18
MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG Jahrbuch 2006 Band 13 Im Auftrag der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg herausgegeben von Gabriele Busch-Salmen, Walter Salmen und Markus Zepf STRUBE VERLAG EDITION 9052

MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Jahrbuch 2006 Band 13

Im Auftrag

der Gesellschaft für Musikgeschichte

in Baden-Württemberg herausgegeben

von Gabriele Busch-Salmen, Walter Salmen

und

Markus Zepf

STRUBE VERLAG EDITION 9052

Page 2: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

GESELLSCHAFT FÜR MUSIKGESCHICHTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG E.V. Schulberg 2, 72070 Tübingen

Präsident: Prof. Dr. Manfred Hermann Schmid Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats: Prof. Dr. Manfred Hermann Schmid

Die Drucklegung dieser Publikation wurde gefördert durch die STIFTUNG

MUSIKFORSCHUNG IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Anschrift der Redaktion: Profs. Drs. Gabriele Busch-Salmen und Walter Salmen, Markenhofstr. 14

79199 Kirchzarten-Burg am Wald, Tel.: 07661 / 6 13 37 Dr. Markus Zepf, Erlenweg 7 b

79115 Freiburg, Tel.: 0761 / 4760467

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über

<http://dnb.ddb.de/> abrufbar.

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier.

ISBN 3-89912-094-9 / 978-3-89912-094-3

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Für den Inhalt der einzelnen Beiträge einschließlich Abbildungen sind die Verfasser verantwortlich.

© 2006 Strube Verlag GmbH, München-Berlin www.strube.de [email protected]

Einbandgestaltung: Petra Jerčič, München Satz: Klaus Leitner, München

Druck und Weiterverarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany November / 2006

STRUBE VERLAG MÜNCHEN

Page 3: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

I N H A L T

GELEITWORT DES PRÄSIDENTEN ....................................................................... VII

VORBEMERKUNGEN DER HERAUSGEBER ......................................................... IX

* * *

Z U M F R O N T I S P I Z

G A B R I E L E B U S C H -S A L M E N : Der »Weiße d’Andrade« (1902) von Max Slevogt in der Staatsgalerie Stuttgart ............... 1

* * *

M A N F R E D H E R M A N N S C H M I D Mozart und Oberschwaben ............................................................................................. 4 W A L T E R S A L M E N Die Spazier- und Gartenlust der Familie Mozart ............................................................ 9 M A R T I N A R E B M A N N »Ich sprach Mozarts Namen aus …« – Ernst Friedrich Kauffmann (1803–1856) und die Mozartbegeisterung des Mörikefreundeskreises .............................................. 20 C H R I S T O P H S C H M I D E R Kirchenmusikalische Werke Mozarts in der Aufführungstradition des Freiburger Münsters ............................................................................................... 34 L U I T G A R D S C H A D E R Das »Adelaide-Konzert« KV C 14.05 – Hindemiths Bearbeitung eines angeblichen Mozart-Fragments ........................................................................... 54

* * *

C H R I S T I A N M E Y E R Tradition orale et «raison graphique». A propos d’un nouveau témoin de la lecture polyphonique de l’Évangile de la Dédicace Ingressus Ihesus .................. 70 M A R K U S Z E P F »Dem weltberühmten Manne des Landes Baden ein würdiges Denkmal setzen«. Johann Caspar Ferdinand Fischer zum 350. Geburtstag ............................................... 88 T H O M A S S C H I P P E R G E S Neue deutsche Musik in Heidelberg. Splitter der Jahre 1933 bis 1945 ...................... 108

Page 4: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

H E R M A N N J U N G Kontinuität im Wandel. Zu Person und Werk des Komponisten Hermann Schäfer ......................................... 128 M I C H A E L S T R O B E L Sergiu Celibidache am Pult des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (1958–1983). Zum 10. Todestag des Dirigenten am 14. August 2006 ............................................. 147

B E R I C H T E U N D K L E I N E R E B E I T R Ä G E

A N D R E A S T R A U B Die Musikalienbestände im Hohenlohe-Zentralarchiv

auf Schloss Neuenstein ............................................. 161 E V E L Y N F L Ö G E L Das Elztalmuseum Waldkirch.

Ein Museum für mechanische Musikinstrumente ..... 164 R Ü D I G E R J E N N E R T 100 Jahre Welte-Mignon.

Aus Freiburg in die Welt ... und wieder zurück ........ 169 R A I N E R P E T E R S 60 Jahre SWR Sinfonieorchester

Baden-Baden und Freiburg ....................................... 175 B U R K H A R D L A U G W I T Z Die Landessammlung Streichinstrumente

Baden-Württemberg ................................................. 179 M A R K U S Z E P F »Er heiset Silberman, und seine Werck seynd gül-

den«. Wanderausstellung zu Leben und Werk der Orgelbauerfamilien Silbermann ................................ 184

A N D R E A S O S T H E I M E R Neue und restaurierte Orgeln

in Baden-Württemberg 2005 .................................... 187

Berichte aus den Musikabteilungen der Landesbibliotheken Karlsruhe ......................................................................................................... 204 Stuttgart ........................................................................................................... 205

R E Z E N S I O N E N ..................................................................................................... 207

* * * G E S E L L S C H A F T F Ü R M U S I K G E S C H I C H T E I N B A D E N -W Ü R T T E M B E R G E . V .

Vorstand und Beirat ................................................................................................... 223 Neue Mitglieder ......................................................................................................... 224

Die Autorinnen und Autoren der Hauptbeiträge ......................................................... 225 P E R S O N E N - U N D O R T S R E G I S T E R D E R J A H R G Ä N G E 2005 U N D 2006 ............................................................ 228

Page 5: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

SERGIU CELIBIDACHE AM PULT DES RADIO-SINFONIEORCHESTERS STUTTGART (1958–1983).

ZUM 10. TODESTAG DES DIRIGENTEN AM 14. AUGUST 2006

MICHAEL STROBEL

Abbildung 1: Fritz Kohlstädt (1921–2000): Sergiu Celibidache, 1976. Öl auf Leinwand. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Südwestrundfunks.

Am 30. Mai 1969 war der Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart, Hans Müller-Kray, überraschend einem Herzinfarkt erlegen. Im August 1948 hatten ihn die amerikanischen Besatzungsbehörden zum Chef der Musikabtei-lung und des Sinfonieorchesters von Radio Stuttgart ernannt. Am 4. Juni 1945 war der Sendebetrieb wieder aufgenommen worden, mit Inkrafttreten des Ra-diogesetzes am 12. Mai 1949 stand die Übergabe der Verantwortung in deut-sche Hände unmittelbar bevor. Noch waren die äußeren Bedingungen ungün-

Page 6: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

148 Michael Strobel

stig, denn es mußte in den Saal des Gasthofs Krone im Stuttgarter Vorort Un-tertürkheim zur Produktion von Opernaufnahmen ausgewichen werden. Dort entstand u.a. Daphne von Richard Strauss mit der damals berühmten Sopranis-tin Trude Eipperle in der Titelpartie. Einer der Programmschwerpunkte der frühen Nachkriegsjahre war die Aufführung zeitgenössischer und während der Diktatur der Nationalsozialisten als »entartet« bezeichneter Werke. So erklan-gen anläßlich der von Hans Müller-Kray veranstalteten ersten Tage zeitgenössi-scher Musik im Frühjahr 1950 Kompositionen von Béla Bartók, Paul Hinde-mith, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky und Karl Amadeus Hartmann. In seinen Memoiren beschreibt Peter Kehm, seit dem 1. Januar 1949 Programm-direktor des Senders, Müller-Kray folgendermaßen:

Hans Müller-Kray war dem Sinfonieorchester, das inzwischen 76 Musiker umfaßte, ein allge-genwärtiger, so unermüdlich wie penibel arbeitender Chef, mit einem damals ungewöhnlichen Grad von Präsenz: Er war für sein Orchester da, auch wo es um die administrative Seite oder die personellen Angelegenheiten ging.1

Kehm schränkt dann aber ein: Was ihm fehlte, war jene Eigenschaft, die für viele Konzertgänger den Dirigenten jedenfalls zuvorderst ausmacht und die auch unser tonangebender Musikfreund im Verwaltungsrat so schmerzlich vermißte: das Charisma einer außerordentlichen Persönlichkeit, des Dompteurs, Magiers und faszinierenden Gebieters über ein inspiriertes, hingebungsvolles Kollektiv, das mit diesem zu einem einzigen Organismus zu verschmelzen scheint.

Ihm fehlten mithin die Eigenschaften, durch die sich Sergiu Celibidache so deutlich auszeichnete. Müller-Kray, den Ministerpräsident Reinhold Meier 1951, anläßlich der Eröffnung des neuen Sendesaales in der Villa Berg zum Generalmusikdirektor ernannte und der ab 1968 eine Dirigierklassse in der Staatlichen Musikhochschule leitete, war es dann selbst, der schon 1950 Kon-takt zu renommierten Kollegen knüpfte, um sie als Gäste an sein Orchester zu verpflichten. Daraus resultierte der langjährige Kontakt zu Carl Schuricht, der dem Orchester bis 1967 verbunden blieb. Aber auch andere namhafte Dirigen-ten fanden den Weg nach Stuttgart: Josef Keilberth und Wilhelm Furtwängler, Erich Kleiber, Igor Markevich, Leopold Stokowsky, Hans Knappertsbusch, Ferenc Fricsay, Karl Böhm, Ernest Ansermet, Georg Solti, Carlo Maria Giulini, Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten Konzertsaals spielte man damals in verschiedenen Behelfssälen, im Furtbachhaus oder im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater, später im Metropolpalast, einem Kino, das sich an der Stelle des alten Stuttgarter Bahnhofs befand. Für größere Veran-staltungen stand schließlich das Straßenbahner-Waldheim in Stuttgart-Deger-loch zur Verfügung. Erst mit der feierlichen Eröffnung der Liederhalle am 2. August 1956 änderte sich die unbefriedigende Situation.

»Gastkonzert zum angegebenen Termin möglich. 16 erste Geigen. Honorar DM 6.000.-«, telegraphierte Celibidache lapidar und dirigierte.2 Auf dem Pro-

1 Peter Kehm: Vorübergehend lebenslänglich… Ganz persönliche Erinnerungen aus 40 Rund-

funkjahren – und einigen davor, Stuttgart 1990, S. 148f. 2 Ebd., S. 153.

Page 7: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

Sergiu Celibidache in Stuttgart 149

gramm am 11. September 1958 in der Liederhalle standen Strawinskys Suite Nr. 2 für kleines Orchester, Hindemiths Sinfonische Metamorphosen und die 4. Sinfonie von Johannes Brahms.3 Celibidache war zu diesem Zeitpunkt bereits ein bekannter Mann. Geboren im rumänischen Roman am 11. Juli (28. Juni) 1912, begann er sein Studium der Mathematik und Philosophie an den Univer-sitäten von Jassy und Bukarest.4 Nach einigen Semestern an der Sorbonne in Paris kam Celibidache 1936 nach Berlin, um bei Heinz Tiessen das Fach Kom-position, bei Hugo Distler Kontrapunkt, bei Walter Gmeindl Dirigieren und bei Eduard Spranger und Nicolai Hartmann Philosophie zu belegen. Zugleich ar-beitete Celibidache an einer Dissertation zur Kompositionstechnik des Renais-sancekomponisten Josquin Desprez, die aber offenbar nicht veröffentlicht wurde.5 Celibidache lernte auch die ihm unbekannte deutsche Sprache und hielt sich, wie schon in Paris, als Gelegenheitspianist und mit der Leitung von Ei-senbahner- und Straßenbahnerchören finanziell über Wasser. Daneben hatte Celibidache zwei ihn tief prägende Begegnungen in dieser Zeit. Er geriet in den Kreis um Martin Steinke, der viele Jahre in China gelebt hatte und Zen lehrte: »Von ihm habe ich erfahren, wo die Grenzen des Denkens liegen, was in der Musik gedacht werden kann und was nicht«, bekannte Celibidache später. »Ich kann nur sagen, ohne Zen hätte ich nicht dieses sonderbare Prinzip erlebt, daß im Anfang das Ende liegt. Musik ist nichts anderes als die Materialisierung dieses Prinzips.«6

Eine Zentralfigur war ihm Wilhelm Furtwängler. Celibidache ging so oft wie möglich in seine Konzerte. Auf die Frage, was ihn mit diesem Mann verbinde, antwortete Celibidache 1985 in einem Interview:

Alles. Von ihm habe ich die tiefgreifendsten musikalischen Erkenntnisse. Einmal habe ich ihn gefragt, wie geht das, Herr Doktor, hier dieses Tempo, da sagte er: „Je nachdem, wie es klingt.“ Das ist Offenbarung. Also, es gibt kein physikalisches Tempo, das ein Metronom fas-sen kann. Klingt es reich und ist die Mannigfaltigkeit enorm, brauche ich viel Zeit, um das zu-sammenzufassen.7

Persönlich kennengelernt haben sich die beiden Musiker wohl erst nach dem Krieg, als Celibidache bereits zahlreiche Konzerte mit den Berliner Philharmo-nikern dirigiert hatte. Nach dem tragischen Tod Leo Borchards war Celibidache aus einem Probedirigat als Überraschungssieger hervorgegangen und wenige Tage später, am 29. August 1945, absolvierte er in Berlin-Zehlendorf sein ers-tes von insgesamt 414 Konzerten mit den Berliner Philharmonikern. Celibida-ches kometenhafter Aufstieg wurde gebremst durch die fortschreitende Ent-fremdung von Furtwängler, der seit 1952 wieder Chefdirigent der Philharmoni-ker war, und durch wachsende Widerstände im Orchester. 1950 war Celibida-

3 Vgl. dazu: Das Radio-Sinfonie-Orchester Stuttgart unter Sergiu Celibidache, zusammenge-

stellt von Jörg Hucklenbroich, Historisches Archiv des SWR, 21. April 1999. 4 Die Geburtsdaten ergeben sich aus dem damals in Rumänien gebräuchlichen Julianischen

Kalender. 5 Klaus Umbach: Celibidache – der andere Maestro, München 1995, S. 90 bzw. Klaus Weiler:

Celibidache – Musiker und Philosoph, München 1993, S. 13ff. 6 Zit. nach Umbach: Celibidache (1995), S. 95. 7 Klaus Lang: »Lieber Herr Celibidache …« – Wilhelm Furtwängler und sein Statthalter, Zürich

/St. Gallen, 1988, S. 211.

Page 8: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

150 Michael Strobel

che zu Gastspielen nach Südamerika eingeladen worden und man hatte ihm wohl sogar den Chefposten des New York Philharmonic Orchestra nach dem Rückzug von Bruno Walter angeboten.8

Die Abwesenheit von Berlin tat das ihrige und nach Furtwänglers Tod wurde nicht er zum Nachfolger gewählt, sondern Herbert von Karajan. Diesen Schock hat Celibidache nie richtig überwunden. Er ging nach London, dirigierte in Italien, arbeitete in Kopenhagen (1960–1963), dann in Stockholm (1963–1971) und band sich nie mehr fest an ein Spitzenorchester, unterschrieb auch keine Verträge, außer 1985 in München. Im September 1958 erschien er erstmals am Pult des Radio-Sinfonieorchesters. Schon am 25. Juni 1947 war er mit den Berliner Philharmonikern in Stuttgart gewesen und hatte einen großen Eindruck hinterlassen. »Ähnlich tosenden Beifalls können wir uns nicht entsinnen, aber auch nicht der ähnlichen Leistung eines Instrumentalkörpers«, hieß es in der Stuttgarter Zeitung.9 »Sie zehren nicht vom alten Ruhm, die Berliner Philhar-moniker, doch der Geist, der in ihnen lebendig, ist der alte geblieben. Daß das Zusammenspiel auf solche Höhe gebracht werden kann, erscheint ein Wunder.«

Ähnlich war der Tenor nach dem triumphalen Konzert mit dem Radio-Sinfo-nieorchester am 11. September 1958. »Ekstase auf dem Podium« überschrieb Dieter Schorr seine Besprechung in den Stuttgarter Nachrichten wenige Tage später.10

Hindemiths Sinfonische Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber waren der Höhepunkt des Abends (den man sich freilich bei Brahms erwartet hatte), weil Celibidache die Flachheit des amerikanischen Hindemith-Stils durch klangliche und rhythmische Akzen-tuierungen prächtig aktivierte. Ekstatisch hüpfte der Dirigent auf seinem Podium (es war viel zu klein) und riß das Orchester ebenso mit, wie er zuvor mit bewunderungswürdiger Technik in Strawinskys Suite pantomimisch Can-Can und Jazz optisch-musikalisch ausgedeutet hatte.

Von der Wiedergabe der 4. Sinfonie von Brahms war der Rezensent weniger überzeugt:

Es fehlte bei aller verblüffenden Sicherheit und allem lodernden Feuer die geistige Direktion und Disziplin, die Scheu, Diskretion und Verhaltenheit vor dem künstlerischen Maß des Wer-kes. Selbst leise Stellen klangen nur schwärmerisch, crescendi und decrescendi blieben ex-pressionistische Stilleben. Und doch macht gerade bei Brahms die künstlerische Form mehr als die Hälfte der Musik aus, weit mehr als etwa die Klangwirkung der Instrumentation. Auch für Ekstasen ist sie fast so wenig geeignet wie die Mozarts.

Dennoch war der Abend ein überragender Erfolg und selbst Carl Schuricht reihte sich als Zuhörer in den Jubel des Publikums mit ein.

Ein Jahr später kehrte Celibidache nach Stuttgart zurück und dirigierte Werke von Maurice Ravel, Johannes Brahms und Serge Prokofjew.11 »Wie bei Celibi-daches letztem Gastspiel erlebten wir auch dieses Mal wieder ein virtuoses Konzert, an dessen hohem musikantisch-klangtechnischen Niveau man Zu-künftiges zum Teil wird messen müssen«, hieß es in der Presse:12

8 Ebd., S. 138ff. 9 Stuttgarter Zeitung, 28. Juni 1947. 10 Stuttgarter Nachrichten, 13. September 1958. 11 Ravel: Alborada del grazioso – Brahms: Haydn-Variationen – Prokofjew: 5. Sinfonie. Das

Konzert fand am 11. September 1959 statt. 12 Stuttgarter Nachrichten, 14. September 1959.

Page 9: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

Sergiu Celibidache in Stuttgart 151

Denn das Orchester des SDR übertraf sich durchaus nicht selbst. Die Qualitäten seiner Bläser und Streicher, die Momente des Vollendeten erreichten, sind vielmehr kontinuierlich und pro-fund, freilich jedoch nicht von jedem Dirigenten entsprechend zu realisieren. Celibidaches große Stärke ist es aber gerade, in intensiver Probenarbeit seine Vorstellungen nahezu restlos aufs Orchester übertragen zu können. Er ist ein Klangzauberer vom Range Stokowskis und ein eminenter Rhythmiker dazu. […] Die revuehafte Show, die sich auf dem Dirigierpodium ab-spielt, läuft praktisch als außermusikalischer und zusätzlicher, wenn auch amüsanter Effekt neben der Musik her, und es macht Mühe, sie mit der nachgerade besessen demonstrierten Be-scheidenheit des Dirigenten, allen Applaus aufs Orchester zu lenken, auf einen Nenner zu bringen. […] In der Erinnerung an diesen Abend haften jedoch nicht Ravel, Brahms oder Pro-kofjew, sondern Celibidache, was man etwa trotz Furtwänglers Eigenwilligkeiten über Furt-wängler nie hätte sagen können.

Aus diesen Äußerungen wird deutlich, wie stark die charismatische Persönlich-keit des damals 44jährigen Dirigenten zu beeindrucken wußte. Trotzdem kam es vorerst zu keiner weiteren Zusammenarbeit. Nach unmittelbar sich anschlie-ßenden Rundfunkaufnahmen reiste er ab und kehrte nur sporadisch zurück, obwohl sich Peter Kehm gleich nach dem ersten Zusammentreffen um eine engere Kooperation bemüht hatte.13

Das nächste Konzert leitete er erst 5 Jahre später am 22. Oktober 1964 im Rahmen der Woche der leichten Musik mit Werken von Gabrieli, Schubert, Ravel, Strawinsky und Hindemith und Anfang Juni 1965 entstanden wieder Aufnahmen für das Schallarchiv des SDR.14 Die Situation veränderte sich nach dem frühen Tod von Hans Müller-Kray und der daraus resultierenden Vakanz. Müller-Kray, der Musik- und Orchesterchef gewesen war, zu ersetzen, war eine schwierige Aufgabe. Sein Stellvertreter Willy Gaessler rückte nun als Musik-chef nach und brachte den Namen Michael Gielen in die Diskussion. Die ein-geleiteten Gespräche erwiesen sich als konstruktiv und Gielen sicherte eine Präsenz von 16 Wochen zu.15 Zusätzlich wurde Karl Münchinger, der Gründer des Stuttgarter Kammerorchesters, als ständiger Gastdirigent gewonnen. Die Lösung erschien optimal, aber der Orchestervorstand erhob Einwände gegen die Berufung Gielens. Auf der Suche nach einem geeigneten Dirigenten für das Jubiläumskonzert anläßlich des 25jährigen Bestehens des Orchesters 1971 war es Musikern, die mit Celibidache Kontakt hielten, gelungen, ihn für dieses Projekt zu interessieren. Auf diese Initiative hin gelang es, Celibidache zu ver-pflichten, der das Konzert am 8. Juni 1971 zu einem Fest machte.

Die Probenwoche mit ihm muß – nach den schwärmerischen Erzählungen der Musiker – faszinierend gewesen sein. Und das wurde auch im Konzert hörbar, das Orchester sei mit spürbarem Elan seines Gastdirigenten erfüllt, schrieb der Kritiker Wolfram Schwinger.16

Celibidache hatte neben Hindemiths Sinfonie Mathis der Maler, Bruckners 7. Sinfonie auf das Programm gesetzt. In jener Zeit begann Celibidaches ver-

13 14.–18. September 1959, Aufnahme 32 338 , in: Hucklenbroich (1999), wie Anm. 3. Es wur-

den Haydns Sinfonie Nr. 102 und Tschaikowsky’s Pathetique eingespielt. 14 2.–8. Juni 1965, Aufnahme Nr. 59156, in: Hucklenbroich (1999), wie Anm. 3. Aufgenommen

wurden Tschaikowskys Capriccio Italien, Carl Nielsens Ouvertüre zu Makerade und Dvořáks Slawische Tänze Nr. 1 und 8, op. 46.

15 Kehm: Vorrübergehend lebenslänglich (1990), S. 206. 16 Stuttgarter Zeitung, 11. Juni 1971.

Page 10: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

152 Michael Strobel

stärkte Auseinandersetzung mit Bruckners sinfonischem Schaffen. »In beiden Werken war die dynamische Differenziertheit zu bewundern, Pianissimi, wie man sie selten hört, beide Male war auch die Farbigkeit des Spiels erstaunlich«, schrieb Schwinger.

Der Mathis-Sinfonie fehlte aber viel von ihrer holzschnittartigen Herbheit, von der Keuschheit ihres Ausdrucks und von ihrem doch sehr konturierten spielerisch-konzertanten Duktus. Und Bruckner ging die große Natürlichkeit ab; sowohl die Naivität der majestätischen Klangfülle als auch das schlicht-liedhafte der Gesangsthemen war zu vermissen. Ganz abgesehen von den ungemein breiten Tempi (es waren ja fast alle vier mehr oder weniger langsame Sätze!), ver-senkte sich Celibidache zu sehr in einzelne Bilder […]

Dennoch mußte der Rezensent gestehen, daß die außerordentliche Spannung zwischen Celibidache und dem Orchester und die exzellenten Leistungen bei den Bläsern dem Jubiläumskonzert ein festliches Gepräge gaben. Dirigent und Orchester hatten allen Grund, sich gegenseitig zu beglückwünschen. »Großer Abend im Beethovensaal«, befand auch Kurt Honolka in den Stuttgarter Nach-richten und berichtete von minutenlangen Ovationen und rhytmischem Beifall-klatschen.17 Honolka schloß seine Ausführungen mit dem pikanten Geständnis, er kenne zwei gelungene Aufnahmen von Hindemiths Mathis-Sinfonie, die eine unter dem Komponisten selber, die andere unter Herbert von Karajan. Mit bei-den könne sich diese Aufführung messen. Bei dem anschließenden Empfang brachten Kehm und Gaessler den Gedanken einer engeren Bindung Celibida-ches zur Sprache. »Celi«, nach gelungenen Konzerten stets aufgeräumter Stimmung, habe sich zugänglicher gezeigt als 12 Jahre vorher und war, wie Kehm schreibt, auch nicht ganz unvorbereitet.18 Anfang 1972 reisten Kehm und Gaessler nach Courchevel in die französischen Alpen, wo Celibidache seinen Winterurlaub verbrachte. Die Einigung erfolgte rasch. Celibidache versprach, jeweils im Frühjahr und Herbst zu drei- bis vierwöchigen Arbeitsphasen zu kommen. Die erarbeiteten Programme sollten zwei Mal in Stuttgart und wenn möglich weitere Male auswärts gespielt werden. Den Titel eines Chefdirigenten wollte er nicht akzeptieren, obgleich er als Berater für die Orchesterarbeit fun-gierte und an personellen Fragen beteiligt werden wollte. Celibidache unter-schrieb keinen Vertrag, zeichnete aber schriftlich fixierte Vereinbarungen gele-gentlich gegen. Kehm schildert sehr plastisch, welche Schwierigkeiten sich daraus für den Ablauf des Orchesterbetriebs ergaben. Briefe organisatorischen Inhalts blieben oft unbeantwortet, was als Zustimmung gewertet werden konnte. Anrufe nahm er entgegen, allerdings konnte Celibidache bei »Kleinig-keiten«, die er als Ablenkung von seiner künstlerischen Arbeit empfand, äu-ßerst reizbar werden. Es vergingen Wochen ohne jeden Kontakt, doch zu Pro-ben und Konzerten war Celibidache pünktlich zur Stelle und dirigierte in späte-ren Jahren auch unter starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Ich habe niemals vorher oder nach ihm einen Musiker erlebt, der sich gleichermaßen an seine Arbeit verlor – und an ihr litt, litt unter der Diskrepanz zwischen dem, was ihm das imaginäre Orchester in seinem Inneren, sein Klangsinn, sein dynamisches Empfinden zu hören gaben, und dem, was er in der Realität zu hören bekam,

17 Stuttgarter Nachrichten, 11. Juni 1971. 18 Kehm, Vorrübergehend lebenslänglich (1990), S. 208.

Page 11: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

Sergiu Celibidache in Stuttgart 153

bekennt Kehm in seinen Erinnerungen.19 Da konnte es nicht verwundern, daß bald die Schwierigkeiten begannen. Als erstes leitete Celibidache ein Konzert im akustisch problematischen Dom zu Speyer mit Igor Strawinskys Psalmen-sinfonie und Bruckners Sinfonie Nr. 9 am 13. Mai 1972, um anschließend eine penible Leistungsanalyse, ein »Röntgenbild«, wie er es nannte, der einzelnen Orchestergruppen, ja selbst einzelner Musiker zu liefern, ein Dokument, mit dem er Forderungen, personeller wie finanzieller Art verband.20 »Im allgemei-nen ist das Orchester ein durchaus spielfähiges Ensemble«, hieß es dort:

Das beachtliche technische Können und die Begabung scheinen jedesmal erneut von einer wohl tuenden Begeisterungsfähigkeit beseelt zu sein. Mit der Ausnahme der … sind alle ande-ren jederzeit in der Lage, geistig und manuell, den höchsten Ansprüchen jedes symphonischen Prozesses zu genügen. Wie lange es dauern wird bis eine Heterogenität, die zwischen hervor-ragenden individuellen Leistungen und anderen, die man nicht so bezeichnen kann, besteht, ausgeglichen sein wird, kann jetzt noch nicht abgesehen werden. Was dagegen homogen und ziemlich allgemein ist, ist der Wille zur Besserung. Die Zahl derjenigen, die die Fähigkeit des musikalischen Verstehens und Corellationierens nicht haben, ist, wie ich wiederholt bemerken durfte, ebenso klein wie die Zahl derjenigen, die kein Bedürfnis haben, die eigene selbstherrli-che Ignoranz zu bekämpfen.

Unverhohlen forderte Celibidache die personelle Aufstockung verschiedener Orchestergruppen und die Auswechslung einzelner, namentlich genannter Mu-siker.

Die Richtigkeit meiner Bewertungen kann man nur dann verstehen, wenn man die Warte ständig vor dem Auge hält, von der das alles bemessen und abgeschätzt wurde; Weltklasse ist unser Ziel und unsere Mittel sind die höchsten Maßstäbe.

Die Verantwortlichen beim SDR versuchten Celibidaches Wünsche zu erfüllen. Das Orchester wurde im Laufe der Zeit auf 114 Musiker aufgestockt, auf vielen Ebenen strebte der Dirigent nach Vollkommenheit, was im alltäglich-zwi-schenmenschlichen Bereich zu erheblichen Schwierigkeiten führte. Allen Be-teiligten, so Kehm, sei eine abgestuft reservierte bis miserable Behandlung zuteil geworden. Am Ende mußte der Leiter der Musikabteilung, Willy Gaess-ler, durch Wolfram Röhrig, den Chef der Unterhaltungsmusik, ersetzt werden. Röhrig und Celibidache kannten sich aus alten Berliner Studientagen. Daß es bereits Anfang 1977 zur Beendigung der Zusammenarbeit mit dem SDR kam, war unter diesen Umständen nicht verwunderlich. Bis dahin aber hatte Celibi-dache ganze Arbeit geleistet. 97 Konzerte dirigierte er insgesamt in diesem Zeitraum in Stuttgart und auf Tourneen, die das Orchester erfolgreich bis nach Jugoslawien, Spanien und Österreich führten. Ein Triumph war die Abschieds-tournee mit Bruckners 8. Sinfonie, die in Hamburg, Berlin und schließlich am 22. Februar 1977 in Paris gespielt wurde.

Zu den schwierigen Seiten gehörten Tendenzen, wie sie aus einer internen Aktennotiz zu entnehmen sind, nach der es nach einem Konzert in Göppingen im November 1973 hieß, man solle solche Auftritte vermeiden, da sich Celibi-dache dadurch unter Preis verkauft fühle. Es sei zwar ein liebes Publikum, aber

19 Ebd., S. 209. 20 Vierseitiger, maschinengeschriebener Brief Celibidaches an Professor Hans Bausch, den da-

maligen Intendanten des SDR vom 30. Mai 1972, in: Archiv des SWR, 10/28204.

Page 12: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

154 Michael Strobel

eben kein Publikum für Celibidache. Ebensowenig würde Karajan dort Kon-zerte dirigieren und Celibidache liege nun auf der gleichen Ebene, auch wenn er wegen seiner »Schwierigkeiten« auf dem internationalen Konzertpodium nicht so gefragt sei.21

Wie schwierig der Umgang mit dem Musiker war, zeigt auch ein Brief Gaesslers an Kehm vom 5. Juni 1974.22 Darin beklagt sich Gaessler, sein Mitar-beiter Wolfgang Teubner habe zwei Tage und zwei Nächte in Paris verbracht und sogar seinen Rückflug umgebucht, bevor das verabredete Treffen mit Celi-bidache zustandegekommen sei. Angebote in die USA und Japan lehnte Celibi-dache in dem Gespräch grundsätzlich ab, konkrete Anfragen für September 1976 nach Montreux und Stresa kritisierte er mit der Bemerkung, es handle sich um zweitklassige Festspielorte, obgleich er mit dem Orchester des ORTF in Lausanne gastierte. Gleichzeitig äußerte er aber den Wunsch nach einer dritten Arbeitsperiode in Stuttgart, um das Orchester auf die Werke von Wolfgang Amadé Mozart einzuarbeiten. Dies aber überstieg die finanziellen Möglichkei-ten des SDR. Zudem hatte er kurz vorher ein Mozart-Programm in Schwetzin-gen mit Maurizio Pollini abgesagt, um mit dem ORTF-Orchester eine England-reise unternehmen zu können.

Auch eine versehentlich falsch bestellte Schlafwagenkarte für den »Maestro« nach einem Gastkonzert in Bonn führte zu einer handfesten Verstimmung, die den Intendanten Bausch zu einem devoten Entschuldigungsschreiben nach Paris nötigte.23 Die Spannungen kulminierten schließlich im Sommer 1976, als sich der Dirigent weigerte, seine Zustimmung zur Übertragung des Konzertes beim Septembre Musical in Montreux zu erteilen und sich der SDR gezwungen sah, einen Gastdirigenten zu verpflichten. Nach dem unerfreulichen Zusam-mentreffen in Paris hatte Wolfgang Teubner in einem Brief die wenigen kon-kreten Ergebnisse schriftlich fixiert.24 Der Brief blieb unwidersprochen. We-nige Tage später schrieb Kehm an »Celi«, eine dritte Arbeitsperiode in Stuttgart sei ab 1976 möglich in Gestalt eines zweiwöchigen Orchestertrainings mit anschließendem Radio- oder Fernsehmitschnitt bzw. einem Auftritt bei einem der internationalen Festivals.25 Gleichzeitig mahnte Kehm an, nach der Auflö-sung des Radio-Orchesters und der Übernahme von 18 Musikern ins RSO müsse dieses mehr Produktionsaufgaben übernehmen, auch im Bereich der Semi-Klassik und der klassischen Unterhaltung, was Celibidache ablehnte. Nachdem die Italientournee nicht zustandegekommen war, hieß es in einer Aktennotiz Kehms an Intendant Bausch vom 6. Februar 1976, Celibidache könne aus gesundheitlichen Gründen keine Planungen über September 1977 hinaus betreiben, werde aber versuchen, bis dahin allen Verpflichtungen nach-zukommen. Noch Ende März 1976 war Celibidache mit einem Rundfunkmit-schnitt und zeitversetzter Ausstrahlung der Konzerte in Stresa und Montreux

21 Aktennotiz vom 20. November 1973, in: Archiv des SWR, 10/28204. 22 Brief Gaesslers an Kehm vom 5. Juni 1974, in: ebd. 23 Brief Bauschs an Celibidache, 14. Januar 1976, in: ebd. 24 Teubner an Celibidache, 19. Juni 1974, in: ebd. 25 Kehm an Celibidache, 1. Juli 1974, in: ebd.

Page 13: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

Sergiu Celibidache in Stuttgart 155

einverstanden, was Kehm seinen Mitarbeitern in einem Rundschreiben mit-teilte. Gleichzeitig übersandte er Celibidache die schriftlich festgehaltene Ab-sprache, »um spätere Mißverständnisse oder Komplikationen auszuschlie-ßen«.26 Diese folgten aber auf dem Fuß. Schon am 10. Mai 1976 bestätigte Wolfram Röhrig Celibidaches telefonische Weigerung und teilte ihm mit, der SDR suche einen Ersatzdirigenten für den 2. und 3. September 1976. In dem Telefonat hatte der »Maestro« geltend gemacht, er könne für eine terminge-rechte Rückreise von seinem Urlaubsort Lipari im August nicht garantieren.27 Am 3. Juni 1976 mußte Gaessler der Festspielleitung in Stresa die definitive Absage des Dirigenten mitteilen, der seinerseits in Stresa vorher hatte wissen lassen, er wolle die Konzerte vielleicht doch dirigieren.28 Dieses Durcheinander war für die Verantwortlichen des SDR zuviel. Im April 1976 hatte Kehm in einer Besprechung mit dem Orchestervorstand und dem künstlerischen Beirat verlauten lassen, daß es auf dieser Grundlage keine Fortführung der Zusam-menarbeit mehr geben könne.

Der Maestro ist nach wie vor nicht bereit, auch nur im entferntesten die zwingenden Belange einer Rundfunkanstalt ebenso wie die zwingenden Belange des Orchesters als Institution die-ser Anstalt zu berücksichtigen,

schrieb er.29 Kehm kritisierte Celibidaches Programmgestaltung, die jeden neuen Ansatz in der Repertoiregestaltung (Arnold Schönberg, Gustav Mahler) ersticke und dadurch das Orchester als kulturellen Faktor abwerte. Es sei eine Illusion zu glauben, es genüge

zum höchsten künstlerischen Renomée und zur Zukunftssicherung ein verhältnismäßig be-schränktes Repertoire in immer neuer Vollkommenheit – zugegebenermaßen! – und in quasi unendlicher Wiederholung zu bieten.

Kehm war zu diesem Zeitpunkt zum Einlenken bereit, wenn Celibidache für die Termine in Stresa und Montreux zur Verfügung stehen sollte, ohne die beiden üblichen Konzerte in Stuttgart zuvor. Mitte Juli teilte er dann Celibidache die Entscheidung des Senders mit, Daniel Orén mit den beiden Konzerten zu betrauen, um Regreßansprüchen aus dem Wege zu gehen. »Aus unseren Ge-sprächen wissen Sie, daß für uns der Rundfunkübertragung von Konzerten unseres Orchesters unter international üblichen Bedingungen unabdingbare Priorität zukommen muß«, schrieb er unmißverständlich.30

Der Bruch war somit unausweichlich, doch schon im Oktober teilte der Or-chestervorstand Gaessler mit, es solle alles versucht werden, Celibidache als Gastdirigenten zu halten. Gleichzeitig wurde vorgeschlagen, im Rahmen der Suche nach einem geeigneten Nachfolger Kontakte zu Claudio Abbado, Daniel

26 Kehm an Gaessler, Matzner, Röhrig und Schad, 29. März 1976 bzw. Kehm an Celibidache, 29.

März 1976, in: ebd. 27 Röhrig an Celibidache, 10. Mai 1976, in: ebd. 28 Gaessler an Italo Trentinaglia, 3. Juni 1976, in: ebd. 29 Vertrauliches Schreiben Kehms an den Orchestervorstand, 16. Juni 1976, in: ebd. 30 Kehm an Celibidache, 15. Juli 1976, in: ebd.

Page 14: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

156 Michael Strobel

Barenboim und Antal Dorati zu knüpfen, ein sicheres Zeichen des gestiegenen Selbstbewußtseins der Musiker.31

Abbildung 2: Sergiu Celibidache, September 1979, im Studio des ehemaligen Süddeutschen Rund-funks Stuttgart. Von links: Frank Richter, H. Herold, Heinrich Kammerer, Hanspeter Weber, Hans Kalafusz, Sergiu Celibidache, Enrique Santiago.

Aufnahme: Historisches Archiv des SWR.

Wie wenigen Dirigenten vor und nach ihm gelang es Celibidache, Publikum, Presse und Musiker zu spalten und zu polarisieren. War es für die unmittelbar Betroffenen zuweilen eine Qual, mit ihm zusammenarbeiten zu müssen, gelang es ihm an allen seinen Wirkungsstätten, eine große Anhängerschaft zu gewin-nen. So auch in Stuttgart. Das Publikum liebte seinen »Celi« – die Musiker verehrten ihren Chef, betrachteten die fruchtbare Arbeit als einen Höhepunkt ihrer Laufbahn und sprachen mit größter Hochachtung von ihm, bis auf jene freilich, die er im Streit aus dem Orchester entfernte.32 Otto Tomek, ab 1977 Nachfolger Willy Gaesslers als Musikchef des SDR hierzu in einem Interview:

Und eines Tages hörte ich, daß mein Kollege Willy Gaessler in Stuttgart auch unter Celibida-che litt und daß er ausgesprochen schlecht von ihm behandelt worden war. Das lag zum einen daran, daß Celibidache alte Menschen nicht mochte. Jüngere konnten fast alles tun. Und so hatte er sich oft auf bestimmte Musiker „eingeschossen“. Die hatten dann kaum eine Chance. Nun hieß es, Celibidache habe sich mit dem Stuttgarter Orchester zerstritten. Ich wußte auch,

31 Aktennotiz des Orchestervorstandes nach einem Gespräch mit dem künstlerischen Beirat am

5. Oktober 1976, in: ebd. 32 Was der Autor aus zahlreichen Gesprächen mit ehemaligen Musikern weiß. Besonderen Dank

schuldet er Herrn Georg Thiemt, Winnenden, für die geduldige Beantwortung zahlreicher Fra-gen.

Page 15: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

Sergiu Celibidache in Stuttgart 157

daß es ebenso mit dem Schwedischen Rundfunkorchester und dem RAI-Orchester in Rom so war. Dort hatte er die Musiker derart beschimpft, daß sie mit den Pulten nach ihm warfen, wie mir der damalige Soloflötist Severino Gazzelloni mitgeteilt hatte.33

Ähnliches läßt sich auch bei den Kritikern beobachten, die zwischen Faszina-tion und Ablehnung hin- und herschwankten, wie Dieter Schorr, der sich in den Stuttgarter Nachrichten offen dazu bekannte, kein Celibidache-Fan zu sein, weil ihm dessen Programme zu gefällig waren.34

Einer der Hauptvorwürfe war, Celibidache habe nur ein relativ kleines Re-pertoire, was differenzierter zu betrachten ist, worauf schon Otto Tomek hin-gewiesen hatte. Er dirigierte von Igor Strawinsky zwar Petruschka und den Feuervogel, nicht jedoch Sacre du printemps. Beethovens 9. Sinfonie lehnte er mehrfach ab, ebenso alle Kompositionen von Gustav Mahler. Dazu kam seine Neigung, auf bestimmte Stücke immer wieder zurückzukommen, etwa auf die 4. Sinfonie von Johannes Brahms und die 8. Sinfonie von Anton Bruckner. Eine Programmanalyse der 97 Konzerte zwischen Juni 1971 und Februar 1977 ergibt folgendes Resultat: dirigiert wurden ausgewählte Werke von Béla Bar-tók, Ludwig van Beethoven, Alban Berg, Johannes Brahms, Anton Bruckner, Luigi Cherubini, Claude Debussy, Antonín Dvořák, Manuel de Falla, Giovanni Gabrieli, Edward Grieg, Paul Hindemith, Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolf-gang Amadé Mozart, Modest Mussorgsky, Carl Nielsen, Sergej Prokofjew, Maurice Ravel, Ottorino Respighi, Franz Schubert, Robert Schumann, Richard Strauss und Johann Strauß, Igor Strawinsky, Peter I. Tschaikowsky, Giuseppe Verdi, Richard Wagner und Carl Maria von Weber. In der 2. Phase von 1978 bis 1983 kamen noch Kompositionen von Theodor Berger, César Franck, Da-rius Milhaud, Nicolai Rimsky-Korsakow, Jean Sibelius und Rudi Stephan hinzu. Das ist, vergleicht man die Aufstellung seines Gesamtrepertoires bei Klaus Weiler, ein kleinerer Ausschnitt gegenüber dem, was er in Berlin und München dirigierte.35 Es fehlen die 5. und 7. Sinfonie von Schostakowitsch, deren deutsche Erstaufführungen er in Berlin geleitet hatte. Auch die Zahl der aufgeführten Instrumentalkonzerte war in Stuttgart auffallend gering. Das Vio-linkonzert von Alban Berg, Edward Griegs a-Moll-Klavierkonzert op. 16 (mit Arturo Benedetti Michelangeli), Mozarts Violinkonzert A-Dur KV 219, Mau-rice Ravels Klavierkonzert G-Dur und Paul Hindemiths Cellokonzert bildeten die Ausnahmen. In der 2. Phase verzichtete Celibidache auf Solisten völlig. So gesehen hat die Kritik durchaus ihre Berechtigung.

Die Reaktionen auf Celibidaches vermeintlich letzte Auftritte in Stuttgart am 10. und 11. Februar 1977, unmittelbar vor der durch 7 Städte führenden Ab-schiedstournee, waren vehement. Peter Dannenberg monierte in der Stuttgarter Zeitung die »erstaunlich beiläufig über die Bühne gebrachte Verabschiedung Celibidaches« und fragte, ob man den Mann, der es anderen wahrlich nie leicht

33 »Sergiu Celibidache. Erinnerungen an ein Genie.« Kerstin Gebel im Gespräch mit dem ehe-

maligen SDR-Musikchef Dr. Otto Tomek, in: SWR-Klangkörper-Journal, Mai 1999. 34 Stuttgarter Nachrichten, 27. Februar 1978. 35 Weiler: Celibidache (1993), S. 375–388.

Page 16: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

158 Michael Strobel

gemacht habe, vielleicht doch zu leicht habe ziehen lassen.36 Es gewinne keiner mit dem Weggang des Vierundsechzigjährigen:

Der Südfunk, weil er auf eine Attraktion verzichten muß, die ihn durch Übertragungen und Gastspielreisen selbst da noch bekanntgemacht hat, wo man von der Existenz dieses Senders keine Ahnung hatte. Das Radio-Sinfonieorchester, das einen Orchestererzieher verliert, wie er ihm so bald kaum mehr beschieden sein wird. Das Publikum, weil es von nun an jener Kon-zertabende entraten muß, die zu den unumstrittenen Höhepunkten jeder Saison gehörten. Das musikalische Stuttgart schließlich, das nach dem Weggang von Carlos Kleiber vor zwei Jah-ren nun abermals einen Aderlaß verzeichnet, der kaum wettgemacht werden kann.

Wenige Tage später erhielt Peter Kehm Post von Klaus Günzel, dem Leiter des Betriebsbüros der Württembergischen Staatstheater. Günzel schrieb mit einem deutlichen Seitenhieb auf Carlos Kleiber an den vermeintlichen Leidensgenos-sen Kehm:

Es gehört meiner Meinung nach geradezu unpopulärer Mut dazu, maßlose Forderungen und extravagante Wünsche egozentrischer Interpreten, deren Intelligenzgrad oftmals in krassem Widerspruch zu ihrer Popularität steht, im geeigneten Augenblick in die ihnen gebührenden Schranken zu verweisen. Nur dann erscheint es mir möglich, unseren ohnehin durch persönli-che und kommerzielle Interessen weitgehend korrumpierten und seinen eigentlichen Zielen entfremdeten Kulturbetrieb in einer Weise aufrecht zu erhalten, die seinen wahren und eigent-lichen Zielen entspricht.37

Am selben Tag hatte Kehm in einem Leserbrief und als Reaktion auf Dannen-bergs Ausführungen klargestellt, der Südfunk habe deshalb nichts Offizielles über die Beendigung von Celibidaches Arbeit verlauten lassen, weil noch nicht festgestanden habe, ob er nicht doch in anderer Form gelegentlich an das Or-chester zu binden sei. Daß man ihn zu leicht habe ziehen lassen, davon könne keine Rede sein, er selbst habe entschieden, seine Arbeit zu beenden. Tatsäch-lich bemühte sich Kehm, die Verbindung zu Celibidache nicht abreißen zu lassen. Am 28. Februar 1977, nach dem letzten Konzert in Paris, an dem Kehm nicht hatte teilnehmen können, dankte er dem »Maestro« in einem dreiseitigen, handschriftlichen Brief für dessen Arbeit, verbunden mit der Einladung, wie-derzukommen »wann immer es Ihnen möglich ist.«38 Zunächst aber geschah nichts. Offenbar hatte Celibidache in dieser Zeit wieder einmal nur wenige Verpflichtungen, Verhandlungen mit dem Norddeutschen Rundfunk scheiterten an seinen altbekannten Forderungen und an der Ablehnung von Studioproduk-tionen. Gespräche mit dem ORTF in Paris waren schon 1975 unsanft abgebro-chen worden. Mitte Juni schickte Intendant Bausch Kehm eine Hausmitteilung: »S.G. feiert am 28. Juni seinen 65.Geburtstag. Wie verhalten wir uns?«39 Kehm reagierte mit einem Glückwunschtelegramm und teilte dem Jubilar mit, der Südfunk habe sein Ölportrait des renommierten Malers Fritz Kohlstädt für eine größere Summe käuflich erworben (Siehe Abbildung 1). Im September er-schien Celibidache dann überraschend persönlich in Stuttgart.

Ein mild gestimmter Meister – er konnte in solchen Augenblicken geradezu kindlich wirken – erschien und erzählte mir von Frau und Sohn, um schließlich, Blick zurück ohne Zorn, zu äu-

36 Stuttgarter Zeitung, 14. Februar 1977. 37 Günzel an Kehm, 22. Februar 1977, in: Archiv des SWR, 10/28204. 38 Kehm an Celibidache, 28. Februar 1977, in: ebd. 10/28204. 39 Bausch an Kehm, 16. Juni 1977, in: ebd.

Page 17: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

Sergiu Celibidache in Stuttgart 159

ßern, zwischen uns habe alles nur so kommen können, weil er sich mit mir nicht genügend be-schäftigt habe und mir sein Verständnis von Musik nicht ausreichend nahegebracht habe. Es war rührend, aber mit der Wirklichkeit hatte es ja nun nicht viel zu tun,

so schreibt Kehm in seinen Erinnerungen.40 Mithin, das Gespräch bildete die Basis für eine zweite, lockerere Phase der Zusammenarbeit mit dem SDR und seinem Orchester, die bis zum letzten Auftritt Celibidaches beim Südfunkball am 10. Juni 1983 andauern sollte und weitere 42 Auftritte umfaßte. Erstaunlich genug, daß sich Celibidache in der Zeit bereit fand, seine eigene Komposition Der Taschengarten in zwei Sitzungsperioden im Mai und September 1979 einzuspielen.41 Daß es zu dieser zweiten Arbeitsperiode kam, war vor allem Peter Kehm und seinem diplomatischen Geschick zu verdanken. Er war es auch, der dem Dirigenten den Weg nach München ebnete. Nach dem Tode Rudolf Kempes im Jahr 1976 war man bei den Münchner Philharmonikern auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Aus diesem Grund hatte sich der Münchner Kulturreferent Jürgen Kolbe am 21. September 1977 an den Stutt-garter Anwalt und Celibidache-Freund Ferdinand Sieger gewandt, um den Kontakt herzustellen. Darf man der Darstellung von Klaus Umbach glauben, hatte Kolbe wenig Ahnung davon, auf was er sich da einließ.42 Sieger wandte sich hilfesuchend an Kehm, der seinerseits Celibidache in einem Schreiben vom 21. Oktober 1977 über den ganzen Vorgang unterrichtete. Kehms Kalkül ging zunächst auf. Celibidache stand im Februar 1979 erstmals am Pult der Münchner Philharmoniker und dirigierte weiter das Stuttgarter Radio-Sinfonie-orchester, das einstweilen auf die Berufung eines neuen Chefdirigenten ver-zichtete. Gleichwohl war ein Ende der Zusammenarbeit absehbar. Bereits am 1. Juli 1979 mußte Kehm in einem dreiseitigen, handschriftlichen Brief an Celibi-dache die Termine für die Saison 1981/82 energisch einfordern, da Zusagen von ihm nur bis Anfang 1981 vorlagen.43 In einer Aktennotiz an Kehm beklagte sich Otto Tomek am 27. März 1980, Celibidache habe die Termine für die Saison 1982/83 immer noch nicht bestätigt. Er sei am Telefon »melancholisch mürrisch« gewesen, habe zwar einer Fernsehproduktion der Trois nocturnes von Claude Debussy zugestimmt, die dann auch tatsächlich stattfand (Auf-nahme: 12.–15. November 1980), gleichzeitig aber erneut eine Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie abgelehnt und Tomek gebeten, ihn wegen der Stuttgar-ter Termine im April 1980 in London anzurufen.44 Ein Jahr später wiederholte sich die Prozedur.45 Anfang Juni 1982 überraschte Celibidache Tomek mit der Bitte um Vorverlegung des Südfunkballs auf den 9. Juni 1982, gleichzeitig verlangte er eine Erhöhung seines Honorars, das bisher bei 15.000 DM pro Konzert gelegen hatte, um 10%.46 Nach der Eröffnung des darauffolgenden

40 Kehm: Vorrübergehend lebenslänglich (1990), S. 213. 41 Diese Aufnahme ist heute auf CD frei zugänglich. Damals erschien die Aufnahme als Schall-

platte bei Intercord, der Erlös war für Unicef bestimmt. 42 Klaus Umbach: Celibidache – der andere Maestro, München/Zürich 1995, S. 229ff. 43 Kehm an Celibidache, 1. Juli 1979, in: Archiv des SWR. 44 Tomek an Kehm, 27. März 1980, in: ebd. 45 Tomek an Kehm, 3. April 1981, in: ebd. 46 Tomek an Kehm, 1. Juni 1982, in: ebd.

Page 18: MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - Der Dirigent Sergiu ... · Günter Wand – und Sergiu Celibidache, der das Orchester wie kein anderer prägen sollte. In Ermangelung eines intakten

160 Michael Strobel

Südfunkballs am 10. Juni 1983 sagte Celibidache die vorläufig letzten anvi-sierten Termine im November 1983 ab.47

Will man die künstlerische Arbeit Celibidaches in Stuttgart würdigen, so zieht man am besten die inzwischen veröffentlichten CD–Mitschnitte seiner Konzerte heran. Sie belegen den künstlerischen Höhenflug, für den ein hoher Preis bezahlt werden mußte. Die Parallelen zu den späteren Ereignissen in München sind unübersehbar. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunder-lich, daß Celibidaches Arbeit in Stuttgart auch später noch für Kontroversen sorgte. Klaus Umbachs Darstellung der Stuttgarter Jahre in dessen erstmals 1995 erschienenem Buch Celibidache - der andere Maestro erfuhr heftigen Widerspruch von Seiten des ehemaligen Orchestervorstandes.48 Karl Schad und Karl Friedrich Mess warfen Umbach in einem offenen Brief vom 9. September 1995 vor, er, »Umbach – der andere Biograph«, habe seine eigenen Vorgaben in wesentlichen Punkten suspendiert und sei an seinem Ziel, bei der Wahrheit zu bleiben, vorbeigesteuert.49 Sie versuchen Ihre Behauptung mit einer Fülle von Gegendarstellungen zu untermauern, die darauf hinauslaufen, der Autor habe eine gänzlich unakzeptable Darstellung des Wirkens Celibidaches in Stuttgart an die Öffentlichkeit getragen. Aber sowohl Umbachs Version, als auch Schads und Mess’ penible Darstellung der Fehler und Versäumnisse in der Ära Celibidache, weisen darauf hin, daß eine Annäherung derzeit nur lücken-haft gelingen kann. Celibidache starb am 14. August 1996 in Paris.

Diskographie: Aufnahmen mit dem RSO Stuttgart bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Die Aufnah-men entstanden zwischen 1974 und 1982 als Mitschnitte von Live–Konzerten in Stuttgart (Lie-derhalle, Funkstudio der Villa Berg), Mannheim, Wiesbaden, Tübingen und Nürnberg.

Johannes Brahms, 4 Sinfonien, CD 459 635-2 (veröffentlicht: Februar 1999).

Werke von Modest Mussorgsky, Serge Prokofjew, Nicolai Rimsky-Korsakow und Igor Stra-winsky CD 445 139-2 (veröffentlicht: Mai 1999).

Werke von Richard Strauss (mit Ottorino Respighi, Pini di Roma) CD 453 190-2 (veröffentlicht: August 1999).

Werke von Claude Debussy und Maurice Ravel CD 453 194-2 (veröffentlicht: Oktober 1999).

Anton Bruckner, Sinfonien Nr.7–9 (mit Franz Schubert, Sinfonie Nr. 5) CD 445 471-2 (veröf-fentlicht: Februar 2000).

Anton Bruckner, Sinfonien 3–5 (mit W. A. Mozart, Sinfonie Nr. 35) CD 459 663-2 (veröffent-licht: Mai 2000). Die Aufnahme der 4. Sinfonie von A. Bruckner stammt aus einem Konzert mit dem Schwedischen Radio-Sinfonieorchester in der Berliner Philharmonie vom September 1969.

Celibidache: Der Taschengarten CD 471 612 -2 (veröffentlicht: Juni 2002).

47 Kehm an Celibidache, 13. September 1983, in: ebd. 48 Umbach: Celibidache (1995), S. 205–231. 49 Achtseitiger offener Brief von Karl Schad und Karl Friedrich Mess vom 9. September 1995, in:

Archiv des SWR.