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32 Osteopathische Medizin LITERATUR 14. Jahrg., Heft 4/2013, S. 31–36, Elsevier GmbH, www.elsevier.de/ostmed Und wenn der Leser die Hand aufs Herz legt, würde er womöglich auch so handeln?! Nur – dergleichen darf natürlich nicht passieren und sich vor allem nicht „einbürgern“. Der Anwalt kämpſt für den Täter – das ist seine Aufgabe. Dabei hat er wohl die volle Sympathie der meisten Leser, und er hat (natürlich) Erfolg. Die Ge- schichte endet mit zehn Äpfeln, die im Jahr nach der Tat besonders gut geraten sind. Nahezu teilnahmslos erzählt Schirach das, erst recht, als es um das Opfer geht, um die Frau, diese diese … Auch die Geschichte von den drei Underdogs in Berlin – allesamt nicht bei Trost –, denen sogar ein Einbruch gelingt, ist superb, wäre sie nur erfun- den. Aber sie hat sich so abgespielt, wo- bei das schwachköpfige Triumvirat noch das harmloseste Konstrukt im ganzen Ablauf ist. Die Gestalten, die betroffen sind (oder nur mitspielen), erweisen sich als die weitaus größeren Ganoven. Sie enden entweder als brutal gestylte Leichen oder völlig unbehel- ligt. Der Anwalt kennt ihren Anteil an der Gesamt-Schmutzerei, aber er muss darüber schweigen. So machen denn Schirachs Erzählungen einerseits wütend, andererseits eröffnen sie Verständnis für Dinge, die man in der Zeitung liest und als ehrbarer Bür- ger so nicht will. Wie die Sache in einem Berliner U-Bahnhof. Zwei angetrun- kene Glatzen meinen, ihr sinnentleertes Spiel mit einem harmlosen Loser treiben zu können – und werden als Lei- chen abtransportiert. Der Buchhalter- typ war wohl doch nicht der vermutete äpfelessende Langweiler, und natürlich paukt Schirach ihn nahezu mühelos he- raus: Notwehr. So weit, so gut, so nach- vollziehbar. Allein, der sehr erfahrene Polizist, der mit in der Geschichte steckt, sieht Parallelen zu einem ähnli- chen Fall ein paar Tage vorher, und die zeigen einen anderen Zusammenhang. Das ist die Faszination dieses Buches: Die Verbrechen finden allesamt ihre Strafe. Aber nicht unbedingt die, die man erwartet hätte, sondern die, die durch anwaltliches Bemühen dabei herauskommt. Schirach scha es, von strafbaren Handlungen, brutalen Begebenheiten und Morden zu erzäh- len, als seien es Kavaliersdelikte (manchmal jedenfalls), und eben doch klar zu machen, dass es allesamt Ver- brechen sind, die vor Gericht ihr Ende zu finden haben. Dass clevere Filmemacher sehr schnell auf diesen Glücksfall deutscher Krimi- nalliteratur gestoßen sind, verwundert nicht. Der Constantin Filmverleih, Do- ris Dörrie, Oliver Berben, das ZDF ... Ja, auch die in der aktuellen Wahrneh- mung eher verschnarchte Sende- anstalt. Sie ließ die besten Erzählungen aus Schirachs Feder verfilmen, und zwar meistens vorzüglich und mit der ersten Garde deutscher Schauspieler. Die dreiviertelstündigen Filme kamen sonntags, gerade dann, wenn Herr Jauch im Ersten versuchte, aktuelle emen in meistens ermüdeter Runde zu erläutern. Leider! Sie hätten einen besseren Sendeplatz verdient. Und es war auch nicht von Vorteil, dass immer gleich zwei Begebenheiten aufeinander folgten. Nicht für die Ge- schichten und nicht für die Darsteller, die hier zeigen konnten, was sie drauf- haben. Im Sinne des Wortes: Es war des Guten zu viel. Sollten Sie den fabelhaſten Edgar Selge als Seine-Frau-mit-der-Axt-erschla- genden-Arzt versäumt haben, gibt es zwei tröstende Hinweise: Im Buch ist die Sache genauso spannend. Und: Es wäre nicht zum ersten Mal, dass Dinge im Fernsehen wiederholt werden. So- gar gute! Übrigens: Die Geschichte mit Tanakas Teeschale ist im Buch besser. Gnadenloser. Willy Kolkhorst, Offenhausen Sabine Bode Kriegsenkel Die Erben der vergessenen Generation 304 Seiten (Paperback) Klett-Cotta, 2013 ISBN: 978-3-608-94808-0, € 9,95 Sabine Bode arbeitet seit 1978 freibe- ruflich als Journalistin und Buchauto- rin, überwiegend für die Kulturredak- tion des Hörfunks von WDR und NDR. Sie veröffentlichte bereits 2004 ein Buch über „Kriegskinder“ („Die vergessene Generation. Die Kriegskin- der brechen ihr Schweigen“, Klett- Cotta). Es grenzte damals an eine Pioniertat, als sie diese Menschen eine vergessene Generation nannte. 2009 schrieb sie „Kriegsenkel“, das jetzt in einer erneuten Auflage erschienen ist. Der Autorin geht es nicht um eine moralische Aufrechnung, sondern sie möchte recherchieren und beschreiben dürfen, was eigentlich in jeder Familie in diesem Land zur Debatte steht. Es geht um die Erbengeneration, die berüchtigte „Generation Golf“, die zumeist in Wohlstand und Frieden aufwachsen durſte. „Was könnte in Friedenszeiten an das Leid von Kriegskindern heranreichen? Das ist das Dilemma, das ist die Tragik vieler Kinder der Kriegskinder.“ Unbegreifliches Verhalten der Eltern und Großeltern, verbohrte Sichtweisen, extremes Sicherheitsbedürfnis, Angst zu kurz zu kommen und gänzliches Desinteresse an neuen emen – das beklagen so viele von uns an den älte- ren Generationen. Ist das die traditio- nelle Erziehung, eben eine andere Generation, passen unterschiedliche Generationen einfach nicht zusammen oder was steckt wirklich dahinter? Ist es möglich, dass eine Zeit, die fast

Kriegsenkel

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Osteopathische MedizinL I T E R AT U R

14. Jahrg., Heft 4/2013, S. 31–36, Elsevier GmbH, www.elsevier.de/ostmed

Und wenn der Leser die Hand aufs Herz legt, würde er womöglich auch so handeln?! Nur – dergleichen darf natürlich nicht passieren und sich vor allem nicht „einbürgern“.Der Anwalt kämpft für den Täter – das ist seine Aufgabe. Dabei hat er wohl die volle Sympathie der meisten Leser, und er hat (natürlich) Erfolg. Die Ge-schichte endet mit zehn Äpfeln, die im Jahr nach der Tat besonders gut geraten sind. Nahezu teilnahmslos erzählt Schirach das, erst recht, als es um das Opfer geht, um die Frau, diese diese …Auch die Geschichte von den drei Underdogs in Berlin – allesamt nicht bei Trost –, denen sogar ein Einbruch gelingt, ist superb, wäre sie nur erfun-den. Aber sie hat sich so abgespielt, wo-bei das schwachköpfi ge Triumvirat noch das harmloseste Konstrukt im ganzen Ablauf ist. Die Gestalten, die betroff en sind (oder nur mitspielen), erweisen sich als die weitaus größeren Ganoven. Sie enden entweder als brutal gestylte Leichen oder völlig unbehel-ligt. Der Anwalt kennt ihren Anteil an der Gesamt-Schmutzerei, aber er muss darüber schweigen.So machen denn Schirachs Erzählungen einerseits wütend, andererseits eröff nen sie Verständnis für Dinge, die man in der Zeitung liest und als ehrbarer Bür-

ger so nicht will. Wie die Sache in einem Berliner U-Bahnhof. Zwei angetrun-kene Glatzen meinen, ihr sinnentleertes Spiel mit einem harmlosen Loser treiben zu können – und werden als Lei-chen abtransportiert. Der Buchhalter-typ war wohl doch nicht der vermutete äpfelessende Langweiler, und natürlich paukt Schirach ihn nahezu mühelos he-raus: Notwehr. So weit, so gut, so nach-vollziehbar. Allein, der sehr erfahrene Polizist, der mit in der Geschichte steckt, sieht Parallelen zu einem ähnli-chen Fall ein paar Tage vorher, und die zeigen einen anderen Zusammenhang.Das ist die Faszination dieses Buches: Die Verbrechen fi nden allesamt ihre Strafe. Aber nicht unbedingt die, die man erwartet hätte, sondern die, die durch anwaltliches Bemühen dabei herauskommt. Schirach schafft es, von strafbaren Handlungen, brutalen Begebenheiten und Morden zu erzäh-len, als seien es Kavaliersdelikte (manchmal jedenfalls), und eben doch klar zu machen, dass es allesamt Ver-brechen sind, die vor Gericht ihr Ende zu fi nden haben.Dass clevere Filmemacher sehr schnell auf diesen Glücksfall deutscher Krimi-nalliteratur gestoßen sind, verwundert nicht. Der Constantin Filmverleih, Do-ris Dörrie, Oliver Berben, das ZDF ...

Ja, auch die in der aktuellen Wahrneh-mung eher verschnarchte Sende-anstalt. Sie ließ die besten Erzählungen aus Schirachs Feder verfi lmen, und zwar meistens vorzüglich und mit der ersten Garde deutscher Schauspieler. Die dreiviertelstündigen Filme kamen sonntags, gerade dann, wenn Herr Jauch im Ersten versuchte, aktuelle Th emen in meistens ermüdeter Runde zu erläutern. Leider! Sie hätten einen besseren Sendeplatz verdient. Und es war auch nicht von Vorteil, dass immer gleich zwei Begebenheiten aufeinander folgten. Nicht für die Ge-schichten und nicht für die Darsteller, die hier zeigen konnten, was sie drauf-haben. Im Sinne des Wortes: Es war des Guten zu viel.Sollten Sie den fabelhaft en Edgar Selge als Seine-Frau-mit-der-Axt-erschla-genden-Arzt versäumt haben, gibt es zwei tröstende Hinweise: Im Buch ist die Sache genauso spannend. Und: Es wäre nicht zum ersten Mal, dass Dinge im Fernsehen wiederholt werden. So-gar gute! Übrigens: Die Geschichte mit Tanakas Teeschale ist im Buch besser. Gnadenloser.

Willy Kolkhorst, Off enhausen

Sabine Bode

Kriegsenkel

Die Erben der vergessenen Generation304 Seiten (Paperback)Klett-Cotta, 2013ISBN: 978-3-608-94808-0, € 9,95

Sabine Bode arbeitet seit 1978 freibe-rufl ich als Journalistin und Buchauto-rin, überwiegend für die Kulturredak-tion des Hörfunks von WDR und NDR. Sie veröff entlichte bereits 2004 ein Buch über „Kriegskinder“ („Die vergessene Generation. Die Kriegskin-der brechen ihr Schweigen“, Klett-Cotta). Es grenzte damals an eine Pioniertat, als sie diese Menschen eine vergessene Generation nannte. 2009 schrieb sie „Kriegsenkel“, das jetzt in einer erneuten Aufl age erschienen ist. Der Autorin geht es nicht um eine moralische Aufrechnung, sondern sie möchte recherchieren und beschreiben dürfen, was eigentlich in jeder Familie in diesem Land zur Debatte steht. Es geht um die Erbengeneration, die

berüchtigte „Generation Golf “, die zumeist in Wohlstand und Frieden aufwachsen durft e. „Was könnte in Friedenszeiten an das Leid von Kriegskindern heranreichen? Das ist das Dilemma, das ist die Tragik vieler Kinder der Kriegskinder.“Unbegreifl iches Verhalten der Eltern und Großeltern, verbohrte Sichtweisen, extremes Sicherheitsbedürfnis, Angst zu kurz zu kommen und gänzliches Desinteresse an neuen Th emen – das beklagen so viele von uns an den älte-ren Generationen. Ist das die traditio-nelle Erziehung, eben eine andere Generation, passen unterschiedliche Generationen einfach nicht zusammen oder was steckt wirklich dahinter? Ist es möglich, dass eine Zeit, die fast

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Osteopathische MedizinL I T E R AT U R

14. Jahrg., Heft 4/2013, S. 31–36, Elsevier GmbH, www.elsevier.de/ostmed

Thomas Kia (Hrsg.)

Integrative Osteopathie bei Rückenschmerzen

Systematische Diagnostik und ganzheitliche Th erapie438 Seiten, 350 Abb. (Paperback)Urban & Fischer in Elsevier, 2013ISBN: 978-3-437-58830-3, € 59,99

Das 438 Seiten umfassende Buch ist in 12 Kapitel mit mehreren Unterka-piteln unterteilt. Das jeweilige Th ema wird ausführlich und verständlich dargestellt. Ergänzt wird der Text durch Bilder und anschauliche Zeich-nungen. Anhand des übersichtlichen Inhaltsverzeichnisses lassen sich die einzelnen Th emengebiete rasch auf-fi nden, ein ausführliches Register fi ndet sich am Ende des Buches. Um-fangreiche Literaturverzeichnisse am Ende der einzelnen Kapitel bieten dem Leser die Möglichkeit, sich weiter in die einzelnen Th emenbereiche zu vertiefen.

Bereits in der Einleitung weist der Herausgeber darauf hin, dass eine ef-fektive Behandlung neben einem guten Verständnis für die strukturellen und funktionellen Zusammenhänge des Körpers und dem Wissen um unter-schiedliche Th erapieansätze auch eine fundierte Diff erenzialdiagnose und eine gründliche körperliche Unter-suchung erfordert.Im ersten Kapitel wird ein Überblick über die Entwicklung der Osteopathie als Behandlungsform und über die Entwicklung des Menschen gegeben. Es beinhaltet zudem eine ausführliche Darstellung der menschlichen Steuer-ungssysteme (Nervensystem und endo-krines System).Vier fi ktive Patienten werden im Buch dargestellt. Am Ende eines jeden entsprechenden Kapitels wer-den jeweils die Inhalte auf diese Patienten umgesetzt. Die Vorstellung dieser Beispielpatienten erfolgt in Kapitel 2. Inhalt des dritten Kapitels ist die Darstellung einer Diff erenzialdiagnose des Rückenschmerzes, sowohl bezüg-lich der Lokalisation als auch der Ursa-che des Schmerzes. Hier wird auf Ursachen struktureller und funktionel-ler Genese im muskuloskelettalen System ein gegangen, aber auch auf Ursachen außerhalb dieses Systems, wie z.B. auf internistischem, gynäkolo-gischem oder urologischem Gebiet. Klinik und mögliche Diagnosesiche-rung werden besprochen.

In Kapitel 4 fi ndet man eine sehr aus-führliche und anschauliche Anleitung für eine strukturierte Anamnese und eine strukturierte körperliche Unter-suchung. Es gibt Hinweise auf sog. „red fl ags“, die bei der Untersuchung gefunden werden könnten. Die Unter-suchung wird nach Abhandlung all-gemein gültiger Punkte unterteilt in die Gebiete HWS, BWS, Rippen/ Th orax und LWS. Fünf Modelle, die zur Beurteilung der Körperhaltung von Nutzen sein können, von jeweils unterschiedlichen Autoren werden vorgestellt. Kapitel 5 beschäft igt sich mit den kom-pensatorischen Mechanismen von der kortikalen Ebene bis zur Peripherie. Das Verhältnis von Struktur und Funk-tion, myofasziale Ketten und Modelle verschiedener Autoren werden be-schrieben. Auch zerebrospinale (Fehl-) Steuerung und die Auswirkung bei Fehlsteuerungen auf die Wirbelsäule werden behandelt.Kapitel 6 beschreibt die Wichtigkeit der Defi nition von realistischen Th erapie-zielen und die Interaktion Patient und Th erapeut.In Kapitel 7 werden verschiedene mus-kuloskelettale Behandlungstechniken beschrieben, und es wird dargestellt, warum und wann man sie anwenden kann und welche Eff ekte auft reten. Ob man sich der laut Autorenteam „tra-ditionellen Auff assung“ anschließt, dass HVLA-Techniken der „positionellen Korrektur eines Wirbels“ dienen – wo-

70 Jahre zurückliegt, noch so stark in das Leben nachgeborener Kinder hin-einwirkt? Warum haben viele das Ge-fühl, nicht genau zu wissen, wer man ist und wohin man will? Zwischen den in den 1960er- und 1970er-Jahren Geborenen und ihren El-tern existiert ein gravierender Genera-tionskonfl ikt. Th ematisiert wird er allerdings in der Öff entlichkeit nicht, er wird eher innerhalb der Familie abgeschirmt oder erst gar nicht als solcher erkannt. Die meisten dieser Eltern wie auch ihre eigene Eltern wis-

sen nicht wirklich, dass sie traumatisiert sind. Sie halten ihre Schreckenserinne-rungen auf Abstand und verkümmern teilweise emotional. Das hat Auswir-kung auf die Erziehung ihrer Kinder. „Kriegsenkel“ ist ein Buch über Men-schen, denen die eigenen Eltern unwil-lentlich Schaden zufügten. Niemand wird in diesem Buch beschuldigt, und niemand wird geschont. Es ist eben Realität, dass die in der 1960er-Jahren Geborenen einen weit schwächeren Be-zug zur deutschen Kriegsvergangenheit haben als ihre Eltern. Die Autorin sieht

als Gründe den zeitlichen Abstand, das Schweigen in den Familien und eine Aversion gegenüber Th emen der NS-Zeit. Mein Fazit: Lesen! Wenn Sie für sich selbst feststellen können, dass in Ihrer Familie alles besser läuft als hier beschrieben, dann umso besser. Zur Reifung und zum Verständnis der ei-genen Persönlichkeit ist es wichtig, seine eigene „Geschichte“ erfassen zu können – nicht zuletzt auch für Ihre Arbeit am Menschen.

Kerstin Schmidt, Rubrikleitung

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