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Project 16
Meine Brisbane-Aventiure
Danshimon o izureba hyakuman no teki ari. „Wenn ein Knabe durch das Tor hinausgeht, hat er
hundertmal zehntausend Feinde.“ Einer von ihnen wohnte in unserer Wohnung: mein Stiefvater,
von Beruf Pfarrer. – Ich war 17 Jahre alt und entdeckte in den Jahren 1990/91 gerade einen
neuen Weg für mich: den der leeren Hand (Karate). In der Deutschen Demokratischen Republik,
die gerade ihre Existenz aushauchte, war die Ausübung des Karate offiziell nicht möglich
gewesen. Die Aura, die diese Kunst und ihre wenigen ostdeutschen Adepten in der Wende-Zeit
umwehte, in der sie nun ans Licht der Öffentlichkeit treten konnten, speiste sich aus den lediglich
imaginierten Vorstellungen über den damals nicht nur fernen, sondern nahezu unerreichbaren
Osten sowie aus der Attraktivität des bislang arkanen, ja mystischen Wissens und Könnens.
Schriftliche Hintergrund-Informationen waren rar, die wenigen verfügbaren Karate-Bücher wurden
behandelt wie Schätze, an das Internet war noch nicht zu denken. Woher ich eine Kopie der 20
Regeln des Karate-Meisters Funakoshi Gichin erhalten hatte, weiß ich heute nicht mehr, auch
nicht, was mich veranlasste, sie für mich abzuschreiben. Retrospektiv betrachtet mag ein Grund
meine Sozialisation mit den 10 Geboten der Bibel und ihren sozialistisch-ideologischen Pendants
der Jung- und Thälmann-Pioniere sein: die Textsorte an sich war bekannt. Nur, diese 20 Sätze
hatte mir kein Erwachsener vorgesetzt, ich hatte sie für mich gefunden, was für den
Adoleszenten bedeutsam genug gewesen sein mag. Da ich nicht alles sofort verstand, was ich
da las (etwa die eingangs zitierte sechzehnte Regel), beschloss ich, mich länger mit diesen
Worten zu beschäftigen und sie an eine Wand meines Zimmers zu pinnen. Grund genug für
meinen damaligen Stiefvater, Dekadenz und Sittenverfall durch die angebliche „Modewelle des
Asiatischen“ zu befürchten und mir dies recht unverblümt mitzuteilen: „Das sind wohl die neuen
10 Gebote“, die du da an deiner Wand hast?“ Was mich damals verletzte, evoziert heute nur
noch mein Bedauern: welch verpasste Chance für den Theologen, mit mir ins Gespräch zu
kommen, mich an seiner distanzierten, intellektuell geschärften Sicht auf diese Regeln
argumentativ teilhaben zu lassen und mich dadurch zum Nach- und Weiterdenken zu bringen.
Stattdessen tat er das Schlechteste, was ein Pfarrer tun kann: er kanzelte das, was mir offenbar
in jugendlicher Naivität etwas wert war, einfach als unwert ab, und zwar lediglich deshalb, weil es
„neu“ bzw. für ihn „fremd“ war.
25 Jahre später. Noch immer gehe ich den Weg der leeren Hand. Zumindest in meinem Fall hat
sich Karate also als eine recht langlebige Modeerscheinung herausgestellt. Funakoshis Sätze
begleiten und inspirieren mich nach wie vor, insbesondere im Furyukan, wo sie über der Reihe
der Schlagpfosten hängen und jedem, der es will, sinnfällig vors Auge treten können. Besonders
mag ich eben jenen sechzehnten Satz vom Tor, dem Knaben und den vielen Feinden. Er klingt
zunächst wie eine Aufforderung, sich daheim zu verbarrikadieren, damit einem nichts Schlimmes
zustößt. In Zeiten des internationalen Terrorismus, in denen die Polizei den Bürgern zuweilen
genau dazu rät, nur zu verständlich. Und doch kommen wir nicht umhin, immer wieder durchs Tor
nach draußen zu gehen. Ganz einfach, um unsere menschlichen Grundbedürfnisse zu stillen:
nach Brot, Wasser, frischer Luft und Bewegung. Aber auch nach Kenntnis, Verständnis und
schlicht: Neuem. Funakoshis 16.Satz will uns diese Bedürfnisse sicher nicht ausreden. Er weist
nur darauf hin, dass mit dem Schritt nach „draußen“ viele Unwägbarkeiten verbunden sind. Je
nach Sichtweise sind dies dann eher „böse Gefahren“ oder aber „reizvolle Abenteuer“. Das letzte
Wort stammt übrigens vom mittelhochdeutschen „Aventiure“ ab. Ausgehend vom Lateinischen
(adventura: „das, was herankommen wird“.) bezeichnete dieses Wort im mittelalterlichen Roman
eine Bewährungsprobe, die der Held – einem inneren Antrieb bzw. seinem „Schicksal“ folgend –
sucht und in der Regel besteht. Äußere Kämpfe gegen dem Anschein nach übermächtige Feinde
wie Drachen werden von inneren Kämpfen gegen Angst, Selbstzweifel und Verlust begleitet und
wirken in der Quintessenz persönlichkeitsbildend. Der tatsächliche Kampf gegen einen
leibhaftigen Gegner, die Akzeptanz des Risikos bei gleichzeitiger Aufgabe persönlicher
Sicherheiten oder auf Neudeutsch das Verlassen der eigenen Komfortzone: all das lässt die
„hundertmal zehntausend Feinde“ Funakoshis in einem etwas anderen Licht erscheinen: als
Potential zu nachhaltigem persönlichen Wachstum. Für Hermann Hesse ist dieses Vor-das-Tor-
Treten ein regelrechtes Lebenselixier. In seinem berühmten Gedicht „Stufen“ schreibt er „Nur wer
bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“
Was läge demnach näher, als morgen aufzubrechen, etwas zu wagen, will sagen: eine Aventiure
zu bestehen, um einer potentiell eintretenden Gewöhnung vorzubeugen? Ich bin mir ziemlich
sicher, dass es nicht diese Gedanken waren, die meine Frau bewegten, als sie mich im Herbst
des letzten Jahres eher beiläufig als zielgerichtet fragte, ob ich denn nicht schon „immer
mal“ nach Brisbane zu Patrick McCarthy, dem Begründer des Koryû Uchinâdi, reisen wollte. Da
war er, der Lebensruf, wie ihn Hesse beschreibt. Die Gunst des Augenblicks, die es zu nutzen gilt,
personifizierten die alten Griechen im Gott Kairos, der mit kahlem Hinterkopf dargestellt wurde.
Stellte Kairos sich einmal ein, musste man ihn bzw. die günstige Gelegenheit sofort „beim
Schopfe packen“ oder er/sie war unwiderruflich entwichen. Ich erspare dem geneigten Leser an
dieser Stelle alle Zwischenschritte, wie es von diesem initialen Impuls ausgehend dann
tatsächlich dazu kam, dass ich mich am 25.Juni 2016 gemeinsam mit Bernd aus Haßloch in ein
Flugzeug setzte, um nach Queensland, Australien zu fliegen. Vielmehr möchte ich mit einem
Augenzwinkern von einer kleinen Auswahl der „Feinde“ erzählen, denen der dreiundvierzigjährige
Knabe Hendrik begegnet ist, als er durch das Tor hinausging und seine vertrauten
Lebensumstände für vier Wochen hinter sich ließ.
1. Zeitzonenkater
Es ist mein erster Langstreckenflug, genau
genommen sind es zwei Flüge innerhalb eines
Tages. Mit Zwischenstopp in Singapur befinden
wir uns ungefähr 20 Stunden in der Luft und
überwinden in diesen nicht nur den Äquator,
sondern auch rund 15000 Kilometer und 10
Zeitzonen. Informationen wie, dass wir uns
während des Fluges 11500 Meter über der Erde
befinden, dass wir uns mit ca. 900 km/h
fortbewegen und außerhalb des Flugzeuges
minus 50°C herrschen, nehme ich zwar zur
Kenntnis, aber nicht als Bedrohung wahr. Schon
eher, dass wir unter anderem über die Türkei und Afghanistan fliegen…die Ukraine hat ja gezeigt,
dass der Luftraum hoch über Krisengebieten nicht sicher sein muss. Im Hinterkopf blitzen zudem
Nachrichtenreste von ins Meer gestürzten Flugzeugen und Terroristen auf, die
Passagiermaschinen entführen. Zum Glück bleiben die Enge der Sitze und partielle Schlaf-
störungen in den ersten Nächten nach der Ankunft die einzigen Unannehmlichkeiten der Flüge.
2. Gefährliche Tiere
Wir sind gewarnt: Australien beherbergt die giftigsten Tiere
der Erde, u.a. bestimmte Spinnen und Schlangen, zudem wird
immer wieder von menschenfleischhungrigen Haien und
Salzwasserkrokodilen berichtet. Weiterhin erzählen uns die
Einheimischen aus eigenem Erleben von Kängurus, die vom
Straßenrand regelrecht in Autos hineinspringen, von Python-
Schlangen, die die Kanalisation verstopfen, und von Butcher-
Birds, die in der Brutsaison Radfahrer und Fußgänger
angreifen. Wir profitieren offenbar von der vergleichsweise kühlen Winterzeit, so dass wir nahezu
„verschont“ bleiben. Ein paar Spinnen und Käfer in der Dusche erweisen sich als harmlos,
Possums laufen zwar nachts so laut übers Dach, so dass man gelegentlich davon erwacht, sie
dringen jedoch nicht ins Dojo ein. Nur eine Maus knabbert an Teros Banane…
3. English for Runaways
Irgendwann einmal wird mir bewusst, dass ich mich mit
Bernd auf Englisch unterhalte, obwohl niemand anderes
dabei ist. Sind wir angekommen, wenigstens sprachlich?
Wohl alles andere als das: immer wieder hadern wir mit
Wortfindungsstörungen, von grammatikalischer Korrekt-
heit ganz zu schweigen. English, the Enemy! Immerhin,
wir können uns verständlich machen und verstehen auch
das Meiste, wenngleich wir zuweilen darauf angewiesen
sind, dass man für uns noch einmal langsam wiederholt
oder der breite neuseeländische Akzent Johnnys durch
sichtbare Karate-Demonstrationen verständlicher wird.
Natürlich erweitern wir in den vier Wochen unseren Wortschatz und unser sprachliches
Vermögen. Beispielsweise weiß ich jetzt, dass eine theatre nurse nicht in einem Theater arbeitet,
dass man mit bucks genauso wie mit dollars bezahlen kann oder dass ich nicht me, sondern
myself rasieren sollte.
4. Schwer(-t) zu lernen
Keine Ahnung, in wie vielen KU-Dojos Schwertkampf unterrichtet wird. Viele werden es wohl
nicht sein. Im Brisbane So-honbu nehmen wir als Anfänger an drei Schwert-Trainings pro Woche
teil und erhalten so einen ersten Eindruck vom Tenshin Shoden Katori Shinto Ryu, das McCarthy
sensei unter dem Meister Sugino Yoshio lange Zeit geübt hat und ihn mit seinen festgelegten
Zwei-Personen-Übungen maßgeblich zur Kreation entsprechender unbewaffneter futari geiko
inspirierte, die wir heute im KU-Curriculum wiederfinden. Obwohl ich gern und oft mit (Kobudo-)
Waffen übe, wird schnell klar: das Schwert ist noch einmal eine ganz andere, eigene Welt im
Bereich der Kampfkünste. Allein das Ziehen aus der Scheide und die Rückbeförderung der
Klinge an eben diesen Ort bedürfen langer, intensiver und konzentrierter Übung. Die etwas
abgedroschene Phrase von der „Meditation in Bewegung“ erhält für mich eine neue Bedeutung.
5. Sunburn
Wie gesagt, es ist australischer Winter. Das heißt, an kalten Tagen nachts 7 bis 9° und tags
zwischen 17 und 21°. Da will man es gar nicht glauben, dass unser Finne friert. Am Freitag
unseres Abflugs klettert das Thermometer dann sogar auf 27° Grad. Bill erzählt uns, dass er in
seinem Leben noch nie Schnee gesehen hat. Auch schaut er uns etwas konsterniert an, als wir
ihm erzählen, dass wir bei unserem Ausflug nach Moreton Island im Meer baden waren. Als wir
dorthin aufbrechen, fragt uns Denise, ob wir ausreichend Sonnencreme aufgetragen hätten. Man
solle sich nicht von der geschlossenen Wolkendecke täuschen lassen. Die Gefahr, einen
Sonnenbrand zu bekommen, sei stets hoch, auch wenn das große Ozonloch über Australien
wohl doch eher Mythos als Realität ist. So lautet die Formel der Selbstverteidigung diesmal:
Lichtschutzfaktor 30.
6. Askese
Unser Leben ist weit entfernt von klösterlichen
Entbehrungen. Gleichwohl verzichten wir auf sonst
alltägliche Bequemlichkeiten wie ein geräumiges
Bad, eine mit Geschirrspüler und Herd
ausgestattete Küche, eine unseren Bedürfnissen
entsprechende Matratze, Trinkwasser aus dem
Wasserhahn oder ein Fahrzeug, mit dem wir uns
zu unserem Wunschort transferieren, wann immer
es uns beliebt. Erinnerungen an das KU-
Sommercamp am Frauensee werden wach.
Immerhin, wir haben einen Kühlschrank, WLAN
und etwas Privatsphäre mit je einem eigenen
Zimmer. Mit Bills Waschmaschine dürfen wir Wäsche waschen; Wasserkocher, Kaffeemaschine,
Toaster, Mikrowelle sowie eine Elektropfanne genügen als Küchen-Equipment durchaus.
Eingekauft wird zu Fuß: 40 Minuten brauchen wir bis zur Shopping-Mall und genauso lange
zurück, unsere Beute gut verstaut in unseren Backpacks.
7. …out of the Box!
Wir üben das erste Tegumi. Hände einhaken. Eine sehr vertraute und – man könnte meinen –
leichte Übung. Bill beobachtet Bernd und mich und fragt anschließend, wofür Tegumi an sich gut
seien. Meine Antwort befriedigt ihn durchaus, nicht jedoch bestimmte Details unserer technischen
Ausführung. Also heißt es: schnell heraus der Box, den Anfängergeist (shoshin) auspacken und:
üben. So geht es uns noch manches Mal: für uns selbstverständliche Bewegungsmuster werden
in Details hinterfragt und Alternativen gegenübergestellt, die uns entweder als Korrektur an sich
oder aber als Ausführungsvariante überzeugen. Fazit: andere Lehrer, andere Fokussierungen.
Was zunächst manchmal verwirrt, bereichert am Ende.
8. Unglück geschieht immer durch…
Es passiert beim Abwaschen. Mir zerbricht die Glaskanne der Kaffeemaschine. Meine Hoffnung
ist, dass im Land der unbegrenzten Shopping-Möglichkeiten das Teil leicht ersetzt werden kann.
Leider Fehlanzeige. In allen Fachgeschäften der Mall verweist man für replacement items auf das
Internet bzw. den Hersteller. Zudem macht eine Recherche klar, dass nur die Kanne satte 30
Dollar kostet und damit genau halb so viel kostet, wie eine neue Kaffeemaschine des gleichen
Typs, die im Laden vor mir steht. Verrückt. Nach anfänglichem Zögern beschließe ich mit einem
unguten Gefühl, die neue Maschine samt Kanne zu kaufen, um das Problem als Gast „vom
Tisch“ des Gastgebers zu haben. Als ich dafür Geld am Automaten ziehen will, streikt meine
Karte… es gibt eben Tage, an denen verliert man, und Tage, an denen gewinnen die anderen.
9. Falsche Erwartungen
Zeitig nach unserer Reiseentscheidung wird klar, dass die Chance, in Brisbane längere Zeit unter
der Anleitung McCarthy senseis zu üben, gering ist. Noch lange vor Reiseantritt kristallisiert sich
heraus, dass die Wahrscheinlichkeit tatsächlich fast null ist. Ironischer Weise üben wir Europäer
in Australien, während der in Australien lebende Sensei in Europa Seminare gibt. Er ist an seine
Zeitpläne gebunden, wie ich an die sächsischen Sommerferien. Insofern stellt sich die Frage, mit
welchen Zielen Bernd und ich dennoch nach Down Under wollen, relativ früh, unter anderem
auch im Dialog mit Olaf. Dass wir auch früh für uns befriedigende Antworten auf diese Frage
finden, entspannt uns vor Reiseantritt sehr. Wir wissen, dass wir schlicht zu zweit Kampfkunst
üben und Land, Leute, Flora und Fauna kennen lernen wollen. Unser finnischer Kamerad Tero
dagegen kommt mit Druck auf den Schultern in Brisbane an. Am Ende seines Aufenthalts soll die
Prüfung zum Nidan stehen. Zum Glück gelingt es Tero im Einvernehmen mit seinem Lehrer Ante
diesen „psychischen Rucksack“ bald abzuwerfen und
einfach mit uns zu trainieren. – Am Ende sind wir
dann froh, doch noch ein wenig Zeit mit Sensei
verbringen zu können: er lädt uns zum Barbecue zu
sich nach Hause ein und wir begleiten ihn bei seinem
15km-Morgen-Lauf durch die städtischen Waldparks.
In einem Gespräch erwähnt er beiläufig die Bitte einer
hier nicht zu nennenden Person an ihn für unseren
Aufenthalt: „Don’t grade them!“ Als ich dies höre,
muss ich schmunzeln und frage mich, wer hier
eigentlich etwas fälschlich erwartet hat…
10.Höllennächte und Formenfülle
Gibt es so etwas wie eine typisch australische KU-Trainingsspezifik?
Wohl nicht, stelle ich fest, es gibt lediglich lehrer-bezogene
Eigenheiten… Johnny „The Rocket“ Kennedy arbeitet gern
thematisch im Bereich „Schlagen und Treten“ und immer verbunden
mit einer stärkeren physischen Belastung. Sein Montagstraining hat
daher im So-honbu den Spitznamen „Hell Night“ und wird von
manchem bewusst gemieden. Nicht von uns. Johnny zeigt genau,
korrigiert wenig (weil er selbst fast alles mitübt) und motiviert uns
permanent. – Bill Johansen dagegen unterrichtet ruhiger, gesetzter
und tendenziell formorientierter. Die situative Anwendbarkeit der
Technikfülle aus den großen Drills spielt (zunächst?) eine
untergeordnete Rolle. Die Abläufe – beeindruckend, wie viele Bill
gerade auch hinsichtlich der Waffen einfach abrufen kann – werden
schlicht geübt und detailliert korrigiert. Am Ende steht die Erkenntnis,
dass es von Zeit zu Zeit lohnenswert ist, andere Trainingsstile
kennenzulernen, nicht zuletzt um den eigenen vor deren Hintergrund
kritisch zu hinterfragen und durch Korrekturen und neue Impulse zu
bereichern.
11.Opfer
Unsere Australien-Unternehmung kostet natürlich auch etwas. Neue Erfahrungen gibt es nicht
„umsonst“. Mehrfach stellt sich die Frage: Was bin ich bereit zu investieren, will sagen
aufzugeben, um etwas Neues zu erhalten? Der teure Flug ist – jedenfalls für Bernd und mich –
nicht das größte Opfer. Es ist vielmehr die (Urlaubs-)Zeit, die wir diesmal nicht mit unseren
Nächsten verbringen. Bernd hat gerade erst geheiratet und lässt seine Braut „egoistischer
Weise“ vier Wochen lang allein daheim. Bei mir kommen drei jüngere Kinder hinzu, die ihren
Papa in den Ferien so vermissen wie ich sie. Zudem müssen im Koryukan Haßloch und im
Furyukan Königsbrück unsere Schüler uns in der Leitung mehrerer Trainings vertreten. Ohne das
grundsätzliche Wohlwollen und die Opferbereitschaft der Daheimgebliebenen könnte man eine
solche Reise wohl nur schwerlich antreten. Danke dafür.
12.Kulturschock
Wir erleben hier eine Wegwerf-Kultur, wie sie Deutschland
(hoffentlich?) schon hinter sich gelassen hat. Flaschen-
und Dosenpfand: Fehlanzeige. Leere Getränkebehälter
sind hier kein „Gut“, sondern Abfall und wandern
schnurstracks in die Restmülltonne. Im Markt muss man nicht um eine Plastetüte bitten und diese
bezahlen, vielmehr wird der gesamte Einkauf an der Kasse ungefragt gleich in mehrere hässlich-
graue bags eingetütet. Ohne Mehrkosten versteht sich, jedoch auf Kosten der Meerestiere, wie
man weiß… Überhaupt scheinen Shopping und Service hier mehr Religion als Überlebenshilfe zu
sein. Konsum unser, der du bist unser Himmel. Geheiligt werde dein Name. Noch nie habe ich so
viele verschiedene Fastfood-Buden unterschiedlichster Nationalität, so viele Smart-Phone-
Repair-Shops, so viele Fußpflege- und Maniküre-
Salons auf einem Haufen gesehen wie in Brisbane.
Vielleicht, weil ich bislang noch nie in den USA war.
Museen, Theater und von der Stadtgeschichte
erzählende ältere Häuser muss man dagegen suchen.
Kirchen und Tempel diverser Religionsgemeinschaften
sind dagegen häufiger zu sehen. Auch das Straßenbild ist bunt. Man spürt: Australien ist ein
Einwanderungsland. Und: Asien ist nah.
13. Lechts und rinks
Dass die Autos in Australien auf der jeweils anderen Straßenseite als bei uns fahren, ist ja
bekannt und für jemanden, der schon mal in London oder anderswo auf „Der Insel“ war, auch
vertraut. Trotzdem erwische ich mich dabei, wie ich beim Überqueren der Straße häufiger in
beide Richtungen schaue als daheim, um potentielle Gefahren zu meiden. – Werden wir von den
Einheimischen chauffiert, sitze ich wegen der Länge meiner Beine links neben dem Fahrer und
werde auch in der letzten Woche unseres Aufenthalts das ungute Gefühl nicht los, dass die
anderen Verkehrsteilnehmer alle „auf der auf der falsch Seite“ unterwegs sind. – Was denkt sich
ein Geisterfahrer, wenn ihm Autos entgegenkommen? Lauter Geisterfahrer! – Immerhin habe ich
nie den Versuch unternommen, auf der Fahrerseite einzusteigen. Nur als wir das erste Mal mit
dem Zug in die City fahren wollen, landen wir auf dem verkehrten Bahnsteig, denn auch im
Schienenverkehr sind hier die Seiten vertauscht.
14. Freizeit
Wenn wir kein reguläres Training besuchen oder zum Sightseeing
im Koala-Sanctuary „Lone Pine“ bzw. in der City unterwegs sind,
müssen wir etwas mit uns selbst anfangen. Allein im Dojo kann ein
solcher Trainingsaufenthalt auch schnell öde und die Freizeit zum
Feind werden, wenn man nicht innerlich sehr gefestigt ist. Zum Glück ist dieser Feind für uns
nicht so leibhaftig: wir sind zu dritt, beratschlagen gemeinsam, was wir wann üben wollen, wann
es Zeit für einen Nap, den Lunch, einen Latte im Coffee shop um die Ecke oder auch für die
Reinigung des Dojos ist. Jeder hilft dem anderen bei den alltäglichen Verrichtungen oder, wenn
ihm mal die nächste Bewegung im Ablauf einer Kata fehlt. Natürlich tun wir nicht alles
gemeinsam: die Skype-Termine mit der Heimat differieren erheblich und gelegentlich steht auch
mal einer von uns allein auf der Matte, während dieser schreibt und jener schläft…
15. Versuch und Irrtum
In der Fremde ist es manchmal schwierig, den Erwartungen der Gastgeber zu entsprechen,
insbesondere dann, wenn diese nicht expressis verbis formuliert werden. Die Angebote der
Gastfreundlichkeit sind vielfältig: man chauffiert uns zum Einkaufen, bietet uns Extra-Trainings an,
führt uns durch die Stadt, arrangiert Ausflüge, erfreut uns mit mitgebrachten Speisen (z.T. sogar
mit kompletten Menüs) oder spricht Einladungen zum Abendessen aus. Was davon dürfen, was
sollten wir annehmen? An welcher Stelle sollen wir lieber ablehnen, um unseren Gastgeber nicht
zu sehr zeitlich und/oder finanziell zur Last zu fallen? An welcher Stelle würde eine solche
Ablehnung als Missachtung der Gastfreundschaft aufgefasst? Wie/Womit sollen wir uns am
besten erkenntlich zeigen? Ist es unhöflich zu sagen, dass wir jetzt nicht noch eine weitere
Runde durch die City drehen, sondern lieber zurück ins Dojo fahren wollen, um auszuruhen?
Sollen wir die neue Glühbirne oder das fehlende Klopapier selbst besorgen oder nur auf die
Notwendigkeit hinweisen? Können wir trotz der bloßen Möglichkeit, dass Sensei im Dojo
erscheinen KÖNNTE, das Dojo verlassen, sagen wir: um Souvenirs zu kaufen? Und so weiter
und so weiter… wir verfahren nach dem Prinzip „Trial and Error“, was bleibt uns auch anderes
übrig. Zum Glück hält sich die Zahl unserer Irrtümer in Grenzen. Ganz vermeiden können wir sie
freilich nicht.
16. Can we see it?
Immer mal wieder kommt es im Training vor, dass Bill uns fragt, ob wir diese oder jene Form
beherrschen. Schnell lernen wir, dass im Fall einer zustimmenden Antwort die Frage „Can we
see it?“ folgt. Wir kommen also häufiger in die Situation, vor der Gruppe und speziell vor seinem
prüfenden Auge etwas zu demonstrieren. Ihn interessiert besonders, wie wir Gleiches in Nuancen
anders ausführen. Anschließend entstehen nicht selten interessante Gespräche über das Wie
und Warum von technischen Details, von denen beide Seiten gleichermaßen profitieren.
Nichtsdestotrotz ist die Frage „Can we see it?“ natürlich wie jede Prüfungssituation erst einmal
ein „Angriff“, ein kleiner Feind, der besiegt sein will. Zum Glück gelingt dies nach all den
Übungsjahren immer mehr mit gelassener Konzentration beziehungsweise konzentrierter
Gelassenheit.
Natürlich ließe sich die Auswahl der Feinde leicht erweitern.
Doch auch ohne dies sieht man bereits: es gibt ihrer viele, wenn
man erstmals durch ein bestimmtes Tor schreitet. Wie man aber
auch bemerkt, sind die meisten Feinde nicht unüberwindbar. Vor
manchen Gefahren kann man sich durch gute Vorbereitung
schützen, andere entpuppen sich als Scheinriesen (vergl. „Jim
Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende): geht
man mutig auf sie zu, werden sie immer kleiner. Gerade wenn
ich dies schreibe, muss ich an E.T.A. Hoffmanns „Der goldne
Topf“ denken, den wir trotz vieler Widerstände im Februar an
der Kreuzschule in Form eines Musicals auf die Bühne gebracht
haben. In diesem 200 Jahre alten Wirklichkeitsmärchen ermutigt
einer der Protagonisten einen anderen: „… nur dem Kampfe
entsprießt dein Glück im höheren Leben. Feindliche Prinzipe
fallen dich an, und nur die innere Kraft, mit der du den Anfechtungen widerstehst, kann dich
retten.“ Ich denke, dass dies im Kleinen wie im Großen gilt, auch und gerade in unserer Zeit, die
so voller feindlicher Prinzipe zu sein scheint. Nicht aufgeben, sich nicht daheim verbarrikadieren,
viel mehr: durch das Tor schreiten (japanisch: 入門 - nyûmon), auch wenn und gerade weil da
hundertmal zehntausend Feinde lauern. Sie sind unsere Chance…
Hendrik Felber im Juli ‘16