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Menschenwürde – Eine Illusion? 1 Franz Josef Wetz Menschenwürde ist ein auratischer Begriff mit anerkannt machtvoller Geltung. Magischen Orakeln gleich scheint ihre Autorität sogar jede genauere Erklärung überflüssig zu machen, sobald sich höchste und letzte Wertentschei- dungen auf sie berufen. Der achtunggebietenden Würde kommt eine herausragende Bedeutung sowohl in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 als auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 so- wie in fast allen Dokumenten der Vereinten Nationen zu. Auch die erst im Dezember 2000 von allen 15 Mitglieds- partnern unterzeichnete Grundrechtscharta der Europäi- schen Union lenkt sinnfällig in Kapitel 1 die Aufmerksam- keit der Leser auf die Idee der Menschenwürde. Nach dem Grundgesetz bildet sie den höchsten Wert der deutschen Gesellschaftsordnung – festgeschrieben durch Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Allerdings gibt weder die Allgemeine Menschenrechtserklärung noch das Grundgesetz oder die Grundrechtscharta klare Aus- kunft über Bedeutung und Begründung dieser alteuropäi- schen Idee, die auf diese Weise eine schöne Leerformel und unverbindliche Liebenswürdigkeit zu bleiben droht. Deshalb verwundert es nicht weiter, dass sich fast alle Sei- ten in gesellschaftlichen Wertekonflikten auf die Men- schenwürde berufen, dass aber die meisten in Verlegenheit geraten, wenn man sie nach dem Sinn dieses glanzvollen Sprachgebildes befragt. Schon bezüglich der Herkunft des Würdebegriffs muss streng zwischen Kultur- und Geistes- geschichte einerseits, Politik- und Rechtsgeschichte ande- 27

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Menschenwürde – Eine Illusion?1

Franz Josef Wetz

Menschenwürde ist ein auratischer Begriff mit anerkanntmachtvoller Geltung. Magischen Orakeln gleich scheintihre Autorität sogar jede genauere Erklärung überflüssigzu machen, sobald sich höchste und letzte Wertentschei-dungen auf sie berufen. Der achtunggebietenden Würdekommt eine herausragende Bedeutung sowohl in derCharta der Vereinten Nationen von 1945 als auch in derAllgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 so-wie in fast allen Dokumenten der Vereinten Nationen zu.Auch die erst im Dezember 2000 von allen 15 Mitglieds-partnern unterzeichnete Grundrechtscharta der Europäi-schen Union lenkt sinnfällig in Kapitel 1 die Aufmerksam-keit der Leser auf die Idee der Menschenwürde. Nach demGrundgesetz bildet sie den höchsten Wert der deutschenGesellschaftsordnung – festgeschrieben durch Artikel 1:„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Allerdingsgibt weder die Allgemeine Menschenrechtserklärung nochdas Grundgesetz oder die Grundrechtscharta klare Aus-kunft über Bedeutung und Begründung dieser alteuropäi-schen Idee, die auf diese Weise eine schöne Leerformelund unverbindliche Liebenswürdigkeit zu bleiben droht.Deshalb verwundert es nicht weiter, dass sich fast alle Sei-ten in gesellschaftlichen Wertekonflikten auf die Men-schenwürde berufen, dass aber die meisten in Verlegenheitgeraten, wenn man sie nach dem Sinn dieses glanzvollenSprachgebildes befragt. Schon bezüglich der Herkunft desWürdebegriffs muss streng zwischen Kultur- und Geistes-geschichte einerseits, Politik- und Rechtsgeschichte ande-

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rerseits unterschieden werden. Denn ein rechtspolitischesBekenntnis zur Menschenwürde findet sich erstmals inden Erklärungen und Verfassungen des 20. Jahrhunderts,während der kulturphilosophische Begriff der Würde schonim Altertum belegt ist.

Kulturgeschichte der Würde

Allgemein wird der Begriff Menschenwürde auf zweierleiWeise verwendet: einmal als Bezeichnung einer angebore-nen Eigenschaft des Menschen, welche Wesensmerkmalgenannt wird. Hiernach besitzt der Einzelne schon kraftseines Menschseins, unabhängig von seinem Verhaltenund den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er lebt,eine besondere Würde.

Dann aber bedeutet Würde auch einen Gestaltungsauf-trag, demzufolge es hauptsächlich von uns Menschenselbst, unserer Lebensweise und unseren Umgangsformenabhängt, ob und inwiefern wir Würde besitzen. In diesemZusammenhang wird Würde mal als individuelles Ver-dienst, mal als gesellschaftliche Leistung betrachtet.

In der abendländischen Geschichte wurden beide Be-stimmungen fast immer miteinander verbunden. Man sag-te, der Mensch solle sich in seinem Leben seiner angebore-nen Würde als Wesensmerkmal durch sein Denken undTun als Gestaltungsauftrag würdig erweisen. Doch durch-zieht lediglich die Vorstellung der Würde als konkreter Ge-staltungsaufgabe die gesamte abendländische Kultur, nichtaber das Verständnis der Würde als natürlicher Grundaus-stattung und menschlicher Wesensbestimmung.

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Antike

Den alten Athenern und Römern war der Gedanke fremd,dass alle Wesen, die Menschenantlitz tragen, von Geburt anWürde besitzen. Würde – dignitas et excellentia – galt damalsnicht als angeborene Eigenschaft, sondern allein als das Er-gebnis individueller Leistung und sozialer Anerkennung.

Erstens erwies sie sich als abhängig von der Fähigkeitdes Einzelnen, seine Leidenschaften zu bezwingen undseine Gefühle zu beherrschen. Eine würdevolle Persönlich-keit wahrte das rechte Maß und lebte nach der Vernunft.Sie ertrug ihr Unglück, über das sie sich nicht übermäßigbetrübte, genauso gelassen wie ihr Glück, durch das siesich nicht zu Übermut hinreißen ließ.

Zweitens zeigte sich die Würde im Verhalten, in Mimikund Gestik, Körperpflege und Bekleidung. Die Würde äu-ßerte sich im Gehen und Sprechen wie in der Ruhe, diesie ausstrahlte: Eine würdevolle Person redete mit tieferStimme, war niemals zu laut, lief nicht zu schnell, sondernschritt bedächtig und anmutig.

Nach griechisch-römischer Auffassung hing mensch-liche Würde aber nicht allein von innerer Selbstbeherr-schung und äußerer Selbstdarstellung ab, sondern drittensauch von gesellschaftlicher Wertschätzung. Eine solchebrachte die Allgemeinheit entweder adeligen Personenoder Menschen mit besonderem sozialen Rang entgegen,die als Würdenträger in der Regel ein höheres politischesAmt bekleideten.

Christentum

Der allererste, der dagegen nachweislich von allgemeinerMenschenwürde sprach, war, soweit bekannt, der römischePhilosoph und Politiker Marcus Tullius Cicero.2 In seinen

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Schriften tritt die Würde des Menschen erstmals als Gestal-tungsauftrag und Wesensmerkmal hervor. Cicero erkannteallen Menschen eine unverwechselbare Würde zu, die erauf deren Vernunftnatur gründete, an der jeder Einzelnesein Leben ausrichten sollte. Allerdings setzte sich CicerosWürdeverständnis nicht gleich durch; erst das Christentumbrachte seine Vorstellungen zu voller Reife und Blüte.Knapp umrissen, ergibt sich für die christlich-metaphysi-sche Begründung der Menschenwürde folgendes Bild:

Nach christlichem Verständnis gründet die Würde desMenschen einmal auf dessen Gottebenbildlichkeit – daraufalso, dass Gott den Menschen bei der Schöpfung nach sei-nem Bildnis formte und dadurch teilhaben lässt an seinerVernunft und Macht. Als Gottes Kind und Ebenbild besitzeder Mensch einen absoluten Wert, wodurch er sich von al-len übrigen Kreaturen unterscheide. Aus dem Naturzusam-menhang herausragend, wohne er sogar in der Mitte desAlls, das für ihn und um seinetwillen erschaffen sei.

Dann zeigt sich nach christlicher Auffassung die erha-bene Würde des Menschen an dessen aufrechtem Gang,seiner Personalität, dem freien Willen, seiner unsterb-lichen Seele und an der Vernunft, mit deren Hilfe derMensch sich selbst, Gott und die Welt erkennen könne.

Besonders aber tritt seine Würde und Erhabenheit an derMenschwerdung Gottes und Erlösungstat Christi hervor –daran also, dass Gott selbst Fleisch wurde, um die Men-schen durch Tod und Auferstehung zu erlösen.

Bei alldem wird die Menschenwürde stets als Wesens-merkmal gesehen, das jedem Einzelnen zukomme, dasalso nicht allein seinem gehobenen Stand, seiner adeligenHerkunft und tadellosen Lebensweise zu verdanken sei.Diese Menschenwürde sei von jedermann, auch von Staatund Gesellschaft, zu achten; alle hätten sie zu schützenund zu bewahren. So folgte aus der jedem Menschen ange-borenen Wesenswürde zugleich ein Gestaltungsauftrag –

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nämlich ehrenhaft und gottesfürchtig zu leben, mit sichselbst und anderen schonend umzugehen. Man war zwarfest davon überzeugt, dass niemand die allen Menschen in-newohnende Würde zerstören könne, dennoch hielt mansie aber für verwundbar. Dies sei dann der Fall, wenn derEinzelne – statt ein besonnenes, tugendhaftes, einsichts-volles Leben zu führen – sich in Sünde und Ungehorsamgegen Gott erhebe und von seinen Trieben, Leidenschaftenund ungezügelter Ichsucht hinreißen lasse.

Neuzeit

Im Gegensatz zum Mittelalter wurde seit dem 17. Jahrhun-dert die Würde des Menschen nicht mehr an dessen Gott-ebenbildlichkeit und seiner Mittelpunktstellung in derWelt festgemacht. So gründete beispielsweise ImmanuelKant im 18. Jahrhundert die Würde des Menschen aus-schließlich auf dessen Selbstbewusstsein, Freiheit, Morali-tät und Vernunft – und gerade nicht auf die menschlicheGottebenbildlichkeit und Stellung in der Welt.

Einerseits war er davon überzeugt, dass der Mensch einvergänglicher Teil der Natur sei, andererseits betrachtete erihn als eine aus der Natur herausgehobene Person mit be-sonderer Würde. Hierunter verstand Kant einen unbeding-ten, unvergleichlichen Wert, der über allen Preis erhabensei. Einen Preis zu haben bedeutete dagegen für ihn, nur ei-nen äußeren Wert zu besitzen und damit käuflich, aus-tauschbar zu sein. Doch habe der Mensch als Vernunft-wesen einen inneren Wert – eben Würde – und sei darumebenso unersetzbar wie einmalig. Als geistig-sittliches Ver-nunftwesen erhebe der Mensch mit Recht Anspruch aufAchtung von seinesgleichen, wie er umgekehrt auch diePflicht habe, andere zu achten. Darüber hinaus habe derEinzelne sogar Verpflichtungen sich selbst gegenüber;

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hierzu gehöre etwa, niemals vor anderen zu kriechen odersich ihnen hündisch zu unterwerfen. Wer vor anderen frei-willig das Rückgrat beuge, um mit gekrümmtem Rückenund nach oben schielenden Augen um ihre Gunst zu buh-len, beleidige sich selbst. Erst ein Leben in gegenseitigerAnerkennung und aufrichtiger Selbstachtung ermöglicheden aufrechten Gang als die dem Menschen einzig ange-messene Körper- und Geisteshaltung. Wer sich stattdessenvor seinen Nächsten zum Wurm mache, dürfe sich nach-her nicht wundern, wenn man ihn mit Füßen trete.

Was dem Menschen von Geburt an diese absoluteWürde verleiht, ist Kant zufolge seine Vernunft als die Fä-higkeit zu moralischer Selbstbestimmung. Diese äußeresich vor allem in der Möglichkeit des Einzelnen, sich vonden eigenen Begierden, Trieben und Instinkten zu befreienund sich zu sittlichem Handeln zu bestimmen. Stets solleman sich fragen, was geschehen würde, wenn alle so han-delten, wie man selbst, und sich dann mit moralischer Ge-sinnung so verhalten, dass tatsächlich jeder wie man selbsthandeln könnte, ohne dass dadurch logische Widersprüche,Chaos, Ungerechtigkeit und Leid entstünden.

Nun war der Mensch für Kant zwar Herr über sichselbst, nicht aber Eigentümer seiner selbst. In dieser Bezie-hung gleicht seine Position durchaus der christlichen Auf-fassung, der zufolge der Mensch ja gleichfalls nicht überdas eigene Leben beliebig verfügen darf, da es Eigentumund Geschenk Gottes sei. Als moralisches Vernunftwesenoder Ebenbild Gottes besitze der Einzelne zwar Macht übersich, doch soll er diese nicht dazu missbrauchen, um sichihrer zu entledigen.

Außerdem sei der zu freier, verantwortlicher Selbst-bestimmung fähige Einzelne als Wesen mit absoluterWürde auch kein bewusstloses Stück Holz, weshalb ernicht wie ein bloßes Objekt oder Werkzeug behandelt wer-den dürfe. Als Person, das heißt als sittlich gebundenes

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Vernunftwesen mit achtungswürdigem Wert, soll derMensch nach Kant niemals nur als Mittel zum Zweckoder als Sache benutzt werden – nicht einmal durch sichselbst. Deshalb verbiete seine Würde ihm auch, sich selbstzu misshandeln, zu verkaufen oder gar zu töten – eineSichtweise, der Theologie und Kirche zustimmen. Wer esdennoch tue, verletze bloß sich selbst – und nach christli-cher Auffassung sündigt der Betreffende sogar gegen Gott.

Trotz dieser unleugbaren Übereinstimmungen löst sichdie Idee der Menschenwürde aber in der Neuzeit aus der al-ten religiösen Einbindung heraus, bleibt als angeborene Ei-genschaft jedoch weiter bestehen, um nun ihren letztenGrund in Vernunft und Moralität – jedoch nicht mehr inder Gottebenbildlichkeit des Menschen – zu finden. Hier-bei gilt auch für Kant die Menschenwürde – als Inbegriffsittlicher Freiheit – zugleich als Wesensmerkmal und Ge-staltungsauftrag, der dem Einzelnen einen moralisch-gu-ten Lebenswandel vorschreibt.

Doch so reich die Kulturgeschichte an Auffassungenüber die Menschenwürde ist, zur politisch-rechtlichenDurchsetzung dieser Idee kam es erst im 20. Jahrhundert.

Würde als höchster Rechtswert

Die Wurzeln der Würdeidee mögen in ferner Vergangen-heit liegen, als Rechtswert hingegen ist sie fast geschichts-los. Heute werden die Begriffe Menschenwürde und Men-schenrechte für gewöhnlich in einem Atemzug genanntund stets aufeinander bezogen. Man sagt, die Menschen-rechte fußen auf der Idee der Menschenwürde, die ihrhöchster Bestimmungsgrund sei. Dabei wird gewöhnlichübersehen, dass beide Begriffe ursprünglich gar nicht zu-sammengehörten. Bemerkenswerterweise spielt der BegriffMenschenwürde in allen europäischen Erklärungen und

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Verfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts noch gar keineRolle.

Das Bekenntnis zur Menschenwürde findet sich zumersten Mal in den Erklärungen und Verfassungen des 20.Jahrhunderts. Der Grund für das Bekenntnis zur Men-schenwürde als höchstem Rechtswert liegt hauptsächlichin den furchtbaren Gräueltaten des Zweiten Weltkriegessowie in den gravierenden Grundrechtsverletzungen derverschiedenen diktatorischen Regime der jüngeren Vergan-genheit. Doch weder das Grundgesetz noch die AllgemeineErklärung der Menschenrechte oder irgendeine andereRechtsurkunde gibt eine klare Antwort auf die Frage, wasMenschenwürde eigentlich ist und worauf sie letztlichgründet. Offenbar vertrauten unsere Verfassungsgründergerade nach der Zeit des Nationalsozialismus besondersauf die Plausibilität der Vorstellung, dass es unabhängigvon der Stärke oder Schwäche des Einzelnen einen Respektvor dem Menschen als solchem geben müsse: vor seinemideellen Kern, der weder von der Staatsgewalt noch vonanderen zerstört werden dürfe, und darum rechtlich ge-schützt werden sollte.

Dennoch hat das deutsche Bundesverfassungsgerichtnach 1951 nicht auf jede nähere Beschreibung und Begrün-dung der Würde verzichten können. Verschiedene Grund-satzurteile des Bundesverfassungsgerichts betonen, dassder Idee der Würde „die Vorstellung vom Menschen alsgeistig-sittlichem Wesen zugrunde liege, das darauf ange-legt sei, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zuentfalten, aber nicht als isoliertes und selbstherrliches,sondern als gemeinschaftsbezogenes Individuum.“

Verletzungen der Menschenwürde liegen nach höchst-richterlicher Meinung dann vor, wenn der Einzelne zu ei-nem bloßen Mittel, zur vertretbaren Sache herabgewürdigt,auf die Ebene eines Gegenstandes erniedrigt, seine urei-genste Intimsphäre missachtet, seine Ehre in demütigender

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Weise gekränkt oder sein Leben zum bloßen Vegetierenverurteilt wird: „Es widerspricht der menschlichen Würde,den Menschen zum bloßen Objekt zu machen“, heißt esimmer wieder. Die sogenannte Objektformel verbietetzwar nicht, den Menschen überhaupt zu einer Sache odereinem Mittel zum Zweck zu machen, was völlig unrealis-tisch wäre, da in der modernen Gesellschaft die Menschenständig füreinander Mittel zum Zweck sind. Die Objekt-formel untersagt aber, den Menschen zum bloßen Objektoder Mittel werden zu lassen.

Bei näherem Hinsehen erkennt man hinter der höchst-richterlichen Bestimmung und Begründung der Menschen-würde die Vernunftphilosophie Immanuel Kants; aus ande-ren Urteilen scheint dagegen das christliche Menschenbildstärker heraus. Allerdings sind mittlerweile große Zweifelam ebenso traditionellen wie offiziellen Würdeverständnisentstanden.

Theoretische Gefährdung der Würde

Verschiedentlich bekommt man zu lesen, dass die politisch-rechtliche Idee der Menschenwürde ohne religiös-metaphysi-sche Annahmen undenkbar sei. Dem steht jedoch nicht nurentgegen, dass in der säkularen, pluralistischen Gesellschaftdie traditionelle Metaphysik und der christliche Glaube fürviele Menschen unverständlich geworden sind. Eine religiös-metaphysische Verankerung der Menschenwürde steht darü-ber hinaus im Widerspruch zur verfassungsmäßig garantier-ten Neutralität unseres liberalen Gemeinwesens, wie siedurch die Artikel 3, 4, 33 und 140 verbürgt wird. Die religiöseWürdeauffassung überträgt auf den Menschen weltanschau-liche Bestimmungen, die nicht verallgemeinerungsfähigsind und in einem liberalen Staat mit offener Gesellschaftniemandem aufgezwungen werden dürfen.

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Die gleichen Einwände, die gegen eine christliche Inter-pretation der Menschenwürde sprechen, können auch gegendie vernunftmetaphysische Auslegung vorgebracht werden.Denn das vernunftphilosophische Würdeverständnis ist fastebenso geschichtlich und weltanschaulich eingefärbt unddaher als oberste Leitidee eines Regelwerks mit kulturin-variantem Gültigkeitsanspruch gleichfalls ungeeignet.Selbst wenn eine Reihe ethischer Grundsätze der Vernunft-philosophie Immanuel Kants, für sich betrachtet, verall-gemeinerbar wären, so ist doch der metaphysische Hinter-grund, vor dem sie entwickelt wurde, mehr als fragwürdig.Seine Idee der Menschenwürde ist in einen spekulativenDeutungsrahmen eingebettet, der sich aus der sogenanntenZwei-Reiche-Lehre zusammensetzt, wonach der Menschein zweigeteiltes Geschöpf darstellt: ein heteronomes Sin-nen- und autonomes Vernunftwesen. Als letzteres rage eraus der Natur heraus, von der er sich grundsätzlich unabhän-gig zu machen vermöge. Kant zufolge besitzt der Mensch nurals ein der Natur enthobenes Vernunftwesen besondere Wür-de. Allerdings ist diese angedeutete Zweiteilung des Men-schen angesichts der Ergebnisse der modernen Kosmologie,Evolutionstheorie, Molekulargenetik und Neurophysiologienicht nur äußerst zweifelhaft, es ist auch nicht einzusehen,warum Vernunftbesitz und Freiheit als solche bereits einenabsoluten Wert darstellen. Hierfür fehlt jede stichhaltige Be-gründung; solche wird von Kant lediglich vorgetäuscht oderkünstlich erzeugt. Sein vernunftphilosophisches Würdekon-zept bleibt ein nicht allgemeingültiges metaphysisches Re-likt, das noch von religiös-christlichen Vorstellungen zehrt,ohne diese beim Namen zu nennen und ausdrücklich zu ver-teidigen. Es ist ein „Säkularisat“ des christlich-metaphysi-schen Menschenbilds und als solches verkappt weltanschau-lich imprägniert.

Somit widerspricht selbst die vernunftphilosophischeWürdeinterpretation der verfassungsmäßig garantierten

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Neutralität unseres Staates; jene ist mit einem liberalen,pluralistischen Gemeinwesen unvereinbar, sobald sie füralle gelten und verbindlich werden soll. Das schließt zwarnicht aus, dass die Menschen für sich gute Gründe habenkönnen, von der Wahrheit einer bestimmten Weltanschau-ung überzeugt zu sein. Doch lediglich weltanschaulichneutrale Wertvorstellungen können jedermann zugemutetund von allen anerkannt werden. Die Idee der angeborenenMenschenwürde, die ohne weltanschauliche Hintergrund-annahmen leer bleiben muss, gehört nicht dazu.

In dieser prekären Situation helfen auch neuere vernunft-philosophische Bemühungen nicht weiter, die – ausgehendvon der Diskursethik Apels und Habermas’ – die Idee derWürde als inhärente Eigenschaft und ethischen Auftrag zubegründen suchen. Hiernach soll die Würde ein Implikatder Möglichkeitsbedingungen sinnvoller Interaktion undKommunikation sein. Um mit anderen ein faires Gesprächoder einen argumentativen Diskurs führen zu können,wozu wir nach Auffassung der Diskursethiker grundsätz-lich verpflichtet sind und wofür sich ihrer Auffassung nachauch letzte Gründe beibringen lassen, gehöre immer schondie Anerkennung des anderen als Person mit eigener Würde.Diese sei denknotwendige Voraussetzung der letztbegründ-baren Ethik des herrschaftsfreien Diskurses.3 Im Ergebniskommen die Vertreter dieser Position praktisch zum glei-chen Resultat wie die Verfechter der metaphysischen Lehrevon der personalen Geistseele des Menschen.

Allerdings folgt aus der angenommenen Denknotwendig-keit der Würde keineswegs, dass es sie deshalb schon gibt.Aus einer bloßen „Bedingung der Möglichkeit“ darf nichtauf ein werthaftes Wesensmerkmal geschlossen werden. Sotiefschürfend die Vorstellung auch sein mag, dass die Men-schenwürde zu den Sinn- und Möglichkeitsbedingungenkommunikativen Handelns gehört – grundsätzlich mussdie Unterstellung, dass logische Notwendigkeit eine ontolo-

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gische Eigenschaft oder metaphysische Realität beweisenkönne, als vorwitzig und verfehlt abgelehnt werden.

Im Grunde genommen haben die ursprünglichen Dis-kursethiker Apel und Habermas solches auch niemals ver-sucht. Man kann sogar sagen: Wie in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts die Idee der Menschenwürde das immerfragwürdiger gewordene Naturrecht als tragendes Fun-dament von Moral und Recht ablöste, so tritt die Diskurs-ethik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die Stelleder problematischen Idee der Menschenwürde als Wesens-merkmal. Ohne Rückgriff auf nicht allgemeingültige meta-physische Annahmen versuchen die Diskursethiker denAnspruch des Einzelnen auf körperliche Unverletzlichkeit,freies Urteil und offene Kommunikation als ethisch ge-rechtfertigt zu begründen. Soweit sich Forderungen der ge-nannten Art aus ihrer letztbegründeten Kommunikations-ethik ergeben, bezeichnet die Würde als Inbegriff dieserForderungen nur noch einen Gestaltungsauftrag, aber keinWesensmerkmal mehr.4

Selbstbehauptung der Menschenwürde als reinerGestaltungsauftrag

Da alle Vorstellungen der Würde als Wesensmerkmal welt-anschaulich eingefärbt sind, kann sie nicht an der Spitzeder allgemeinverbindlichen Normpyramide eines liberalenStaates mit offener Gesellschaft stehen. Ausgehend von dermodernen Trennung zwischen Privatem und Öffent-lichem, ist die Frage nach der Würde als Wesensmerkmalin die Privatsphäre zu verlegen. Allein eine anthropolo-gisch fundierte Würdeauffassung als reiner Gestaltungsauf-trag ohne weltanschauliche Hintergrundannahmen verfügtüber die geforderte Allgemeinheit, um Anspruch auf staat-lichen Schutz erheben zu können; sie gehört in den öffent-

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lichen Bereich von Recht und Politik. Hiernach hängt dieWürde hauptsächlich vom Umgang des Menschen mitsich und seinesgleichen sowie des Staates mit seinen Bür-gern ab. Würde wäre dann keine metaphysische Vorgabemehr, sondern lediglich eine ethische Aufgabe. Sie ergäbesich aus dem gegenseitigen Respekt der Bürger als verletz-licher, selbstbestimmter Wesen – aus dem Wert, den dieseeinander zusprechen, und der Unterstützung, die sie alsRechtssubjekte einander entgegenbringen. So betrachtetexistiert die Achtung vor der Würde früher als diese selbst:Keine Würde ohne Achtung!

Die Grundlage solchen Würdeverständnisses, wie es vorallem eine Reihe zeitgenössischer Philosophen vertreten,ist anthropologischer Art. Den Ausgangspunkt bildet dieSelbsterkenntnis des Einzelnen als eines endlichen, ver-wundbaren, leidensfähigen Wesens mit starkem Erhal-tungs-, Entfaltungs- und Entwicklungsdrang. ObgleichReichtum, Macht und Ansehen manche Bürger so starkblenden, dass sie darüber ihre kreatürliche Zerbrechlichkeitvergessen, lässt sich im Allgemeinen an der eigenen Unvoll-kommenheit und Bedürftigkeit doch mühelos die Vorzugs-würdigkeit eines Lebens ohne Hunger, Not, Ausbeutung,Gewalt und Folter erkennen. Aber warum sollte dem Ein-zelnen am Wohlergehen seiner Nachbarn gelegen sein?

Einmal aus rechtverstandenem Eigeninteresse, nachdem wir schon deshalb wollen sollten, dass auch anderengewährt werde, was wir für uns selbst als Mindeststandardbeanspruchen; nur so können wir mittelfristig die Erfül-lung der eigenen Wünsche und Interessen sichern. Dannsollte uns aber auch daran gelegen sein aus jener rationalenÜberlegung, die einen Schritt zur Seite voraussetzt, dassNot, Schmerz und Erniedrigung für andere nicht wenigerwiegen als für einen selbst, sowie aus Dankbarkeit für daseigene gute Leben, wenn es ein solches ist. Als besondershilfreich erweist sich hierbei immer wieder eine Vergegen-

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wärtigung trost- und hoffnungsloser Lebensgeschichten,die aufschlussreicher sind als abstrakte Zahlen. Denn dieRede von Tausenden Opfern hat den Charakter einer blo-ßen Nachricht oder geschichtlichen Information, die unsin der Regel weniger berührt als die Leidensgeschichte ein-zelner Schicksale.

Dies alles kann einen dazu ermuntern, sich für das Wohlseiner Mitmenschen zu engagieren, die – wie wir selbst –fremder Zuwendung, Fürsorge und Achtung bedürfen.

Solches Würdebild zu verstehen dürfte angesichts derbeschriebenen Zerbrechlichkeit und ständigen Gefährdungdes menschlichen Lebens nicht sonderlich schwer fallen,und es bedarf keiner subtilen ethischen Begründungen,um einzusehen, dass die Erfüllung der angedeuteten Be-dürfnisse und Interessen für alle Menschen dauerhaft gesi-chert sein sollte, weil sie überhaupt erst menschenwürdigeVerhältnisse schafft. Man darf sogar sagen: Wem die ein-fache Forderung nicht auf Anhieb einleuchtet, dass mate-rielle Unterversorgung, geistige Bevormundung und Ver-hinderung der persönlichen Entwicklung aufgehobenwerden sollten, ist wohl dumm, hartherzig oder verstockt.Gerade vor solchen Menschen, die anscheinend das allzuOffensichtliche leicht übersehen, muss sich die Gesell-schaft rechtlich schützen. Das heißt: Wem Beschreibungender dargelegten Art nicht schon ohne absolute Begründun-gen reichen, dem wird mehr an Begründung sicherlichauch nicht genügen, selbst wenn es ein allgemeingültigerVernunftsatz oder absolutes Gottesgebot wäre. Damit seibereits angedeutet, dass es ohne ein gewisses Maß anWohlwollen nicht zur Herstellung menschenwürdiger Ver-hältnisse kommen kann.

Manchmal werden solche an den Grundbedürfnissenund dem Wohlergehen der Menschen orientierte Ethiken,die ohne subtile Begriffsakrobatik auszukommen ver-suchen, als historische Schwundstufe der alteuropäischen

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humanistischen Moral verächtlich gemacht, deren Stimmeund Grammatik im Zeitalter der technischen Machtüber-nahme des Menschen über den Menschen nicht mehr tra-ge. Das ist allerdings falsch. Wahr dagegen ist, dass schonfrüher die Menschenwürde als Gestaltungsauftrag daswichtigste an der alteuropäischen Werteordnung war, de-ren humanistischen Kern es auch künftig zu bewahren gilt,weil es vermutlich keine höheren sozialen Ziele als Frei-heit und Verminderung von Grausamkeit gibt. Damit seieiner Ethik das Wort geredet, die sich weniger an abstrak-ten Ideen oder edlen Symbolen als am konkreten Men-schen und seinen Sorgen orientiert. Wie häufig in der Ge-schichte opferten Menschen in fanatischer Verblendungihr eigenes wie auch fremdes Leben für äußere Ideale, stattsich für mehr menschliche Wärme in der vor Kälteeinbrü-chen ungesicherten Welt zu engagieren.

Freilich steht die Idee der Menschenwürde als Gestal-tungsauftrag immer in einem bestimmten kulturellenKontext, in dem sie allein erfüllt werden kann. Aber sosehr der jeweilige Lebensstandard mit über das Niveau dererhobenen Lebensansprüche entscheidet, grundsätzlichbleibt unbestreitbar, dass noch vor jeder kulturellen Diffe-renzierung eine existenzielle Gleichstellung aller Men-schen als nackte, endliche, leidensfähige Wesen besteht,die gedemütigt oder erniedrigt werden können. Darumstrebt wohl auch ein jeder nach einem Leben ohne mate-rielle Not und geistige Unterdrückung. Die weitgehend un-gehinderte Entfaltung eigener Anlagen und Fähigkeiten so-wie die gesellschaftliche Anerkennung aller Bürger alsRechtssubjekte bleiben höchste politische Ziele weltweit.

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Ein verkappter Naturalismus?

Die Idee von Würde und Ehre als reiner Gestaltungsauftrag,die alle metaphysischen oder weltanschaulich gebundenenElemente zu verbannen sucht, steht hin und wieder imVerdacht, selbst weltanschaulich imprägniert zu sein.Denn mit ihrem Verzicht auf die Würde als Wesensmerk-mal scheint sie mit der immer stärker verbreiteten natura-listischen Lebens- und Weltauffassung unserer Zeit über-ein zu stimmen, die selbst eine Weltanschauung darstelle,auch wenn die Ergebnisse der modernen Naturwissen-schaften eine radikal-entzauberte Sicht auf Leben undWelt nahe legen sollten.

Tatsächlich bestehen im Zeitalter der modernen Natur-wissenschaften erhebliche Zweifel an der angeborenenMenschenwürde überhaupt. So erschüttert etwa die neu-zeitliche Kosmologie die stolze Anmaßung der Erdenbürger,eine besondere Würde zu besitzen, indem sie die Erde unddie darauf lebenden Menschen nicht einmal wie flüchtigePünktchen erscheinen lässt. Ähnliches bewirkt die biologi-sche Evolutionslehre, wodurch die Menschheit als Zufalls-ergebnis einer langen, ungerichteten Entwicklung erbar-mungslos in das Naturgeschehen hineingezogen wird.Dazu passen die moderne Genetik und die seit einigen Jah-ren in den Mittelpunkt philosophischen Interesses gerück-ten Neurowissenschaften, nach denen unser Verhalten undGeistesleben stärker als bisher angenommen von Erbanla-gen und unbewussten Hirnprozessen bestimmt wird. DieWürde scheint heute zum Raub von Neuronen und Genenzu werden, die sie sich mit wachsendem Appetit einverlei-ben. Offenbar gibt es in der Natur kein Zeichen, das derMensch als Indiz für seine Wesenswürde auf sich beziehenkönnte.

Hiernach wäre der Mensch im letzten nichts als ein ver-gängliches Stück um sich selbst bekümmerte Natur in ei-

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ner um ihn unbekümmerten Welt; die Idee der Würde alsWesensmerkmal wäre dann eine unhaltbare Illusion, mitderen Hilfe die alteuropäische Menschheit ihr ständig be-drohtes Selbstwertgefühl gegen die übermächtige Welt zustärken suchte. Der schöne Schein der Wesenswürde ge-reichte dem Menschen zwar zum Überlebensvorteil undverhinderte so jene Selbstverachtung, die ihn angesichtsseiner Nichtigkeit und Ohnmacht im unermesslichenWeltall befallen könnte – eine Aufgabe, die nicht gering-geschätzt werden dürfe, sofern sie den Menschen psy-chisch stabilisiere und von existenziellen Ängsten befreie.Aber trotz aller Lebensdienlichkeit bleibe diese Idee eineunhaltbare Fiktion, die als solche reiner Phantasie ent-stamme und bloße Luftwurzeln treibe.

Selbst wenn diese Vermutungen zuträfen, stünde darumnoch lange nicht fest, ob wir mit Erkenntnissen solcher Artauch fertig werden können. Manchmal ermöglicht erst Un-wissenheit ein gutes Leben! Menschen glauben gerne das,was sie wollen, und nicht unbedingt das, was sie sehen.Ihr Glaube ist häufig stärker als ihre Sinne. Da ohne Zuver-sicht, Trost und Hoffnung das Leben unerträglich zu seinscheint, ziehen verständlicherweise viele im Zweifelsfallihr Lebensbehagen hässlichen Wahrheiten vor. Das darfman niemandem vorwerfen, selbst wenn Hoffnung undTrost auf problematischen Tatsachenleugnungen gründensollten, was hier allerdings nicht entschieden sei.

Es sei nur betont, dass die Idee der Würde als reiner Ge-staltungsauftrag tatsächlich mit der szientistisch-natura-listischen Auffassung insofern überein stimmt, als auchsie die metaphysisch begründete Vorstellung von der vor-gefundenen Wertabsolutheit des Menschen und der unan-tastbaren Heiligkeit seines Lebens hinter sich lässt. Aller-dings besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass derNaturalismus, dem zufolge der von Genen und Neuronengeprägte Mensch in den unendlichen Weiten des Alls das

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flüchtige Zufallsergebnis einer langen, ungerichteten Na-turentwicklung ist, die stolze Idee menschlicher Wesens-würde gänzlich zerstört. Aus naturalistischer Sicht istdiese Vorstellung bloß erdichtet und so phantastisch wieKentauren, Einhörner oder Greife.

Dagegen schließt eine weltanschaulich neutrale Posi-tion keineswegs aus, dass Menschen gute Gründe habenkönnen, von der Wahrheit der Wesenswürde überzeugt zusein. Nur sollte der Einzelne nicht seinen Nachbarn, derStaat nicht seinen Bürgern und die Weltgemeinschaft nichtihren Mitgliedstaaten eine solche Anschauung aufzwingenwollen, da sie weltanschaulich gefärbt ist und sich so miteinem liberalen, pluralistischen Gemeinwesen sowie einermultikulturellen Weltöffentlichkeit nur schwer verein-baren lässt. In dieser heiklen Situation besitzt bloß einevon jeder metaphysischen Einfärbung unabhängige Würde-konzeption als reiner Gestaltungsauftrag grenzüberschrei-tende Anerkennungschancen.

Vorrang der Menschenrechte

Eines ist die Würde als ethischer Anspruch im beschriebe-nen Sinne, etwas anderes ihre rechtliche Sicherung. Ange-sichts der allgemeinen Neigung der Menschen zu Gleich-gültigkeit, Egoismus und Gewalt, der traurigen Tatsache,dass Menschen nicht Götter, wohl aber Bestien werdenkönnen, erscheint ein besonderer rechtlicher Schutz derWürde – wie bei uns durch Art. 79 Abs. 3 GG – als absolutgerechtfertigt selbst ohne metaphysische Hintergrund-annahmen. In Art. 79 Abs. 3 heißt es, eine Änderung vonArtikel 1 des Grundgesetzes sei absolut unzulässig undmüsse jeder mehrheitsdemokratischen Beschlussfassungentzogen bleiben. Solch starker rechtlicher Würdeschutzscheint notwendig zu sein, wenn man bedenkt, dass nicht

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nur blutrünstige Fanatiker mordlustig sind. Genauso gefähr-lich scheinen ganz normale Bürger zu sein, die aus dem glei-chen Stoff gemacht sind wie wir alle – die Mitläufer undKonformisten, welche selbst als brave Ehemänner und guteFamilienväter erschreckend grausam gegen ihre Mitmen-schen sein können, wenn Vorschriften es ihnen gebieten.

Was hingegen ein würdevolles Dasein ist, das beschrei-ben wohl mittlerweile noch am besten die allgemeinenMenschenrechte. Sie formulieren auf leicht verständlicheWeise Ansprüche des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Si-cherheit; Nahrung, Unterkunft und Bildung; Gleichheitvor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Justiz und überhauptdas Recht auf ein Gemeinwesen, das die Voraussetzungendafür schafft.

Diese Gleichsetzung von Leben in Würde mit verwirklich-ten Menschenrechten bleibt nicht ohne Folgen für das her-kömmliche Verhältnis beider Begriffe zueinander. Normaler-weise betrachtet man die Menschenwürde als tragendesFundament der Menschenrechte, als deren unverbrüchlichenAbleitungsgrund, gleichsam ihr „fundamentum inconcus-sum“. Im Gegensatz dazu wird hier die Menschenwürde vonden Menschenrechten her interpretiert: Die Menschenwürdesei der höchste Gipfel der Menschenrechte, weniger derenGrundlage als vielmehr deren Ziel. Alle davon abweichendenDeutungen können die Würde nur als weltanschaulich ge-formtes Wesensmerkmal sehen. Weltanschauungsneutralbetrachtet ist Würde aber keine angeborene Eigenschaft me-taphysischer Art, sondern ein Ideal, das in der Einlösungmenschenrechtlicher Versprechen liegt, selbst wenn nichtsdarauf hindeutet, dass diese jemals alle gehalten werden.

Der zu erwartende Einwand, dass die Menschenrechteihre Legitimation verlieren, wenn sie nicht auf die Ideeder Wesenwürde als deren wahre Quelle gegründet werden,lässt sich nicht aufrechterhalten. Denn es ist einfachfalsch, dass allein die Idee der angeborenen Wesenswürde

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die Menschenrechte garantieren kann. Abgesehen davon,dass die im 18. und 19. Jahrhundert proklamierten Men-schenrechte zur damaligen Zeit nicht ein einziges Mal aufdie Idee der Menschenwürde gegründet wurden, die erst im20. Jahrhundert nach dem brutalen Mord von MillionenUnschuldiger den Weg ins Recht fand, können die Men-schenrechte durchaus ethisch begründet werden und damitfür sich stehen. Es bedarf keiner tiefsinnigen Reflexion, umzu erkennen, dass Schmerz, Leid oder Unterdrückung nichtnur für einen selbst, sondern für alle etwas Schlimmessind. So betrachtet nehmen die Menschenrechte keinemittlere Position zwischen Politik und Metaphysik ein;sie stehen vielmehr zwischen Politik und Ethik. Es bleibtalso dabei: Weltanschauungsneutral gesehen besteht derwahre Gehalt menschlicher Würde in verwirklichtenMenschenrechten – einem Leben in körperlicher Unver-sehrtheit, freiheitlicher Selbstbestimmung und Selbstach-tung sowie in sozialer Gerechtigkeit.

Heute unterscheidet man, von den sogenannten Um-welt- und Solidaritätsrechten der Dritten Welt abgesehen,gewöhnlich drei Rechtsarten – erstens die liberalen Ab-wehrrechte, die einen besonderen Schutz der Freiheit desEinzelnen vor willkürlichen Eingriffen durch den Staat for-dern, um auf diesem Wege dessen Zwangsgewalt zu be-grenzen. Dazu gehören außer dem Recht auf Leben und in-dividuelle Selbstbestimmung auch die Erlaubnis, nachpersönlichem Glück zu streben, Gleichheit vor dem Ge-setz sowie Religions- und Weltanschauungsfreiheit.

Hiervon unterscheidet man zweitens die politischenTeilhaberechte, auch Bürgerrechte genannt, die dem Ein-zelnen aktive Beteiligung am politischen Geschehen er-möglichen. Dazu gehört neben Versammlungs-, Meinungs-und Pressefreiheit vor allem das allgemeine Wahlrecht,über das in der Regel nur die Bürger eines Landes verfügen,weshalb man es auch nationales Menschenrecht nennt.

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Von diesen politischen Mitwirkungsrechten werden alsdrittes wiederum die sozialen Leistungs- und Wohlfahrts-rechte unterschieden, die dem Einzelnen soziale Sicherheitversprechen für den Fall, dass seine Existenz gefährdendeRisiken wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit eintre-ten, und damit verbunden sozialen Ausgleich, um so diewirtschaftliche Lage jener Mitbürger zu verbessern, die alssozial schwach oder benachteiligt gelten.

Der moderne Staat verfolgt mit den drei genannten Rech-ten – den liberalen Freiheitsrechten, politischen Teilhabe-rechten und sozialen Wohlfahrtsrechten – eine mittlere Li-nie zwischen einem das Gemeinwohl vernachlässigendenIndividualismus und einem die Freiheit des Einzelnen miss-achtenden Kollektivismus, worauf nicht näher eingegangensei. Festzuhalten bleibt nur, dass sich in einem welt-anschauungsneutralen Staat die Würde des Menschenhauptsächlich über dessen Rechte definiert, welche sichauf die wichtigsten menschlichen Interessen beziehen –wie möglichst wenig leiden zu müssen, elementare Grund-bedürfnisse befriedigen zu können und sich ungestört ent-falten zu dürfen. Selbstverständlich entsprechen diesenRechtsansprüchen wieder bestimmte Grundpflichten derBürger, wenngleich hiervon im Grundgesetz – anders als inder Weimarer Reichsverfassung – kaum die Rede ist.

Nun soll mit dem angedeuteten säkularen Würdever-ständnis aber nicht jede darüber hinausgehende Würdevor-stellung ausgeschlossen werden. Es ist niemandem ver-wehrt, zusätzlich zu glauben, dass die Würde desMenschen ein angeborenes Wesensmerkmal darstellt; seinpersönliches Würdeverständnis auf religiöse, metaphysi-sche oder vernunftphilosophische Vorstellungen zu grün-den. Es darf aber keiner den anderen zwingen, das genausozu sehen, da es sich hierbei mehr um private als um verall-gemeinerbare Standpunkte handelt.

Der weltanschaulich neutrale Staat darf seine Bürger le-

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diglich auf solche Wertorientierungen festlegen, die aufverallgemeinerbaren Begründungen beruhen. Dazu gehörtdie Menschenwürde als Gestaltungsauftrag, nicht jedochals Wesensmerkmal. Sowohl in der säkularen Gesellschaftmit zunehmend naturwissenschaftlichem Weltbild alsauch in der multikulturellen Staatengemeinschaft ist Men-schenwürde deshalb nur noch vorstellbar als Ergebnisgemeinsamer Anstrengungen für ein Leben in körperlicherUnversehrtheit und freiheitlicher Selbstbestimmung alswichtige Hilfen zur persönlichen Selbstachtung. Wo eskeine Achtung vor sich und voreinander gibt, da gibt es,weltanschauungsneutral betrachtet, auch keine Würde.Jede religiös-metaphysische Interpretation der Würde gehtauf alle Fälle zu weit und übersteigt das, was die VereintenNationen ihren Mitgliedstaaten und unsere Verfassungihren Bürgern – ja sogar das, was der Einzelne seinemNächsten – vorschreiben darf. Allerdings überschreitet sienicht das, was jeder Einzelne für sich glauben und vondem er Zeugnis vor seinem Nächsten ablegen darf.

Anmerkungen1 Vgl. ausführlich zum Folgenden mit detaillierten Literaturanga-ben Franz Josef Wetz: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Falleines Grundwertes, Stuttgart 2005.2 Marcus Tullius Cicero: De officiis, Zürich/Stuttgart 1964, Buch 1,106.3 Dietrich Böhler: Diskursethik und Menschenwürdegrundsatzzwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung, in: Karl-OttoApel und Matthias Kettner (Hrsg.): Zur Anwendung der Diskurs-ethik, in: Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1992, S.201–231; Hans-Joachim Höhn: Vergängliche Würde, in: Franz JosefWetz und Brigitte Tag (Hrsg.): Schöne Neue Körperwelten, Stutt-gart 2001, S. 215–240.4 Vgl. Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Aufdem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt/M. 2001, S. 62 etpassim.

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