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UTB 2914

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills facultas.wuv Wien Wilhelm Fink München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Orell Füssli Verlag Zürich Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main Ernst Reinhardt Verlag München · Basel Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

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Michael Wildt

Geschichte des Nationalsozialismus

Vandenhoeck & Ruprecht

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Prof. Dr. Michael Wildt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Professor am Historischen Seminar der Universität Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de ISBN 978-3-525-03710-2 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm

UTB Bestellnummer ISBN 978-3-8252-2914-6

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Kapitel 1: Eroberung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1.1 Anfang in München . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.2 »Marsch auf Berlin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.3 Neuaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

1.4 Propaganda: Medien und Gewalt . . . . . . . . . . . 40

1.5 Wahlerfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Exkurs: Wähler und Mitglieder der NSDAP . . . . . . . 58

1.6 Agonie der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Kapitel 2: Volksgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

2.1 Revolution 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Machtergreifung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Selbstgleichschaltung . . . . . . . . . . . . . . . 83

Hitlers Stellung im NS-System . . . . . . . . . . 87

2.2 Volksgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Integration der Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . 91

Rüstungsboom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Moderne Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . 105

2.3 »Gemeinschaftsfremde« . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Zwangssterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Antisemitische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 113

Nürnberger Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Konzentrationslager . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Raub und Pogrom . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Euthanasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

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6 Inhalt

Kapitel 3: Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

3.1 Der Weg in den Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

3.2 Frühe Siege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

3.3 Terror und Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion . . . 157

Terror im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Ermordung der Juden . . . . . . . . . . . . . . . 165

Hitler und der Holocaust . . . . . . . . . . . . . 168

Vernichtungslager . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Front und Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Nichts gewusst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

3.4 Europa unter deutscher Besatzung . . . . . . . . . 183

3.5 Volksgemeinschaft in Trümmern . . . . . . . . . . 187

3.6 Das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

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Einleitung

»Der Nationalsozialismus ist weitgehend erforscht, und doch ist sein Bild bis heute umstritten«, so begann Karl Dietrich Bracher 1969 seine umfassende Studie zur NS-Herrschaft. Mit einer Fül-le von Darstellungen und Einzelanalysen sei es gelungen, eine nahezu lückenlose Anschauung vom NS-Regime in Deutschland und Europa zu gewinnen.1 Dieses Urteil erwies sich offenkundig als eklatante Fehleinschätzung. Ganz im Gegenteil hatte mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1960/61 und gegen Angehörige des SS-Lagerpersonals des Konzentrations- und Ver-nichtungslagers Auschwitz in Frankfurt am Main in den Jahren zwischen 1963 und 1966 die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und deren geschichtswissenschaftliche Erforschung in Deutschland erst eingesetzt.2

Wie manch anderer Historiker nahm auch Bracher nur unzu-reichend war, wie sehr die Zeitgeschichtsforschung selbst Teil von gesellschaftlichen Kontroversen und öffent-lichen Deutungen ist. Bracher, der bereits neun Jahre zuvor den Machtergreifungsprozess subtil als Zusammenwirken von Gewalt, Machtkonkurrenz und Hitlers autokratischer Stellung analysiert hatte,3 charakterisierte den Nationalsozialismus, wie der Titel seines Buches hieß, als »Die deutsche Diktatur«. Sein Blick war gebannt auf das Schicksal der eigenen Nation; dass die Massenverbrechen des NS-Regimes au-

1 Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln/ Berlin 1969, S. 1.

2 Hannah Arendts Buch über den Eichmann-Prozess (Hannah Arendt, Eich-mann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964) war ebenso wichtig wie die bahnbrechenden Gutachten des Instituts für Zeit-geschichte in München für den Auschwitz-Prozess: Hans Buchheim / Martin Broszat / Hans-Adolf Jacobsen / Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Olten/ Freiburg i. Br. 1965.

3 Karl Dietrich Bracher/ Wolfgang Sauer/ Gerhard Schulz, Die nationalsozialis-tische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschafts-systems in Deutschland 1933 /34, Köln 1960.

NS-Forschung

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8 Einleitung

ßerhalb der deutschen Grenzen stattfanden, geriet hingegen aus dem Horizont. Die Ermordung der europäischen Juden nahmen in dem fast sechshundert Seiten dicken Band nur zwölf Seiten ein. Auch Martin Broszats überragende Darstellung »Der Staat Hitlers«, die gleichfalls 1969 erschien,4 konzentrierte sich auf das Problem der staatlichen Ordnung und löste sich doch zugleich von der damals herrschenden, ganz auf Hitler konzentrierten Perspektive. Indem Broszat seiner Analyse ein Machtdreieck aus Staat – Partei – »Führer« zugrunde legte, konnte er komplexere Zusammenhänge ausleuchten als es die Vorstellung von der Dik-tatur eines Mannes vermochte. Doch blieb die Historiographie zum Nationalsozialismus in einer staatspolitischen Fragestel-lung gefangen, die offenbar noch ein fernes Echo auf die in der jungen Bundesrepublik immer wieder aufgeworfene, sich selbst vergewissernde Debatte darstellte, ob Bonn im Gegensatz zu Wei-mar eine gefestigte Republik sei oder sich jene Katastrophe wie-derholen könnte.

Der kulturelle Aufbruch in den sechziger Jahren führte dazu, dass eine jüngere Generation von Historikern wie Hans-Ulrich Wehler und Hans Mommsen, theoretisch bezogen auf Max Weber und Talcott Parsons, methodologisch gestützt auf die struktura-listische angelsächsische Soziologie die deutsche Sozialgeschich-te reformierte und auch für die NS-Zeit zu produktiven neuen Fragestellungen gelangte. Explizit setzte sich die »Bielefelder Schule« von der doktrinär-marxistischen DDR-Geschichtswis-senschaft ab und glaubte, sich damit dieser epistemologischen Herausforderung entledigt zu haben. In Wirklichkeit war da-mit zugleich eine Auseinandersetzung mit einem reflektierten, westlichen Marxismus blockiert. Nun waren die orthodox-mar-xistischen Studien, die in der damaligen DDR herauskamen, in der Tat wissenschaftlich nicht viel wert; das NS-Regime wurde, in einer gleichfalls nationalen Sichtweise, strikt ideologisch als

4 Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969; vgl. dazu Norbert Frei (Hg.), Martin Broszat, der »Staat Hitlers« und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007.

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9Einleitung

terroristisches Herrschaftssystem des Monopolkapitals gegen die revolutionäre Arbeiterklasse gedeutet. Ebenso erstarrte die west-deutsche Studentenbewegung ihrerseits in einem orthodoxen Marxismus und verstand Horkheimers Satz, dass wer vom Kapi-talismus nicht spreche, zum Faschismus schweigen solle, mehr als politische Kampfansage an das universitäre Establishment denn als wissenschaftliche Herausforderung. Ihre Schriften zum Nationalsozialismus erwiesen sich zumeist als fade Aufgüs-se marxistischer Phraseologie. Die große Chance, die anregende Debatte in den angelsächsischen Ländern, besonders in Großbri-tannien, über eine materialistisch inspirierte Kulturgeschichts-schreibung, die Struktur wie Akteure analytisch zu verbinden suchte, blieb ungenutzt.5

Hierzulande verharrte der konzeptionelle Spannungsbogen von Akteur und Struktur im Hinblick auf die Geschichte des Nationalsozialismus im Modus der Kontroverse, ob Hitler oder das NS-System für die Politik des Regimes verantwortlich gewe-sen seien. Es war ein britischer Historiker, Timothy Mason, der die Begriffe »intentionalists« und »functionalists« für die Kon-trahenten erfand, mit denen bis heute operiert wird. An Hans Mommsens eher beiläufig veröffentlichter Formulierung vom »in mancher Hinsicht schwachen Diktator« entzündete sich hef-tig der Streit, und mitunter hätte ein neutraler Beobachter den Eindruck haben können, dass es mehr um akademische Lagerbil-dung als um wissenschaftliche Debatten ging. Wirklich produk-tiv war die Kontroverse nie und erstaunlich außerdem, auf welch kontinuierlich schmaler Quellenbasis sie geführt wurde.6

5 Vgl. die kurze, aber beeindruckende Problemskizze von Timothy Mason, What ever happend to ›Fascism‹?, in: Nazism, Fascism and the Working Class. Essays by Tim Mason, ed. by Jane Caplan, Cambridge / New York 1995, S. 323–331.

6 Timothy Mason, Intention and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism, in: ebenda, S. 212–230; Hans Momm-sen, Nationalsozialismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. 4, Freiburg 1971, S. 702. Vgl. als Überblick über Hitlers Stellung im NS-System: Ulrich von Hehl, Na-tionalsozialistische Herrschaft (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 39), 2. Aufl., München 2001, S. 60–66; Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsin-

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10 Einleitung

Ein wichtiger Anstoß zur Innovation kam »von unten«, von der Alltagsgeschichtsschreibung. Wieder war es ein gesellschaftli-

ches Erinnerungsdatum, hier der 50. Jahrestag der Machtübernah-me 1933, der hunderte von lokalen

Geschichtswerkstätten ins Leben rief, die den Übergang zum NS-Regime in ihren Orten untersuchten. Beim bundesweiten Schü-lerwettbewerb zur deutschen Geschichte 1980/81 zum Thema »Alltag im Nationalsozialismus« lag die Beteiligung mit knapp 13.000 Teilnehmern dreimal so hoch wie zwei Jahre zuvor. Damit rückten konkrete Akteure sehr viel schärfer ins Bild, oftmals so deutlich, dass die lokal Mächtigen alles daran setzten, um die Veröffentlichung der Forschungen zu verhindern.

Auch im akademischen Rahmen entstanden eindrucksvolle Lokalstudien, und nicht zuletzt arbeitete am Institut für Zeitge-schichte in München unter Leitung von Martin Broszat ein groß angelegtes Forschungsprojekt zu »Widerstand und Verfolgung in Bayern«, das sich explizit alltags- und regionalgeschichtlich verstand. Allerdings lag der Schwerpunkt des Interesses auf der Widerständigkeit der Gesellschaft – Broszat prägte damals den Be griff der »Resistenz« –, die einem politischen NS-Herrschafts-system gegenüber gestellt wurde, das gewissermaßen von außen auf die Gesellschaft Einfluss nahm. Das parallele Oral-History-Projekt zu Alltag und Sozialkultur im Ruhrgebiet unter der Lei-tung von Lutz Niethammer konzentrierte sich dem gegenüber bereits auf die Konsenselemente innerhalb der Bevölkerung mit der nationalsozialistischen Ordnung. Beiden Projekten ebenso wie den lokalen alltagsgeschichtlichen Forschungen war jedoch eigen, dass sie bereits den Blick weniger auf abstrakte staatliche Struk-turen oder gar Hitler als vielmehr auf die Gesellschaft richteten.7

terpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 114–148.

7 Martin Broszat / Elke Fröhlich u. a. (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., Mün-chen-Wien 1977 ff.; Lutz Niethammer (Hg.), Lebensgeschichte und Sozialkul-tur im Ruhrgebiet 1930–1960, 3 Bde., Bonn-Berlin 1983 ff., sowie Klaus-MichaelMallmann / Gerhard Paul, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991.

Alltagsgeschichtsschreibung

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11Einleitung

Mittlerweile hatten sich aber auch die Fragen grundsätzlich ge-wandelt. Als der erste Band der »Bayern-Projekts« 1977 erschien, gab es jährlich nur etwa vier bis zehn Neuerscheinungen zum Thema Holocaust, und eine annotierte Bibliographie zur Erfor-schung des Holocaust umfasste damals keine hundert Seiten. Das sollte sich rapide ändern, nicht zuletzt ausgelöst durch die amerikanische Fernsehserie »Holocaust«, die im Januar 1979 aus-gestrahlt wurde und eine Sehbeteiligung bis zu 48 Prozent der Zuschauer erzielte. Innerhalb kurzer Zeit war von Widerstand, roten Großvätern oder heldenhaften Antifaschisten kaum noch die Rede. Nun stand weniger das Problem im Mittelpunkt, wie es zum 30. Januar 1933 hatte kommen können, als vielmehr die Mas-senverbrechen des Nationalsozialismus, vor allem die Vernich-tung der europäischen Juden, und die Frage, wie der Holocaust geschehen konnte.

Die bestürzende Einsicht, dass es bei den Generationen, die das NS-Regime getragen hatten, nicht bloß um Kritik an deren Mit-läufertum und Opportunismus ging als vielmehr um Beteiligung an ungeheuren Verbrechen, ließ die Frage, wie dies in Deutsch-land möglich gewesen ist, nicht mehr ruhen. Konnte es sein, wie Raul Hilberg in seiner prägenden Studie über die Vernichtung der europäischen Juden geschrieben hatte, dass sich die Vernich-tungsmaschinerie nicht wesentlich von den normalen bürokra-tischen Institutionen der deutschen Gesellschaft unterschied?8

Doch ehe sich mit der aufgeworfenen Frage nach den Tätern auch das Problem einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozi-alismus neu stellen konnte, sorgte eine vergangenheitspolitische Auseinandersetzung für wissenschaftliche Stagnation: der so ge-nannte Historikerstreit 1986/87.9 Vordergründig ging es um die

8 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, durchges. und erw. Taschenbuchausgabe, Frankfurt a. M. 1990. Die amerikanische Originalaus-gabe erschien bereits 1961, aber erst 1982 kam bei einem kleinen Berliner Verlag eine deutsche Ausgabe heraus. Die überarbeitete Taschenbuchausgabe legte dann die Grundlage für die breite Rezeption des Buches in Deutsch-land.

9 Vgl. Rudolf Augstein u. a., »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontro-verse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung,

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12 Einleitung

Zurückweisung der These von Ernst Nolte, dass der nationalso-zialistische Judenmord nur eine Reaktion auf den bolschewis-tischen Klassenmord dargestellt habe, und um die Frage, ob der Holocaust singulär gewesen sei oder mit anderen Völkermor-

den verglichen werden könne. Im Hintergrund stand jedoch der durchaus erfolgreiche Versuch, gegen den törichten Anspruch der gerade instal-

lierten christlich-liberalen Regierung Kohl auf eine »geistig-mo-ralische Wende« das sozialliberale Oppositionslager zusammen-zuschweißen. Symbolische Auftritte wie der gemeinsame Besuch von Kohl und Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg auf der einen und wie die Forderungen nach einem Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin auf der anderen Seite ließen Vergangenheitspolitik über den Nationalsozialismus zu einem heftig umkämpften Feld der politischen Auseinandersetzung um das Selbstverständnis, ja Staatsräson der Bundesrepublik wer-den. Wie sehr dieser Streit um das »richtige« Erinnern auch von Generationen geprägt wurde, zeigt nicht zuletzt die vehemente öffentliche Diskussion, die die »Wehrmachtsausstellung« des Hamburger Instituts für Sozialforschung auslöste. Wissenschaft-lich ergiebig war der »Historikerstreit« nicht, denn es gab weder einen seriösen Holocaustforscher, der Noltes abwegiger These ge-folgt wäre, noch brachte die Auseinandersetzung um die Singu-larität des Holocaust weiter. Im Gegenteil, in der Scheu vor dem Vorwurf, durch Vergleiche würde der Massenmord an den Juden verharmlost, isolierte sich die deutsche Geschichtswissenschaft für etliche Jahre von der internationalen Entwicklung der Geno-zidforschung.

Doch öffnete die Zeitenwende 1989 /90 auch den Horizont der Geschichtswissenschaft. Durch den Zusammenbruch des Kom-munismus fielen zum einen die ständige Zumutung, sich legi-

München 1987; Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1987; Ulrich Herbert, Der Historikerstreit: politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Martin Sabrow/ Ralph Jessen / Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 94–113.

Historikerstreit

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13Einleitung

timatorisch von der marxistischen Geschichtsschreibung ab-zugrenzen, fort, und zum anderen wurden nun die Archive in Osteuropa und der Sowjetunion zugänglich, deren Auswertung die Forschung ungemein belebte. Die nächsten zehn, fünfzehn Jahre waren von gehaltvollen, empirischen Studien geprägt, die sich auf die Massenverbrechen des NS-Regimes in den besetzten Gebieten im Osten konzentrierten. Damit rückten Fragen nach dem Verhält-nis von Zentrale und Peripherie, Befehlsgebung von oben und In-itiativen von unten, nach der Rolle der regionalen Institutionen der Besatzungsverwaltung, nach Intentionen und Interessen der Handelnden vor Ort, nach den Akteuren überhaupt in den Mit-telpunkt der Untersuchungen.10

Diese akteursbezogene Perspektive, die in der so genannten Täterforschung kumulierte, wirkte zurück auf die Analyse der nationalsozialistischen Gesellschaft in Deutschland. Denn nun wurde sowohl nach der Beteiligung von gesellschaftlichen Eliten, den »Vordenkern der Vernichtung« (Heim /Aly), als auch von den »ganz normalen Männern« (Christopher Browning) an der Pla-nung, Vorbereitung und Durchführung der Massenverbrechen des NS-Regimes gefragt. Anders als in den vergangenen Debatten zwischen »Intentionalisten« und »Funktionalisten« ging es nicht mehr um eine ausschließenden Dichotomie zwischen Hitler auf der einen und dem NS-System auf der anderen Seite, sondern Intention wie Institution, Struktur wie Situation bildeten nun gleichermaßen eine analytische Matrix für die Untersuchung der konkret Handelnden.

Damit geraten die Loyalitätsbedingungen, die Bindungskräfte der Regimes stärker in den Vordergrund. Der Begriff der »Volks-gemeinschaft«, den die Geschichtswissenschaft der sechziger und siebziger Jahre als propagandistischen Terminus ablehnte, wird nunmehr als erfahrungsgeschichtlicher Begriff ernst ge-

10 Vgl. den Überblick bei Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des »Holocaust«, in: ders. (Hg.), Nationalsozialis-tische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a. M. 1998, S. 9–66.

Zeitenwende 1989

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14 Einleitung

nommen, der die Hoffnungen und Erwartungen umschrieb, die viele Deutsche an das Regime hefteten. Die Überwindung des Klassengegensatzes, den aufzuheben auch diejenigen im Sinn hatten, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebten, der Wegfall traditioneller Herkunftsbeschränkungen, das Versprechen einer egalitären Leistungsgesellschaft und nicht zuletzt die Erfahrung zahlreicher, vom Regime organisierter Gemeinschaftserlebnisse – all das sorgte in einem hohen Maß für Konsens, Einverständnis und engagierte Unterstützung des NS-Regimes. Kurz, wie Nor-bert Frei formulierte: »Die Frage nach der ›Volksgemeinschaft‹ führt zum Kern des Problems.«11

Von dieser Frage lässt sich dieses Buch leiten, ohne jedoch in einer kurzen Einführung den Nationalsozialismus vollständig abhandeln zu können. Dazu gibt es ausgezeichnete, umfassende Darstel lungen, die im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Aber eine kurze Einführung ist mitunter besser als manch dickes Buch geeignet, an Fragen und Problemen orientiert den Untersuchungs-gegenstand gewissermaßen immer wieder neu auszuleuchten.

In dieser Einführung geht es daher um die Fragen: • wie gelang es den Nationalsozialisten in der Weimarer Re-

publik, die Zustimmung eines entscheidend großen Teils der Deutschen für ihre Politik zu gewinnen,

• wie suchten sie nach der Machtübernahme die deutsche Ge-sellschaft in eine Volksgemeinschaft zu transformieren,

• wie strebte diese Volksgemeinschaft im Krieg ihrem radikalen, mörderischen Zenit zu und zerfiel letztlich?Volksgemeinschaft war ein politisches Zauberwort, das na-

hezu alle Parteien der Weimarer Republik verwandten – mit graduellen wie fundamentalen Unterschieden. Bei den bürger-lichen und liberalen Parteien bedeutete der Begriff die Über-windung der Klassengesellschaft. Für die Sozialdemokraten war er eine Integrationsformel für alle Schaffenden. Während hier

11 Norbert Frei, »Volksgemeinschaft«. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirk-lichkeit der Hitler-Zeit, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußt-sein der Deutschen, München 2005, S. 107–128, Zitat: S. 128.

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15Einleitung

also die Inklusion im Vordergrund stand, begriff die politische Rechte die Volksgemeinschaft vor allem in ihrer exkludieren-den, selektierenden Dimension. Die Gemeinschaft der »Volksge-nossen« schloss von vornherein alle jüdischen Deutschen aus. Auch wenn die nationalsozialistische Rhetorik die Gemeinschaft selbstverständlich in den Mittelpunkt stellte, wurde die Volksge-meinschaft vor allem durch die scharfe und gewalttätige Grenzziehung, durch Exklusion und Selektion hergestellt. Deshalb stellte der Antisemitismus den Kern der nationalsozialistischen Volksge-meinschaft dar, war doch das Projekt, Deutschland und Europa »judenrein« zu machen, sowohl das Ziel der Politik als auch das Mittel, um durch rassistische Ausgrenzung die Volksgemein-schaft herzustellen.

Gewalt bildete für die Nationalsozialisten kein bloßes Mit-tel der Politik – sie war Politik. In der Zeit vor 1933 sollten die Gewaltaktionen der SA den bürgerlichen Rechtsstaat herausfor-dern, seine Ohnmacht unter Beweis stellen und ihn öffentlich delegitimieren. Die Gewaltmilizen schufen rechtsfreie Räume, Zonen des Ausnahmezustandes, in denen Willkür und Gewalt herrschten. Nach 1933 zerbrach die Gewalt den Rechtsstaat und die bürgerliche Gesellschaft. Nur durch Krieg schließlich ließ sich jener »Lebensraum« gewinnen, den die Nationalsozialisten erobern wollten.

Inklusion der Volksgenossen sowie Exklusion und Selektion der »Gemeinschaftsfremden« stellten die beiden Seiten der Volks-gemeinschaft dar. Und nicht Recht, sondern Gewalt war das kon-stitutive Medium der Praxis, mit der die Nationalsozialisten ihre Politik verwirklichen wollten. Volksgemeinschaft und Gewalt sind daher die beiden Begriffe, die sämtliche Teile dieser Einfüh-rung zum Nationalsozialismus durchziehen und gewissermaßen den terminologischen roten Faden der Darstellung bilden.

Damit führt die Fragestellung dieses Buch, in veränderter Weise, wieder zu den Hauptfragen der Historiographie zum Nati-onalsozialismus zurück:

Volksgemeinschaft

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16 Einleitung

• Welche Verhältnisse, welche Akteure waren notwendig, damit die Nationalsozialisten erfolgreich die Macht erobern und be-halten konnten,

• wie wurden die ungeheuren Verbrechen dieses Regimes mög-lich? Die Antworten allerdings werden nicht mehr in der Person

Hitlers oder der in Staatsstruktur gesucht, sondern in der po-litischen und gesellschaftlichen Praxis. Diese Einführung kann eine politische Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, die noch geschrieben werden muss, nicht ersetzen. Wenn sie deren Fragen und Problemstellungen zu erhellen und neue Per-spektiven zu öffnen vermag, hat sie ihren Zweck voll erfüllt.

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Kapitel 1Eroberung der Macht

Der Nationalsozialismus entstand aus dem Geist und der Gewalt des Ersten Weltkriegs. Hitler selbst, der vor dem Krieg ein unbe-deutendes Bohemienleben geführt hatte, fühlte sich durch die Mobilmachung 1914, die er in München erlebte, wie auferweckt. »Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor«, formulierte er zehn Jahre später in »Mein Kampf«. »Ein Freiheitskampf war ausgebrochen, wie die Erde noch keinen gewaltigeren bisher gesehen.«1 Wie Zehntausende anderer junger Männer meldete er sich freiwillig zum Militärdienst und tauchte ein in jenes trügerisch-großartige Erlebnis der Volksgemeinschaft 1914, in das Gefühl von Einheit und Siegesgewißheit, das jeglichen Rea-lismus über den Charakter und die Dauer des Krieges verschwin-den ließ.

Als er im Herbst 1916 an der Westfront durch einen Angriff zum ersten Mal verwundet wurde, waren die Illusionen über ei-nen raschen Sieg verflogen, der Glaube an die Unbesiegbarkeit Deutschlands jedoch keineswegs. Aus dem Lazarett an die Front zurückgekehrt, wurde er im Oktober 1918 Opfer eines Giftgasan-griffs, erblindete kurzzeitig und erlebte die Niederlage im Kran-kenbett. War alles umsonst gewesen? Für Hitler wie für Millio-nen anderer Deutsche war die Armee unbesiegt geblieben und von angeblich hinterhältigen Verbrechern an der »Heimatfront« verraten worden. »Je mehr ich mir in dieser Stunde über das un-geheure Ereignis klar zu werden versuchte, um so mehr brannte mir die Scham der Empörung und der Schande in der Stirn. [...] In diesen Nächten wuchs mir der Haß, der Haß gegen die Urheber dieser Tat.« Und wer die Verantwortlichen in Hitlers Weltsicht

1 Adolf Hitler, Mein Kampf, 349.–351. Aufl., München 1938, S. 177.

»Augusterlebnis 1914«

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18 Eroberung der Macht

waren, hielt er wenige Zeilen später unmißverständlich fest: »Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder – Oder. Ich aber beschloß, Politiker zu werden.«2

Selbstverständlich erschuf Hitler hier seine eigene Legende. Seine Entscheidung, Berufspolitiker zu werden, fiel erst zwei Jahre später, als er sein Rednertalent entdeckte. Aber es ist kenn-zeichnend, dass er diese Wende in seinem Leben an eben jenem historischen Punkt ansetzte, als das Deutsche Reich seine bis da-hin tiefste Niederlage erlebte. Nicht aus einem Gefühl der Stärke oder dem Gestus imperialer Überlegenheit, sondern aus dem Mo-ment der absoluten Ohnmacht heraus, der Empfindung, Opfer zu sein und Vergeltung üben zu müssen, erwuchs sein Entschluss. Nicht konstruktiver politischer Gestaltungswillen, sondern Haß bildete die Emotion, mit der Hitler seinen Eintritt in die Politik begründete.

Der jähe Absturz in die Niederlage, die nach all den Jahren voller Zuversichtspropaganda wie eine plötzliche Katastrophe erschien, begleiteten wie ein dunkler Schatten die folgenden Jahrzehnte. Demgegenüber strahlte der Mythos einer geeinten, siegesgewissen Volksgemeinschaft, die zu Beginn des Krieges exis-tiert habe, aber durch die »Novemberverbrecher« 1918 zerstört worden sei und nun wieder hergestellt werden müsse. Volksge-meinschaft war keine rückwärts gewandte Sehnsucht nach der Vergangenheit als vielmehr das politische Programm für eine Zu-kunft, die erst noch errungen werden mußte.

1.1 Anfang in München

Das unerwartete Eingeständnis der Obersten Heeresleitung Ende September 1918, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden könne, traf die deutsche Öffentlichkeit wie ein Schock, hatte doch bis dahin die Propaganda stets die Hoffnung auf den Sieg genährt. Diese künstliche Zuversicht brach nun zusammen, und die Forderung nach einem raschen Ende des Krieges griff wie ein

2 Ebenda, S. 224 f.

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Lauffeuer um sich. Die Meuterei der Kieler Matrosen war das Fa-nal für den Umsturz, in den folgenden Tagen übernahmen Arbei-ter- und Soldatenräte in etlichen Städten des Reiches die Macht. Überall kapitulierte das alte monarchistische Regime so gut wie widerstandslos, der Kaiser selbst floh nach Holland.

Für all jene, die an Deutschlands Größe glaubten, erschienen diese Geschehnisse indessen als Chaos und bolschewistische Anar-chie. Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, Hugo Haase oder Eugen Leviné, die aus jüdischen Familien stammten, schienen die anti-semitische Weltsicht zu bestätigen, dass es die »Juden« seien, die dem deutschen Volk einen »Dolch in den Rücken« gestoßen hät-ten und nun den Umsturz wollten. Victor Klemperer beobachte-te, dass die bürgerlichen »Leipziger Neuesten Nachrichten« nach der russischen Oktoberrevolution stets von »Trotzki-Braunstein, dem Talmudisten« schrieben und antisemitische Anspielungen liebten. Nicht bloß der Bolschewismus galt als Hauptfeind, son-dern gleichermaßen das »internationale Judentum«.3

Antibolschewismus und Antisemitismus verbanden sich im Nationalsozialismus untrennbar. Alfred Rosenberg, der spätere Chefredakteur des »Völkischen Beobachters«, Leiter des Außen-politischen Amtes der NSDAP und Reichsminister für die besetz-ten Ostgebiete, stammte aus der estnischen Stadt Reval / Tallinn. Er hatte als Student das revolutionäre Moskau erlebt und war 1918 nach München übergesiedelt. Eine weitere wichtige Figur war der Deutsch-Balte Max Erwin von Scheubner-Richter, der als Emigrant während des Krieges im Hauptquartier des Heeres gear-beitet hatte und sich im März 1920 an dem Putschversuch Kapps gegen die gewählte Weimarer Regierung beteiligte. Er kam durch Rosenberg zur NSDAP und propagierte wie dieser das antisemi-tische Phantasma eines jüdischen Bolschewismus. Rosenberg wie Scheubner-Richter spielten in der jungen nationalsozialistischen Bewegung eine bedeutsame ideologische Rolle, denn jene hass-erfüllte Konstruktion einer »jüdisch-bolschewistischen Weltver-

3 Victor Klemperer, Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881–1918, hg. von Walter Nowojski, Bd. 2, Berlin 1996, S. 607.

Novemberrevolution

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schwörung« gab dem Denken Adolf Hitlers wie der Propaganda der NSDAP die entscheidende Kontur.

Was die Nationalsozialisten jedoch von anderen Antisemiten unterschied, war die Tat. Hitler selbst brachte dies in einer frü-hen programmatischen Rede »Warum sind wir Antisemiten?«, die er im August 1920 in München hielt, unmissverständlich zum

Ausdruck. Den Schlüsselbegriff lieferte die »Arbeit«. Während Arbeit, so Hitler, als instinktmäßiger Selbsterhaltungs-

trieb Menschen wie Tieren gemeinsam sei, habe sich bei den Menschen eine zweite Stufe entwickelt, die Arbeit aus reinem Egoismus. Doch sei auch diese Haltung zugunsten einer dritten und höchsten Stufe überwunden worden, die allein den »nor-dischen Rassen« vorbehalten sei und auf der die Arbeit aus »sitt-lich-moralischem Pflichtgefühl« geschehe, als eine Tätigkeit, »die ich nicht um meiner selbst willen ausübe, sondern auch zu Gunsten meiner Mitmenschen.« Aus dieser Hierarchie ließ sich nicht nur die Unterscheidung zwischen dem so genannten »schaffenden« und »raffenden« Kapital ableiten, sie lieferte zu-dem die rassistische Folie für den zentralen Slogan der späteren nationalsozialistischen Volksgemeinschaft: »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«. »Arbeit als Pflichtgefühl«, die »gemeinnützig« getan werde, galt Hitler als Kennzeichen einer höheren Rasse. »Ariertum«, so führte er aus, »bedeutet sittliche Auffassung der Arbeit und dadurch das, was wir heute so oft im Munde führen: Sozialismus, Gemeinsinn, Gemeinnutz geht vor Eigennutz – Ju-dentum bedeutet egoistische Auffassung der Arbeit und dadurch Mammonismus und Materialismus, das konträre Gegenteil von Sozialismus. Und in dieser Eigenschaft, über die er nicht hinaus kann, die in seinem Blut liegt, er selbst erkennt das an, in dieser Eigenschaft allein schon liegt die Notwendigkeit für den Juden, unbedingt staatenzerstörend auftreten zu müssen. Er kann nicht anders, ob er will oder nicht.«4

4 Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, hg. von Eberhard Jäckel und Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 184–204, hier S. 190; vgl. zu dieser Rede die aus-

Antisemitismus der Tat

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In dieser Passage wird die Essenz des nationalsozialistischen An-tisemitismus erkennbar: Für die Juden gibt es kein Entrinnen. Als Einzelne mögen sie gut oder böse, fleißig oder faul, anpas-sungsbereit oder eigensinnig sein, es bleibt ohne Belang. Die Forderung nach restloser Assimilation der Juden, wie sie eine ältere Generation von Antisemiten erhoben hatte, war für Hitler überholt. Es helfe, so seine Überzeugung, keine Aufklärung, kein bloß wirtschaftlicher Kampf, sondern allein die Tat und die Or-ganisation der Massen. Die notwendigen sozialen Reformen zu-gunsten derer, »die Tag für Tag für die Volksgemeinschaft arbei-ten«, müssten einhergehen mit dem »Kampf gegen den Gegner jeder sozialen Einrichtung: das Judentum. Auch hier wissen wir genau, daß die wissenschaftliche Erkenntnis bloß die Vorarbeit sein kann, daß aber hinter dieser Erkenntnis die Organisation kommen muß, die einst zur Tat übergeht, und die Tat bleibt bei uns unverrückbar fest, sie heißt: Entfernung der Juden aus un-serem Volke (stürmischer lange anhaltender Beifall und Hände-klatschen!).« Während andere Antisemiten ihren Hass zu Papier brachten und drucken ließen, hielt Hitler Reden, um zur Tat auf-zurufen: »Unsere Sorge muß es sein, das Instinktmäßige gegen das Judentum in unserem Volke zu wecken und aufzupeitschen und aufzuwiegeln, solange bis es zum Entschluß kommt, der Bewegung sich anzuschließen, die bereit ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen.«5 Im Handeln, in der Praxis bewies sich der nationalsozialistische Antisemitismus, nicht durch gelehrte Ar-tikeln oder Parteibroschüren.

Wie andere rechtsextreme, völkische Gruppen kämpften die Nationalsozialisten gegen die »Novemberverbrecher«, gegen den »jüdischen Bolschewismus« und Revolution. Die radikale Ab-lehnung des Versailler Friedensvertrages 1919 als »Diktat« und »Schande« fand sich ebenso bei einem großen Teil des Bürger-tums bis hin zur Sozialdemokratie. In der hämischen Kritik am liberalen Rechtsstaat der Weimarer Republik und am parlamen-

führliche Interpretation von Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wis-senssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 359–430.

5 Hitler, Aufzeichnungen, S. 201.

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tarischen System unterschieden sich die Nationalsozialisten we-nig von anderen rechten Gruppierungen. Was jedoch den Natio-nalsozialismus und insbesondere Hitler vorantrieb und charakte-risierte, war der Antisemitismus der Tat, die Politik der Gewalt.

Diese Praxis der Gewalt kennzeichnete den Nationalsozialis-mus ebenso wie die anderen faschistischen Bewegungen in Euro-pa, die im und nach dem Krieg aus dem Untergang der alten Welt entstanden. Zur selben Zeit, im März 1919, gründete Mussolini die »Fasci di Combattimento« als Keimzelle der faschistischen

Bewegung in Italien. Mit Gewaltaktionen gegen Sozialisten, Juden, Katholiken und nationale Minderheiten fachten die faschis-tischen Milizen den Bürgerkrieg auf dem

Land an, zerstörten Gewerkschaftshäuser und Parteibüros, er-mordeten und folterten linke Parteifunktionäre. Was die faschis-tischen Bewegungen Europas verband, war die radikale Kritik am Marxismus wie am bürgerlichen Liberalismus, die Politik der Gewalt, mit der der Rechtsstaat herausgefordert und letztlich zer-stört werden sollte, und der Bezug auf die Massen, auf das »Volk«. Die Faschisten lehnten die traditionelle Honoratiorenhierar chie ebenso ab wie den proletarischen Klassenkampf, obwohl manche ihrer Führer wie zum Beispiel Mussolini aus dem linken Lager stammten. Vielmehr ließ sich soziale Gleichwertigkeit in ihren Augen nur in einer Volksgemeinschaft verwirklichen, die mit Ge-walt hergestellt werden musste.

Nach wie vor hält die Diskussion unter den Historikern an, ob der Nationalsozialismus als Faschismus eingeordnet oder als ein politisches Phänomen sui generis begriffen werden müsse, das al-lein aus der deutschen Geschichte und der Person Hitlers heraus zu erklären sei. Zweifellos können die älteren, marxistischen Faschismustheorien, die in der Politik lediglich ein Instrument der Ökonomie, insbesondere des Großkapitals sahen, nach einer stürmischen, aber kurzen Renaissance in den Zeiten der Studen-tenbewegung der 1960er Jahre heute nicht mehr überzeugen. Neuere Studien wie von Stanley Payne, Roger Griffin oder Ro-bert A. Paxton werfen indessen auf eine innovative Weise Fragen

Nationalsozialismus

oder Faschismus?

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auf und beschäftigen sich mit dem europäischen Kontext faschis-tischer Bewegungen. Faschismus erscheint hier als Antwort auf den Zusammenbruch der alten Welt mit dem Ersten Weltkrieg wie auch als moderner Ausdruck plebiszitärer, gleichwohl anti-demokratischer Politik.6 Zwar sind die Differenzen zwischen den jeweiligen faschistischen Gruppierungen, vor allem was die Rol-le des Rassismus und Antisemitismus betrifft, durchaus offen-sichtlich. Aber in ihrer antibürgerlichen Stoßrichtung, in ihrer inneren Struktur mit einem charismatischen »Führer«, in der Praxis der Gewalt, die sich gegen den liberalen Rechtsstaat rich-tete, und dem Heilsentwurf einer künftigen Volksgemeinschaft weisen sie Ähnlichkeiten auf, die auch den Nationalsozialismus aus einer vereinzelten, nationalgeschichtlichen Situierung löst und in einen europäischen Kontext stellt. Was den Nationalsozi-alismus allerdings in besonderer Weise charakterisierte, war der unbedingte Antisemitismus der Tat.

Hitler, der 1919 noch für die Reichswehr tätig war, um die rechts-radikale Szene in München zu bespitzeln, erhielt im September den Auftrag, eine Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei zu besuchen, die Anfang des Jahres von dem Werkzeugschlosser An-ton Drexler mit finanzieller Hilfe wohl-habender Gönner gegründet worden war, um völkisches Gedankengut unter Arbeitern zu verbreiten. Die kleine Partei entdeckte rasch das Rednertalent Hitlers und warb ihn an, wie auch er in der Grup-pe ein Betätigungsfeld für seine politischen Ambitionen sah. Am 16. Oktober 1919 hielt Hitler seine erste öffentliche Rede für die Partei vor gut hundert Zuhörern, aber deren Zahl stieg rasch an. Ende Februar 1920 fanden sich etwa bereits 2.000 Zuhörer ein. Hitler, der kurz darauf aus der Reichswehr ausschied, um sich

6 Stanley Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europä-ischen Bewegung, Berlin 2001; Roger Griffin, The Nature of Fascism, London 1991; Robert O. Paxton, Anatomie des Faschismus, München 2004; vgl. Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutsch-land im Vergleich, Darmstadt 2005.

Deutsche Arbeiterpartei