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TSCHERNOBYL
Der ReaktorunfallUnfallhergangMittel- und langfristige FolgenPerspektiven fr die Stillegung
IMPRESSUMVerlag:INFORUM Verlags- und Verwaltungs GmbHHerausgeber:Informationskreis KernenergieHeussallee 10, 53113 BonnText:Dipl.-Bw., Dipl.-Kfm. Martin Czakainskiunter Mitwirkung des Beratergremiums:Dr. Heinz-Peter ButzDr. Peter HaugSabine Knapp M.A.Dipl.-Phys. Winfried KoelzerAxel PfrommerFotos:Jrgens Ost- und Europa-Photo, BerlinSatz:Waltraud ZimmerDruck:Druckerei Brandt, Bonn
Alle Rechte vorbehalten 1996
Der Reaktorunfall in Tschernobyl- Ursachen, Hintergrnde, Folgen und Lehren -
Seite
I. Der Unfall 2
1. Der Tschernobyl-Reaktor 2
2. Unfallablauf, Ursachen und Hintergrnde 4
3. Weitrumige Kontamination und Strahlenexposition 11
4. Radiologische Auswirkungen auf Deutschland 18
5. Zustand des Sarkophags 19
II. Mittel- und langfristige Folgen fr die friedliche 22Nutzung der Kernenergie
1. Globale Aspekte 22
2. Auswirkungen auf die ffentliche Meinung, 28die Energiepolitik und die Kernenergie in Deutschland
3. Erkenntnisse und Lehren aus dem Unfall 34
III. Perspektiven fr die Stillegung des Tschernobyl- 37Reaktors
1. Die Rolle der Kernenergie in Osteuropa 37
2. konomische und energiewirtschaftliche Ausgangslage 38der Ukraine
3. Internationale Hilfsmanahmen fr die Stillegung 42und die Entsorgung
Glossar 44
Literatur 47
1
I. Der Unfall
Der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl ist der folgenreichste Vorfall inder ber 50jhrigen Geschichte der Kernenergienutzung. Die betrchtlicheFreisetzung von radioaktiven Spaltprodukten fhrte zu einer starken Bela-stung der Rettungsmannschaften und der Bevlkerung in der Nhe des Stand-orts. In vielen Lndern der Welt waren die Menschen in den Tagen nach demUnfall besorgt ber die ungewissen Folgen dieses Ereignisses, was durch diezgerliche Informationspolitik der sowjetischen Behrden noch verstrktwurde. Ursachen, Hintergrnde und Folgen des Unfalls sind in den vergange-nen zehn Jahren von verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen unter-sucht und bewertet worden. Mittlerweile ergibt sich ein einigermaen ge-schlossenes Bild.
1. Der Tschernobyl-Reaktor
Zusammenfassung
Bei den RBMK-Reaktoren handelt es sich um eine sowjetische Reaktorlinie,die entwickelt wurde, um ursprnglich nicht nur Strom, sondern auch Pluto-nium fr militrische Zwecke zu gewinnen. Im Vergleich zu deutschen Kern-kraftwerken weist die Konzeption dieser Reaktoren einige schwerwiegendeNachteile auf, die auch fr den Unfall in Tschernobyl wesentlich mitverant-wortlich waren. Die RBMK-Reaktoren sind nicht inhrent sicher, wie es beiden gngigen westlichen Reaktoren der Fall ist. Sie haben zudem keinedruck- und gasdichte Hlle (Containment), die das Reaktorgebude um-schliet, und zeigen erhebliche Defizite bei den Sicherheitseinrichtungen undNotkhlsystemen. Obwohl die technischen Mngel der RBMK-Reaktoren ein-zelnen sowjetischen Fachleuten bekannt waren, wurden sie weder abgestellt,noch in Form entsprechender Betriebsbeschrnkungen den Betriebsmann-schaften bewut gemacht.
Konzept der RBMK-Reaktoren
Anfang der 50er Jahre wurde in der UdSSR mit der Entwicklung einesDruckrhren-Reaktors mit Siedewasserkhlung und Graphitmoderator be-gonnen. Ende der 60er Jahre waren mehrere kleine Anlagen in Betrieb. Da-nach ging man sogleich auf Blockleistungen von 1000 Megawatt (MW) ber(vgl. Tabelle 1). Da es sich um eine Reaktorlinie handelte, die auch zur Plu-toniumgewinnung fr militrische Zwecke genutzt werden konnte, wurdendiese RBMK-Reaktoren nicht exportiert. Planungen fr Einheiten bis zuBlockgren von 2400 MW wurden inzwischen eingestellt.
Bei dem Tschernobyl-Reaktortyp ist der Reaktorkern ein Graphitblock miteiner Spaltzone von 11,8 m Durchmesser und 7 m Hhe, der in einem Beton-quader von 22 x 22 x 26 m Gre untergebracht ist. Der Graphitblock dientder Moderation, d.h. die fr den gewnschten Betrieb zu schnellen Neutronenwerden durch den Graphit gebremst. Der Moderatorblock besteht aus rund2.450 Sulen, die aus quadratischen Blcken (250 x 250 mm) aufgebaut sind.Er wird vertikal von rund 1.700 Druckrhren durchzogen, in denen sich je einBrennelement befindet. Das Wasser dient bei den RBMK-Reaktoren nur alsKhlmittel und nicht - wie bei den westlichen Reaktoren - gleichzeitig alsKhlmittel und Moderator. Whrend bei einem westlichen Reaktor durch
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Khlwassermangel die Neutronenbremsung verringert und damit die Ketten-reaktion automatisch gebremst oder gestoppt wird, sind bei den RBMK-Anla-gen Khlmittel- und Neutronen-Bremsmittel nicht identisch. Dadurch ent-steht unter den beim Tschernobyl-Reaktor gegebenen Umstnden ein Effekt,der in der Fachsprache als positiver Dampfblasenkoeffizient (Erluterungvon Fachbegriffen im Glossar) bezeichnet wird: Bei Leistungs- und Tempera-tursteigerung nimmt bei den RBMK-Reaktoren auch die Kettenreaktionsrateimmer schneller zu. Dieser Effekt war u. a. eine der physikalischen Ursachenfr den Unfall. Bei den RBMK-Anlagen ist zudem aufgrund der Gre desReaktorkerns und des positiven Dampfblasenkoeffizienten im Vergleich zuwestlichen Anlagen eine aufwendigere berwachung und Regelung ntig.
Aus sowjetischer Sicht bieten die RBMK-Reaktoren folgende Vorteile:
Die Anlagen werden in Modulbauweise errichtet, d. h. es sind keineGroschmiedestcke, wie z.B. Druckbehlter, herzustellen und zu trans-portieren. Folglich ist die Blockleistung nicht durch infrastrukturelle Ge-gebenheiten wie Transportwege etc. begrenzt. Die Gesamtleistung desKraftwerkblocks lt sich durch Hinzufgen baugleicher Konstruktionse-lemente, d. h. weiterer Druckrhren, relativ einfach erhhen.
Nach sowjetischen Angaben haben sich die Anlagen im praktischen Be-trieb bewhrt. Ihre Verfgbarkeit und Auslastung lag ber dem Durch-schnitt anderer sowjetischer Anlagen und erreichte international blicheWerte.
Standort ElektrischeLeistung inMW (netto)
Auftrags-erteilung
Kommerz.Betrieb(Block 1/2)
Stillegung(Block 1/2)
Litauen
Ignalin 1-2 2 x 1 380 1974 1985/87
Ruland
Obninsk
Troitsk 1-6
Beloyarsk 1
Beloyarsk 2
Bilibinsk 1-4
Sosnowi Bor 1-2
Kursk 1-2
Smolensk 1-2
Smolensk 3
Kursk 3-4
Sosnowi Bor 3-4
Kursk 5
5
6 x 90
102
146
4 x 11
2 x 925
2 x 925
2 x 925
925
2 x 925
2 x 925
925
1951
1953
1958
1959
1965
1968
1968/74
1971
1981
1974
1975
1985
1954
1958/63
1964
1969
1974/77
1974/76
1977/79
1983/85
1990
1983/85
1980/81
1994
1983
1990
Ukraine
Tschernobyl 1-2
Tschernobyl 3-4
2 x 925
2 x 925
1971
1974
1978/79
1982/84
1991
1986*
* stillgelegt nach Reaktorunfall
Quelle: Nuclear Engineering International: World Nuclear Industry Handbook 1993,
zitiert nach: Karl Siegel: Graphitmoderierte Leichtwasserreaktoren, in: Handbuch
Kernenergie 1995, S. 75.
Tab. 1: RBMK-Reaktoren (Hochleistungs-Druckrhrenreaktoren)
3
Diesen betrieblichen und volkswirtschaftlichen Vorteilen stehen aus Sichtwestlicher Reaktorfachleute folgende gravierende Nachteile gegenber:
Die beschriebene reaktorphysikalische Auslegung kann bei bestimmtenStrfallsituationen zu einem Anstieg der nuklearen Leistung fhren. DieAnlagen sind daher nicht inhrent sicher, wie es bei den gngigen westli-chen Reaktoren der Fall ist.
Der gasdichte Sicherheitsbehlter (Containment), der bei den westlichenKernkraftwerken eine der wesentlichen Genehmigungsvoraussetzungenist, fehlt bei den RBMK-Reaktoren, wie auch bei anderen russischen An-lagen.
Im Vergleich zu westlichen Reaktoren sind einige Sicherheitseinrichtun-gen nicht vorhanden oder in zu geringer Redundanz (Mehrfachauslegung)ausgefhrt.
Die starke Verknpfung der Systeme untereinander und insbesondere mitdem Notkhlsystem macht die Anlage stranfllig.
Die technischen Mngel blieben trotz Weiterentwicklung der RBMK-Anla-gen ber Jahrzehnte bestehen, obwohl sie einzelnen sowjetischen Fachleutenbekannt waren. Warum diese Kenntnisse nicht weitergegeben wurden, be-grnden westliche Fachleute mit organisatorischen Defiziten, die sich mit ei-nem Mangel an Sicherheitskultur in der frheren Sowjetunion umschreibenlassen. Der RBMK-Reaktortyp wre wegen seiner inhrenten Unsicherheitnicht in der Bundesrepublik und auch nicht in anderen westlichen Lnderngenehmigt worden. Westliche Reaktorfachleute hatten bis 1986 praktisch kei-ne Kenntnisse ber die Funktionsweise und Sicherheitseigenschaften derRBMK-Anlagen. Erst nach dem Unfall wurden allmhlich erste technischeEinzelheiten bekannt.
2. Unfallablauf, Ursachen und Hintergrnde
Zusammenfassung
Der Unfall ereignete sich whrend eines Tests, bei dem geprft werden sollte,ob man bei einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine noch ber-gangsweise zur Stromerzeugung nutzen kann, bis die Notstromaggregatehochgelaufen sind. Etwa eine Minute nach Testbeginn gab es im Reaktor ei-nen jhen Leistungsanstieg. Augenzeugen auerhalb des Reaktors beobachte-ten zu diesem Zeitpunkt zwei Explosionen mit Materialauswurf. Die Anlagewurde stark beschdigt. Die Feuerwehrleute und die Hilfsmannschaften mu-ten mangels Erfahrung mit derartigen Unfllen improvisieren. Durch Was-sereinspeisung, Abwurf verschiedener Materialien aus Militrhubschraubernund Einblasen von Stickstoff gelang es, die Freisetzung der radioaktivenSchadstoffe allmhlich zu verringern. Aus der Region um den havariertenReaktor wurden in den ersten Tagen ber 100.000 Menschen evakuiert. Nachersten Untersuchungen ging man noch davon aus, da menschliche Fehlhand-lungen in Verbindung mit Systemschwchen der RBMK-Reaktorlinie denUnfall verursachten. Mittlerweile sieht man in den Systemschwchen die we-sentlichen Ursachen.
Das Kernkraftwerk Tschernobyl liegt im weirussisch-ukrainischen Waldge-biet am Ufer des Flusses Prepjet (auch Pripyat geschrieben), der in denDnjepr mndet (vgl. Bild 1). Der Gelndeverlauf ist meist flach. Die Bevl-kerungsdichte ist in dieser Region mit durchschnittlich rund 70 Einwohnern
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pro km2 im Vergleich zu mitteleuropischen Lndern relativ gering. AmStandort des Kernkraftwerks Tschernobyl waren 1986 vier RBMK-1000-Blcke in Betrieb, zwei weitere in Bau. Die Blcke 1 und 2 gingen 1978bzw. 1979 in Betrieb, die Blcke 3 und 4 wurden 1982 bzw. 1984 ans Netzgeschaltet. Die Blcke 5 und 6 befanden sich in fortgeschrittenem Bauzu-stand und sollten 1986 und 1988 in Betrieb gehen. Die Anlage in Tscherno-byl galt in der UdSSR als Musteranlage.
Der Unfall ereignete sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 inBlock 4 whrend eines Tests mit einem der beiden Turbinen-Generator-St-ze. Ziel dieses Tests war zu prfen, ob bei einem Stromausfall und der damitverbundenen Abschaltung des Reaktors die mechanische Energie des Rotorsim Turbinen-Generator-Satz beim Auslaufen solange fr den Strom-Eigenbe-darf von vier Hauptspeisepumpen ausreicht, bis die Notstromdieselaggregatehochgelaufen sind. Fr das Hochlaufen bis zur vollen Leistung vergehen beiden in Tschernobyl installierten Aggregaten 40 bis 50 Sekunden. Den Testfhrte die Betriebsmannschaft ohne Erlaubnis der zustndigen Behrdendurch.
Bereits im Jahr 1985 hatte man am Standort Tschernobyl einen gleichen Testin Block 3 durchgefhrt. Damals war jedoch die Spannung am Generator zuschnell abgefallen, so da der Test mit einem verbesserten Spannungsreglerin Block 4 wiederholt werden sollte. Um bei einem mglichen Scheitern desersten Versuchs eine sofortige Wiederholung zu ermglichen, wurde der Test
Bild 1: Lage des Kernkraftwerks Tschernobyl im GrenzgebietUkraine-Weiruland
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diesmal durchgefhrt, whrend der Reaktor noch in Betrieb blieb. Eine derar-tige Versuchsanordnung verstie gegen die Betriebsvorschriften. Die Ver-suchsanordnung alleine htte den Unfall nicht herbeifhren knnen, doch ka-men ungnstige reaktorphysikalische und sicherheitstechnische Eigenschaf-ten der RBMK-Reaktoren sowie Bedienungsfehler hinzu.
Whrend des Tests wurde zur Erfassung von elektrischen Gren des geplan-ten Versuchs eine betrchtliche Anzahl von Dokumentations-Kanlen ver-wendet, auf denen sonst Betriebswerte (wie beispielsweise die Reaktorlei-stung) aufgezeichnet werden. Die fehlenden Werte erschwerten spter die Er-mittlung von Unfallablauf und -ursachen.
Der zeitliche Ablauf des Unfallgeschehens (Ortszeit):
Freitag, 25. April 1986:
01.00 Uhr: Der Reaktor wird zur jhrlichen Revision und fr den geplantenVersuch von voller Leistung abgefahren, d.h. die Reaktorlei-stung wird systematisch reduziert.
13.05 Uhr: Etwa 50 % Reaktorleistung werden erreicht. Eine der beiden zu-geordneten Turbinen wird abgeschaltet.
14.00 Uhr: Das Notkhlsystem wird isoliert. (Diese Manahme war in derTestprozedur vorgesehen. Man wollte vermeiden, da bei Not-khlsignalen Wasser zur Khlung eingespeist wrde.)
Zwischenzeitlich verlangt der Lastverteiler im ukrainischenKiew den Weiterbetrieb mit einer Turbine, da im Elektrizitts-netz entsprechender Bedarf besteht.
Das Betriebspersonal vergit, die Notkhlsysteme wieder zu ak-tivieren.
23.10 Uhr: Nachdem der Strombedarf gedeckt ist, wird mit dem weiterenAbfahren des Reaktors begonnen, mit dem Ziel, eine Leistungvon rund 25 % zu erreichen.
Samstag, 26. April 1986:
00.28 Uhr: Beim Abfahren fllt aufgrund einer Strung im Regelsystemoder einer Fehlhandlung die Leistung des Reaktors aus bisherungeklrten Grnden auf unter 1 % der Nennleistung. (Da einLeistungsbetrieb unter 20 % nicht zulssig war, htte der Reak-tor abgeschaltet und der Versuch verschoben werden mssen.)Statt dessen wurde die Leistung soweit wie mglich wieder an-gehoben, um den Versuch durchzufhren. Durch Ausfahren derRegelstbe (im bertragenen Sinne: der Bremsen des Reak-tors) gelingt es, die Reaktorleistung auf etwa 7 % anzuheben.
00.43 Uhr: Etwa 40 Minuten vor Versuchsbeginn wird ein wichtiges Signal,welches bei Einleitung des Versuchs zu einer automatischenNotabschaltung des Reaktors gefhrt htte, unwirksam gemacht,um den Versuch eventuell wiederholen zu knnen.
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01.00 Uhr: Dem Operateur gelingt es, den Reaktor auf ca. 7 % der Nennlei-stung zu stabilisieren. (In diesem Leistungsbereich htte der Re-aktor nach heutiger Kenntnis nicht betrieben werden drfen. Frden weiteren Ablauf von groer Bedeutung ist, da der notwen-dige Spielraum zur Abschaltung des Reaktors wegen der vielenausgefahrenen Regelstbe nicht mehr vorhanden war.
01.03 Uhr: Jedem Khlkreislauf werden gem Versuchsablauf die vier zu-gehrigen Pumpen zugeschaltet. Dadurch werden zur Stabilisie-rung der Leistung die Regelstbe noch mehr herausgefahren.Die Reaktivittsreserve sinkt weiter. Druck und Wasserspiegelin den relevanten Reaktorkomponenten schwanken heftig, dieAnlage befindet sich in einem uerst instabilen Zustand.
01.19 Uhr: Der Operateur erhht die Wasserzufuhr und berbrckt Warnsi-gnale zum Stand von Wasserspiegel und Druck, die zu ei-ner Abschaltung gefhrt htten. (Diese Vorgehensweise war lautBetriebsanleitung nicht verboten.)
01.22 Uhr: Durch verschiedene Manahmen erreicht der Operateur, da dieWasserzufuhr wieder auf zwei Drittel des notwendigen Wertesansteigt. Die Regelung gestaltet sich sehr schwierig, da das Re-gelsystem nicht fr derartige kleine Durchstze ausgelegt ist.Kurze Zeit spter stabilisiert sich die Wasserzufuhr. (Dennochwre zu diesem Zeitpunkt wegen der fehlenden Reaktivittsre-serve und der vielen ausgefahrenen Regelstbe das sofortige Ab-schalten des Reaktors erforderlich gewesen.)
01.23 Uhr: Der vorgesehene Test beginnt mit dem Schlieen der Turbinen-schnellschluventile. Durch den steigenden Druck wird eineGruppe der automatischen Regelstbe ausgefahren. Die Verrin-gerung des Durchsatzes und die Erwrmung des Wasser verur-sachen eine positive Reaktivittszufuhr, die man dadurch zukompensieren versucht, da man zwei (von insgesamt drei)Gruppen der automatischen Regelstbe wieder einfhrt.
Etwa 30 Sekunden nach Testbeginn steigt die Leistung weiteran. Das automatische Regelsystem kann die Leistungssteigerungnicht verhindern.
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36 Sekunden nach Testbeginn gibt der Schichtleiter den Auftrag,den Reaktor abzuschalten. Der Notschalter wird bettigt. Sekun-den spter erfolgen Alarmmeldungen ber hohe Reaktorleistungund ein jher Leistungsanstieg. Innerhalb von rund vier Sekun-den schaukelt sich die Energieabgabe auf nahezu das 100facheder Nennleistung des Reaktors auf. Das Schnellabschaltsystemder Steuerstbe dagegen bentigt fr das Wirksamwerden(Bremsen) 18-20 Sekunden.
Auerhalb des Reaktorgebudes werden zu diesem Zeitpunkt von Augenzeu-gen zwei Explosionen mit Materialauswurf beobachtet. Sie erfolgen im Ab-stand von 2 bis 3 Sekunden und fhren zu starken Beschdigungen am Ge-bude. Die Blcke 1 und 2 lt man weiter in Betrieb und schaltet sie erst am27. April ab.
Unfallursachen
Zur Erklrung des Unfallablaufs konnte man nicht auf Erfahrungen aus ver-gleichbaren Ereignissen oder auf ausfhrliche Dokumentation zurckgreifen.Man war auf die Augenzeugenberichte sowie auf nach dem Unfall durchge-fhrte Strahlenmessungen, nachgestellte Experimente und Analysen ange-wiesen. Alles zusammengenommen ergibt sich heute folgendes Bild:
Durch die starke Leistungssteigerung kam es zum Aufheizen des Brennstoffs.Die Aufheizung von eingeschlossenem Gas und wahrscheinlich auch dieVerdampfung von Brennstoff fhrten zu einem Druckaufbau, durch den einTeil des Brennstoffs in winzige Bruchstcke zerrissen (fragmentiert) wurde.Die heien Bruchstcke kamen mit Wasser in Berhrung. Dadurch entstandDampf. Dieser gesamte Vorgang erfolgte in etwa einer Zehntel Sekunde. Be-rechnungen von sowjetischen Reaktorfachleuten ergaben, da voraussichtlich30 % des Kernvolumens diese erste Leistungssteigerung verursachten.
Die Brennelementkanle konnten dem Druck und den Temperaturbelastun-gen nicht standhalten. Der Druck im Reaktorraum stieg. Durch diesen Druck-aufbau wurde die obere ca. 1000 Tonnen schwere Reaktorabdeckplatte ange-hoben und der obere Teil des 64 Meter hohen Reaktors zerstrt. Dabei rissenalle mit der Platte verbundenen Rohre ab. Gleichzeitig wurden die horizonta-len Leitungen abgeschert und die Regelstbe mit der Platte herausgezogen.Die Reaktorplatte befindet sich seitdem in einer vertikalen Position. DieBrennstablademaschine fiel auf den Reaktorkern und zerstrte weitere Khl-kanle.
Nach der Fragmentierung des Brennstoffs und der Wechselwirkung mit demWasser entstand Wasserstoff. Mglicherweise erfolgte etwas spter im Rah-men der Wechselwirkung mit dem Material der Brennelementkanle eineweitere Zirkon/Wasserreaktion. Die Ursachen der bereits angesprochenenzweiten Explosion sind nicht bekannt. Man nimmt an, da durch das Abrei-en aller Rohre und durch die Druckabsenkung im Primrsystem des Reak-tors eine zweite Leistungsexkursion mglich war. Ca. 2 % der Graphitblk-ke wurden durch die Explosionen ausgeworfen. Aller Wahrscheinlichkeitnach wurde die Kettenreaktion whrend der Zerstrung des Reaktorkernsbeendet.
Erste Analysen sahen die wesentlichen Ursachen fr diesen Unfall sowohl immenschlichen Versagen als auch in der Unkenntnis der speziellen Auslegungdes Reaktors seitens der Operateure. Die Betriebsmannschaft stand im Vor-feld des Unfalls unter betrchtlichem Zeitdruck. Der Test sollte whrend der
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jhrlichen Routinerevision, die im April anstand, tagsber durchgefhrt wer-den. Da der Reaktor zwischenzeitlich zur Stromerzeugung bentigt wurde,entstand ein Zeitverzug von neun Stunden, so da der Test in der Nacht ge-fahren werden mute. Der Zeitdruck auf die Betriebsmannschaft wurde da-durch noch verstrkt.
Nach den ersten Untersuchungen war man im Westen (aufgrund von sowjeti-schen Aussagen) noch der Auffassung, da berwiegend menschliche Fehl-handlungen in Verbindung mit verschiedenen Systemschwchen den Unfallverursacht hatten. Diese Einschtzung wurde jedoch aufgrund neuerer Be-wertungen von russischen Experten revidiert. Sie kannten die Sensibilitt desReaktors in diesem Leistungsbereich, die unzureichende Instrumentierungund die Leistungssteigerung durch das Einfahren vorher zu hoch ausgefahre-ner Regelstbe. Der zuletzt genannte Effekt beeinflute offensichtlich denUnfallbeginn.
Es gilt heute als sicher, da die den Leistungszuwachs auslsende Reaktivi-ttszufuhr durch das Einfahren der Abschalt- und Regelstbe hervorgeru-fen wurde. Denn die Regelstbe des RBMK-Reaktortyps reduzieren aufgrundihrer fehlerhaften Konzeption beim Einfahren aus dem vllig gezogenen Zu-stand die Reaktivitt nicht, sondern erhhen sie zunchst. D. h. die Kettenre-aktion wird nicht beendet, sondern fr kurze Zeit beschleunigt. Auf dieseWeise wurde der Unfall paradoxerweise durch die Aktivierung der Reakto-rabschaltung durch den Operateur ausgelst (Im bertragenen Sinne:Der Operateur bettigte die Bremsen des Reaktors. Aufgrund ihrer fal-schen Konstruktion fhrte dies zu einem kurzzeitigen Gasgeben). DiesenEffekt stellte man bereits 1983 bei der Inbetriebnahme der Anlage von Ignali-na (Litauen) fest, gab ihn aber nicht als Erfahrungswert an die Betriebsmann-schaften anderer Anlagen weiter, was nach 1986 von sowjetischer Seite langeZeit geleugnet wurde.
Die Konzeptmngel an den Steuerstben sowie das Verhalten des Reaktorsbei niedriger Leistung waren folglich dem Betriebspersonal nicht bekannt.Trotzdem schob die sowjetische Seite die Schuld an dem Unfall weitgehenddem Bedienungspersonal zu. Der Schichtleiter, der sich nicht vorstellenkonnte, da durch eine Abschaltung ein Leistungsanstieg ausgelst werdenkann, wurde mit Gefngnis bestraft.
Erste Schutzmanahmen
Da keine Katastrophen- und Notfallplne existierten und auch keine Erfah-rungen mit derartigen Unfllen vorlagen, muten die Fachleute vor Ort berdie Manahmen zur Verringerung der Strahlenbelastungen des Personals undder Umwelt entscheiden. Man konzentrierte sich auf vier Gefahrenschwer-punkte:
Verhinderung einer erneuten Kettenreaktion; Verhinderung eines weiteren Aufheizens der Brennelemente; ausreichende Abschirmung der Direktstrahlung; Minimierung der Freisetzung von radioaktiven Stoffen.Die Umsetzung dieser Manahmen erfolgte schwerpunktmig in der Zeitvom 26. April bis 2. Mai 1986.
Um die Freisetzung von radioaktiven Stoffen aus dem beschdigten Reaktorzu begrenzen, versuchte man zunchst, Khlwasser in den zerstrten Reak-
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torkern zu pumpen. Angesichts des zerstrten Khlwassersystems mute dieFeuerwehr improvisieren. Sie schaffte es bereits kurz nach dem Unfall, Was-ser in der Grenordnung von 200 bis 300 Tonnen pro Stunde mittels derNotpumpen einzuspeisen. Das Wasser wurde dem Vorratstank zur Khlungdes intakten Blockes entnommen. Nach 10 Stunden beendete man die Ein-speisung, da die beabsichtigte Khlung der Graphitblcke nicht gelang. Zu-dem flo kontaminiertes Wasser aus der Anlage heraus.
Schnellstmglich begann man mit ber 30 Militrhubschraubern folgendeMaterialien in den Reaktor zu werfen, in dem zwischenzeitlich als Folge derhohen Temperatur ein Graphitbrand entstanden war:
ca. 40 t Borkarbid, um eine erneute Kettenreaktion zu verhindern; ca. 800 t Dolomit, dessen Zersetzung die Wrmeentwicklung auffangen
sollte; gleichzeitig sollte mit Hilfe des entstehenden Kohlendioxids dermehrere Tage andauernde Graphitbrand erstickt werden;
ca. 2400 t Blei, um durch den Schmelzvorgang die Hitze zu absorbierenund eine gewisse Abschirmung der Gamma-Strahlung zu erreichen;
ca. 1800 t Sand und Lehm als Filtermaterial fr die aus dem Brennstofffreigesetzten radioaktiven Stoffe.
Am 4. oder 5. Mai wurde gasfrmiger Stickstoff in den unteren Bereich derAnlage eingeblasen. Die aus der Luft abgeworfene Abdeckung erhhte zu-nchst die Temperatur und somit die Freisetzung von radioaktiven Stoffen.Dieser Zustand nderte sich erst, als es am 6. Mai gelang, ein Stickstoffkhl-system unterhalb der Reaktorgrube zu installieren. Dadurch stabilisierte sichdie Temperatur und die Freisetzung ging zurck. Weiterhin grub man einenTunnel, der unterhalb des Reaktorkerns endete, um dort eine Betonplatte ein-zubauen. Diese Manahme sollte verhindern, da geschmolzene Teile dasGrundwasser kontaminieren.
Wieviel des radioaktiven Inventars (ursprnglich bestand die Kernladung ausrund 200 t Uran) in den Reaktortrmmern blieb, konnte durch Messungenund spter durch Bohrungen nherungsweise ermittelt werden. Der wesentli-che Teil des Brennstoffs liegt jetzt unterhalb der unteren Reaktorplatte. Dierestliche Menge befindet sich noch innerhalb des Kernbereichs bzw. im Be-reich der oberen horizontalen Rohre. Insgesamt wurden rund 3,8 % des ge-samten Kernbrennstoffs ausgeworfen.
Erste Evakuierungen
Die Evakuierung der Bevlkerung begann am Sonntag, dem 27. April, nach-dem gengend Transportmittel bereitgestellt und die entsprechenden Trans-portwege auf mglichst geringe radiologische Belastung berprft waren.Die sowjetischen Behrden rechtfertigen ihre Entscheidung, mit der Evakuie-rung erst mehr als 24 Stunden nach dem Unfall zu beginnen, damit, da dieFreisetzung von radioaktiven Stoffen am 27. April wesentlich geringer als amUnfalltag war. Die Bewohner der Region wurden allerdings zu spt aufgefor-dert, in den Husern zu bleiben. Freiwillige Helfer verteilten Jodtabletten.
36 Stunden nach dem Unfall wurden 45.000 Menschen aus der Stadt Pripyatevakuiert. In den folgenden Tagen und Wochen folgte aus dem inzwischenzur Sperrzone erklrten Gebiet im 30-km-Radius um den Reaktor und aus be-sonders stark betroffenen Gebieten auerhalb dieser Zone die Evakuierungweiterer 90.000 Menschen.
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3. Weitrumige Kontamination und Strahlenexposition
Zusammenfassung
Aus dem beschdigten Reaktor wurden in den ersten zehn Tagen nach demUnfall groe Mengen an radioaktiven Stoffen freigesetzt. Durch den Auftriebgelangten sie in Hhen ber 1.500 m und wurden groflchig verteilt. Auf-grund der damals bestehenden Wetterverhltnisse nahm die radioaktive Wol-ke verschiedene Richtungen. Besonders betroffen waren die Ukraine, Wei-ruland und Ruland. Auerhalb der damaligen UdSSR wurden insbesonde-re Gebiete in Skandinavien, Deutschland und Teilen des Balkans belastet.Die grten Strahlenbelastungen erlitten in den ersten Wochen nach demUnfall Feuerwehrleute, Betriebsmannschaften und sog. Liquidatoren, vondenen ber 600.000 eingesetzt wurden. Die besonders stark belastete Regionum Tschernobyl wurde im Umkreis von 30 km in drei behrdlich kontrollierteZonen aufgeteilt. Fr die Gebiete, die zwischen 30 und 500 km von Tscherno-byl entfernt liegen, entwickelten die rtlichen Behrden ein Schutzkonzept frdie betroffene Bevlkerung.
Welche Folgen die Strahlenbelastungen fr die Liquidatoren und die be-sonders betroffenen Teile der Bevlkerung haben werden, ist schwer abzu-schtzen, da auftretende Krankheiten hufig auch auf unzureichende medizi-nische Versorgung und die Ernhrungssituation zurckzufhren sind. Feststeht, da die Schilddrsenbelastungen mehrerer tausend Tschernobyl-Kin-der in den ersten Tagen nach dem Unfall viel zu niedrig eingeschtzt wur-den. ber die Zahl der Todesopfer aus dem Unfall insgesamt werden sehr un-terschiedliche Angaben gemacht. Sachliche Ermittlungen hierzu wurden hu-fig von meist unsinnigen Zahlenangaben aufgrund von Schtzungen oderBefrchtungen berdeckt. Die Informationspolitik der sowjetischen Behr-den in den ersten Wochen nach dem Unfall, in denen zu spt und nur lk-kenhaft Fakten verffentlicht wurden, stie sowohl bei der eigenen Bevlke-rung als auch in den betroffenen Nachbarlndern auf heftige Kritik.
Ablauf der Aktivittsfreisetzung
Aufgrund der schweren Beschdigungen am Reaktor gelangten die radioakti-ven Edelgase (Krypton, Xenon) und ein Groteil der leichtflchtigen NuklideJod und Csium sowie in geringerem Mae auch andere Spaltprodukte in dieAtmosphre. Durch die heien Gase des Graphitbrandes wurden die radioak-tiven Stoffe zu einem Groteil in Hhen von mehr als 1.500 m getragen und -abhngig von den Wetterverhltnissen - groflchig verteilt.
Es lassen sich vier Phasen der Aktivittsfreisetzung unterscheiden:
(1) Durch die Explosion am 26. April wurden nicht edelgasfrmigenSpaltprodukte aus dem Reaktorgebude geschleudert. Aufgrund desstarken thermischen Auftriebs gelangten sie in groe Hhen.
(2) Die zweite Phase der Freisetzung dauerte vom 27. April bis 1. Mai.Aufgrund erster Schutzmanahmen der Rettungsmannschaften gingdie Freisetzungsrate zunchst zurck. Durch die aus Hubschraubernabgeworfenen Abdeckungsmaterialien wurde der thermische Auftriebvermindert, wodurch sich die Emissionen reduzierten.
(3) In der Zeit vom 2. bis 5. Mai erhhte sich aufgrund der Abdeckung dieTemperatur im zerstrten Reaktor, was zu einem Anstieg der Schad-stofffreisetzung fhrte.
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(4) Durch die erfolgreiche Inbetriebnahme des Stickstoffkhlsystems san-ken die Freisetzungen gegenber der dritten Phase nach dem 5. Mai er-heblich und nahmen in der Folgezeit kontinuierlich weiter ab.
Der Transport freigesetzter Schadstoffe wird durch die Strmungen be-stimmt, die sich aus der grorumigen Luftdruckverteilung, den Windver-hltnissen und den Niederschlgen ergeben. In den ersten Tagen wehte derWind in Richtung Norden und Nordwest. Am 30. April schwenkte die Wind-richtung nach Sden und Osten. In der Zeit vom 26. April bis zum 30. Maifiel in der Unfallregion kein starker Niederschlag, da Regenwolken, die sichin diese Richtung bewegten, knstlich vorzeitig abgeregnet wurden. Insge-samt ergab sich dadurch eine komplexe Situation des atmosphrischen Trans-ports der radioaktiven Stoffe und ihrer Ablagerung am Boden.
Betroffene Regionen
Die am Unfalltag freigesetzten Schadstoffe gelangten aufgrund des vorherr-schenden Nordwestwindes berwiegend in den skandinavischen Raum underreichten am 28. April das Baltikum, Schweden und Finnland (vgl. Bild).Die Emissionen des 27. April zogen zunchst ber Polen nach Osten, wo siewetterbedingt nach Sd- und Westdeutschland umgelenkt wurden. Im weite-ren Verlauf berquerte die radioaktive Wolke Nordfrankreich und Grobri-tannien. Am 28. April und in der ersten Hlfte des Folgetages wurden dieEmissionen in die stlich gelegenen sowjetischen Landesteile transportiert.Danach nderten sich die Wetterbedingungen erneut, und fr rund 36 Stun-den zog die radioaktive Wolke ber den Balkan und Italien in den Sdostenund Norden Deutschlands. Ab dem 1. Mai wiederum gelangten die Emissio-nen zunehmend in sdliche Richtungen und erreichten erneut den Balkan undVorderasien. Am 3. Mai wurde die radioaktive Wolke in Japan, ab dem5. Mai in Kanada und den USA gemessen.
Anzeichen fr das zweite Eintreffen der Wolke nach einmaligem Erdumlaufwurden am 25. Mai auf dem Schauinsland bei Freiburg beobachtet. Danachnderte sich die Konzentration der radioaktiven Stoffe in der Luft so, wieman es aufgrund des Zerfalls der einzelnen radioaktiven Teilchen erwartethatte. In den Folgemonaten sank die Aktivittskonzentration kontinuierlichund war zum Jahresende 1986 in Deutschland vergleichbar mit der vor demUnfall in Tschernobyl. Auf der sdlichen Erdhalbkugel wurden keine radio-aktiven Stoffe aus dem Reaktorunfall gemessen.
Erhebliche Strahlenbelastung der sog. Liquidatoren
Es ist offenkundig, da die Mitglieder der Betriebsmannschaften und dieFeuerwehrleute, die sich zum Zeitpunkt des Unfalls bzw. unmittelbar danachim Reaktorblock aufhielten, die grten Strahlenbelastungen erhielten. Insge-samt wurden ber 600.000 sog. Liquidatoren eingesetzt, darunter etwa300.000 Armeeangehrige. Von diesem Personenkreis erhielten etwa 900 inden ersten Wochen nach dem Unfall, bei den Aufrumungs- und Dekontami-nierungsarbeiten Strahlenbelastungen oberhalb des offiziellen behrdlichenRichtwertes von damals 500 mSv. Insbesondere die Mitglieder der Betriebs-mannschaft und die Feuerwehrleute erlitten bei dem Unfall schwere, zumTeil tdliche Strahlenschden.
Im April 1995 verffentlichte der ukrainische Gesundheitsminister Serdjukeine Statistik, wonach seit dem Unfall 6.000 der Liquidatoren an den Strah-lenfolgen verstorben seien. Eine berprfung dieser Abschtzung erwies sich
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als schwierig, da weder die Gesamtzahl der Liquidatoren in der Ukrainenoch ihre Altersverteilung bekannt sind. Ob die angegebene Zahl ber dernormalerweise zu erwartenden Sterberate liegt, ist daher ungewi. Es gibtaber Hinweise - vor allem aus Ruland - da aufgrund groer psychischerBelastungen Selbstmorde unter den Liquidatoren hufiger wurden. Wennsolche zustzlichen Todesflle auch nicht direkt durch Strahlung verursachtwurden, so sind sie doch dem groen Umfang der Folgen des Reaktorun-glcks mit seinen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen zuzuschreiben.Unterstellt man zum Vergleich deutsche Sterbestatistiken, dann ergibt sichfr eine Gruppe von 600.000 Mnnern im Alter zwischen 25 und 35 Jahreneine Zahl von 7.680 Sterbefllen.
Folgen fr die Bevlkerung
Nach der Hhe der Strahlenbelastung wurde die Region um Tschernobyl imUmkreis von 30 km in drei Zonen aufgeteilt: Eine erste Zone mit 4 bis 5 km-
Bild 2: Verlauf der radioaktiven Wolke
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Radius um die Anlage, von der erwartet wird, da sie fr lange Zeit nichtmehr bewohnt werden kann. Eine zweite Zone mit einem Radius von 5 bis10 km, von der man annimmt, da sie spter mit Einschrnkungen wieder ge-nutzt werden kann. Die dritte Zone umfat einen schwcher belasteten Be-reich von 10 bis 30 km, der eine Rckkehr der Bevlkerung mglicherweisenach einiger Zeit wieder erlaubt und in dem Landwirtschaft kontrolliert wie-der mglich sein drfte. An den jeweiligen Grenzen dieser Bereiche werdenZugangskontrollen durchgefhrt.
Von der Strahlenbelastung her gesehen war und ist die groflchige Csium-kontamination das Hauptproblem. Jod spielte wegen des relativ schnellenZerfalls nur in den ersten Wochen eine Rolle, Strontium wurde in sehr vielgeringerem Umfang freigesetzt und hauptschlich in der nheren Umgebungabgelagert. 1987 wurde eine internationale Langzeitstudie ber die Auswir-kungen in den besonders stark betroffenen Regionen angeregt, aber erst 1990ernsthaft begonnen und im Frhjahr 1991 zum Abschlu gebracht. Das Bildber das Ausma der Katastrophe fr die betroffene Bevlkerung vervoll-stndigte sich daher erst einige Jahre spter.
Eine Flche von mehr als 10.000 km2, die sich ber weite Teile der Ukraine,Rulands und Weirulands erstreckt, wurde mit mehr als 550 kBq/m2 Csi-um (s. Glossar) - teilweise sogar mit mehr als 1.500 kBq/m2- schwer belastet.21.000 km2 weisen Csiumkontaminationen zwischen 150 und 550 kBq/m2
auf. Aus den am strksten belasteten Gebieten sind bis heute weitere 80.000Menschen evakuiert worden, und es ist unklar, wie viele noch folgen werden.
Die Behrden erklrten alle Gebiete mit einer Csiumkontamination zwi-schen 550 und 1.500 kBq/m2 zu Zonen stndiger Kontrolle. In diesen ist u.a.der Verbrauch von landwirtschaftlichen Produkten aus dieser Zone einge-schrnkt. Zonen ber 1.500 kBq/m2 drfen auf Dauer nicht bewohnt werden.Anfang 1995 lebten in diesen beiden Zonen noch etwa 270.000 Personen, einDrittel davon Kinder. 2,2 Mio. Menschen in Weiruland und etwa 1,5 Mio.in der Ukraine leben in Gebieten mit mehr als 40 kBq/m2, der sog. Zone ge-legentlicher Kontrollen.
Die Strahlenbelastung der etwa 45.000 Bewohner von Pripyat betrug nachsowjetischen Schtzungen durchschnittlich etwa 30 mSv, bei den Liquida-toren etwa 100 mSv. Die 24.000 erst spter evakuierten Menschen aus dem15 km-Radius um den Reaktor drften allerdings eine mittlere Dosis vonetwa 450 mSv erhalten haben. In der weiteren Umgebung des Reaktors, zwi-schen 15 km und der Grenze der jetzigen 30 km-Sperrzone, soll die Strahlen-belastung damals bei etwa 50 mSv gelegen haben.
Bewertung der Strahlenbelastungen
Die Strahlenbelastungen durch den Unfall waren in der 30 km-Zone nachEinschtzung westlicher Strahlenmediziner insgesamt nicht so hoch, um aku-te Schden auszulsen. Strahlenbedingte akute und chronische Schden(Haarausfall, Schden des Immunsystems und des Blutbildes sowie Mibil-dungen) traten allerdings besonders bei den 24.000 erst spter evakuiertenPersonen aus dem 15 km-Radius und bei den Liquidatoren auf, bei denendie Belastung ber den angegebenen Mittelwerten lag.
ber Medien verbreitete Meldungen, die bereits heute zunehmende bsartigeKrebsneubildungen bei diesen Personengruppen aufzeigen, sind weitgehendspekulativ und knnen derzeit allenfalls bei Leukmie (besonders bei Kin-dern) und im Sonderfall bei Schilddrsenkrebs bei Kindern zutreffen. In allenanderen Fllen sind derartige Effekte eher damit zu erklren, da man erst
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nach dem Unfall und insbesondere in den betroffenen Gebieten mit einerbrauchbaren Krebsstatistik begann, whrend vor dem Unfall Krebs als To-desursache in vielen Fllen berhaupt nicht registriert wurde. Fr konkreteErkenntnisse fehlt also eine zuverlssige Vergleichsgrundlage.
Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Strahlenmediziner ist es un-ter diesen Randbedingungen zweifelhaft, ob Krebs und Leukmie in diesemPersonenkreis in Zukunft berhaupt statistisch erfabar sein werden. Einesolche Erhhung wre fr alle Krebsarten (auer Leukmie) wegen der lan-gen Latenzzeiten frhestens nach dem Jahr 2000 feststellbar.
Fr die Umsiedlung oder den Verbleib der ber 270.000 Menschen in denzwischen 30 km und teilweise ber 500 km von Tschernobyl entfernt liegen-den Zonen haben die Behrden ein 350 mSv-Konzept aufgestellt. Durchadministrative Manahmen soll die Strahlenbelastung der Bevlkerung sobegrenzt werden, da diese whrend der gesamten Lebenszeit den Wert von350 mSv nicht berschreitet. Da Csium in erheblichem Umfang zur uerenStrahlenbelastung beitrgt, fhrt das fr die Bevlkerung auch zu Aufent-haltsbeschrnkungen im Freien. Nach Berechnung der Vereinten Nationenkann dieses Konzept in den Zonen stndiger Kontrolle voraussichtlich einge-halten werden. Neueste Risikoschtzungen gehen davon aus, da die Bela-stung von 350 mSv das derzeitige Krebsrisiko in der betroffenen Bevlke-rung zustzlich um etwa 2% erhht.
In den Zonen stndiger Kontrolle stellte man einen Anstieg der Mibildungs-rate und der Zahl an Erkrankungen fest, die - nach heutigem Kenntnisstandder Medizin - nicht durch die Strahlung verursacht wurden. Dazu zhlenKrankheiten wie Bluthochdruck, Herzkranzgeferkrankungen, Diabetis,Nervenkrankheiten, chronische Erkrankungen der Atemwege und des Im-munsystems und besonders bei Kindern Entzndungen des Mund-Rachen-und Nasenbereichs sowie der Augen. Angesichts der durchgefhrten Ganz-krpermessungen an den betroffenen Personen, die relativ niedrige erhalteneBelastungen von 50 bis 100 mSv besttigten, kann die Strahlenbelastungnicht die Ursache dieser Erkrankungen sein. Ihr Zusammenhang mit dem Un-fall ist jedoch unzweifelhaft. Die Ursachen fr den Anstieg der Erkrankungs-und Sterblichkeitsrate sehen die Mediziner in einseitiger, vitaminarmer Er-nhrung mangels ausreichender Versorgung mit nicht kontaminierten Le-bensmitteln, vor allem aber in starkem psychischem und sozialem Stre.
Man kennt die Auswirkungen von Angst, Unsicherheit und Verzweiflung aufdie Gesundheit auch von anderen, nichtnuklearen Katastrophen. Fehlendeund unglaubwrdige Informationen ber die Situation, das Gefhl, von denBehrden im Stich gelassen zu werden, das fehlende Vertrauen in die Kon-trolle und damit letztlich in die Durchfhrbarkeit und die Wirksamkeit derangeordneten Manahmen sowie die zahlreichen Einschrnkungen im tgli-chen Leben (beispielsweise sind die Kinder weitgehend in Wohnungen ein-gesperrt) werten die Mediziner als wesentliche Auslser dieser ngste undals Basis dieser Krankheiten. Es wird befrchtet, da die psychosozialen Fol-gen des Unfalls, die bislang von den Behrden viel zu wenig beachtet wur-den, unter Umstnden mehr Opfer fordern als die eigentlichen Strahlenbela-stungen.
Ein Sonderfall sind Kinder mit erhhten Raten an Schilddrsenkrebs aus dernheren und weiteren Umgebung des Reaktors. Wahrscheinlich wegen lk-kenhafter, unsicherer und teilweise auch falscher Messungen der Jodemissio-nen in den ersten Tagen nach dem Unfall ist bei mehreren tausend Kinderndie Schilddrsenbelastung viel zu niedrig geschtzt worden. Die Strahlungwird bei diesen Kindern als wesentliche Ursache fr die starke Erhhung der
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Zahl der Schilddrsenkrebsflle angesehen. Der Schilddrsenkrebs zhlt zuden einigermaen behandelbaren Krebsformen. Die langfristige Heilungs-quote liegt bei 90 bis 95 % und selbst im Sptstadium noch bei 80 %.
Falschmeldungen ber Strahlentote in der Ukraine
Fr die Beurteilung der Folgen des Unfalls mssen den oft vllig abwegigenZahlenangaben einzelner Massenmedien die bisher bekannten Fakten gegen-bergestellt werden. Das Spektrum reicht von offensichtlich unsinnigenSchtzungen oder Befrchtungen von Opfern im Millionenbereich bishin zu der von den sowjetischen Behrden nach dem Unfall angegebenen of-fiziellen Zahl von 31 Opfern, darunter 26 Strahlentoten. Zu den Motiven frabwegige Zahlenangaben gehren u.a. Bestrebungen, mglichst viel interna-tionale Hilfe in die betroffenen Gebiete zu lenken; Dienstleistungen, Gerteund Studien zu verkaufen sowie Hochrechnungen auf der Basis fragwrdigerHypothesen ber die Wirkungen sehr kleiner Strahlendosen. Hufig entste-hen sie aber auch durch einfache Unwissenheit, sicher nicht selten auch durchdas Nachplappern von Falschmeldungen in Massenmedien". Selbst in relativserisen Publikationen finden sich gelegentlich solche Zahlenspiele. In einerStrahlenschutzzeitschrift wurde krzlich als Kompromi zwischen den un-terschiedlichen Angaben eine Zahl von 20.000 vorgeschlagen.
Besondere Aufmerksamkeit erregte eine Aussage des ukrainischen Gesund-heitsministers Serdjuk, der im April 1995 in fast allen deutschen Nachrich-tenmedien mit der Schreckensnachricht zitiert wurde, seit 1986 seien in derUkraine 125.000 Menschen sowie 6.000 der Liquidatoren an den Strahlen-folgen gestorben. Diese Zahlen schienen die schlimmsten bisher geuertenErwartungen zu bertreffen und erregten entsprechend Aufsehen. Nach einerUntersuchung der Weltgesundheitsorganisation wurde jedoch eine miver-stndliche Verlautbarung des Gesundheitsministeriums aufgegriffen und un-geprft von den Medien bernommen. Der Originaltext der Verlautbarungstellt fest: Die Gesamtzahl der Todesflle unter der am meisten vom Unfallbetroffenen Bevlkerung war mehr als 125.000 in den Jahren 1988 bis 1994.In der Meldung heit es weiter, da die meisten dieser Todesflle alte Leutebetrafen.
Die Meldung des Gesundheitsministeriums wurde allgemein so interpretiert,als beziehe sich die Zahl auf strahlenbedingte Todesflle. Tatschlich bezogsie sich jedoch auf alle Todesflle unter der am strksten von der Katastrophebetroffenen Bevlkerung. Wie viele Menschen mit den am strksten Betrof-fenen gemeint waren, wurde von den Behrden in der Ukraine nicht aus-drcklich gesagt. Offiziell werden jedoch etwa 2,2 Mio. der mehr als 50 Mio.Einwohner der Ukraine denjenigen zugerechnet, die entweder nach dem Un-fall evakuiert wurden oder in belasteten Gebieten leben.
Westliche Mediziner legten dazu folgenden Vergleich vor: In der Bundesre-publik ist die Sterberate etwas hher als 1 % pro Jahr. Nimmt man fr diewahrscheinlich etwas jngere Bevlkerung der Ukraine die geringere Sterbe-rate von etwa 0,9 % an, so kann man erwarten, da in der Zeit von 1988 bis1994 jhrlich etwa 20.000 Todesflle, insgesamt also 140.000 zu erwartensind. Die vom ukrainischen Gesundheitsministeriums angegebene Zahl von125.000 kann also nicht als Hinweis auf erhhte Sterblichkeit durch Strahlen-belastung angesehen werden. Einer der fhrenden Wissenschaftler auf die-sem Gebiet, der Mnchner Strahlenbiologe Prof. Dr. A. M. Kellerer, bemerk-te hierzu: Die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe sind - auch ohne die be-
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haupteten Erhhungen der Krebsraten - schlimm genug, man kann ihnen nurmit nchternem Urteil begegnen.
Kritik an der sowjetischen Informationspolitik
Am 28. April 1986 wurde in Finnland und Schweden erhhte Radioaktivittin der Luft und am Boden gemessen. Erste Vermutungen ber einen Kern-waffenversuch oder einen Strfall in einem skandinavischen Kernkraftwerkerwiesen sich als falsch. Alles deutete darauf hin, da diese Radioaktivittmit der zu dieser Zeit vorherrschenden Windstrmung aus der Sowjetunionherangetragen worden war. Erst am Sptabend des 28. April gab die UdSSRden Reaktorunfall in einer kurzen Meldung bekannt. In spteren Meldungenwurde mitgeteilt, da es im Block 4 zu Explosion, Brand und einer Kern-schmelze gekommen sei. Im Verlauf dieser Ereignisse seien groe Mengenan radioaktiven Stoffen freigesetzt worden.
Selbst einige Wochen nach dem Unfall lie sich der Ablauf der Ereignissevon Fachleuten nur vorlufig schtzen. Trotz des weltweiten Informationsbe-drfnisses lieferte die UdSSR zunchst nur sehr lckenhafte Mitteilungenber den Unfall. Erst auf einer Konferenz, die anllich dieses Unfalls EndeAugust 1986 in Wien stattfand, wurde von sowjetischer Seite berichtet. Manlegte umfangreiches Material ber den Unfallhergang und den betroffenenReaktortyp vor und erluterte es ausfhrlich mndlich.
Nach dem Unfall versuchten die sowjetischen Behrden zwei Jahre lang, dereigenen Bevlkerung Informationen ber die Strahlenbelastung vorzuenthal-ten, da man glaubte, sie knne damit nicht umgehen und wrde nur mit Panikreagieren. Die Politik der Informationssperre scheiterte jedoch, weil sie zu ei-ner Reihe offensichtlicher Widersprche fhrte. Auf internationalen Konfe-renzen wurden schon bald nach dem Reaktorunfall von sowjetischen Wissen-schaftlern Daten ber die Strahlenaktivitt und ihre Verteilung sowie berBelastungswerte bekannt gegeben. In besonders belasteten Gebieten fhrteman aufwendige Dekontaminationsmanahmen durch. Diese aufflligen undungewohnten Manahmen konnten der Bevlkerung nicht verborgen bleiben;sie widerlegten alle Versicherungen gegenber der ffentlichkeit, Informa-tionen ber die Kontaminations- und Dosiswerte seien nicht ntig, da die Si-tuation unter Kontrolle stehe.
Zu einem besonders gravierenden Problem fr die in den betroffenen Gebie-ten vorwiegend lndliche Bevlkerung wurden die Einschrnkungen in derErzeugung und Nutzung landwirtschaftlicher Produkte sowie die Engpsseund Sonderregelungen bei der Nahrungsversorgung. Noch whrend der Peri-ode der Informationssperre erhielt die Bevlkerung in hher belasteten Ge-bieten einen zustzlichen Geldbetrag von 30 Rubel pro Monat als Ausgleichfr die erhhten Kosten der Nahrungsmittelbeschaffung. Es bestand eine of-fensichtliche Diskrepanz zwischen dieser im Vergleich zu den monatlichenEinkommen nicht unbetrchtlichen Zusatzzahlung, die von der Bevlkerungbald Sarggeld genannt wurde, und den Versicherungen der Behrden, alleanstehenden Probleme seien gelst.
Die vielen Widersprchlichkeiten verdeutlichten schon bald die Unhaltbar-keit dieser Informationspolitik. Es dauerte jedoch fast zwei Jahre, bis imMrz 1988 der ffentliche Druck in Weiruland so gro wurde, da man dieInformationssperre dort als erstes aufhob. Seitdem werden in den betroffenenRepubliken die Ergebnisse der Strahlenmessungen in Zeitungen und im Fern-sehen sowie in Rotkreuz-Stationen und in Schulen verffentlicht. Eine Fllewidersprchlicher Informationen strmt seitdem auf die Bevlkerung ein und
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erzeugte ein Chaos unterschiedlicher Meinungen. Dieses Informationschaoswird als ein schlimmer Begleitumstand des Unfalls gewertet, da es die Le-bensbedingungen in den betroffenen Gebieten bestimmt und gezielte Hilfeerschwert oder unmglich macht. Die Freigabe der Informationen war ber-fllig und notwendig, geschah aber so spt, da sie das Klima des Mitrauensnicht mehr beseitigen konnte. Verwirrung und Verunsicherung haben sich bisheute nicht vermindert, sie wurden lediglich berlagert von den Problemendes politischen Umbruchs und des wirtschaftlichen Niedergangs, die sich vonden Folgen des Reaktorunfalls nicht trennen lassen.
4. Radiologische Auswirkung auf Deutschland
Zusammenfassung
ber Deutschland zog die radioaktive Wolke in der Zeit vom 30. April bis3. Mai 1986. Je nach lokaler Wettersituation und Strke von Regenfllen kames zu sehr unterschiedlichen Strahlenbelastungen, die in Sddeutschland er-heblich hher waren als beispielsweise in Berlin. Unterschiedliche Grenz-werte fr Nahrungsmittel in den Bundeslndern fhrten in der Bevlkerungzu Verwirrung und Verunsicherung. Durch einzelne, auf Effekthascherei ab-zielende Medienberichte kam es teilweise zu einer regelrechten Strahlenhy-sterie. Fr die deutsche Bevlkerung ergibt sich als Folge des Unfalls einesehr geringe zustzliche Belastung, die, addiert ber 50 Jahre nach dem Un-fall, bei 0,5 bis 2 % der natrlichen Strahlendosis in dieser Zeit liegt.
In Sddeutschland wurden am Vormittag des 30. April 1986 erste erhhteWerte an Luftradioaktivitt gemessen. Die radioaktive Wolke breitete sich inden Tagen bis zum 3. Mai unter Verdnnung ber das gesamte Bundesgebietund die DDR aus (vgl. Bild 2), wobei die Konzentration der Radioaktivitt inder Luft nach Norden hin relativ rasch abnahm. In Mnchen wurden am30. April und am 1. Mai besonders hohe Werte gemessen, die sich nach star-ken Gewitterregen aber rasch verringerten.
Die Bodenablagerungen waren wegen der verschiedenartigen Wettersituatio-nen regional sehr unterschiedlich. Gebiete, in denen es in diesen Tagen starkregnete, wie z. B. in Teilen Sddeutschlands, wiesen - bei gleicher Aktivitts-konzentration in der Luft - erheblich hhere Bodenkontaminationen auf, alsRegionen, in denen die trockenen Ablagerungen berwogen. Aufgrund derWettersituation konnte man in Deutschland auch bei den Bodenablagerungenein deutliches Sd-Nord-Geflle beobachten: In Sddeutschland war die Ge-samtaktivitt im Boden rund einhundertmal hher als beispielsweise in Berlin(die vorher vorhandene Aktivitt inbegriffen). Sie lag in Sddeutschland inder Grenordnung der 1963/64 gemessenen Aktivitten aus den Kernwaf-fentests.
Die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) setzte am 2. Mai Richtwertefr die maximale Aktivittskonzentration in Frischmilch und auf Blattgemsefest, die von den meisten Bundeslndern als verbindliche Grenzwerte ber-nommen wurden. In einigen Bundeslndern (z.B. Hessen) wurden niedrigereGrenzwerte festgelegt. Die Praxis der unterschiedlichen Grenzwertfestlegungfhrte in der Bevlkerung zu groer Verwirrung und Verunsicherung. Durchsehr unterschiedliche, teilweise auf Effekthascherei ausgelegte Berichte ein-zelner Medien entstand eine regelrechte Strahlenhysterie. Der Unfall vonTschernobyl hatte daher auch in Deutschland nicht unerhebliche psychoso-ziale Auswirkungen.
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Den regionalen Belastungen entsprechend waren die Auswirkungen auf dielandwirtschaftliche Produktion sehr unterschiedlich. Whrend die Richtwerteder SSK im Norden der Bundesrepublik in der Regel bei weitem nicht er-reicht wurden, fhrten sie im Sden zu erheblichen Verbrauchseinschrnkun-gen und trugen damit auch deutlich zur Verringerung der Strahlenexpositionder Bevlkerung bei. In Sddeutschland muten groe Mengen an Frischge-mse und Salat untergepflgt werden. Aufgrund der ergriffenen Schutzma-nahmen betrug die Aktivittskonzentration in der verkauften Molkereimilchdurchschnittlich weniger als ein Fnftel der SSK-Richtwerte. Bei Pilzen undWildbret hingegen lagen die Belastungen teilweise deutlich hher und dauer-ten lnger an.
Auswirkungen auf die Gesundheit
Zur Bewertung der zu erwartenden Strahlenexposition der Bevlkerung wirddie natrliche Strahlenexposition als Vergleichsmastab genommen. Diemittlere Dosis durch natrliche Strahlenquellen liegt in der Bundesrepu-blik bei etwa 2,4 mSv (das entspricht in der frher gltigen Einheit240 mrem - vgl. Glossar) pro Jahr. Dies fhrt bei einer angenommenen Le-bensdauer von 70 Jahren zu einer mittleren natrlichen Lebenszeitdosis vonetwa 170 mSv (17.000 mrem). Mehr als die Hlfte davon wird durch die na-trliche Radioaktivitt in Husern verursacht. Die Schwankungsbreite der na-trlichen Strahlenexposition ist in Deutschland erheblich; sie variiert je nachRegion zwischen 1 und 6 mSv (100 und 600 mrem) pro Jahr.
Die Strahlenbelastung durch den Unfall in Tschernobyl wird fr die deutscheBevlkerung durch die Strahlenschutzkommission wie folgt veranschlagt:Fr Personen, die zum Zeitpunkt des Unfalls Kleinkinder waren und im Ge-biet sdlich der Donau leben, betrgt die gesamte zustzliche Dosis in denauf den Unfall folgenden 50 Jahren - also bis zum Jahr 2036 - rund 2 mSv.Fr einige Bereiche des Voralpengebiets sind die Werte etwa doppelt sohoch. Fr den grten Teil der deutschen Bevlkerung ergibt sich aus demUnfall, addiert fr die nchsten 50 Jahre, ein Dosiswert von 0,6 mSv, also0,5 % der natrlichen Strahlendosis in dieser Zeit.
5. Zustand des Sarkophags
Zusammenfassung
Durch den groen Einsatz von Menschen und Material gelang es sowjeti-schen Spezialeinheiten, innerhalb weniger Monate einen Sarkophag um denbeschdigten Reaktor zu errichten. Die Gebudehlle und umfangreiche De-kontaminierungsmanahmen haben die Strahlung in der Umgebung erheb-lich reduziert. ber die Standsicherheit des Sarkophags liegen nur unvoll-stndige Informationen vor, so da mglicherweise umfangreiche Arbeitenzur Ertchtigung der Konzeption anstehen. Weiterhin mssen komplexe Ent-sorgungsfragen gelst werden. Nach dem Unfall wurde radioaktives Materialin zahlreichen provisorischen Zwischenlagern auf dem Kraftwerksgelndedeponiert. Von dem engeren Gebiet um den havarierten Reaktor werden nochfr sehr lange Zeitrume Gefhrdungen ausgehen. Die ukrainische Regie-rung lt derzeit ein Konzept fr die Zukunft der Schutzzone erarbeiten.
Um die Freisetzung von Strahlung und radioaktiven Stoffen aus dem zerstr-ten Reaktor so schnell wie mglich zu reduzieren, wurde in wenigen Monateneine Gebudehlle (Sarkophag) um den zerstrten Block 4 unter Verwendung
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von Teilen des stark beschdigten Reaktorgebudes und des Maschinenhau-ses errichtet. Die Wnde haben eine Hhe von ber 50 m. Im Zuge der Er-richtung dieser anspruchsvollen Konstruktion konnten aufgrund der vorherr-schenden Strahlenbelastung viele Montagevorgnge nur fernbedient ausge-fhrt werden. Die Errichtung des Sarkophags erforderte angesichts des da-mals bestehenden Zeitdrucks eine groe technische und logistische Leistung.
Fr die Bewltigung der Unfallfolgen werten Fachleute es als gnstig, dadie Sowjetunion damals noch bestand. Wre der Unfall nach dem politischenZerfall geschehen, htte es wohl an einer wirkungsvollen Organisation ge-mangelt, um die Probleme vergleichbar zu meistern. Am 30. November 1986,nach knapp sechs Monaten Bauzeit, stand der Sarkophag. Das halbmilitri-sche Ministerium fr Mittleren Maschinenbau, das ehemals von Stalins Ge-heimdienstchef Beria gegrndet wurde und ber eine eigene Armee verfgte,hatte den Bau erstellt. Noch heute wird stndig am Sarkophag gearbeitet -vornehmlich zur Instandhaltung, Kontrolle und Verbesserung der Stabilitt.Die Gebudehlle und die Dekontaminationsmanahmen fhrten zu einerdrastischen Reduzierung der Strahlung.
Fernbediente Montagevorgnge, der groe Zeitdruck und neu auftretendeProbleme sind die Ursachen dafr, da heute keine detaillierten Informatio-nen ber die einzelnen Bauvorgnge vorliegen. Eine Qualittssicherung imblichen Sinne konnte nicht stattfinden. Es gibt viele unterschiedliche Infor-mationen ber den baulichen Zustand und davon mglicherweise ausgehendeGefhrdungen, die zum Teil widersprchlich sind. Unumstritten ist, da dieStandsicherheit des Sarkophags langfristig gefhrdet ist. Naturereignisse wieErdbeben, groe Schneelasten oder berflutungen knnten zu weiterenschdlichen Auswirkungen auf die Umgebung fhren. Auch gegen Brndeund Austritt radioaktiver Flssigkeiten aus dem Sarkophag mssen Vorkeh-rungen getroffen werden. Derartige Ereignisse knnten lokal zu erheblichenzustzlichen Strahlenexpositionen fhren. Gravierende Auswirkungen wrenaber selbst bei einem Einsturz des Sarkophags auf Entfernungen von wenigerals 10 bis 20 km begrenzt.
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Bei der Diskussion ber die Zukunft des Sarkophags standen drei Variantenzur Debatte: Verfllung mit Beton, Stabilisierung der bestehenden Konstruk-tion sowie ein neues Schutzbauwerk. 1992 schrieb die Ukraine auf internatio-naler Ebene ein Konzeptwettbewerb zur berfhrung des Blocks vier in ei-nen sichereren Zustand aus. Im Rahmen dieses Wettbewerbs wurde die Vari-ante eines neuen Schutzbauwerkes favorisiert. Die Europische Kommissionschrieb 1993 eine Machbarkeitsstudie zur Ertchtigung der Konstruktion aus,die von einer franzsischen Firma gewonnen wurde. Nach den Vorstellungender Gesellschaft fr Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ist es auf jedenFall unerllich, die vorhandene Standsicherheit zu analysieren und den Sar-kophag gegebenenfalls zu ertchtigen. Zeitlich parallel sollte ein Konzept frdie langfristige Lsung entwickelt werden. Die GRS prferiert dabei insbe-sondere zwei Varianten: Den Bau einer neuen Schutzhlle, die auch denBlock 3 umschliet oder eine Stabilisierung des bestehenden Sarkophags undeine anschlieende Ausrumung und Entsorgung seines Inneren mittels Ro-botertechnik.
Ein Problem sind die kurz nach dem Unfall vergrabenen Auswrfe, die lang-fristig die Gefahr einer Grundwasserbelastung mit sich bringen. Ein weiteresRisiko liegt in der Verschleppung kontaminierter Sedimente aus der Sperrzo-ne bei Hochwasser von Flssen. Insgesamt sind in Tschernobyl komplexeEntsorgungsfragen zu lsen. Radioaktive Trmmer, verseuchter Boden undradioaktives Material wurden nach dem Unfall in drei stationren und rund300 provisorischen Zwischenlagern auf dem Gelnde des Kernkraftwerksdeponiert. Zudem wird am Standort dringend neue Zwischenlagerkapazittbentigt, da abgebrannte Brennelemente von Ruland nicht zurckgenom-men werden und die vorhandenen Zwischenlager in der Ukraine praktischvoll sind.
Von dem Gebiet um Tschernobyl werden noch fr sehr lange Zeitrume lo-kale Gefhrdungen ausgehen. Im Auftrag der ukrainischen Regierung habendeshalb Fachleute des Tschernobyl-Ministeriums, das fr die Untersu-chung und Bewltigung der Unfallfolgen einschlielich der medizinischenund sozialen Fragen der betroffenen Bevlkerung verantwortlich ist und derAkademie der Wissenschaften ein Konzept fr die Zukunft der Schutzzoneerarbeitet, das folgende Aufteilungen vorsieht:
Eine Wirtschaftszone, in der die gesamte wirtschaftliche Ttigkeit ein-schlielich der erforderlichen Infrastruktur konzentriert wird. Dazu geh-ren u.a. der Betrieb des Kernkraftwerks und spter seine Stillegung, dieManahmen zur Sicherung des Sarkophags sowie die Entsorgung aller ra-dioaktiven Abflle vom Standort.
Ein Gebiet, in dem jede Ttigkeit, die Einflu auf das kosystem hat, ver-boten ist. In diesem Gebiet soll die eigenstndige Reanimation der Naturverfolgt werden.
Ein Gebiet der begrenzten Nutzung, in dem Arbeiten zur Wiederherstel-lung des kosystems, insbesondere forstwirtschaftliche Ttigkeit sowiewissenschaftliche Arbeiten zugelassen sind.
Eine Pufferzone, in der die radioaktive Belastung gering ist. In dieserZone soll im nchsten Jahrzehnt wieder eine wirtschaftliche Nutzung, ins-besondere fr Land- und Forstwirtschaft, zugelassen werden.
Im Wirtschaftsgebiet sollen leistungsfhige Kapazitten vor allem fr dieVerarbeitung der radioaktiven Abflle geschaffen werden, dabei rechnet dasLand mit der internationalen Untersttzung in Form von modernen Technolo-gien und finanziellen Mitteln.
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II. Mittel- und langfristige Folgen fr die friedlicheNutzung der Kernenergie
Zusammenfassung
Die politischen und psychologischen Auswirkungen des Unfalls in Tscherno-byl waren international unterschiedlich. Naturgem wurde insbesondere inStaaten mit eigener Kernenergiewirtschaft darber debattiert, welche Rich-tung die nationale Kernenergiepolitik zuknftig haben sollte. Der Unfall er-hhte aber auch die Bereitschaft zu internationaler Kooperation bei der Re-aktorsicherheit auf industrieller und behrdlicher Ebene. Der Ausbau derKernenergie wurde in zahlreichen Lndern unter dem Eindruck des Unfallseingestellt oder reduziert. Zu dieser Lndergruppe zhlen die USA undDeutschland sowie weitere westeuropische Staaten. In Frankreich, Japanund einigen asiatischen Staaten ging der Ausbau der Kernenergie weiter. Aufdie ohnehin relativ kleinen Kernenergieprogramme einzelner Schwellen- undEntwicklungslnder drfte der Unfall keinen wesentlichen Einflu gehabt ha-ben. Seit Anfang der 90er Jahre deutet einiges auf eine Neubewertung derKernenergie hin. Die wesentlichen Grnde sind die Vorteile der Kernener-gie: Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit der Stromerzeugung sowieeine umwelt- und klimaschonende Erzeugung im Vergleich zu fossilen Brenn-stoffen.
1. Globale Aspekte
Der Unfall in Tschernobyl war nicht nur ein regionales Ereignis mit gravie-renden Folgeproblemen fr die betroffenen sowjetischen Gebiete, sonderner hatte aufgrund der psychologischen und politischen Auswirkungenauch erhebliche Bedeutung fr die Energiepolitik vieler Lnder. Die seit Jah-ren in einigen Lndern andauernde Kernenergiekontroverse verstrkte undverschrfte sich.
Die Reaktionen waren in den 29 Staaten, die 1986 eine eigene Kernenergie-wirtschaft betrieben, allerdings unterschiedlich. In einigen wurden emotions-geladene Debatten gefhrt, andere Lnder diskutierten den Unfall relativsachlich und fhrten dann ihre Kernenergieprogramme weiter. Obwohl west-liche Reaktoren mit dem havarierten RBMK-Reaktor von Tschernobyl nichtvergleichbar sind, lieen einige Regierungen die eigenen Anlagen daraufhinberprfen, ob aufgrund der Erkenntnisse aus dem Unfall Manahmen zu er-greifen seien.
Internationale Zusammenarbeit
Durch den Unfall erhielt die Bereitschaft zu internationaler Zusammenarbeitbei der Reaktorsicherheit und beim Austausch von Betriebserfahrungen star-ke Impulse. Bereits 1989 wurde die World Association of Nuclear Operators(WANO) gegrndet. Ihr Ziel ist die Zusammenarbeit zwischen den Reaktor-betreibern, wie sie beispielsweise im Bereich der zivilen Luftfahrt schon seiteinigen Jahrzehnten zum Nutzen aller Beteiligten praktiziert wird. Die vierregionalen Zentralen der WANO in Atlanta, Moskau, Paris und Tokio unddas Koordinierungszentrum in London sind durch ein computergesttztesDatennetz miteinander verbunden, wodurch auch ein schneller Daten- undErfahrungsaustausch gewhrleistet wird. Besonderen Wert legt man bei diesenKooperationen auf den Erfahrungsaustausch und den persnlichen Kontakt
22
zwischen westlichen und stlichen Reaktorfachleuten. So besuchten bereitsAnfang der 90er Jahre alle Betriebsleiter oder Chefingenieure der osteuropi-schen Nuklearanlagen Kernkraftwerke im Westen und studierten die dort b-lichen Verfahrensweisen. Der Unfall in Tschernobyl strkte die Einsicht, danur der offene Dialog und ein internationaler Erfahrungsaustausch die Sicher-heit und damit die Akzeptanz der Kernenergie auf Dauer verbessern kann.
Die westlichen Industrielnder trieben in der Vergangenheit groen Aufwandfr die Entwicklung einer umfassenden und wirksamen Sicherheitstechnik.Dies sowohl in bezug auf die verschiedenen nationalen Kernenergieprogram-me, als auch auf die intensive internationale Kooperation, beispielsweise frdie Sicherheitsforschung im Rahmen der OECD. Dadurch wurde in der Re-aktorsicherheit eine Fhrungsrolle erarbeitet. Allerdings sind in den meistenwestlichen Lndern die staatlichen Budgets fr die Kernenergieforschung ge-sunken, wovon auch die Sicherheitsforschung betroffen ist. Leider fhrte die-ser Rckgang staatlicher Mittel bisher kaum dazu, die Reaktorsicherheitsfor-schung durch verstrkte internationale Kooperationen zu rationalisieren.
Demgegenber brachte die Stagnation der Kernenergienutzung in westli-chen Lndern eine internationale Bndelung der industriellen Aktivitten.Beispielsweise entwickelten amerikanische und japanische Unternehmen ge-meinsam neue Leichtwasserreaktoren. Franzsische und deutsche Herstellerarbeiten in Kooperation an einem Europischen Druckwasserreaktor.
Der Einflu auf den weltweiten Ausbau der Kernenergie
In der Zeit nach dem ersten lpreisschub von 1973 konnte man davon ausge-hen, da die damit verbundene Schockwirkung in vielen Lndern zu ei-nem nachhaltigen Ausbau der Kernenergie fhren wrde. Das war auch zu-nchst der Fall. Die Plne der Staaten mit Kernenergieprogrammen sahenEnde 1973 einen Zubau von Kernenergieleistung im Umfang von 260.000MW vor, das entsprach dem Sechsfachen der damals installierten Leistung(vgl. Tabelle 2).
Diese Zieldaten wurden in den Folgejahren aus mehreren Grnden nicht um-gesetzt und zwar wegen
der Verringerung des Wirtschaftswachstums und den damit verbundenenverminderten Erwartungen ber den Stromverbrauchszuwachs;
der Schwierigkeiten, die Finanzmittel fr die relativ kapitalintensiven Nu-klearanlagen bereitzustellen sowie
der Akzeptanzkrise, in die die Kernenergie in den 70er Jahren geriet.Diese Entwicklungen schlugen sich in den Folgejahren auch deutlich in rck-lufigen Zahlen an Neubestellungen von Kernkraftwerken nieder (vgl. Tabel-le 2). Die politischen Auswirkungen des Unfalls in Tschernobyl beeinflutendiesen rcklufigen Trend vor allem in den ersten Jahren nach dem Unfallstark.
Entwicklungen in einzelnen Lndern
USA
In den USA, das unter allen Lndern der Welt ber die mit Abstand grteKernenergieleistung verfgt (vgl. Tabelle 3), schlugen sich die rcklufigenEntwicklungen am deutlichsten nieder. Allerdings sind hierbei besondere Ge-gebenheiten zu bercksichtigen.
23
Anfang der 80er Jahre rechnete das Departement of Energy (DOE) im Jahr2000 fr die USA noch mit einer Kernenergieleistung zwischen 255.000 und395.000 MW. Diese ursprnglichen Erwartungen sind mittlerweile stark re-duziert worden und es erscheint plausibel, da Ende dieses Jahrzehnts die in-stallierte Kernenergiekapazitt 110.000 MW nicht wesentlich berschreitet.Mitte der 80er Jahre wurden in den USA zahlreiche Kernkraftwerksprojektestorniert, im wesentlichen wegen des rcklufigen Strombedarfs sowie auf-grund von Kostensteigerungen beim Kraftwerksbau. Whrend in der Zeit von1965 bis 1974 den 224 Kraftwerksneuauftrgen nur 14 Stornierungen gegen-berstanden, nahmen letztere Mitte der 70er Jahre mit 83 Stornierungen beinur 13 Neubestellungen sprunghaft zu. Allerdings waren in der gleichen Zeitauch rund 40 fossil befeuerte Kraftwerke von den Stornierungen betroffen.
Der krftige Einschnitt in die amerikanischen Kernenergie-Ausbauplne hatvielfltige Ursachen, die von dem Tschernobyl-Einflu zu trennen sind.Ein wesentlicher Faktor ist das Verfahren, nach dem in den USA die Strom-preise genehmigt werden. Dabei werden Kraftwerkstypen mit hohen Anlage-und niedrigen Betriebskosten (Wasserkraft- und Kernkraftwerke) gegenbersolchen mit niedrigen Anlage- und hohen Betriebskosten (fossil befeuerteKraftwerke) benachteiligt. Betriebskosten knnen direkt zur Bemessung derStromtarife zugrunde gelegt werden, whrend Finanzierungskosten bis zumBauabschlu eines Kraftwerkes vorgehalten werden mssen. In den USAwurden auch Kernkraftwerksprojekte in fortgeschrittenem Bauzustand stor-niert, da dies als Bauabschnitt zhlt. Folglich konnten die bis dahin aufge-laufenen Finanzierungskosten sofort in die Bemessung der Stromtarife ein-flieen.
Weitere Faktoren sind lange Bauzeiten, schleppende Genehmigungsverfahrenund teilweise auch das hohe Zinsniveau. Sie verschlechterten die Wirtschaft-lichkeit der Kernenergie gegenber der preiswerten amerikanischen Kohle ineinigen Bundesstaaten der USA. In Abhngigkeit von den aktuellen Kohle-preisen bestehen in jeweils rund 10 Bundesstaaten sowohl Kostenvorteile frdie Kohle als auch fr die Kernenergie. In den anderen Bundesstaaten kannman weitgehend von Kostengleichheit sprechen.
jeweilsEnde
InBetrieb
ImBau
Bestellt Im Bau undbestellt
Gesamt
1969
1971
1973
1976
1978
1979
1980
1983
1985
1988
1990
1994
1995
14
27
43
85
116
126
138
203
269
331
339
360
363
57
-
-
-
-
-
218
212
158
127
69
54
55
41
-
-
-
-
-
95
86
77
24
11
1)
1)
98
158
261
328
365
379
313
298
235
151
80
54
55
112
185
304
413
481
505
451
501
504
482
419
414
418
1) Bestellungen statistisch nicht mehr erfat
Quelle: Handbuch Kernenergie 1995, S. 357; atw 3/96, S. 212
Tab. 2: Entwicklung der Welt-Kernkraftleistung in MW (Werte gerundet)
24
Die Grundeinstellung der US-Brger zur Kernenergie war bis Ende der 70erJahre positiv, rund 60 % sprachen sich damals fr die Kernenergie aus. Nachdem Strfall in Harrisburg (1979) kippte die Stimmung und erreichte nachdem Unfall in Tschernobyl einen Tiefstand. Die aufkommende Klimadiskus-
In Betrieb In Bau Stromer-zeugungMrd. kWh
Kernener-gieanteil
in %Land Anzahl MW Anzahl MW
Argentinien
Armenien
Belgien
Brasilien
Bulgarien
China
Deutschland
Finnland
Frankreich
Grobritannien
Indien
Iran
Japan
Kanada
Kasachstan
Korea (Sd)
Kuba
Litauen
Mexiko
Niederlande
Pakistan
Rumnien
Ruland
Schweden
Schweiz
Slowakische
Republik
Slowenien
Spanien
Sdafrika
Taiwan
Tschechische
Republik
Ukraine
Ungarn
USA
2
-
7
1
6
3
20
4
56
35
10
-
50
21
1
10
-
2
2
2
1
-
29
12
5
4
1
9
2
6
4
16
4
109
1 015
-
5 807
657
3 760
2 200
23 365
2 400
61 095
15 020
2 270
-
41 356
15 805
150
8 616
-
3 000
1 350
538
137
-
21 242
10 386
3 200
1 760
664
7 400
1 930
5 144
1 782
14 818
1 840
104 690
1
2
-
2
2
4
-
-
4
-
4
2
5
-
-
10
2
-
-
-
1
2
6
-
-
4
-
-
-
-
2
5
-
4
745
880
-
2 618
2 000
3 210
-
-
6 064
-
940
2 600
4 997
-
-
9 100
880
-
-
-
300
1 400
5 600
-
-
1 760
-
-
-
-
1 962
5 000
-
5 124
8,2
-
40,6
0,0
12,9
1,8
151,2
19,1
360,0
89,5
5,0
-
261,4
110,6
0,4
58,3
-
7,6
4,2
4,0
0,6
-
97,7
73,1
24,2
11,9
4,6
55,3
10,3
34,9
13,0
68,4
14,0
672,5
13,8
-
55,8
0,0
45,0
1,4
33,0
29,0
75,0
30,5
1,5
-
27,2
19,1
0,6
35,5
-
76,9
3,5
6,3
1,0
-
11,4
51,0
36,1
49,1
23,8
33,4
6,7
30,4
21,5
(in 1993)
34,2
45,0
22,0
Summe 434 363 397 62 55 180
Quelle: atw 3/96, S. 212;cea, 1995
Tab. 3: Kernkraftwerke der Welt nach Lndern (Stand: 1.2.96)einschl. Stromerzeugung und Kernenergieanteil weltweit
25
sion sowie die Drre in den USA im Jahre 1988 werden als wesentliche Ur-sachen gewertet, weshalb die Zustimmung zur Kernenergie mittlerweile wie-der zugenommen hat. Bemerkenswert ist dabei auch die relativ hohe Akzep-tanz bei den kologischen Gruppierungen in den USA.
Japan
Als Industrienation mit der strksten Einfuhrabhngigkeit im Energiebereich- Japan mu ber 80 % seiner Primrenergie importieren - rumt man derKernenergie einen hohen Stellenwert ein. Nach den Planungen der japani-schen Regierung soll die Kernenergie weiter ausgebaut werden, damit Nu-klearstrom langfristig rund 40 % der nachgefragten Elektrizitt abdeckt (der-zeit rund 27 %). Dabei soll insbesondere l substituiert werden, das gegen-wrtig noch rund ein Viertel des Strombedarfs deckt.
In Japan war der zgige Ausbau der Kernenergie in den vergangenen Jahr-zehnten nur mglich, weil Staat und Betreiber dem aus historischen Grndenbesonders stark entwickelten nuklearen Sicherheitsbegehren der japanischenBevlkerung Rechnung tragen. Mit Behutsamkeit und pragmatischen Argu-menten warb man bei der Bevlkerung um die Akzeptanz der Kernenergie.Die Nukleardebatte verluft in Japan daher meist sachlich und konzentriertsich auf konkrete Fragen der Sicherheit kerntechnischer Anlagen, deren Kl-rung im Rahmen von Brgerdialogen gesucht wird. Auch nach 1986 war inJapan eine insgesamt positive Einstellung zur Kernenergie zu verzeich-nen. Die japanischen Betreiber von Kernkraftwerken nehmen groe Anstren-gungen vor, um mit ffentlicher Darlegung ihrer Planungen Vertrauen zuschaffen und die Bevlkerung davon zu berzeugen, da bei kerntechnischenInvestitionen die Sicherheit Vorrang hat. In Japan spielt bei der Sorge um dieSicherheit der Kernkraftwerke die Erdbebengefahr eine besondere Rolle.
Frankreich
Auch in Frankreich war die hohe Importabhngigkeit im Energiesektor einwesentlicher Grund fr den raschen Ausbau der Kernenergie. Nach den USAhat Frankreich das zweitgrte Kernenergieprogramm (vgl. Tabelle 3). Diefranzsischen Kernkraftwerke decken rund 75 % des Strombedarfs. Durchdie Kernenergie stieg die Selbstversorgungsquote der Energiewirtschaft zwi-schen 1973 und 1994 von 23 % auf 50 %. Dagegen sank der Anteil des lsbei der Stromerzeugung in diesem Zeitraum von 39 % auf 3 %. Der Unfall inTschernobyl beeinflute die Einstellung der franzsischen Bevlkerung zurKernenergie nicht wesentlich. Sie ist, trotz einiger Turbulenzen in den letztenJahren, nach wie vor relativ positiv. Die in den letzten Jahren eingetretenePause beim Neubau von Kernkraftwerken beruht im wesentlichen auf ber-kapazitten, die fr einige Jahre keine zustzlichen Reaktoren erforderlichmachen.
Schweden, sterreich und Schweiz
In Schweden gab es 1980 eine Volksabstimmung und einen Parlamentsbe-schlu, nach dem bis zum Jahr 2010 alle 12 Kernkraftwerke, die ber 50 %des Strombedarfs decken, abzuschalten sind. Verschiedene Untersuchungenergaben mittlerweile, da die volkswirtschaftlichen Kosten eines Kernener-gieausstiegs fr das Land zu hoch sein wrden. Zudem scheinen Ersatzkraft-werke nur auf fossiler Basis mglich, da die im eigenen Land vorhandenen
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Wasserkraftpotentiale aus Grnden des Naturschutzes nicht weiter erschlos-sen werden sollen. Fossile Ersatzkraftwerke wrden jedoch die CO2-Bilanzdes Landes erheblich verschlechtern. Aufgrund dieser Zielkonflikte suchtman in Schweden derzeit intensiv nach politischen Lsungen fr einen Aus-stieg aus dem Ausstieg.
hnlich wie in Schweden machten auch sterreich, Italien und die Schweizihre Kernenergiepolitik von Volksabstimmungen abhngig. In sterreich ent-schieden sich 1978 exakt 50,47 % der Wahlberechtigten gegen ein betriebs-bereites Kernkraftwerk am Standort Zwentendorf, was den Ausstieg des Lan-des aus der Kernenergie bedeutete. Italien fhrte im November 1987 einenVolksentscheid durch, mit dem Resultat eines Moratoriums bei der Kernener-gie. Daraufhin wurden die drei laufenden Kernkraftwerke abgeschaltet unddie Arbeiten an fnf in Bau befindlichen Anlagen eingestellt. Bis heutezeichnet sich in Italien keine Wiederaufnahme des Kernenergieprogrammsab, obwohl das Moratorium inzwischen abgelaufen ist.
In der Schweiz stimmte die Bevlkerung 1990 zum dritten Mal ber die Zu-kunft der Kernenergie ab. Eine der Vorlagen sah ein zehnjhriges Moratori-um fr den Bau von Kernkraftwerken vor, die derzeit rund 36 % des Strom-bedarfs decken. Diese Initiative billigten 54, 6 % der Whler. Allerdings be-steht in der Schweiz hinsichtlich des Neubaus von Kernkraftwerken derzeitkein akuter Handlungsbedarf.
Spanien, Niederlande und Finnland
In Spanien erging 1983 ein Moratorium gegen den weiteren Ausbau derKernenergie. Die Arbeiten an fnf zum Teil bereits weitgehend fertiggestell-ten Anlagen wurden daraufhin eingestellt. Die neun laufenden Anlagen, dierund 32 % des Strombedarfs decken, werden weiter betrieben.
Die Niederlande standen nach 1986 der weiteren Kernenergienutzung reser-viert gegenber. Aufgrund des Tschernobyl-Unfalls wurden 1987 die Planun-gen fr zwei weitere Kernkraftwerke verschoben. Obwohl das Land ber ge-ngend kostengnstige Erdgasreserven verfgt, diskutiert man seit 1994 er-neut die Frage, ob auf den Ausbau der Kernenergie verzichtet werden soll.
In Finnland wiederum, wo 1979 Meinungsumfragen in der Bevlkerung eineeher ablehnende Haltung zur Kernenergie zum Ergebnis hatten, sprach sichdas finnische Parlament noch im gleichen Jahr fr die weitere Nutzung derKernenergie aus. Nach dem Unfall in Tschernobyl einigten sich die politi-schen Parteien darauf, bis zum Jahr 1991 keine neuen Kernkraftwerke zubauen. 1993 hatte es der finnische Reichstag abgelehnt, ein fnftes Kernkraft-werk zu bauen. Derzeit deckt Nuklearstrom 29 % des finnischen Strombe-darfs.
Schwellen- und Entwicklungslnder
Der Unfall in Tschernobyl drfte sich auf die Energiepolitik der wenigenSchwellen- und Entwicklungslnder, die eine eigene Kernenergiewirtschaftaufbauen, kaum ausgewirkt haben. Anfang 1986 waren in sieben Staaten die-ser Lndergruppe 29 Anlagen in Betrieb und 22 in Bau. Der weit berwie-gende Anteil dieser Standorte konzentrierte sich auf die Lnder Indien, Tai-wan und Sdkorea. Mittlerweile sind in neun Staaten 36 Reaktoren in Betriebund 18 in Bau.
27
Die friedliche Nutzung der Kernenergie wird in den Lndern der DrittenWelt, unabhngig von mglichen Einflssen des Tschernobyl-Unfalls, auchmittelfristig auf eine kleine Gruppe beschrnkt bleiben, denn die limitieren-den Kriterien fr die kommerzielle Nutzung der Kernenergie haben fr dieEnergiewirtschaften dieser Lnder besonders starkes Gewicht: Bei der domi-nierenden Leichtwasserreaktor-Technologie erhhte sich die Rentabilitts-grenze fr einen wirtschaftlichen Betrieb von ehemals 600 MW auf ber1200 MW. Sie wird durch die Kosten fr verschrfte Sicherheitsbestimmun-gen weiter nach oben gedrckt. Ein bestimmtes Sichertheitslimit gilt fr allewestlichen Kernkraftwerke. Es ist auch bei kleinen Blockgren nicht belie-big reduzierbar. Hinzu kommt, da durch den hohen Verschuldungsgrad ein-zelner Entwicklungslnder, in denen Kernkraftwerke im Bau sind, die Pro-jekte aus Liquidittsgrnden zeitlich gestreckt werden mssen, was die Er-richtungskosten erhht.
Auch die Gre der Stromnetze spielt eine Rolle. Ein Kraftwerk sollte nichtmehr als 10 % der Gesamtnetzkapazitt haben, da bei Ausfall dieses Zentral-kraftwerks die Gefahr des Netzzusammenbruchs besteht. Selbst wenn maneine niedrig angelegte Rentabilittsgrenze fr Kernkraftwerke von 600 MWannimmt, gilt fr Schwellen- und Entwicklungslnder aufgrund derzeit feh-lender wirtschaftlich einsetzbarer kleinerer Blockeinheiten die Vorausset-zung, da ein Netz mit einer Stromversorgungskapazitt von mindestens6000 MW verfgbar sein mu. Dies trifft jedoch nur bei relativ wenigen Ln-dern zu.
Neubewertung der Kernenergie
In jngster Zeit deutet einiges auf eine Neubewertung der Kernenergie hin.Nach wie vor spricht fr sie die Versorgungssicherheit. Kernenergie gilt auchbei Abhngigkeit von Uranimporten als quasi-heimische Energiequelle, dader Brennstoffbedarf fr mehrere Jahre problemlos gelagert und ohne we-sentliche Kapitalbindung vorgehalten werden kann. Ein weiterer Vorteil sinddie relativ niedrigen Brennstoffkosten des Urans. Hinzu kommt, da Kern-kraftwerke im Betrieb kein CO2 ausstoen und zusammen mit den regenera-tiven Energietrgern als einzige verfgbare Option zur Klimaschonung ange-sehen werden. Die insgesamt rund 430 Kernkraftwerke, die derzeit in 30Lndern betrieben werden, deckten 1995 rund ein Sechstel des globalenStrombedarfs. Nuklearstrom versorgt damit weltweit rechnerisch rund eineMilliarde Menschen.
2. Auswirkungen auf die ffentliche Meinung, die Energiepolitikund die Kernenergie in Deutschland
Zusammenfassung
In wohl keinem westlichen Land der Welt wurde der Unfall in Tschernobylderart intensiv und emotional diskutiert wie in Deutschland. Durch die wi-dersprchlichen Informationen ber den Unfall und seine mglichen Folgenwar dem einzelnen Brger die eigene Meinungsbildung erheblich erschwert.ber die erforderlichen Vorsorgemanahmen hinaus kam es in diesem Um-feld teilweise zu berzogenen Reaktionen, wie beispielsweise der berflssi-gen Entsorgung der sogenannten Strahlenmolke. In der ffentlichen Mei-nung zur Kernenergie hinterlie der Unfall tiefe Spuren und entfachte inner-
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halb der politischen Parteien eine Kontroverse, die bis zum heutigen Tag an-dauert. Zwischenzeitliche Bemhungen um einen erneuten energiepolitischenKonsens zwischen den Parteien und wichtigen gesellschaftlichen Gruppenscheiterten. Dem volkswirtschaftlichen Verlust von ber 20 Mrd. Mark durchStillegungen von Anlagen stehen sicherheitstechnisch, energiewirtschaftlichund kologisch gesehen positive Ergebnisse der 40-jhrigen Kernenergienut-zung in Deutschland gegenber.
Fr Deutschland war der Unfall hinsichtlich seiner gesellschaftlichen und po-litischen Bedeutung erheblich folgenschwerer als fr andere Lnder.Tschernobyl wurde in der ffentlichkeit und Politik vielfach nicht nur zumSymbol in der Auseinandersetzung ber Gefahren und Nutzen der Kernener-gie, sondern stand auch fr die Probleme der technischen Entwicklungenschlechthin. Die deutsche Bevlkerung wurde dabei zum ersten Mal mit denFolgen eines kerntechnischen Unfalls konfrontiert. Diese Wahrnehmung wertetman als ein Spezifikum des Ereignisses, das mehr Betroffenheit auslste alsetwa die Zahl der Toten oder der Strahlengeschdigten im fernen Unfallgebiet.
Glaubwrdigkeit von Informationsquellen undMedienberichterstattung
Die Informationslage nach dem Unfall war geprgt durch sich fundamentalwidersprechende Bewertungen des Ereignisses. Die Bundesregierung, bera-ten von der Strahlenschutzkommission, ging nicht von einer ernsthaften Ge-fhrdung der westlichen Bevlkerung aus und hielt individuelle Schutzma-nahmen fr nicht erforderlich. In den Folgejahren durchgefhrte Studien be-legten, da diese Vorgehensweise richtig war. Dennoch faten viele Brgerdie beschlossenen Manahmen und Grenzwerte als eine halbherzige oppor-tunistische Reaktion auf. Gleichzeitig kamen Umweltverbnde und Brger-initiativen, die Grnen, aber auch SPD-gefhrte Landesregierungen und ein-zelne Gemeinden zu ganz anderen Einschtzungen. Sie beschlossen niedrige-re Grenzwerte und empfahlen darber hinaus weitergehende individuelleManahmen wie beispielsweise den zeitweiligen Verzicht auf Frischmilchund Freilandgemse sowie Einschrnkungen beim Spielen von Kindern imFreien. Auch unter Bercksichtigung der Notwendigkeit von Vorsorgema-nahmen muten Auenstehende zeitweilig den Eindruck gewinnen, da zwi-schen diesen gesellschaftlichen Gruppierungen ein regelrechter Unterbie-tungswettbewerb um den niedrigsten Grenzwert stattfand.
Fr die einzelnen Manahmen wurden insgesamt betrchtliche Steuermittelaufgewendet. Allein die Vernichtung von Nahrungs- und Futtermitteln koste-te rund 452 Mio. DM. Sie erfolgte nicht zuletzt aufgrund der politisch moti-vierten willkrlichen Grenzwertfestlegungen. Whrend fr die Belastung derMilch mit Jod international damals 3.700 Bq/l vorgeschrieben waren, galtenin Deutschland 500, und in Hessen sogar 20 Bq/l. Letzterer Wert liegt weitunter der natrlichen Aktivitt der Milch.
Verwunderung rief in Nachbarlndern auch der teure Scherz von fast100 Mio. DM hervor, den sich Deutschland mit der berflssigen Entsor-gung der sog. Strahlenmolke leistete. Sie schdigte nach Ansicht vonStrahlenfachleuten die internationale Reputation des deutschen Strahlen-schutzes. Mit der Molke, so wird argumentiert, verschwand der letzte Restder Verhltnismigkeit in der Reaktion auf eine technische Katastrophe.Wird die Bevlkerung einmal so aufwendig vor dem millionsten Teil der na-trlichen Strahlenexposition geschtzt, so wird nie mehr irgendeine Technikoder auch nur die geringste Vernderung - gerechtfertigt werden knnen.
29
Fr den einzelnen Brger entstanden dadurch erhebliche Probleme beim Ver-such einer eigenen Meinungsbildung. Wichtige Informationen waren nichtverfgbar, andere wiederum irrelevant fr die eigenen Informationsbedrf-nisse. Manche Informationen waren fr den Laien unverstndlich, mit Unsi-cherheiten behaftet oder widersprchlich. Angesichts widersprechender An-sichten von Experten und selbsternannten Gegenexperten blieb es dem ein-zelnen Brger berlassen, sich ein eigenes Bild zu machen.
Die Medien als Mittler zwischen den politischen und wissenschaftlichen In-formationsquellen und der breiten ffentlichkeit bildeten fr die Brger diewesentliche Informationsquelle. Studien zur Berichterstattung ber Tschern-obyl zeigen, da die meisten Redaktionen mit dieser Aufgabe berfordert wa-ren. Man beschrnkte sich aufgrund fehlender wissenschaftlicher Kompetenzzur Beurteilung von Ursachen, Ausma und Bedrohungspotential des Unfallsim wesentlichen darauf, die Vielfalt widersprchlicher politischer und wis-senschaftlicher Beurteilungen und Verhaltensempfehlungen wiederzugeben.Viele Medien lieen sich in der Wahl ihrer Themen von den politischen Stel-lungnahmen leiten und verzichteten weitgehend auf eine eigenstndige kriti-sche Beurteilung. So war etwa die Diskussion der Grenzwertproblematikoder eine eingehende Errterung der mglichen Folgen fr Menschen undUmwelt in der Berichterstattung deutlich unterreprsentiert gegenber denpolitischen Themen wie Ausstiegsdiskussion und Parteienstreit.
Folgen fr die Einstellung zur Kernenergie
Angesichts dieses Umfeldes war es nicht verwunderlich, da der Unfall tiefeSpuren in der ffentlichen Meinung hinterlie. Tschernobyl traf inDeutschland zudem auf eine in Sachen Kernenergie sensibilisierte ffent-lichkeit sowie auf eine politische und wissenschaftliche Arena, die auf diekontroverse Behandlung kernenergiebezogener Themen vorbereitet war. DieDiskussion um die Kernenergie war in der Bundesrepublik, strker als in ver-gleichbaren Staaten wie zum Beispiel Frankreich, schon vor dem Reaktorun-fall politisiert und polarisiert. Seit Anfang der 70er Jahre formierte sich eineaktive Opposition auerhalb des Parlaments gegen die auf den Ausbau derKernenergie zielende Energiepolitik der jeweiligen Bundesregierung undmeldete sich medienwirksam mit spektakulren Operationen zu Wort. Durchden Einzug der Grnen in den Bundestag und die Etablierung einer alter-nativen wissenschaftlichen Infrastruktur von kologischen Forschungsein-richtungen war die Kernenergiekontroverse in der Bundesrepublik institutio-nell stabil verankert.
Tschernobyl gab der Diskussion um die Sicherheit der Kernenergie in derBundesrepublik neuen Zndstoff. Blitzumfragen nach dem Ereignis zeigten,da die Zahlen der strikten Gegner der Kernenergie auf mehr als das Doppel-te des Standes vor dem Unfall gestiegen war. Allerdings knnen solche Zah-len nicht mehr als einen Eindruck von momentanen Stimmungen in der Be-vlkerung vermitteln und sagen nur wenig ber handlungsrelevante politi-sche Einstellungen aus. Obwohl der Unfall zu erheblichen Vernderungendes abfragbaren Meinungsbildes zur Kernenergie fhrt, schlugen sich diesekaum im Wahlverhalten nieder. Einer Studie des Forschungszentrums Jlichzufolge belegten dies die nachfolgenden Wahlen; die Ausstiegspolitikder SPD aus der Kernenergie nach 1986 wurde von den Whlern bei ihrenWahlentscheidungen nicht honoriert. Dies lt nach Ansicht der JlicherForscher den Schlu zu, da das Bild von einer in klare Kernenergiegegnerund -befrworter gespaltenen Bevlkerung die komplexe Situation bei den
30
Handlungsorientierungen der Brger auch nach dem Unfall nur unzureichendabbildet.
Energieprogramme der Regierungen und Parteien
In den bundesdeutschen Energieprogrammen der letzten 20 Jahre wurden un-terschiedliche Perspektiven fr die Kernenergiepolitik aufgezeigt. 1974 hieltman einen Ausbau der Kernenergiekapazitt bis zum Jahr 1985 auf rund50 000 MW fr wnschenswert. In einer Fortschreibung des Energiepro-gramms hie es 1977 nur noch, da die Bundesregierung nach vorrangigerNutzung anderer Mglichkeiten einen begrenzten Ausbau der Kernenergiefr unerllich und - auch aufgrund des erreichten hohen Sicherheitsstan-dards - fr vertretbar hlt. Dies lt eine fundamentale nderung der Ein-stellung zur Kernenergie erkennen, ohne da damals in der Welt ein Strahle-nunfall oder ein anderes folgenreiches nukleares Ereignis eingetreten war,das diesen Wandel htte rechtfertigen