine solchen

Begrenzungen zu ergeben scheinen, d.h. eine Fähigkeit zur Erkenntnis, die eine Verbindung zur

Wahrheit ermöglicht. Es muss im Paradigma Kienlechners an dieser Stelle ein Paradox entstehen, da

der dargestellte Wahrheitspartikel aus seiner inhärenten Bedeutung heraus nicht Teil des Seins-

Bereichs Welt sein kann, sondern nur indirekt erreicht werden kann (Auch die geschilderte Art des

Denkens ist den Dimensionen der Seins-Bereichs Welt unterworfen). Die Zweite Betrachtung grenzt

die Fähigkeit zur Erkenntnis somit wieder ein und unterwirft sie den Notwendigkeiten des Seins-

Bereichs Welt, in welchem Pragmatismus und Zeitlichkeit bestimmende Momente sind. Die

Unvereinbarkeit  des  Lebens  mit  der  Wahrheit  muss  für  den  Reflektierenden  zur  „Aussichtslosigkeit“  

(Zweigeteilt: Aussichtslosigkeit mit einem solchen Denken im Seins-Bereich Welt zu bestehen und

Unvermeidbarkeit des Todes, d.h. Verlust von Unbefangenheit) führen, derer er mit Resignation 31 Vgl. Ebenda, S. 715.: „Die  Umkehrungen  und  Ablenkungen, denen Kafka seine Denkfiguren und Bilder unterwirft, sind nicht als der verzweifelte Versuch, das Ich aus der Verknüpfung der Dinge – die es verwirrt –herauszudrängen,  und  diese  damit  ins  „Reine,  Wahre,  Unveränderliche“ zu heben. (TGB 534) Dass dieses „Herausdrängen“,  die  Antwort  auf  das  Ja  und  Nein,  das  er  zu  sagen  hätte,  nichts  anderes  sein  konnte,  als  der  Tod, hat Kafka verzweifeln lassen; nur das Schreiben ahnte er so etwas wie eine Möglichkeit des „Herausspringens“,  einen  Ausweg,  der  nicht  der  Tod war.“

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begegnen muss (Selbstzerstörungsaspekt). Dass  diese  Einbettung  von  Kafka  als  „Rechenschaft  

ablegen“  betitelt  wird,  lässt  die  Interpretation  zu,  dass auch die Mechanismen der Gesellschaft für

eine Unterdrückung von Erkenntnisfähigkeit verantwortlich gemacht werden und die Begrenzung

von Erkenntnisfähigkeit ihren Grund zwar in seiner Verankerung im Seins-Bereich Welt hat,

menschliche Bedeutungseingrenzungen dies jedoch noch verstärken.32

#2

„Alles, was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle

des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der

Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle

Tiefen hinunter abbrechend. Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um sich.“33

Der Text baut auf der Erkenntnisfähigkeit des Reflektors auf, welche durch eine Art des Denkens

gekennzeichnet ist ähnlich derer, die bereits in der Erläuterung zu Text #9 beschrieben wird: Es

existieren scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten für den erkenntnisfähigen Denker abseits weltlicher

Limitationen („unmögliche  Fülle  des  Neuen“), somit wird abermals auf die Einbettung eines

Wahrheitspartikels in den Seins-Bereich Welt eingegangen. Die vom Reflektor erwarteten

Fähigkeiten müssen jedoch ausbleiben. Grund ist in Kienlechners Paradigma die Unvereinbarkeit der

beiden Seins-Bereiche, die sich im Text durch die Feststellung des Reflektors, dass die Überführung

seiner  Gedanken  in  die  Realität  nur  zu  „dilettantisch[en]“  Resultaten  führt, äußert. Die Ursache

hierfür lässt sich folgendermaßen Mutmaßen: Die Unüberführbarkeit von bestimmten Wahrheits-

Konzepten in den Seins-Bereich Welt, resultierend aus der negativen Definition des einen aus der

anderen, müsste die Gesetze der Realität sprengen, da sie die Grenzen zwischen den Dimensionen

(Die Befreiung Gegenteile) aufzuheben hätte. D.h. selbst wenn es möglich wäre, würde eine

Zerstörung jeglicher Bedeutungen dies hinfällig machen. Somit hat der Reflektor unter der

Gebundenheit  an  die  Zeit  zu  leiden  („Unmögliche  Fülle des  Neuen“). Der letzte Satz geht noch einmal

auf  das  gefühlte  Paradox  ein:  Der  Reflektor  verleugnet  „manchmal“,  dass  er  selbst Teil der Welt ist

und nimmt sich aus der Gleichung heraus, um im Sinne der Erkenntnis ein Paradox erzeugen zu

können, welches ihm einen negativen Eindruck von Wahrheit ermöglicht, kurz bevor er wieder

erkennen muss, dass das Paradox nur Mittel zum Zweck ist und er sich die Wahrheit nicht zu eigen

32 Vgl. #10: „sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten  ringsherum  täuschen  lassen“,  aus:  Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 214. 33 Ebenda, S. 210.

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machen kann (Unteilbarkeit), sondern lediglich fähig ist sie zu approximieren. Diese Approximation

bedeutet im Seins-Bereich Welt jedoch immer noch keine Befreiung vom Gegenteil, sondern diese ist

nur mit der Zerstörung des Ich zu erreichen (für den Reflektor als auch den Rest der Welt).

#19

»Du machst aus Deiner Not eine Tugend.«

»Erstens tut das jeder, und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe

nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«

»Daraus eben machst du deine Tugend.«

»Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur deinetwegen. Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme

ich Schaden an meiner Seele.«34

Bei  diesem  Text  handelt  es  sich  um  den  einzigen  Dialog  in  den  „Er“-Texten. Die Dialog-Struktur bringt

ein innerdiegetisches Setting und sogleich eine verstärkte Verankerung des Dargestellten in den

Seins-Bereich Welt mit sich und bricht mit der ansonsten typischen personalen Erzählsituation eines

unbekannten Reflektors. Dennoch weist auch dieser Text reflektierende Elemente auf, die sich aus

den verschiedenen Bedeutungen,  die  dem  Konzept  „Tugend“ im Kontext des Dialogs zuweisbar sind,

ergeben.  Beginnend  mit  dem  vom  ersten  Sprecher  genannten  Sprichwort  „Aus  seiner  Not  eine  

Tugend  machen“,  d.h.  eine  schlechte  Lage  positiv  für  sich  nutzbar  zu  machen“,  entwickelt  der zweite

Sprecher ein Paradox: Jeder Mensch tue dies und gerade er tue dies nicht (Obwohl er Teilmenge von

„Jeder  Mensch“  ist).  Die Integration des Textes in Kienlechners Paradigma lässt ein Aufbrechen des

Paradoxes, welches auf der Kumulation einer Oberflächenbedeutung und einer Tiefenbedeutung von

„Aus  seiner  Not  eine  Tugend  machen“ im Erkenntnis-Kontext in eben diesem Sprichwort beruht, zu,

indem  das  „in  einem  fiebrigen  Dunst  [leben]“  als  Verbleib  des  Menschen  im  Seins-Bereich Welt

interpretiert wird, welcher durch Leiden als Ausdruck seiner Negativität definiert ist (s.o.). Hierzu hat

sich  jeder  Mensch  bewusst  oder  unbewusst  entschieden  („Erstens  das  tut  jeder“). Das Nicht-

Tätigwerden hin zu einer Verbesserung der eigenen Lage (Erreichen von Wahrheit) durch

„Trockenlegung  der  Sümpfe“ (Selbstzerstörungsaspekt) lässt schließen, dass der zweite Sprecher

diese Entscheidung im Gegensatz zu anderen bewusst getroffen hat: Der zweite Sprecher ist zu

Erkenntnis fähig.  „Aus  seiner  Not  eine  Tugend  machen“  hat  für  ihn eine andere Bedeutung als für

„jeden“  anderen,  da  es  für  ihn  nicht  mehr  bedeutet  sich  im  „Seins-Bereich“  Welt  zu  arrangieren,  

sondern durch Selbstzerstörung aus diesem herauszutreten, weil ihm als zur Erkenntnis fähiger

34 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S.215.

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Person die Unvereinbarkeit der beiden Seins-Bereiche bereits bewusst ist. Den Grund hierfür

schildert der erkenntnisfähige Sprecher in seiner zweiten wörtlichen Rede als soziale Verpflichtung

gegenüber  dem  ersten  Sprecher  („Damit  du  freundlich  zu  mir  bleibst  nehme  ich  Schaden  an  meiner  

Seele“).  

Der zweite Satz des ersten Sprechers führt den in diesem Gedanken angestoßenen Charakter von

Erkenntnis im Zusammenspiel mit Sozialität noch weiter. Meiner persönlichen Interpretation nach

wird hier ausgesagt, dass genau dieses Verweilen des zweiten Sprechers im Seins-Bereich Welt - trotz

Fähigkeit zur Erkenntnis – ein Schöpfen von Tugend aus Not darstellt, da die Selbstzerstörung ein

Beheben der Not (Leben im Seins-Bereich Welt) darstellen würde und nicht ein mit ihr Leben. Der

erste Sprecher verdeutlicht dem zweiten Sprecher hierzu gleichzeitig, dass er nicht alleine der

Erkenntnis unterworfen ist. Mit dem Satz  „Wie  jeder,  ich  sagte  es  schon.“  nimmt  Kafka  noch  einmal  

ironischen Bezug auf die mangelnde Präzision der Sprache, indem er den zweiten dem ersten

Sprecher durch Wiederholung einer ursprünglich auf die Oberflächenbedeutung des Sprichwortes

bezogenen Bedeutung anzeigen lässt, dass er nun die Tiefenbedeutung des Sprichwortes verstanden

hat und die Verbindung zu einer anderen Erkenntnisfähigen Person, wichtiger als das schlussendlich

ohnehin unausweichliche übertreten in den Seins-Bereich der Wahrheit ist, womit Welt somit

Elemente enthält, die sich im anderen Seins-Bereich nicht gleichwertig wieder finden lassen

(Diversifizierung durch Differenzierung). In  diesem  Text  findet  sich  innerhalb  der  „Er-Texte“  eine  als  

positiv interpretierbare Äußerung über die Sozialität des Menschen, die ihn nicht nur von Erkenntnis

abhält, sondern Erkenntnis als verbindendes menschliches Element schildert.35 Eine positive Wertung

von Sozialität findet sich ansonsten nur noch in Text #13.

#29

„Er  hat   zwei  Gegner:  Der  erste  bedrängt   ihn  von  hinten,  vom  Ursprung  her.  Der  zweite  verwehrt   ihm  den  Weg  

nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn

nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn doch

zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst,

und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten

Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und

wegen seiner Kampfeserfahrung  zum  Richter  über  seine  miteinander  kämpfenden  Gegner  erhoben  wird.“36

Der Schlüssel zu diesem Text ergibt sich aus den Eigenschaften der beiden Gegner, die als

Repräsentation der beiden Seins-Bereiche betrachtet werden können. Übersetzt man die räumlichen

35 Vgl.: #9, #10. 36 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S.217f.

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Dimensionen des vom Reflektor geschilderten Bildes in eine zeitliche Interpretation, so drängt der

erste Gegner zu Veränderung. Das Ziel des zweiten Gegners ist es jegliche Veränderung rückgängig zu

machen. Im Paradigma Kienlechners kann der erste Gegner als Repräsentant für den Seins-Bereich

Welt interpretiert werden, welcher sich durch zeitliche, räumliche etc. Ausdifferenzierung definiert,

der zweite Gegner als Repräsentant für den Seins-Bereich Wahrheit, welcher durch Lösung von

jeglichen Dimensionen  charakterisiert  ist.  Die  Frage  „wer  kennt  eigentlich  seine  Absichten“  in  Bezug  

auf die Reflektorfigur, ist als Kommentar hinsichtlich von Erkenntnis zu verstehen: Da er keinen

direkten Einblick in die Wahrheit hat, sondern sich nur Bilder von dieser im Rahmen seiner

Erkenntnisfähigkeit machen kann, welche weiter oben als negativ definiert wurde37, entsteht für den

Reflektor die Frage für welchen Seins-Bereich er sich entscheiden soll, d.h. die Frage nach der

Selbstzerstörung, die am Ende der Wahrheitssuche stehen muss: Die Wahrheit hält den Menschen

vom Leben ab und das Leben drängt den Menschen wiederum in Richtung der Wahrheit38. Zur

Vereinbarkeit der beiden konstruiert der Reflektor eine Situation, in welcher das Ich sich von seiner

Position löst und aus dem Konflikt heraustritt, um diesen von außen bewerten zu können („aus der

Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander

kämpfenden  Gegner  erhoben  wird“)39 und abseits beider Seins-Bereiche zu existieren.

Neu in diesem Text ist eine klare Gleichbewertung der Seins-Bereiche gegenüber einer sonst üblichen

Einschränkung des Menschen durch den Seins-Bereich Welt und das diesen qualifizierende Leiden

und somit eine Neubewertung der Reichweite der eigenen Erkenntnisfähigkeit in Hinsicht auf die

Bewertung der beiden Seins-Bereiche.

#17

„Er will keinen Trost, aber nicht deshalb, weil er ihn nicht will, – wer wollte ihn nicht, sondern, weil Trost suchen

heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum

mehr zu wissen, für wen man Trost sucht, und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden,

wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt.“40

Kafka  schafft  in  diesem  Text  seinen  Raum  zwischen  Denken  und  Fühlen  entlang  des  Begriffes  „Trost“  

und dem Spiel mit den Bedeutungen dieses Begriffes als auch den Bedeutungsräumen, die die

37 Vgl. #1. 38 Endgültig wird dies also entschieden, wenn der Mensch sich im Sinne der Wahrheit gegen Veränderung, d.h. für die Selbstzerstörung entschieden hat, oder das Leben ihn am Ende in die Wahrheit drängt (ich würde dieses Bild als natürlichen Tod interpretieren). 39 Neumann,  Gerhard:  Umkehrung  und  Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  (1968), S. 710. 40 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 214f.

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unterschiedlichen Konnotationen in Zusammenspiel mit der Frage nach dem Sinn und der Funktion,

die  „Trost“  für  den  Reflektor  haben  kann.

„Trost“  gemeingebräuchlich interpretiert  als  „Milderung von Leiden41“ ist in Kienlechners Paradigma

in erster Hinsicht als eine Verschleierung von Wahrheit zu verstehen,42 da Erkenntnis weitgehend von

Leid als negativem Anzeiger im Seins-Bereich Welt für den Seins-Bereich Wahrheit abhängig ist (s.o.).

Dieser Interpretation folgend argumentiert der Reflektor, dass das Erkennen der Unzulänglichkeit der

eigenen Existenz fundamentaler Bestandteil eben dieser ist und die oben angesprochene

Verschleierung von  Erkenntnis  dem  Menschen  den  einzigen  „wirksamen“  Trost,  welcher  hiernach  das  

erschaffen eines Konzeptes von Wahrheit durch das Individuum ist, versagt43. Die Differenzierung

von  „wirksamem“  und „wahrem“  Trost  dient  noch  einmal  der  Verdeutlichung  der  Unvereinbarkeit  

der beiden Seins-Bereiche: Wahrheit kann im Seins-Bereich Welt nicht erreicht werden. Der Logik

von Kienlechners Paradigma folgend würde das Erreichen von Wahrheit Trost ohnehin obsolet

machen. Der Teilsatz, „[…]  weil  Trost  suchen  heißt:  dieser  Arbeit  sein  Leben  zu  widmen,  am  Rande  

seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen für wen man Trost sucht

[…]“  der  sich  auf  die  Unmöglichkeit  des  Erreichens  von  „wirksamem“  Trost  bezieht, begründet sich

darin, dass für den Seins-Bereich Welt Leid konstituierendes Element ist, welches sich folglich in

jedem Aspekt dessen zu äußern hat, sodass Erkenntnis schlussendlich nicht vermeidbar ist.

Eine andere Interpretation setzt  noch  einmal  an  der  Differenzierung  von  „wahrem“  und  

„wirksamem“  Trost  an.  „Wahrer  Trost“  wird  als  im  Seins-Bereich Welt nicht zu erreichen geschildert

(Wahrheit  ist  unteilbar)  und  „wirksamer  Trost“  als  Vorstufe  zu  eben jenem ursprünglich gesetzten

Ziel,  nachdem  die  Unerreichbarkeit  des  ersteren  sich  herausstellt  („nicht  einmal  imstande  zu  sein“):

wirksamer Trost stellt den Weg zur Wahrheit, d.h. im Seins-Bereich mögliche Approximation, und

somit Erkenntnis dar. Diese Prämisse ändert nun wiederum den Kontext für das Verständnis des

Resttextes. Die Suche nach Erkenntnis kann nun selbst als entrückendes Moment verstanden

werden, d.h. aus weltlichen Zusammenhängen entrückend (z.B. sozialen Beziehungen usw.), welches

ein  „Leben“  im  Seins-Bereich Welt nicht möglich macht und zu einer Aufgabe des Selbst zugunsten

des vergeblichen Erreichens von Wahrheit („kaum  mehr  zu  wissen,  für  wen  man  Trost  sucht“)  führt:  

Das Existenz-Paradox lässt sich lediglich durch die Selbstzerstörung beheben.

41 http://www.duden.de/rechtschreibung/Trost 42 Vgl.:  „Das  Leiden  ist  das  positive  Element  dieser  Welt,  ja  es  ist  die  einzige  Verbindung  zwischen  dieser  Welt  und  dem  Positiven“, aus: Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981, S.29. 43 Voraussetzung für diese Interpretation ist ein unbewusstes Gefühl für die Unzulänglichkeit der Existenz. Vgl. Aphorismus  Nr.  50:  „Der  Mensch  kann  nicht  leben  ohne  ein  dauerndes  Vertrauen  zu  etwas  Unzerstörbarem  in  sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdruckmöglichkeiten dieses Verborgen-Bleibens  ist  der  Glaube  an  einen  persönlichen  Gott.“,  aus:  Aphorismus 97, aus: Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006, S.61.

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Die Spannung zwischen der Unausweichlichkeit der Suche nach Erkenntnis im Leben eines

Individuums und der wiederum lebensverneinenden Forderung eben dieser ist die

Paradigmenerweiterung, die dieser Text mit sich bringt.

#14

„Er  lebt  nicht  wegen  seines  persönlichen  Lebens,  er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als

lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie, die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die

er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser

unbekannten  Familie  und  dieser  unbekannten  Gesetze  kann  er  nicht  entlassen  werden.“44

Gliedert man diesen Text in Kienlechners Paradigma ein, so ergeben sich zwei Motive, die sich den

jeweiligen Seins-Bereichen zuweisen lassen. Auf der einen Seite findet sich das Gebunden-Sein des

Reflektors   an   eine   „unbekannte   Familie“   dem   auf   der   anderen   Seite   ein   Bedürfnis   des   Entlassen-

Werdens gegenübersteht. Der Reflektor spezifiziert nicht genauer wohin er entlassen werden

möchte, doch lässt sich gerade deswegen interpretieren, dass hier auf den von Kienlechner

herausgearbeiteten Selbstzerstörungsaspekt Bezug genommen wird: Das Ziel, in das der Reflektor

entlassen zu werden anstrebt, ist der Seins-Bereich Wahrheit und somit ohnehin kein in

Begrifflichkeiten des Seins-Bereichs Welt (Repräsentant   ist   die   „unbekannte   Familie“)   fassbares  

Konzept. Es geht lediglich um den Akt der Befreiung vom Gegenteil, d.h. der Weltlichkeit, in diesem

müssen dem Unteilbarkeitskonzept entsprechend Weg und Ziel deckungsgleich sein.

Die   Rede   von   einem   „unbekannten   Gesetz“   lässt   sich   als   Entrückung   des   Reflektors   aus   den  

weltlichen Bezügen verstehen, in die er als Teil des Seins-Bereichs Welt noch eingebettet ist, die er

jedoch bereits hinter  sich  gelassen  hat  und  die  im  Text  eine  Ausdifferenzierung  der  Begriffe  „Leben“  

und  „Denken“  nach  sich  ziehen:  Die  Lebens- und Denkmuster, denen er folgt, sind nicht die eigenen,

sondern die Anderer, welche noch Teil des Seins-Bereichs Welt sind. Diesem Gegenüber steht sein

persönliches Lebens- und Denkmuster, welches in Abgrenzung zu Ersterem als erkenntnisgeleitet zu

verstehen ist und danach strebt sich von den Bezügen des Seins-Bereichs Welt zu  lösen  („Er  lebt  nicht  

wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens“).  

Charakteristisch für diesen Text ist somit das Gefühl von einem unfreiwilligen, da nicht

nachvollziehbarem, Gebunden-Sein an den Seins-Bereich Welt durch eine soziale Einbindung des

Reflektors, in der im Vergleich zu Text #19 Erkenntnis jedoch nicht als verbindendes Moment

zwischen den Menschen verstanden wird, sondern als entfremdendes.45

44 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 213f 45 Vgl. #13: Hier wird die Entfremdung vom Seins-Bereich Welt noch mit einer gewissen Melancholie betrachtet,  die  der  Reflektor  als  „Lebenskraft  […]  selbst“  beschreibt.  Die  Ambivalenz  der  Entrückung  zum  Seins-Bereich Welt und der Stellung des Reflektors zu dieser, könnten ihren Grund in der nur negativ zu erreichenden

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#3

„Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war

ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zu Hause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der

Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entging ihm draußen, selbst

verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen

war er.“46

In diesem Text behandelt Kafka die Suche nach einem Zugang zum Seins-Bereich Wahrheit aus dem

Seins-Bereich Welt heraus in der verschiedenen Bearbeitung und Weiterentwicklung des zweideutig

verwendeten Bildes vom Menschen als Gefangener. Ganz im Sinne Kienlechners muss auch hier

wieder die eigentliche Bedeutung negativ aus dem aufgebauten Paradox konstruiert werden. Der

Gefangene wird, da er abgeschnitten von den Begrifflichkeiten und eindimensionalen Bedeutungen

einer außerhalb seiner Zelle existierende Gesellschaft bzw. Welt ist und sich somit ohne die sich

hieraus ergebenden Begrenzungen47 auf Erkenntnisgewinn konzentrieren könnte, in seiner

Erkenntnisfähigkeit nicht eingeschränkt. Es würde somit ein Raum abseits von den Einflüssen des

Seins-Bereichs Welt geschaffen werden, der in seinem Idealzustand einen Wahrheitspartikel

approximiert. Dieses Bild eines Wahrheitspartikels wird von Kafka nun zu einem zum Seins-Bereich

Welt durchlässigen Konzept des Gefangenseins umgebaut („[…]  der  Gefangene  war  eigentlich  frei,  er  

konnte  an  allem  teilnehmen  […]“).  Das  Bild  wandelt  sich  von  einer Exklusion des Selbst zugunsten der

Erkenntnisgewinnung zu einem Gefangensein im Sinne der Wahrheitssuche durch die Einbettung in

einen Welt-Kontext  („Käfig“),  um  sich  anschließend  einer  Befreiung  des  Selbst  aus  auch  eben  diesem  

zuzuwenden  („Die  Gitterstangen  standen  ja  meterweit  auseinander, nicht  einmal  gefangen  war  er“).  

Im in dieser Arbeit verwendeten Paradigma ist dieser letzte Schritt als Repräsentant für den oben

ausgeführten Selbstzerstörungsaspekt anzusehen.

Die Besonderheit des Textes ist somit die Veranschaulichung der Befreiung des Selbst vom Seins-

Bereichs Welt und der notwendigen Erkenntnisse, die hierfür notwendig sind: Abschottung zur

Bewahrung und zum Ausbau der Erkenntnisfähigkeit, Erkennen der Eingrenzung und Hinderung

durch den Seins-Bereich Welt und anschließend die Erkenntnis einer Möglichkeit zur

selbstbestimmten Befreiung aus weltlichen Zusammenhängen.

Erkenntnis und dem damit verbundenen Zweifel haben, welcher sich zwangsläufig aus der Negativität und somit Fehlbarkeit von Erkenntnis begründet, der der Mensch als Teil des Seins-Bereichs Welt unterliegt (vgl.: „[…]wer  sie  erkennen  will,  muß  Lüge  sein.“  (s.o.)). 46 Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984, S. 210. 47 Vgl. #14, #18.

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4. Fazit

Im Rahmen der Analyse haben sich 5 wesentliche Gegensatzpaare herauskristallisiert, die sich

entlang der beiden Seins-Bereiche arrangieren lassen. Für das Verständnis ist jedoch fundamental,

dass es sich bei diesen Gegensatzpaaren um Idealtypen handelt, die durch Interpretation der von

Kafka in seinen Texten geschaffenen Bedeutungsräume entstanden sind und eine Zuspitzung einer

Vielzahl von hervorgerufenen Assoziationen darstellen. Ein einzelner Text weist somit stets mehrere

Gegensatzpaare auf, die auch von den im Folgenden vorgestellten Idealtypen abweichen müssen48

und auch indirekt ihre Repräsentation im Erkenntnis-Paradigma haben können.

Ein erstes Gegensatzpaar beschäftigt sich mit Zeitlichkeit auf der Seite des Seins-Bereichs Welt und

Zeitlosigkeit auf der Seite des Seins-Bereichs Wahrheit, dieses Charakteristikum wurde von

Kienlechner bereits herausgearbeitet (s.o.) und findet sich in den Texten #1, #8, #23, #25 und #29.

Auf eine neue Grundlage wird in den Er-Texten die in der Analyse zu Text #1 herausgearbeitete

Artifizialität des Denkens selber gestellt, die sich aus der Prozesshaftigkeit einer jeden Tätigkeit ergibt

und die Negativität der Erkenntnis rechtfertigt,  sich  jedoch  bereits  in  Aphorismus  Nr.  80  findet  („Es  

gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen;

wer  sie  erkennen  will,  muß  Lüge  sein.“49). Das Gegensatzpaar „Zeit vs. Zeitlosigkeit“  scheint  somit  die  

wesentlichste Unterscheidung zwischen den Seins-Bereichen zu sein. Vor allem da Denken in seinem

Prozess selber weitgehend von anderen Dimensionen befreibar zu sein scheint (z.B. der

Räumlichkeit).50

Das zweite Gegensatzpaar  besteht  aus  den  Konzepten  „Realität“  auf  der  Seite  des  Seins-Bereichs

Welt und  „Fähigkeit  des  Denkens“  als  Repräsentant  des  Seins-Bereichs Wahrheit, da sich in diesem

eine gewisse Befreiung von Dimensionen bzw. Gegenteilen ermöglicht oder zumindest eine

Verquickung dieser (Abstraktion von Zeit). Maßgebend ist dieses Gegensatzpaar in den Texten #1, #6,

#7, #9, #11, #20, #22 und #26. Dieses Gegensatzpaar ist in der Abgrenzung seiner Pole wesentlich

durch das erste Gegensatzpaar dominiert. Die Wechselwirkungen zwischen den Polen sind in den

Texten  meist  durch  eine  Dominanz  des  Poles  „Realität“  gekennzeichnet.  Dies  hat  seinen  Grund  in  der  

von diesem Pol ausgehenden Definitionskraft der benutzten Begrifflichkeiten (Der Mensch ist Teil der

Realität und hat sich mit dieser zu arrangieren), von denen sich Kafka mit seiner Kunst zu lösen

versucht51 und auf der anderen Seite der Unüberführbarkeit (als extrem) von vom Seins-Bereich Welt

48 Neumann,  Gerhard:  Umkehrung  und  Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“, In: DVjs 42 (1968), S. 714. 49 Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006, S.89. 50 Vgl. #9. 51 Vgl.:  „Besondere  Methode  des  Denkens.  Gefühlsmäßig  durchdrungen.  Alles  fühlt  sich  als  Gedanke,  selbst  im  Unbestimmtesten.“  – Kafka, aus: Neumann,  Gerhard:  Umkehrung  und  Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  (1968), S.714.

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gelöster Konzepte in eben diesen. Hieraus resultiert das Gefühl des Gefangenseins, welches sich z.B.

in  Text  #6  äußert  und  somit  eng  mit  dem  Gegensatzpaar  „Eingrenzung  vs.  Freiheit“  verbunden  ist,  

das sich in den Texten #2, #3, #4, #5, #15, #17, #20, #27 und #29 finden. Es werden in den Er-Texten

vor allem die Erkenntnis der Unfreiheit behandelt (#6), die Rolle des Selbst in diesem Kontext (z. B.

#4, #5 oder #29) und  der  Prozess  der  Befreiung  (#3),  welcher  eng  mit  dem  Gegensatzpaar    „Leben  vs.  

Tod“  verbunden  ist  und  sich  hier als logische Forderung aus dem Erkenntnisgewinn ergibt. Bedingt

durch die Negativität der Erkenntnis und damit verbundener Unmöglichkeit des Erreichens von

Wahrheit während des Lebens ergeben sich in den analysierten Texten jedoch auch zweifelnde

Momente gegenüber der Selbstzerstörung (#752), während ansonsten die Einschränkung des Selbst

durch das Gebundensein ans Leben vorherrscht. Leitendes Motiv ist dieses Gegensatzpaar unter

anderem in den Texten #3, #4, #5, #19 #22, #23, #24 und #28.

Das letzte Gegensatzpaar „Gesellschaft  vs.  Individuum“  ist im Grunde eine Sonderform des

Gegensatzpaares  „Eingrenzung  vs.  Freiheit“.  Indem  es  sich  jedoch  um  ein  das  menschliche  Leben  

stark dominierendes Phänomen handelt, wird es in den Texten zu einem eigenen Leitmotiv. In den

meisten Texten des Er-Konvoluts wird das Erkenntnisgeleitete Individuum von den Verpflichtungen,

die die Gesellschaft an es stellt, zurückgehalten bzw. behindert im Sinne einer Erkenntnisgewinnung

(#12) oder in Hinblick auf die Selbstzerstörung (#14). Eine gesonderte Position nimmt hier Text #19

ein, in welchem Sozialität von zwei sich gegenseitig als erkenntnisgeleitete Personen erkennenden

Individuen zur Aussetzung der Selbstzerstörung führt. Das Gegensatzpaar findet sich in den Texten

#3, #9, #10, #11, #12, #13, #14, #18, #19, #21 und #23.

Schlussendlich denke ich, dass Kienlechners-Paradigma sehr gut geeignet ist, um auf die Texte des Er-

Konvoluts angewendet zu werden, da diese inhaltlich in enger Verwandtschaft zu den anderen

meditativen Texten Kafkas stehen, vor allem den Aphorismen. Die von Kafka zur Darstellung seiner

Gedanken genutzten Bilder unterscheiden sich zwar, jedoch lassen sich die wesentlichen Konzepte

sowie die Kafka beschäftigende Problematik von zwei Weisen des Seins oder Seins-Bereichen

wiederfinden. Die hervorragende Leistung des Paradigmas ist somit einen Bezugsrahmen für fast

jede Aussage eines jeweiligen Textes zu schaffen, der ein tieferes Verständnis der Komplexität von

Kafkas Gedankenspielen und eine bessere Entfaltung der von Kafka aufgespannten Bedeutungen und

Konzepte ermöglicht, d.h. ein tiefgreifendes Verständnis schafft.

Dem gegenüber steht natürlich das von Kafka angestrebte Ziel ein Denken entfernt von

vorkonzipierten Bedeutungen zu schaffen, d.h. den oben bereits des Öfteren erwähnten Raum

zwischen Denken und Fühlen. Die von Kafka mutmaßlich gewünschte Leichtigkeit und Natürlichkeit

der erweckten Assoziationen wird somit eingegrenzt.

52„Jammer“ als Repräsentant für Welt,  „Sonne“  als  Repräsentant  für  Wahrheit interpretiert.

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Literaturverzeichnis

Bücher

Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München, 2009.

Kafka, Franz; Calasso, Roberto (Hrsg.): Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main, 2006.

Kafka, Franz; Walser, Martin (Hrsg.): Er, Baden-Baden, 1984.

Kienlechner, Sabine: Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas - eine Untersuchung zu seinem

Denken anhand einiger später Texte, Tübingen, 1981.

Neumann,  Gerhard:  Umkehrung  und  Ablenkung,  Franz  Kafkas  „Gleitendes  Paradox“,  In:  DVjs  42  

(1968), S. 702-744.

Internetquellen

http://www.duden.de/rechtschreibung/Trost

Anhang:

http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-aphorismen-166/3

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Anhang

Er – Aufzeichnungen aus dem Jahr 1920

#1

Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augenblick Bereitsein verlangt, Zeit sich vorzubereiten, und selbst wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt, das heißt, kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merkwürdiger- aber auch tröstlicherweise war er darauf am wenigsten vorbereitet.

#2

Alles, was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle Tiefen hinunter abbrechend. Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um sich.

#3

Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zu Hause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entging ihm draußen, selbst verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen war er.

#4

Er hat das Gefühl, daß er sich dadurch, daß er lebt, den Weg verstellt. Aus dieser Behinderung nimmt er dann wieder den Beweis dafür, daß er lebt.

#5

Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg, an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig.

#6

Er fühlt sich auf dieser Erde gefangen, ihm ist eng, die Trauer, die Schwäche, die Krankheiten, die Wahnvorstellungen der Gefangenen brechen bei ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben nur Trost ist, zarter kopfschmerzender Trost gegenüber der groben Tatsache des Gefangenseins. Fragt man ihn aber, was er eigentlich haben will, kann er nicht antworten, denn er hat – das ist einer seiner stärksten Beweise – keine Vorstellung von Freiheit.

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#7

Manche leugnen den Jammer durch Hinweis auf die Sonne, er leugnet die Sonne durch Hinweis auf den Jammer.

#8

Die selbstquälerische, schwerfällige, oft lange stockende, im Grunde doch unaufhörliche Wellenbewegung alles Lebens, des fremden und eigenen, quält ihn, weil sie unaufhörlichen Zwang des Denkens mit sich bringt. Manchmal scheint ihm, daß diese Qual den Ereignissen vorhergeht. Als er hört, daß seinem Freund ein Kind geboren werden soll, erkennt er, daß er dafür schon als früher Denker gelitten hat.

#9

Er sieht zweierlei: das Erste ist die ruhige, mit Leben erfüllte, ohne ein gewisses Behagen unmögliche Betrachtung, Erwägung, Untersuchung, Ergießung. Deren Zahl und Möglichkeit ist endlos, selbst eine Mauerassel braucht eine verhältnismäßig große Ritze, um unterzukommen, für jene Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz nötig, selbst dort, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdringend, noch zu Tausenden und Abertausenden leben. Das ist das Erste. Das Zweite aber ist der Augenblick, in dem man vorgerufen Rechenschaft geben soll, keinen Laut hervorbringt, zurückgeworfen wird in die Betrachtungen usw., jetzt aber mit der Aussichtslosigkeit vor sich unmöglich mehr darin plätschern kann, sich schwer macht und mit einem Fluch versinkt.

#10

Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können), in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: »Ihm ist das Hämmern ein Nichts«, sondern »Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.

Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum  täuschen  lassen.  So  hatte  sich  die  Notwendigkeit  des  ›Wunsches‹  ergeben.

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#11

Er beweist nur sich selbst, sein einziger Beweis ist er selbst, alle Gegner besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, daß sie ihn widerlegen (er ist unwiderlegbar), sondern dadurch, daß sie sich beweisen.

#12

Menschliche Vereinigungen beruhen darauf, daß einer durch sein starkes Dasein andere an sich unwiderlegbare Einzelne widerlegt zu haben scheint. Das ist für diese Einzelnen süß und trostreich, aber es fehlt an Wahrheit und daher immer an Dauer.

#13

Er war früher Teil einer monumentalen Gruppe. Um irgendeine erhöhte Mitte standen in durchdachter Anordnung Sinnbilder des Soldatenstandes, der Künste, der Wissenschaften, der Handwerke. Einer von diesen Vielen war er. Nun ist die Gruppe längst aufgelöst oder wenigstens er hat sie verlassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht einmal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sogar vergessen, was er damals darstellte. Wohl gerade durch dieses Vergessen ergibt sich eine gewisse Traurigkeit, Unsicherheit, Unruhe, ein gewisses die Gegenwart trübendes Verlangen nach den vergangenen Zeiten. Und doch ist dieses Verlangen ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.

#14

Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie, die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.

#15

Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.

#16

Vor der Auslage von Casinelli drückten sich zwei Kinder herum, ein etwa sechs Jahre alter Junge, ein sieben Jahre altes Mädchen, reich angezogen, sprachen von Gott und von Sünden. Ich blieb hinter ihnen stehen. Das Mädchen, vielleicht katholisch, hielt nur das Belügen Gottes für eine eigentliche Sünde. Kindlich hartnäckig fragte der Junge, vielleicht ein Protestant, was das Belügen der Menschen oder das Stehlen sei. »Auch eine sehr große Sünde«, sagte das Mädchen, »aber nicht die größte, nur die Sünden an Gott sind die größten, für die Sünden an Menschen haben wir die Beichte. Wenn ich beichte, steht gleich wieder der Engel hinter mir, wenn ich nämlich eine Sünde begehe, kommt der Teufel hinter mich, nur sieht man ihn nicht.« Und des halben Ernstes müde, drehte sie sich zum

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Spaße auf den Hacken um und sagte: »Siehst du, niemand ist hinter mir.« Ebenso drehte sich der Junge um und sah dort mich. »Siehst du«, sagte er ohne Rücksicht darauf, daß ich es hören müßte, oder auch ohne daran zu denken, »hinter mir steht der Teufel.« »Den sehe ich auch«, sagte das Mädchen, »aber den meine ich nicht.«

#17

Er will keinen Trost, aber nicht deshalb, weil er ihn nicht will, – wer wollte ihn nicht, sondern, weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht, und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden, wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt.

#18

Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen. Der Mensch sieht, selbst wenn er unfehlbar wäre, im anderen nur jenen Teil, für den seine Blickkraft und Blickart reicht. Er hat, wie jeder, aber in äußerster Übertreibung, die Sucht, sich so einzuschränken, wie ihn der Blick des Mitmenschen zu sehen die Kraft hat. Hätte Robinson den höchsten oder richtiger den sichtbarsten Punkt der Insel niemals verlassen, aus Trost oder Demut oder Furcht oder Unkenntnis oder Sehnsucht, so wäre er bald zugrunde gegangen; da er aber ohne Rücksicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fernrohre seine ganze Insel zu erforschen und ihrer sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde in einer allerdings dem Verstand notwendigen Konsequenz schließlich doch gefunden.

#19

»Du machst aus Deiner Not eine Tugend.«

»Erstens tut das jeder, und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«

»Daraus eben machst du deine Tugend.«

»Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur deinetwegen. Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele.«

#20

Alles ist ihm erlaubt, nur das Sichvergessen nicht, womit allerdings wieder alles verboten ist, bis auf das eine, für das Ganze augenblicklich Notwendige.

#21

Die Enge des Bewußtseins ist eine soziale Forderung.

Alle Tugenden sind individuell, alle Laster sozial. Was als soziale Tugend gilt, etwa Liebe, Uneigennützigkeit,  Gerechtigkeit,  Opfermut,  sind  nur  ›erstaunlich‹  abgeschwächte  soziale  Laster.

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#22

Der  Unterschied  zwischen  dem  ›Ja‹  und  ›Nein‹,  das  er  seinen  Zeitgenossen  sagt,  und  jenem,  das  er  eigentlich zu sagen hätte, dürfte dem vom Tod und Leben entsprechen, ist auch nur ebenso ahnungsweise für ihn faßbar.

#23

Die Ursache dessen, daß das Urteil der Nachwelt über den Einzelnen richtiger ist als das der Zeitgenossen, liegt im Toten. Man entfaltet sich in seiner Art erst nach dem Tode, erst wenn man allein ist. Das Totsein ist für den Einzelnen wie der Samstagabend für den Kaminfeger, sie waschen den Ruß vom Leibe. Es wird sichtbar, ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im letzten Fall war er ein großer Mann.

#24

Die Kraft zum Verneinen, dieser natürlichsten Äußerung des immerfort sich verändernden, erneuernden, absterbend auflebenden menschlichen Kämpferorganismus, haben wir immer, den Mut aber nicht, während doch Leben Verneinen ist, also Verneinung Bejahung.

Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Absterben ist nur eine Erscheinung innerhalb der inneren Welt (die bestehen bleibt, selbst wenn auch sie nur ein Gedanke wäre), eine Naturerscheinung wie jede andere, weder fröhlich noch traurig.

#25

Die Strömung, gegen die er schwimmt, ist so rasend, daß man in einer gewissen Zerstreutheit manchmal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmitten welcher man plätschert, so unendlich weit ist man nämlich in einem Augenblick des Versagens zurückgetrieben worden.

#26

Er hat Durst und ist von der Quelle nur durch ein Gebüsch getrennt. Er ist aber zweigeteilt, ein Teil übersieht das Ganze, sieht, daß er hier steht und die Quelle daneben ist, ein zweiter Teil aber merkt nichts, hat höchstens eine Ahnung dessen, daß der erste Teil alles sieht. Da er aber nichts merkt, kann er nicht trinken.

#27

Er ist weder kühn noch leichtsinnig. Aber auch ängstlich ist er nicht. Ein freies Leben würde ihn nicht ängstigen. Nun hat sich ein solches Leben für ihn nicht ergeben, aber auch das macht ihm keine Sorgen, wie er sich überhaupt um sich selbst keine Sorgen macht. Es gibt aber einen ihm gänzlich unbekannten Jemand, der sich um ihn – nur um ihn – große fortwährende Sorgen macht. Diese ihn betreffenden Sorgen des Jemand, besonders das Fortwährende dieser Sorgen, verursachen ihm manchmal in stiller Stunde quälende Kopfschmerzen.

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#28

Am Sicherheben hindert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefühl des Gesichertseins für jeden Fall, die Ahnung eines Lagers, das ihm bereitet ist und nur ihm gehört; am Stilleliegen aber hindert ihn eine Unruhe, die ihn vom Lager jagt, es hindert ihn das Gewissen, das endlos schlagende Herz, die Angst vor dem Tod und das Verlangen ihn zu widerlegen, alles das läßt ihn nicht ruhen und er erhebt sich wieder. Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufällige, flüchtige, abseitige Beobachtungen sind sein Leben.

#29

Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.

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Erklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Hausarbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt auch für Zeichnungen, Skizzen, bildliche Darstellungen sowie für Quellen aus dem Internet.

Augsburg, den 21.10.2014

(Arndt Knoop)