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Vom Mythos zum Logos. Eine kurze Einführung in die Ursprünge der abendländischen Philosophie Jens Helmig 1

Vom Mythos zum Logos. Eine kurze Einführung in die ... · und zwei Kommentare: 1. „Mythos ist immer als das Ergebnis einer unbewussten Tätigkeit und als ein freies Produkt der

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Vom Mythos zum Logos.Eine kurze Einführung in die Ursprünge der

abendländischen PhilosophieJens Helmig

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1 Annäherung per Definition 3

2 Weltschöpfung 42.1 Die Weltschöpfung der Maya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.2 Eine vorderorientalischer Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

3 Die Schöpfung des Menschen 73.1 Ein Mythos über die Herkunft des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

4 Mythische Schöpfergestalten 10

5 Mythos und Ordnung 12

6 Das Staunen und das Fragen 136.1 Das Staunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136.2 Das Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

7 Der Übergang - Erkenne Dich selbst 15

8 Ein gewaltiger Schritt – zum Logos 168.1 Vom Übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

9 Die altionische Naturphilosophie 199.1 Thales von Milet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209.2 Anaximandros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209.3 Anaximenes, Schüler des Anaximandros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

10 Pythagoras von Samos und seine Schule 22

11 Herakleitos von Ephesos 25

12 Die Eleaten 2812.1 Xenophanes und der Kampf gegen die Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2812.2 Das Sein des Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2812.3 Die Paradoxe Zenons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3012.4 Die Atome Demokrits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

13 Der Dialog 3513.1 Der sokratische Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3513.2 Ziel des Sokratischen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

14 Das Gleichnis 37

15 Schlussbemerkung 41

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1 Annäherung per Definition

1 Annäherung per Definition

Eine BegriffsklärungMythos, der (von altgr. mythein = Laut, Wort, Rede, sagenhafte Erzählung)

Zwei Definitionen :

1. „ ‚Mythen‘ – man erschrecke nicht vor diesem Worte – sind Göttergeschichten, im Unterschiedevon den Sagen, deren handelnde Personen Menschen sind.“

2. „Jeder Mythos erzählt, wie eine Realität entstand, sei es nun die gesamte Realität, der Kosmosoder nur ein Teil davon: Eine Insel, eine Pflanzenart, eine menschliche Einrichtung.“

und zwei Kommentare:

1. „Mythos ist immer als das Ergebnis einer unbewussten Tätigkeit und als ein freies Produktder Einbildungskraft bezeichnet worden.“

2. „Der Mythos verbirgt nichts und stellt nichts zur Schau ... Der Mythos ist weder eine Lügenoch ein Geständnis. Er ist eine Abwandlung.“

und ein Aphorismus:

„Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut.“

Aufgaben :

a) Welche Mythen nach den Definitionen 1 und 2 kennen Sie?

b) Was könnte in Kommentar 3 der Terminus „unbewusste Tätigkeit“ bedeuten ?

c) Lassen Sie ihrer Phantasie freien Lauf und entwickeln Sie einen eigenen Mythos zur Frage,wie ist der Mond entstanden und warum gibt es im Sonnensystem 9 Planeten, von denennur einer rot leuchtet.

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2 Weltschöpfung

2 Mythen der Weltschöpfung

2.1 Die Weltschöpfung der Maya

Am Anfang war das ruhende, finstere Meer.Darin verbargen sich die Gottheiten: der Schöpfer Tzakol, der Former Bitol, der Sieger Tepeu,

die Grünfederschlange Gucumatz, die Erzeuger Alom und Caholom und das Himmelsherz Huracan,die Urkraft.

Tepeu und Gucumatz erschufen die Erde durch den Ruf nach ihr. Gebirge und Täler bildeten5

sich, die Wasser teilten sich. Danach erschufen die beiden Gottheiten die wilden Tiere.Da diese jedoch nicht sprechen konnten und nicht fähig wa-

schlange-eps-converted-to.pdf

Glyphe des Gottes Gucumatz

ren, ihre Schöpfer anzubeten und zu verehren, sie zu erhaltenund zu ernähren, versuchten die Schöpfergottheiten in meh-reren Versuchen, Menschen zu machen. Aus Lehm geformte10

Menschen waren zu weich und zerflossen. Da zerstörten sie dieGötter wieder und schnitzten Menschen aus Holz. Die Holzmen-schen lebten zwar und pflanzten sich auch fort, aber sie hattenkeinen Verstand und beteten ihre Schöpfer nicht an. Daherersäuften die Gottheiten diese mittlerweile sehr zahlreichen15

Holzmenschen in einer Flut. Der dritte Versuch zur Schöpfungeines Menschen bestand aus Bohnen und Schilf. Aus Tsiteformten die Götter den Mann, aus Schilf die Frau. Aber dieTsite/Schilf-Menschen dachten nicht und sprachen nicht mitihren Schöpfern, daher zerstörten diese sie wieder mittels eines20

Regen aus flüssigem Harz, auch wurden sie von wilden Tierenzerrissen - die ganze Schöpfung rächte sich an diesen Menschen,sogar die Bratpfannen sprangen ihnen ins Gesicht, als Rache,daß die Menschen sie im Feuer hatten schmoren lassen.

Nun schufen die Götter erneut Menschen, diesmal aus Mais.25

Vier Männer schufen sie. Die Männer waren den Göttern aberzu gleich, zu klug waren sie und zu gut konnten sie alles sehen und sie fingen auch noch anzu forschen und erkannten immer mehr. Da verklärten die Götter den Männern den Blick undminderten ihre Weisheit, damit sie nicht wie die Götter werden würden.

Während des Schlafes erschuf Gott selbst vier Frauen für die Männer und sie zeugten miteinan-30

der alle Stämme, die es gibt. Danach erst wurde die Sonne und das Licht geschaffen, denn bisherlebten die Menschen und Tiere im Dunklen.

Aufgaben :

a) Was erfahren Sie aus dem Mythos über die Vorstellungswelt der Maya?

b) Welche Erklärungen für welche Weltphänomene werden in diesem Mythos erklärt oderhergeleitet?

2.2 Eine vorderorientalischer Mythos

Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde.Und die Erde war wüst und leer, und Finsterniswar über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Und Gott sprach: »Es

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2 Weltschöpfung

werde Licht!« Und es wurde Licht. Und Gott sah das Licht, daß es gut war; und Gott schied dasLicht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht.Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag.5

Und Gott sprach: Es werde eine Wölbung

schoepfung-eps-converted-to.pdf

William Blake, The ancient of days

mitten in den Wassern, und es sei eine Schei-dung zwischen den Wassern und den Wassern!Und Gott machte die Wölbung und schied10

die Wasser, die unterhalb der Wölbung vonden Wassern, die oberhalb der Wölbung wa-ren. Und es geschah so.Und Gott nannte dieWölbung Himmel. Und es wurde Abend, undes wurde Morgen: ein zweiter Tag.15

Und Gott sprach: Es sollen sich die Wasserunterhalb des Himmels an einen Ort sammeln,und es werde das Trockene sichtbar! Und esgeschah so. Und Gott nannte das Trockene20

Erde, und die Ansammlung der Wasser nann-te er Meere. Und Gott sah, daß es gut war.Und Gott sprach: Die Erde lasse Gras her-vorsprossen, Kraut, das Samen hervorbringt,Fruchtbäume, die auf der Erde Früchte tra-25

gen nach ihrer Art, in denen ihr Same ist!Und es geschah so. Und die Erde brachteGras hervor, Kraut, das Samen hervorbringtnach seiner Art, und Bäume, die Früchte tra-gen, in denen ihr Same ist nach ihrer Art.30

Und Gott sah, daß es gut war. Und es wur-de Abend, und es wurde Morgen: ein dritterTag.

Und Gott sprach: Es sollen Lichter an der Wölbung des Himmels werden, um zu scheiden35

zwischen Tag und Nacht, und sie sollen dienen als Zeichen und [zur Bestimmung von] Zeitenund Tagen und Jahren; und sie sollen als Lichter an der Wölbung des Himmels dienen, umauf die Erde zu leuchten! Und es geschah so. Und Gott machte die beiden grossen Lichter: dasgrössere Licht zur Beherrschung des Tages und das kleinere Licht zur Beherrschung der Nachtund die Sterne.Und Gott setzte sie an die Wölbung des Himmels, über die Erde zu leuchten und40

zu herrschen über den Tag und über die Nacht und zwischen dem Licht und der Finsternis zuscheiden. Und Gott sah, daß es gut war. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein vierter Tag.

Und Gott sprach: Es sollen die Wasser vom Gewimmel lebender Wesen wimmeln, und Vögelsollen über der Erde fliegen unter der Wölbung des Himmels! Und Gott schuf die grossen Seeun-45

geheuer und alle sich regenden lebenden Wesen, von denen die Wasser wimmeln, nach ihrer Art,und alle geflügelten Vögel nach ihrer Art. Und Gott sah, daß es gut war. Und Gott segnete sieund sprach: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt das Wasser in den Meeren, und die Vö-

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2 Weltschöpfung

gel sollen sich vermehren auf der Erde! Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein fünfter Tag.50

Und Gott sprach: Die Erde bringe lebende Wesen hervor nach ihrer Art: Vieh und kriechendeTiere und [wilde] Tiere der Erde nach ihrer Art! Und es geschah so. Und Gott machte die [wilden]Tiere der Erde nach ihrer Art und das Vieh nach seiner Art und alle kriechenden Tiere auf demErdboden nach ihrer Art. Und Gott sah, daß es gut war.

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3 Die Schöpfung des Menschen

Aufgaben :

a) Was erfahren Sie aus dem Mythos über die Vorstellungswelt der alten Hebräer?

b) Welche Erklärungen für welche Weltphänomene werden in diesem Mythos erklärt oderhergeleitet?

3 Die Schöpfung des Menschen

elohim-eps-converted-to.pdf

William Blake, Elohim creating Adam

3.1 Ein Mythos über die Herkunft des Menschen

Unsere ehemalige Naturbeschaffenheit nämlich war nicht dieselbe wie jetzt, sondern von ganzanderer Art. Denn zunächst gab es damals drei Geschlechter unter den Menschen, während jetztnur zwei, das männliche und das weibliche; damals kam nämlich als ein drittes noch ein aus diesenbeiden zusammengesetztes hinzu, von welchem jetzt nur noch der Name übrig ist, während esselber verschwunden ist. Ferner war damals die ganze Gestalt jedes Menschen rund, indem Rücken5

und Seiten im Kreise herumliefen, und ein jeder hatte vier Hände und ebenso viele Füße und zweieinander durchaus ähnliche Gesichter auf einem rings herumgehenden Nacken, zu den beiden nachder entgegen gesetzten Seite von einander stehenden Gesichtern aber einen gemeinschaftlichen

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3 Die Schöpfung des Menschen

Kopf, ferner vier Ohren und zwei Schamteile, und so alles übrige, wie man es sich hiernach wohlvorstellen kann.10

Man ging aber nicht nur aufrecht wie jetzt, nach welcher Seite man wollte: sondern, wenn manrecht schnell fort zu kommen beabsichtigte, dann bewegte man sich, wie die Radschlagenden dieBeine aufwärts gestreckt sich überschlagen, so, auf seine damaligen acht Glieder gestützt, schnellim Kreise fort. Es waren aber deshalb der Geschlechter drei und von solcher Beschaffenheit, weildas männliche ursprünglich von der Sonne stammte, das weibliche von der Erde, das aus beiden15

gemischte vom Monde, da ja auch der Mond an der Beschaffenheit der beiden anderen Weltkörperteil hat; eben deshalb waren sie selber und ihr Gang kreisförmig, um so ihren Erzeugern zugleichen. Sie waren daher auch von gewaltiger Kraft und Stärke und gingen mit hohen Gedankenum, so daß sie selbst an die Götter sich wagten.

Zeus nun und die übrigen Götter hielten Rat, was sie mit ihnen anfangen sollten, und sie wussten20

sich nicht zu helfen; denn sie wünschten nicht, sie zu töten und ihre ganze Gattung zugrunde zurichten, gleichwie sie einst die Giganten mit dem Blitze zerschmettert halten, denn damit wärenihnen auch die Ehrenbezeugungen und Opfer von den Menschen gleichzeitig zugrunde gegangen,noch auch durften sie sie ungestraft weiter freveln lassen. Endlich nach langer Überlegung sprachZeus: »Ich glaube ein Mittel gefunden zu haben, wie die Menschen erhalten bleiben können und25

doch ihrem Übermut Einhalt geschieht, indem sie schwächer geworden. Ich will nämlich jetztjeden von ihnen in zwei Hälften zerschneiden, und so werden sie zugleich schwächer und unsnützlicher werden, weil dadurch ihre Zahl vergrößert wird, und sie sollen nunmehr aufrecht aufzwei Beinen gehen. Wenn sie uns aber dann auch noch fernerhin fort zu freveln scheinen undkeine Ruhe halten wollen, dann werde ich sie von neuem in zwei Hälften zerschneiden, so daß sie30

auf einem Beine hüpfen müssen wie die Schlauchtänzer.«Nachdem er das gesagt, schnitt er die Menschen entzwei, wie wenn man Beeren zerschneidet, um

sie einzumachen, oder Eier mit Pferdehaaren. Wen er aber jedes Mal zerschnitten hatte, dem ließer durch Apollon das Gesicht und die Hälfte des Nackens umkehren nach der Seite des Schnitteszu, damit der Mensch durch den Anblick seiner Zerschnittenheit gesitteter würde, und befahl ihm35

dann, das übrige zu heilen.Apollon kehrte also das Gesicht um, zog die Haut von allen Seiten nach dem, was jetzt Bauch

heißt, hin und band sie dann, indem er eine Öffnung ließ, welche man jetzt bekanntlich Nabelnennt, wie einen Schnürbeutel mitten auf demselben zusammen. Und die meisten übrigen Runzelnglättete er und fügte so die Brust zusammen, indem er sich dabei eines ähnlichen Werkzeuges40

bediente, als womit über dem Leisten die Schuhmacher, mit welchem sie die Falten des Ledersausglätten; einige wenige aber ließ er zurück, nämlich eben die um den Bauch und den Nabel,zum Denkzeichen der einst erlittenen Strafe.

Als nun so ihr Körper in zwei Teile zerschnitten war, da trat jede Hälfte mit sehnsüchtigemVerlangen an ihre andere Hälfte heran, und sie schlangen die Arme um einander und hielten45

sich umfasst, voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen, und so starben sie vor Hunger undVernachlässigung ihrer sonstigen Bedürfnisse, da sie nichts getrennt von einander tun mochten.Und wenn etwa die eine von beiden Hälften starb und die andere noch übrig blieb, dann suchtediese sich eine andere und umfasste sie, mochte sie dabei nun auf die Hälfte eines ganzen Weibes,also das, was wir jetzt Weib nennen, oder eines ganzen Mannes treffen, und so gingen sie zugrunde.50

Da erbarmte sich Zeus und erfand einen andern Ausweg, indem er ihnen die Geschlechtsgliedernach vorne versetzte; denn bisher trugen sie auch diese nach außen und erzeugten und gebarennicht ineinander, sondern in die Erde wie die Zikaden. So verlegte er sie also nach vorne undbewirkte dadurch die Erzeugung ineinander, nämlich in dem Weiblichen durch das Männliche,zu dem Zwecke, daß, wenn dabei ein Mann auf ein Weib träfe, sie in der Umarmung zugleich55

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3 Die Schöpfung des Menschen

erzeugten und so die Gattung fortgepflanzt würde; wenn dagegen ein Mann auf einen Mann träfe,sie wenigstens von ihrem Zusammensein eine Befriedigung hätten und so, von dieser gesättigt,inzwischen ihren Geschäften nachgingen und für ihre übrigen Lebensverhältnisse Sorge trügen.

Seit so langer Zeit ist demnach die Liebe zu einander den Menschen eingeboren und sucht diealte Natur zurückzuführen und aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu60

heilen. (aus: Platon, Dialog »Symposion« )

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4 Mythische Schöpfergestalten

Aufgaben :

a) Was erfahren Sie aus dem Mythos der Kugelmenschen über die Herkunft der Liebe?

b) Welche weiteren Erklärungen für Weltphänomene werden in diesem Mythos erklärt oderhergeleitet?

c) Wie gefällt Ihnen der Mythos?

4 Mythische Schöpfergestalten

Die Griechen kannten eine unglaubliche Vielzahl von Göttern, Halbgöttern, Dämonen und Zwi-schenwesen. Um die mythischen Gestalten ranken sich viele z.T. widersprüchlich Geschichten,die jedoch, wie üblich im Mythos Welterklärungen liefern sollen. Die größte Sammlung an Ge-schichten dieser Art wurden von einem Mann namens Hesiod (*vor 700 v.u.Z) zu einem Buchzusammengefasst, das den Titel »Theogonie« (Vom Werden der Götter) trägt. Es wäre jedochfalsch davon auszugehen, daß die Geschichten von Hesiod stammen, er hat sie in Wirklichkeit nurgesammelt; sie wurde vermutlich bereits lange vor seiner Zeit mündlich weitergegeben. Einer derbekanntesten Mythen behandelt das Schicksal des Gottes oder Halbgottes

Prometheus:Alles hatte nun nach der Entstehung der Welt seinen Platz gefunden. Himmel und Erde hatten

ihr festes Gefüge, die Flüsse und Meere hatten sich in ihren Ufern eingefunden. Vielerlei Arten vonTieren erfüllte die Lüfte, das Meer und den Erdboden mit ihrem fröhlichen Gewimmel. Jedochfehlte noch ein Geschöpf, das diese neue Welt mit seinem Geist beherrschen könnte. Da betratPrometheus die Erde, ein Sohn aus dem alten Göttergeschlecht, das einst von Zeus entmachtet5

und in den Tartaros verbannt worden war1 Er hatte die Klugheit seines Vaters Japetos geerbtund wusste daher von dem göttlichen Samen, der im Boden schlummerte. Er nahm Ton undformte aus diesem Ebenbilder der Götter. In ihnen schloss er gute wie schlechte Eigenschaftenein, die er allen Tieren der Welt entnommen hatte. Die Göttin Pallas Athene2 bewunderte seinWerk und beschloss, den Gestalten mit ihren göttlichem Atem den Geist einzublasen?So waren10

die ersten Menschen entstanden.Bald schon bevölkerten sie in großer Zahl die Erde. Doch taumelten sie wie im Träume durch

die Welt, denn sie wussten nicht zu sehen, zu hören, die Dinge um sie herum mit ihren Sinnen zuverstehen und mit ihren Händen Dinge zu erschaffen. Als Prometheus dies bemerkte, machte ersich zu ihrem Lehrmeister. Er zeigte ihnen den Gebrauch all ihrer Gaben. Sie lernten den Lauf der15

Gestirne, die Kunst des Erzählens und der Buchstaben, sich die Tiere untertan zu machen und fürihre Zwecke einzuspannen. Bald verstanden sie es, Steine und Ziegel herzustellen, Holz zu fällenund feste Häuser zu errichten. Auch richtete er ihre Blicke unter die Erde und sie entdeckten Erz,Silber und Gold. Das Feuer jedoch konnten sie nur von den Göttern selber erhalten. Die Götterwurden aufmerksam auf das Menschengeschlecht. Sie sollten Schutz von ihnen erhalten, wenn20

die Menschen ihnen Verehrung zollen würden. Bereitwillig nahmen die Menschen dieses Angebotan und schickten Prometheus als ihren Vertreter zu den Göttern. Er sollte dafür sorgen, daß dieGötter ihre Forderungen in Massen hielten. Prometheus ließ sich von seiner Klugheit verleiten,Zeus mit Opfergaben zu betrügen. Doch Zeus durchschaute in seiner Allwissenheit den Betrugund verwehrte in seinem Zorn den Menschen die göttliche Gabe des Feuers.25

Prometheus jedoch ersann eine neue List. Er näherte sich mit einem leicht entflammbarenStengel dem vorbeifahrenden Wagen des Sonnengottes Helios und fing damit das Feuer ein. Mit

1Zeus wurde erst der Herrscher des Himmels, nachdem er seine Konkurrenten um den Thron in eine Art Unterwelt

eingeschlossen hatte.2

Die Göttin der Weisheit

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4 Mythische Schöpfergestalten

dieser Fackel eilte er zu den Menschen und brachte ihnen so diese göttliche Gabe.Zeus jedochwurmte es sehr, als er sah, mit welcher Gabe die Menschen nun ausgestattet waren, und sann aufRache. Die Macht des Menschengeschlechtes musste unbedingt begrenzt werden. Und so ließ er30

Hephaistos, dem Gott des Feuers und der Schmiedekunst, eine wunderschöne Jungfrau schaffen,die von den Göttern mit unheilvollen Gabe ausgestattet wurde. So hieß sie denn auch Pandora,die Allbeschenkte. Als sie unter die arglosen Menschen trat, wurde sie von allen bewundert.Epimetheus, der Bruder des Prometheus, nahm sie in seinem Hause auf. Dafür schenkte sie ihmeine Büchse, die er in seiner Gutgläubigkeit annahm und öffnete. Kaum jedoch war der Deckel35

der Büchse gelöst, da entflohen dieser alle Krankheiten und verbreiteten sich blitzschnell unterden Menschen? Ein einziges Gut war auf dem Boden der Büchse versteckt, nämlich die Hoffnung.Doch bevor diese auch entweichen konnte, schlug Pandora den Deckel wieder zu und verschlossdie Büchse für immer. Die Krankheiten und das Elend traten schon bald heimlich und schweigendan die Menschen heran, denn Zeus hatte ihnen die Stimme versagt. Die Menschen waren dagegen40

wehrlos und schon bald hielt der Tod reichlich Ernte.Doch nicht nur die Menschen sollten bestraft

Prometheus-eps-converted-to.pdf

H.F. Füger, Prometheus

werden, sondern auch Prometheus, der ihnendas Feuer gebracht hatte. Von seinen Knech-ten ließ er ihn fangen. In der schlimmsten45

Einöde des Kaukasus schleppten sie ihn undschmiedeten ihn mit unlösbaren Ketten desHephaistos über einen schaurigen Abgrundan einen Felsen. Ohne Speisen und Trankund ohne Schlaf musste er dort ausharren.50

Jeden Tag kam ein Adler und fraß von sei-ner Leber, die sich erneuerte, da er ein Un-sterblicher war.?Vergeblich flehte er um Gnade.Wind und Wolken, die Sonne und die Flüs-se machte er zu Zeugen seiner Pein. Doch55

Zeus blieb unerbittlich. Und so sollte seineQual viele Jahrhunderte dauern bis der HeldHerakles von Mitleid erfüllt ihn erlösen wür-de.

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Aufgaben :

a) Fächern Sie den Mythos nach seinen verschiedenen Elemente auf, wie wir es in der Behand-lung des Schöpfungsmythos der Maya und dem der Bibel bereits getan haben.

b) Was erfahren Sie über die Vorstellung der göttlichen und menschlichen Weltordnung, nachdem Verständnis der alten Griechen?

c) Welche mythischen Erklärungen für welche Weltphänomen liefert der Mythos?

d) Hat der Mythos für uns heute noch eine Bedeutung?

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5 Mythos und Ordnung

5 Mythos und Ordnung

Leistungen des MythosDer zeitgenössische Philosoph Hans Blumenberg, zutiefst überzeugt von der Macht mythischer

Denkstrukturen über den modernen Menschen und die moderne Gesellschaft, setzt sich in sei-nem Werk »Arbeit am Mythos« mit der Geschichte mythischen Denkens bis in die Gegenwartauseinander. Im folgenden Textauszug stellt er die ambivalente Funktionsweise des mythischenErzählens in den Mittelpunkt : die Leistungen und die Grenzen mythischer Erklärungsmodelle.

Der Mythos als Ordnungskraft

»(. . . ) Die Welt mit Namen zu belegen, heißt das Ungeteilte aufzuteilen und einzuteilen, dasUngriffige greifbar, obwohl noch nicht begreifbar zu machen (. . . ) Der Mythos ist eine Ausdrucks-form dafür, daß der Welt und den in ihr waltenden Mächten die reine Willkür nicht überlassenist. Wie auch immer dies bezeichnet wird (. . . ), es ist ein System des Willkürentzugs. Mythenantworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar (. . . ) Schöpfungsmythen vermeiden z.B.einen Zurückschreiten des Denkens zur allerersten Ursache(...) Wenn der Mythos auch Erklärungverweigert und verweigern muss, so produziert er doch eine andere Leben festigende Qualität : dieUnzulässigkeit des Beliebigen, den Entzug von Willkür«

Der französische Philosoph und Sprachwissenschaftler Roland Barthes formulierte die Ordnungs-macht des Mythosetwas anders, wenn er schreibt, dass »der Mythos die Dinge nicht leugnet,(. . . )ergründet sie als Natur und Ewigkeit,er gibt ihnen eine Klarheit,die nicht die Erklärung ist«

Aufgaben :

a) Auch in der Bibel/ Torah/ Koran wird besonders die Tatsache betont, daß Adam den Tierenund Pflanzen um ihn herum, Namen geben durfte. Inwiefern ist die Benennung der Dingebereits ein Begreifbarmachen?

b) Diskutieren Sie : Inwiefern ist der Mensch ohne Mythen der Welt willkürlich ausgesetzt?

c) Was meint Roland Barthes mit der »Klarheit, die keine Erklärung ist« ?

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6 Das Staunen und das Fragen

6 Das Staunen und das Fragen

6.1 Das Staunen

Aristotels (384 v.Chr - 322 v.Chr.), selbst ein Philosoph von höchstem Range, wird viel später, zueinem Zeitpunkt, als die Philosophie bereits eine Wissenschaft von breiter öffentlicher Akzeptanzist, über die Anfänge eben dieser folgendes bemerken:

Durch das S taunen (thaumázein) haben die Menschen jetzt auch zuerst zu philosophierenbegonnen; sie staunten anfangs über das Unerklärliche, das ihnen vor die Hände kam, dann gingensie vom Geringstem zu Größerem voran und fragten nach den Mondphasen, nach der Sonne undder Entstehung des Weltalls. Der aber, der voller Fragen ist und erstaunt, glaubt, in Unkenntniszu sein (so ist auch der Mythenfreund ein Philosoph, denn der Mythos besteht aus Erstaunlichem).Begann man also zu philosophieren, um der Unkenntnis zu ewntfliehen, so suc hte man offenbardas Verstehen um des Wissens willen, keineswegs aber wegen irgendeines Nutzens. Das bezeugtauch der Gang der Dinge, denn erst, als alles zum Leben Notwendige vorhanden war und alles,was das Leben erleichtert, begann man, nach solcher Erkenntnis zu streben. Offenbar also suchenwir sie nicht aus irgendeinem sonstigen Bedürfnis, sondern - wie wir sagen, dass nur der Menschfrei ist, der um seiner selbst und nicht um eines anderen willen lebt - so ist allein dieses Wissenfrei, denn es trägt seinen Zweck in sich selbst. . . Alle beginnen nämlich, wie gesagt, mit demStaunen, dass die Dinge so sind, wie sie sind3. . .

Aufgaben :

a) Vergleichen Sie, wann waren Sie das letzte Mal erstaunt?

b) Wie definiert Aristoteles im obigen Text den Mythos?

c) Gelten die Überlegungen des Aristoteles auch noch für unsere Gesellschaft, in der »alleszum Leben Notwendige vorhanden ist?«

3Aristoteles, Metaphysik A 982 b 12-28, 983 a12

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6 Das Staunen und das Fragen

6.2 Das Fragen

Philosophieren vollzieht sich als Fragen und Infragestellen. Das ist seine ursprüngliche Wesens-bestimmung. Damit hängt ein Zweites zusammen. Fragen bedeutet, etwas nicht so stehen zulassen, wie es sich zunächst zeigt; als Fragen und Infragestellen richtet sich das Philosophierenalso auf das, was sich unmittelbar als fraglos und selbstverständlich gibt. Eben dies wird imPhilosophieren in Frage gestellt. Dieses fragt ausdrücklich, wie es denn mit jenem als fraglos und5

selbstverständlich Erscheinenden in Wahrheit ist.Als ein solches Fragen ist das Philosophieren von alters her verstanden worden. Platon und

Aristoteles erblicken seinen Ursprung im „Staunen", und sie sehen darin nicht etwa nur denhistorischen Beginn der Philosophie, sondern deren in jedem Philosophieren sich wiederholenden,das philosophische Denken ständig hervorbringenden Ursprung. In diesem Sinne nennt Platon im10

„Theaitetos"das „Staunen"die in einem eher passiven Sinne verstandene Leidenschaft des Philoso-phen4. Staunen ist nun, wie Aristoteles weiter ausführt, „In-Verlegenheit-Seinünd „Unwissenheit"5,im Hinblick darauf nämlich, „ob es sich so verhält"6, ob es also mit dem Seienden, angefangenvom einzelnen Staunenerregenden bis zum Erstaunlichen des Seienden im Ganzen7, so steht, wiees dem nächsten Anblick erscheint. In diesem dem Staunen eigentümlichen »ob« steckt der Keim15

des Fragens. Nun sind freilich Staunen, In-Verlegenheit-Sein und Unwissenheit nicht schon selberPhilosophieren, sondern lediglich dessen Ursprung, »archä philosophias« , wie Platon an deroben angegebenen Stelle sagt.

Philosophieren selber dagegen vollzieht sich als Wille zur Gewißheit, als Wegdrängen vonder Verlegenheit, als, wie Aristoteles formuliert, »Fliehen vor der Unwissenheit« 8. Doch eben20

darin zeigt sich: Das Philosophieren läßt das Staunen nicht einfach hinter sich; dieses bleibt,entsprechend der zweiten Grundbedeutung des Wortes »archä« , das Herrschende, es ist imganzen Vollzug des Philosophierens als die im Wegdrängen und im Fliehen forttreibende Unruhewirksam; hörte diese auf, so hörte auch das Philosophieren auf.

Indem das Philosophieren jedoch aus seinem bleibenden Ursprung anhebt, ist es selber nicht25

bloßes Staunen, In-Verlegenheit-Sein und bloße Unwissenheit, nicht bloßes betroffenes Erblikkendes Fragwürdigen. In der Radikalisierung des schon dem Staunen eigentümlichen »ob« kommt eszum Vollzug des Fragens.

Als diese Suche ist das Philosophieren ausdrückliches Fragen.Philosophieren ist also, konsequent gedacht, unendliches Fragen. Denn worin könnte es sein30

Ende finden? Offenbar nur in etwas, das sich ihm als fraglos gewiß, als allem weiteren Fragenenthoben darböte, das also dem Ansturm des Fragens mit Erfolg standhielte. Als standhaltendvor einem Fragen aber kann sich etwas nur dann erweisen, wenn es zuvor in Frage gestellt ist.

Eine Antwort kann nur dann Antwort auf die philosophische Frage sein, wenn sie von dieservorgängig fragwürdig gemacht worden ist: sie ist nur stichhaltig, wenn der Stich des Fragens zuvor35

auf sie gezielt hat. Das Philosophieren muß also, und zwar eben sofern es das fraglos Gewisse alsseine Grenze finden will, alles in den Wirbel des Fraglichmachens hineinreißen; es kann nichts inunbefragter Fraglosigkeit stehen lassen; es muß alles Sichere und Feste zum Einsturz bringen.

Philosophieren ist von seinem zu Ende gedachten Wesen her radikales Fragen.9

4Platon, Theaitetos 155 d

5Aristoteles, Metaphysik.M 982b 17 f.

6Metaphysik M983a 13

7vgl. Metaphysik,

M 982b 13 ff.8

Metaphysik.M 982b 159

Wilhemlm Weichschedel, Der Gott der Philosophen. Bd. 1. München:

Nymphenburger Verlagshandlung 1972. S.26-27

14

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7 Der Übergang - Erkenne Dich selbst

7 Der Übergang - Erkenne Dich selbst

Die Ursprünge der antiken griechischen Philosophie liegen im Dunkeln. Die ersten spruchhaftenÜberlieferungen stammen von den so genannten sieben Weisen, sie werden als der BeginnPhilosophie angesehen, von ihnen den sind Sprüche oder Sentenzen überliefert wie beispielsweise:»Erkenne Dich selbst« , »Ehre den Älteren« , »Halte Maß« , »Den rechten Augenblick erkennen«und »Die meisten sind schlecht« .

Es handelt sich bei diesen Aussagen also eher um Ratschläge für einen sittlichen Lebenswandel,als um originär philosophische Einsichten in das Wesen der Dinge, andererseits zeigen ihreFormulierungen Allgemeingültigkeit, und ihre Lehre ist im Gegensatz zu den oben behandeltenMythen frei von Beispielhaften Geschichten um mythische Gestalten oder Götterfiguren.

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Römisches Bodenmosaik

Eine Ausnahme bildet vielleicht der berühmte Satze »Erkenne Dich selbst« , der ebenfallseine der Säulen des berühmten Apollonheiligtums in Delphi schmückte und der dem PhilosophenThales (siehe unten)zugeschrieben wird. Diese Sentenz war in der antiken Welt weiträumig geläufigund schmückte sogar Bodenmosaike, siehe die Abbildung oben.

Aufgaben :

a) Beschreiben Sie die Illustration genau. Was fällt Ihnen auf?

b) Hat der Satz für den modernen Menschen noch eine Bedeutung?

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8 Ein gewaltiger Schritt – zum Logos

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Raffael, Die Schule von Athen

8 Ein gewaltiger Schritt – zum Logos

Der Begriff „Logos“ ist der zentrale Begriff der antiken (griechischen und römischen) Philosophie.Wir begegnen dem Begriff noch heute in unserem Wort „Logik“oder der Endung „-logie“, in derBedeutung „Lehre von“. Der Begriff ist vieldeutig und wird ebenso verwendet, grundsätzlich kannman das Wort „logos“ am ehesten mit „sinnerfülltem Wort“ oder „vernünftiger Rede“ übersetzen.

Für uns sind die folgenden (ursprünglichen) Deutungen wichtig:

1. Logos als die „die Welt durchwirkende Gesetzmäßigkeit“ (Fragmente des Heraklit, ca. 490 v. u.Z.)

2. Logos als „Darstellung oder Erklärung“ , nur das, was in erklärender (oder erklärbarer) Form sichals Teil des ????? wieder findet, kann Gegenstand des Wissens sein. (Platon, Theaitetos 201d, ca.400 v. u. Z.

3. Logos als „Definition“ (Aristoteles, Opera Omnia, ca. 360 v. u. Z.)

4. Logos als Vernunftprinzip des geordneten Kosmos. Der Logos konstituiert die Kausalität. (Schuleder Stoa, ab etwa 300 v. u. Z.)

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8 Ein gewaltiger Schritt – zum Logos

5. Als Logos spermatikos („Seelenfünklein“) ist er in jedem beseelten bzw. vernunftbegabten Wesenanzutreffen, entspricht als der Vernunft, die der Einzelne im Urteilen anwendet. (Schule der Stoa,ab etwa 300 v. u. Z.)

Aufgaben :

a) Finden Sie mindestens zehn Begriff, die die Endung „-logie“ enthalten.

b) Was macht Ihrer Meinung nach eine logische (d.h. also den Logos anwendende Erklärungfür einen einzelnen Sachverhalt aus? Geben Sie ein Beispiel.

c) Worin unterscheidet sich diese von einer mythischen Welterklärung?

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8 Ein gewaltiger Schritt – zum Logos

8.1 Vom Übersetzen

Offensichtlich hat Goethes Gelehrter Heinrich Faust ähnliche Schwierigkeiten wie wir, er versuchtsich nämlich an einer Übersetzung des Evangelium Johannis; dieses beginnt bekanntermaßen mitden Worten Äm Anfang war das Wort", obwohl es streng wörtlich genommen heißen müsste, daßes der logos"war, der am Anfang stand.

Faust

Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort(=logos)«Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,Ich muß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

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Faust

Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.Bedenke wohl die erste Zeile,Daß deine Feder sich nicht übereile!Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich RatUnd schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

(Goethe, Faust, Studierzimmer)

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9 Die altionische Naturphilosophie

9 Die altionische Naturphilosophie

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Magna Graeca

Die drei Milesier

Die Milesier(624 – 525 v.u.Z), so genannt, weil sie in oder um die Stadt Milet (etwa 80 kmsüdlich der heutigen Stadt Izmir in der Provinz Aydin) in Kleinasien, lebten und wirkten,gelten als die ältesten abendländischen Philosophen. Ihr wichtigster Forschungsgegenstandwar die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten.

So verwundert es niemanden, daß Thales im alltäglichen Leben ein ausgesprochen praktischveranlagter Mann war, der sich mit dem Wasserbau und der Vorhersage von Wetterereignissenzum Nutzen der Landwirtschaft beschäftigt hat. Man erkennt also, daß die Philosophie demAlltag entspringt und nicht im Gegensatz zu ihm stehen muss, wie man gemeinhin annimmt.Von den Schriften der ältesten Naturphilosophen ist nichts, bzw. sind nur wenige Bruchstücke(Fragmente)überliefert. Zum Teil werden ihre Lehren von anderen Philosophen zitiert, zumTeil haben sich wenige Sätze auf Pergamentfetzen, die man gefunden hat, erhalten.

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9 Die altionische Naturphilosophie

9.1 Thales von Milet

»Thales (624 v.Chr. - 546 v.Chr.) behauptet, die Erde werde vom Wasser getragen. Siewerde wie ein Schiff bewegt, und in Folge der Beweglichkeit des Wassers schwanke sie dann,wenn die Leute sagen sie erbebe . . . Von denen, die zuerst philosophiert haben, haben diemeisten geglaubt, daß es nur stoffliche Urgründe der Dinge gebe. Denn woraus alle Dingebestehen und woraus sie ursprünglich entstehen und worein sie sie schließlich vergehen, indemdie Substanz zwar bestehen bleibt, aber in ihren Zuständen wechselt, das erklären sie fürdas Element und den Urgrund (altgr. arche) der Dinge, und daher glauben sie, daß wederetwas aus dem Nichts entstehe, noch in das Nichts vergehe, in der Meinung, daß eine solcheSubstanz immer erhalten bleibt .... Denn es muss eine gewisse Substanz vorhanden sein,entweder eine einzige oder mehrere, aus denen alles Übrige entsteht, während sie selbst (dieSubstanz= lat. das Zugrundeliegende) erhalten bleibt. Über die Anzahl und die Art einessolchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, Thales, der Begründer vonsolcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser.«

9.2 Anaximandros

»Anaximandros (611 – 546 v.Chr.)erklärte, daß das Unendliche die alleinige Ursache vonEntstehung und Untergang des Ganzen sei(. . . ) Er behauptete aber, daß der Untergangund viel früher die Entstehung erfolge, indem sich seit unendlicher Zeit alle diese Vorgängewiederholten(. . . ) Er bezeichnet aber als Urgrund weder das Wasser noch ein anderes der sogenannten Elemente, sondern eine andere unendlich Substanz, aus der sämtliche Himmelentstanden seien und die Welten in ihnen (. . . ) Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben,darin findet auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leistetn einanderSühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit gemäß der Verordnung der Zeit.(. . . ) Offenbar hatAnaximandros, der dem Wandel der vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) ineinanderbeobachtet hatte, nicht eins von diesen als Grundlage (. . . ) annehmen wollen, sondern einanderes neben ihnen.

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9 Die altionische Naturphilosophie

9.3 Anaximenes, Schüler des Anaximandros

Anaximenes(520 – 525 v. Chr.) erklärte für den Urgrund der Dinge die Luft. Denn aus dieserentstände alles und in diese löse sich alles irgendwann wieder auf. Sagt er doch: »Wie unsereSeele, die Luft ist, uns regiert, so umfasst auch den ganzen Kosmos Hauch und Luft.« Es ent-stände alles infolge einer gewissen Verdichtung der Luft und wieder infolge von Verdünnung.10

Aufgaben :

a) Erarbeiten Sie jeweils eine der drei oben vorgestellten Hypothesen über den Ursprungder Welt.

b) Wieso handelt es sich hier um philosophische/ logische Welterklärungsentwürfe? Be-gründen Sie Ihre Meinung, indem Sie den Unterschied zu den mythischen Erklärungen(s.o.) heraus arbeiten.

10zitiert nach Wilhelm Capelle , Die Vorsokratiker, Kröner Verlag

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10 Pythagoras von Samos und seine Schule

10 Pythagoras von Samos und seine Schule

Während Thales ein praktisch orientierter Mensch war, interessiert am Wasserbau unddem guten Leben, u.a. auch dem Geldverdienst nicht abgeneigt, stellt der PhilosophPythagoras(ca.570 - 510 v.u.Z.), auch wenn wir wenig über sein Leben wissen, soziemlich dessen Gegenteil da:

Er wurde auf der Insel Samos geboren, floh jedoch vor den politischen Zuständen5

seiner Heimat in die griechische Pflanzstadt (Kolonie) Kroton (heute : Crotone) inSüditalien, am Golf von Tarent.

Er versammelte um sich eine Schar Freunde und Anhänger seiner philosophischenLehren und ihre Lebensgemeinschaft ähnelte ein wenig den Hippie-Kommunen der1960’er Jahre, da auch diese versuchten das drückende Alltagsleben politisch zu10

reformieren und zu verbessern: Man lebte vegetarisch, glaubte an die Wiedergeburtund verbrachte die Tagen mit religiösen Zeremonien und Spekulationen und versuchteeinen möglichst ethischen Lebenswandel zu pflegen.

Andererseits betrieben Pythagoras und seine Schülerinnen und Schüler, die manbald Pythagorer nannte, eine Vielzahl höchst abstrakter wissenschaftlicher Studien15

und Spekulationen, die sich mit Geometrie, Mathematik und Astronomie beschäftigten(so sollte der »Satz des Pythagoras« den meisten von Ihnen nicht unbekannt sein. Soschrieb der Philosoph Herakleitos : »Pythagoras des Mensarchos Sohn hat am meistenvon allen Menschen Wissenschaft betrieben und, nachdem er sich diese Schriftenausgewählt hatte, hatte er daraus eine eigene Weisheit gemacht. . . «20

Der wichtigste, direkte Schüler von Pythagoras war ein Arzt namens Alkmaionvon Kroton. Die Pythagorer wurden noch zu Lebzeiten ihres Begründers in ganzUnteritalien mächtig und einflussreich, doch nach dem Tod des Pythagoras ging dieserEinfluss verloren und seine Lehren wurden erst Jahrhunderte später wiederentdeckt.

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10 Pythagoras von Samos und seine Schule

Pythagoreische Texte zu Geist, Seele und Denken

Neben der Mathematik und der Medizin beschäftigten sich die einflussreichsten Lehrender Pythagorer mit der menschlichen Seele und dem Unterschied zwischen Mensch und Tier:

1. Und(...) einst sei er gerade vorbeigegangen, als ein Hund geschlagen wurde; da habe erMitleid empfunden und das Wort gesprochen: »Hör’ auf und schlag das Tier nicht ! Esist ja die Seele eines befreundeten Mannes, die ich wieder erkenne, als ich das Winselnhörte.« 11

2. Von diesen beiden (den Pythagorern und dem Alkmaion) kann man also soviel entneh-men, daß die Gegensätze die Prinzipien der Dinge sind.(=z.B. gut/böse, groß/klein,süß/sauer etc.)12

3. Ist es das Blut, mit dem wir denken, oder die Luft oder das Feuer ? Oder ist es keines vondiesen, sondern vielmehr das Gehirn, das die Tätigkeit des Hörens, Sehens und Riechensverleiht? Und daraus entsteht dann Gedächtnis und Meinung, und aus Gedächtnis undMeinung, wenn sie zur Ruhe gekommen sind, entwickelt sich dann das Wissen.13

4. Solange das Gehirn unversehrt ist, solange hat auch der Mensch seinen Verstand.14

5. Daher behaupte ich, daß das Gehirn es ist, das den Verstand sprechen läßt.15

6. Alkmaion behauptet, daß sich der Mensch von den übrigen Wesen dadurch unterscheidet,daß er allein denkt, während die anderen Wesen zwar Sinneswahrnehmung haben, abernicht denken16

7. Alkmaion von Kroton (. . . ) spricht (..) Von den unsichtbaren und von den vergänglichenDingen haben sichere Erkenntnis nur die Götter, den Menschen aber ist nur vergönntunmaßgebliche Schlüsse zu ziehen.17

8. Alkmaion hielt die Sterne, weil sie beseelt seien, für Götter.18

9. Alkmaion meint, daß die Seele von sich selber bewegt werde und in ewiger Bewegungbegriffen sei; daher sei sie unsterblich und gleiche den göttlichen Wesen (=den Sternen)19

10. Eine ähnliche Auffassung (. . . ) scheint auch Alkmaion von der Seele zu haben. Erbehauptet nämlich, sie sei unsterblich, weil sie den unsterblichen Wesen (=Sternen)gleiche. Das aber sei der Fall, weil sie in ewiger Bewegung begriffen seien. Denn auchsämtliche göttliche Wesen seien in ewig währender Bewegung: Sonne, Mond, Sterneund der ganze Himmel“20

11. Der Mond und überhaupt die Dinge jenseits des Mondes hätten ein ewiges Dasein.21

Aufgaben :

a) Erarbeiten Sie aus den oben genannten Fragmenten und Zitaten die pythagoreischeAuffassung vom Zusammenhang zwischen Geist und Körper und vergleichen Sie dieseAuffassung mit unserer modernen Auffassung vom menschlichen Verstand.

b) Vollziehen Sie den »pythagoreischen Beweis« 22 für die Unsterblichkeit der menschlichenSeele nach. Kann er Sie überzeugen?

11Xenophanes (fr.7)

12Aristoteles, Metaphysik (I5,986a 22ff = 24A3)

13Platon, Phaidros (96 AB=24A11)

14Hippokrates, Von der heiligen Krankheit 14 (24 A 11)

15Hippokrates, ibid. 17

16Theophrast, Von der

Sinneswahrnehmungen 25 (fr. 1a)17

Diogene Laertius (VIII 83=fr.1)18

Clemens, Protreptikos 66 (I50,20St.)

19Aetius (IV 2,2)

20Aristoteles, Von der Seele (I 2, 405 a 29ff.)

21Diogens Laertius (VIII 83=24A1)

22Nur

von mir hier so benannt,es handelt sich um keinen Fachbegriff!

23

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10 Pythagoras von Samos und seine Schule

c) Handelt es sich hierbei um mythische oder philosophische Erklärungen für die menschlichSeele?

d) Versuchen Sie eine Verbindung zwischen der Beschäftigung mit der menschlichen Seeleund der mit der Mathematik herzustellen, auf den ersten Blick hat doch beides rechtwenig miteinander zu tun, andererseits haben sich die Pythagoreer für beides brennendinteressiert. Wo liegt also die Verbindung?

24

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11 Herakleitos von Ephesos

11 Herakleitos von Ephesos

Neben Thales, dem weltzugewandten Praktiker, Pythagoras, dem die Freundschaft feierndenMystiker, Mathematiker und politischen Flüchtling, bildet der große Herakleitos (=Heraklit)von Ephesos (520 v.Chr. - 460 v.Chr.) eine weitere markante Persönlichkeit der ionischenPhilosophie.

Er war ein herrischer, schneidender und selbstbewusster Mann aus vornehmsten Geschlecht,seine Familie führte ihren Stammbaum bis auf den ersten König von Athen zurück, der inseiner Jugend mitten im Leben stand und irgendwann angeekelt vom »Treiben des Pöbels«seine Flucht in die einsame Natur suchte und dort grübelnd die Welt zerdenkt, ein schwierigerMann. . .

Seine Philosophie beschäftigt sich mit allem und jedem, besonders versucht er die Stellungdes Menschen im Kosmos zu klären und dessen beschränkte Sicht der Dinge zu hinterfragenund ihn auf die Alltagsirrtümer seines Denkens hinzuweisen; seine Philosophie scheint zunächstabstrakt und fernab des Alltagslebens, beim näheren Hinsehen jedoch . . .

F ragmente und Zitate zur Einheit der Dinge, ihren Gegensätzen und dem Fluss der Dinge

1. Herakleitos behauptet, daß das All eins ist: getrennt, ungetrennt, geworden, ungeworden,sterblich, unsterblich. . . »Wenn ihr (..) auf den Logos hört, ist es weise, anzuerkennen,daß alles eins ist.« 23

2. Herakleitos sagt, daß »die Wachenden ein und dieselbe gemeinsame Welt haben,während sich von den Schlafenden jeder ins seine(r) eigene abwende« 24

3. Ein und daßelbe offenbart sich in den Dingen als Lebendes und Totes, Waches undSchlafendes, Junges und Altes. Denn dieses ist nach seiner Umwandlung jenes, undjenes, wieder verwandelt, dieses.25

4. Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.26

5. Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sindes nicht.27

6. Nach Herakleitos ist es unmöglich zweimal in denselben Fluss zu steigen oder einevergängliche Substanz, die ihrer Beschaffenheit nach dieselbe bleibt, zu berühren, sonderninfolge der ungestümen Schnelligkeit der Umwandlung zerstreut er sich und vereinigtsich wieder . . . und kommt und geht.28

7. In diesem Fluss aller Dinge, dem auch der Mensch (selbst seine Seele) unterworfen ist,ist in all seinen Phasen (seinem Auf und Ab) das Allprinzip (der logos ?) wirksam.29

8. Alles Geschehen erfolge infolge eines Gegensatzes.30

9. Die Dinge seien durch ihr gegensätzliches Verhalten miteinander zusammengefügt.31

10. Es strebt wohl auch die Natur nach den Gegensätzen und wirkt (macht) aus ihnenden Einklang, nicht aus den Gleichen. So führt sie das Männliche mit dem Weiblichenzusammen (. . . ) und knüpft so den allerersten Bund durch die entgegengesetztenNaturen.32

11. Sie begreifen nicht, daß das All-Eine, auseinander strebend, mit sich selber übereinstimmt:wiederstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier.33

12. Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern,die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.34

23Hippolytos (IX 9 fr. 50)

24Ibid. (14 fr. 98)

25Ibid. (18 fr.88)

26Ibid. (15 fr. 12)

27Ibid. (16 fr. 49a)

28Ibid. (17 fr. 91)

29Vgl. Hippokrates (fr.12 und 36)

30Diogene Laertius (IX 8 = 22 A 1)

31Ibid. (IX 7)

32Pseudoaristoteles, Von der Welt (5 396b 7ff)

33Ibid. 27 fr 51

34Ibid. 29 fr 53

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11 Herakleitos von Ephesos

13. Man muss wissen, daß der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, unddaß alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt.35

35Ibid. 30 fr 80

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11 Herakleitos von Ephesos

Aufgaben :

a) Versuchen Sie Ordnung in das Chaos zu bringen, worum geht es Herakleitos ? Washaben die Sätze 1., 2. und 3. miteinander zu tun?

b) Die Metapher (=das sprachliche Bild) des »Flusses« als Veränderung (3.-7.) verwendeteHerakleitos häufig und vieldeutig. Versuchen Sie diese zu entschlüsseln und auf dasmenschliche Leben zu übertragen.

c) Was ist der Leitgedanke der Fragmente 8.-13. und wie sind hier die Begriffe „Kampfund Streit“ zu verstehen ? Darf man das Wort »Der Kampf ist der Vater aller Dinge«nur politisch verstehen, so wie es in bestimmten Zeiten interpretiert worden ist?

d) Können wir aus der Bearbeitung der ersten drei Aufgaben einen Gesamteindruck derPhilosophie des Herakleitos gewinnen?

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12 Die Eleaten

12 Die Eleaten

12.1 Xenophanes und der Kampf gegen die Götter

Xenophanes(570 v.Chr. - 470 v.Chr.) aus dem kleinasiatischen Kolophon unterscheidet sichin seinen Grundeinstellungen ein wenig von den Milesiern, er war ursprünglich Dichter undRezitator und hat sich vor allem mit der Dichtung Homers, also der Ilias und der Odysseeauseinander gesetzt. Das Produkt dieser Auseinandersetzung ist seine Abwenden von demHomerischen Götterbild und er forderte, dass das Göttliche nicht in menschlicher Gestaltgedacht werden sollte. Er definierte Gott so, daß man später vom »Gott der Philosophen«gesprochen hat.

1. Wähnen doch die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand, Stimmeund Gestalt wie sie.(Frag.14)

2. Doch hätten Kühe, Pferde und Löwen Hände und könnten damit malen und Werke wiedie Menschen schaffen, dann würden die Pferde pferdeähnliche, die Kühe kuhähnlicheGötterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben.(Frag.15)

3. Die Äthiopen stellen sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vor, die Thraker dagegenblauäugig und rothaarig.

4. Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an gestalt denSterblichen ähnlich noch in Gedanken. Ganz sieht er, ganz denkt er, ganz hört er.Doch ohne Mühe schwingt er das All mit des Geistes Denkkraft. Immer verharrt eram selbigen Ort, ohne sich zu bewegen, ziemt es sich doch nicht für ihn, hierhin unddorthin zu gehen(Frag.23-26)

Aufgaben :

a) Informieren sie sich über die Götterbilder des Christentums, des Islam und des Judentumsund vergleichen Sie diese mit dem Gottesbild des Xenophanes.

b) Bedarf der »Gott der Philosophen« Ihrer Meinung nach der Anbetung.

c) Überlegen Sie: Warum hat sich das Gottesbild des Xenophanes auf breiter Ebene nichtdurchgesetzt?

d) Wäre die Durchsetzung einer derartigen Gottesvorstellung wünschenswert?

e) Ist die Kritik des Xenophanes an den verschiedenen Götterbildern berechtigt? Gibt esauch Argumente diese zu verteidigen?

12.2 Das Sein des Parmenides

Parmenides (um 540/535 v.Chr. - 483/475 v.Chr.)schrieb seine Philosophie in Form einesLehrgedichtes namens »Peri physe?s« (Über die Natur) um etwa 480 v.u.Z., also gegenEnde seines Lebens nieder. Das Gedicht gliederte sich in drei Teile, von denen allerdingsnur zwei 150 Zeilen überliefert sind. Die Philosophie des Parmenides wird in der Nachfolge»Ontologie« (Lehre vom Sein) genannt und bildet die Grundlage für den gleichnamigenZweig der Philosophie, der bis zum heutigen Tag besteht. Zum ersten Mal wird hier derVersuch unternommen, einen Blick hinter die Gesamtheit der Dinge zu werfen, das Seiendeals solches zu schauen. Parmenides kommt zu einem überraschenden Ergebnis, das in seinerNachfolge sowohl erbitterten Widerstand, als auch frenetische Zustimmung hervorrief. Par-menides präsentiert seine Lehre zwar als Gedicht, aber nichts desto weniger in Form einerkritischen Beweisführung; mit ihm beginnt die Epoche der begriffsanalytisch und logischargumentierenden Philosophie, an die Sokrates und sein Schüler Platon anschließen werden.

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12 Die Eleaten

Parmenides kann also als Begründer der »wissenschaftlichen« Philosophie betrachtet werden.

F ragmente aus dem Buch »Über die Natur«

1. Wohlan, ich will es Dir sagen, welche Wege der Forschung allein denkbar sind. Du aberhöre mein Wort und bewahr es wohl! Der eine (zeigt), daß das Seiende ist und daßes unmöglich ist, daß es nicht ist. Das ist der Pfad der Überzeugung; folgt er dochder Wahrheit. Der andere aber behauptet, daß es nicht ist und daß es dieses Nichtseinnotwendig geben müsse. Dieser Weg ist - das sage ich Dir- völlig unerforschlich. Denn dasNichtseiende kannst Du weder erkennen (denn das ist unmöglich) noch aussprechen.36

2. Denn nur ein und dasselbe kann gedacht werden und sein.37

3. So bleibt nur noch der Beweis des einen Weges übrig: daß es das Seiende gibt. Aufdiesem sind ja viele Merkmale: weil es ungeworden, ist es auch unvergänglich, ganz,einzig,unerschütterlich und ohne Ende. Und nie war es oder wird es sein, da es jetztzugleich ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes ist. Was wolltest Du denn auchfür einen Ursprung für das Seiende erfinden? 38

4. Und nie wird die Kraft der Überzeugung zulassen, dass aus dem Nichtsein etwas. . . entstände. . . Es ist oder es ist nicht! Wie könnte also das Seiende in der Zukunftsein? Wie könnte es jemals geworden sein ? Denn wenn es einmal geworden ist, dannist es nicht; es ist aber auch nicht, wenn es jemals in der Zukunft sein sollte. So ist dasWerden ausgelöscht und das Vergehen der Dinge abgetan.39

5. So ist das Seiende auch nicht teilbar, da es in seinem ganzen Umfange gleichmäßig ist.Und nirgends gibt es ein stärkeres Sein, das seinen Zusammenhalt hinderte, nirgendsein schwächeres: denn alles ist voll vom Seienden. Daher ist es es in seinem ganzenUmfange zusammenhängend. Denn Seiendes stößt an Seindes.40

6. Dasselbe aber ist Denken und des Gedankens Gegenstand. Denn Du kannst das Denkennicht ohne das Seiende antreffen, in dem es ja ausgesprochen ist. Denn es gibt nichtsaußer dem Seienden und wird nichts außer ihm geben. . . daher sind alles nur leereNamen, was die Sterblichen durch die Sprache festgesetzt haben, in dem Glauben, esliege ihnen Wirklichkeit zugrunde: »Entstehen« und »Vergehen« .

7. Jene Männer (die Eleaten=Parmenides und seine Schüler) nahmen eine zweifacheSubstanz41 an: als die eine, die des wahrhaft Seienden, nur im Denken Erfaßbaren; alsdie andere die des Werdenden, mit den Sinnen wahrnehmbaren. Dieses letztere wolltensie nicht schlechthin als seiend42anerkennen, sondern nur als scheinbar seiend. Dahersagt er, daß es vom Seienden eine »Wahrheit« gibt, vom Werden dagegen nur eine»Meinung« .43

Aufgaben :

a) Was ist nach Parmenides’ Defintion das Seiende und was das Nichtseiende? (Fragement4,5,8.1)

b) Worum könnte es sich bei dem unteilbaren Ganzen Handeln (Fragment 8.2,8.3)c) Was meint Parmenides wenn er sagt, »Du kannst das denken nicht ohne das Seiende

antreffen.« ? (Fragment 8.4)

36Peri physe?s,Fragment 4

37Peri physe?s,Fragment 5

38Peri physe?s,Fragment 8.1

39Peri physe?s,Fragment

8.240

Peri physe?s,Fragment 8.341

Substanz= das Zugrundeliegende42

hier: wirklich43

Simplicius zu

Aristoteles, Vom Himmerl 557,20ff.

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12 Die Eleaten

12.3 Die Paradoxe Zenons

Das Seiende, von dem Parmenides gesprochen hatte, war für ihn eine zusammenhängende,in sich ruhende Einheit des Wirklichen. Ein unmittelbares, bezwingendes Grunderlebnishatte ihn zu dem Satz geführt, daß nur dieses Seiende ist.

Sein Schüler Zenon (490 v.Chr. - 430 v.Chr.) geht bereits mit einer raffinierten Logikdaran, die Begrifflichkeit des Seienden zu untersuchen. Dabei stößt er auf eine Reihe vonWidersprüchen (Paradoxien), die ihn berühmt gemacht haben.

A. Paradoxien der Vielheit

1. Wenn es viele Dinge gibt, so müssen sie notwendig so viele sein, wie sie sind, wedermehr noch weniger. Wenn sie aber so viele sind, wie sie sind, dann wären sie begrenzt. Wennes viele Dinge gibt, dann sind die Dinge unbegrenzt. Denn stets sind zwischen den Dingenandere, und zwischen diesen wieder andere. Also sind die Dinge unbegrenzt.44

Erläuterung: Schon wenn man nur zwei Dinge annimmt, muß es etwas geben, das sievoneinander trennt und zwischen ihnen liegt. Ein Zwischenraum läßt sich aber als eine Spanneansehen, die man beliebig oft unterteilen kann, und wenn eine solche Spanne ist (ein Seiendesist), muß sie unendlich viel weiteres Seiendes (unendlich viele weitere Spannen) enthalten.

2. Wenn das Eine als solches unteilbar wäre, wäre es nach dem Grundsatz Zenons nichts.Etwas, das weder beim Hinzufügen noch beim Wegnehmen größer bzw. kleiner macht, dasgehört, wie er sagt, nicht zu den seienden Dingen.45

Erläuterung:Wirklich unteilbar ist eigentlich nur ein Punkt, aber da ein Punkt keineAusdehnung besitzt, kann man ihn einer Strecke hinzufügen, ohne daß diese Strecke längerwird, und wenn man ihn von der Strecke abzieht, wird sie nicht kürzer. Also hat man nichtshinzugefügt bzw. abgezogen, und die Einheit (der Punkt!) war nichts.

B. Paradoxien der Bewegung

1. Eine Bewegung kann es nicht geben, weil das Bewegende, ehe es sein Ziel erreicht,zuvor die Hälfte (des Weges) erreichen muß. (...) Wenn man immer wieder zuerst jeweils dieHälfte durchlaufen muß und diese (Hälften) unendlich viele sind und man die unendlicheMannigfaltigkeit unmöglich bis ans Ziel durchlaufen kann (...), dann ist die Folge, daß maneine unendliche Zahl durchgezählt hat. Das ist zugegebenermaßen unmöglich.46

E rläuterung:Wenn ein Läufer, ehe er ans Ziel kommt, erst die Hälfte des Weges, zuvor dieHälfte der Hälfte usw. zurücklegen muß, gerät er in einen unendlichen Prozeß, der niemals ineiner endlichen Zeit beendet werden kann.

2. Das zweite (Argument) ist unter dem Namen „Achilleus"bekannt. Es lautet: Das Lang-samste (die Schildkröte) wird in seinem Lauf nie vom Schnellsten eingeholt werden. Denn esist notwendig, daß das Verfolgende vorher dort ankommt, von wo das Fliehende eben weg-gegangen ist, so daß notwendig das Langsamste immer wieder einen gewissen Vorsprung hat.47

44Simplikios; zitiert bei Mansfeld als Frg. 10

45Aristoteles, Metaphysik. B4,1000 b7 ff.

46Aristoteles Physik,

VI, 239 b 11 f. und VIII, 263 a 5 ff.47

Aristoteles, Physik VI, 239 b 14ff.

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12 Die Eleaten

Erläuterung: Achilleus unternimmt einen Wettlauf mit einer Schildkröte, und als fairerSportsmann gibt er ihr einen Vorsprung. Aber das ist sein Verderben, denn nun kann er sie niemehr einholen. Hat er den ersten Vorsprung aufgeholt, ist sie ein Stückchen weitergekrochen;hat er diesen neuen Vorsprung ebenfalls aufgeholt, ist sie abermals ein neues Stückchenvorangekommen usw. Ihr Vorsprung wird zwar immer kleiner, aber nie gleich Null.

3. Das dritte Argument ist, daß der sich schnell bewegende Pfeil stillsteht. Dies folgt ausder Annahme, die Zeit bestehe aus Jetztpunkten, denn wenn das nicht zugegeben wird, istder Schluß unzulässig.48

Erläuterung:Ein abgeschossener Pfeil soll sich auf einer Bahn durch die Luft bewegen. Zujedem Punkt dieser Bahn gehört auch ein Jetzt-Punkt, aber da im Jetzt keine Zeit verstreicht,andererseits zu jeder Bewegung eine Zeit gehört, muß der fliegende Pfeil in jedem Punktseiner Bahn stillstehen.

Aufgaben :

a) Was ist unter einem Paradox zu verstehen?

b) Wie ist das erste Paradox der Vielheit gegliedert? Wie verhalten sich seine beidenAussagen in logischer Hinsicht zueinander?

c) Versuchen Sie, die drei Argumente gegen die Bewegung zu widerlegen! Können Siedas, ohne sich auf den bloßen Augenschein zu berufen? Natürlich lassen sich überallBewegungen beobachten, aber was man sieht, könnte eine (optische) Täuschung sein: Esreicht nicht aus, um darauf schlüssige Argumente zu gründen! Zum „stehenden Pfeil":Bekanntlich wird die Geschwindigkeit durch das Verhältnis von zurückgelegter Streckezur gebrauchten Zeit angegeben (v = s/t). Wenn für einen Punkt der Bewegungsbahns = 0 und t = 0 ist, wird v = 0/0. Welchen Wert hat dieser Bruch?

48Aristoteles, Physik Z VI, 239 b 30 f.

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12 Die Eleaten

12.4 Die Atome Demokrits

Zenons Paradoxe hatten den Griechen Denkprobleme aufgegeben. Demokrit 460 v.Chr. -400 v.Chr.) versuchte, diese Probleme auf eine Weise zu lösen, die dem Begriff des Unteilbareneinen neuen Inhalt geben sollte. Daraus ist die Lehre von den Atomen entstanden. Wievieldabei Demokrit seinem Lehrer Leukipp verdankte, ist unklar, da die Nachrichten überLeukippos sehr dürftig sind.

1. Demokrits AtomlehreLeukipp und sein Schüler Demokrit sagen, die Elemente (stoicheia) seien das Volle und

das Leere, wobei sie das eine als seiend, das andere als nichtseiend bezeichnen, und zwarvon diesen (Elementen) das Volle und Harte als das Seiende, das Leere und Dünne als dasNichtseiende. Deswegen behaupten sie, das Seiende sei nicht mehr als das Nichtseiende;auch der Körper sei nicht mehr als das Leere. Diese (Elemente) bilden als Stofflichkeit dieUrsache der seienden Dinge. Und genau wie diejenigen, die nur eine einzige zugrundeliegendeSubstanz ansetzen, alles weitere aus deren Veränderungen hervorgehen lassen, indem siedas Dünne und das Feste als Prinzipien der Veränderungen bestimmen, so behaupten auchdiese (die Atomisten), daß die Unterschiede die Ursachen von allem übrigen sind. Sie redenvon drei solchen Unterschieden: Form und Anordnung und Lage; denn sie sagen, daß dasSeiende sich nur durch Gestaltung und Berührung und Wendung (Drehung) unterscheide.Hiervor bedeutet Gestaltung Form, die Berührung Anordnung und die Wendung Lage. (Esunterscheidet sich nämlich A von N durch die Form, AN von NA durch die Anordnung undZ von N durch die Lage.)49

2. Was sagt Demokrit?

Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeitgibt es nur Atome und den leeren Raum.�o sagt Demokrit, der meint, daß aus dem Zusam-mentreffen der Atome sämtliche durch unsere Sinne wahrnehmbaren Eigenschaften der Dingeentständen, d. h. nur für uns Menschen, die wir sie wahrnehmen; in Wirklichkeit aber seikein Ding weiß oder schwarz oder gelb oder rot oder bitter oder süß. Denn sein Ausdruck„dem Herkommen nachmeint dasselbe wie „nach der Meinungünd „nur subjektivünd „nichtentsprechend dem Wesen der Dinge selber", wofür er „in Wirklichkeitßagt. . .

Danach wäre also die Quintessenz seiner Meinung diese: bei den Menschen gilt zwaretwas als weiß oder schwarz oder süß oder bitter und dergleichen; in Wahrheit aber ist alles„Ichtsünd „Nichts". Er sagt das ja auch selber, wenn er die Atome das „Ichtsnennt, den leerenRaum dagegen das „Nichts". Die Atome nun, die sämtlich kleine Körper sind, haben keineEigenschaften; das Leere aber ist ein Raum, in dem sich diese Körper samt und sonders inalle Ewigkeit auf und nieder bewegen und sich entweder irgendwie miteinander verflechtenoder aufeinanderstoßen und dann voneinander abprallen. So läßt er sie sich trennen undwieder miteinander vereinigen, entsprechend solchen Begegnungen, und daraus läßt er auchalle anderen Zusammenballungen entstehen, so auch unsere Körper und ihre Veränderungenund unsere Sinneswahrnehmung. Als unveränderlich nehmen sie die Urkörper an (einigehalten sie für nicht zertrümmerbar infolge ihrer Härte; so Epikur und seine Anhänger; anderehalten sie für unteilbar infolge ihrer Kleinheit; so Leukippos und seine Schüler); sie seienauch in keiner Weise Veränderungen unterworfen, die alle Menschen unter dem Eindruckihrer sinnlichen Wahrnehmungen für wirklich halten50

49Aristotels. Metaphysik.1,4,985b 4ff.

50Galen, Von den Elementen nach Hippokrates I 2 (III Helmreich, zitiert

nach Capelle)

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12 Die Eleaten

In dem Bericht des griechischen Arztes und Naturphilosophen Galen wird ein Wortspielgebraucht, das vielleicht sogar bis auf Demokrit selbst zurückgeht: Das Leere ist ein Nichts,die Atome sind dann „Ichts"/ Im Griechischen hat dieses Wortspiel eine etwas andere Form.Für „nichts"gibt es das Wort „mädenmit der verneinenden Vorsilbe mä-; wird sie weggelassen,so wäre das bloße „-denëin „-ichtsöhne n davor.

Demokrit konnte nun eine brauchbare Theorie der Bewegung entwickeln, ohne auf dievon Parmenides gelegte Grundlage verzichten zu müssen. Die Atome entsprechen demwahrhaft Seienden und sind unveränderlich. Aber sie können sich im Leeren bewegen, sichmiteinander verbinden oder wieder trennen und dadurch all die Dinge hervorbringen, die zurwahrnehmbaren Wirklichkeit gehören.

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12 Die Eleaten

Mit Demokrit ist die Epoche der Vorsokratiker abgeschlossen. Es beginnt eine neue Phasegriechischen Denkens, die durch die drei „klassischenPhilosophen Sokrates, Platon und Ari-stoteles geformt wird.

Aufgaben :

a) Welche Eigenschaften kennzeichnen nach dem Bericht des Aristoteles (1) die Atome?

b) Galens Darstellung der Atomlehre (2) setzt andere Akzente als Aristoteles. Wo liegendie Unter- schiede?

c) In der modernen Chemie spricht man von Gewicht und Masse der Atome. Gibt es inden Texten von Aristoteles und Galen entsprechende Begriffe?

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13 Der Dialog

13 Philosophische Methodik I

13.1 Der sokratische Dialog

Der Philosoph Sokrates (469 v.Chr. - 399 v.Chr.) war ein für das abendländische Denkengrundlegender Philosoph. Seine herausragende Bedeutung zeigt sich u.a. darin, daß allegriechischen Denker vor ihm als „Vorsokratiker“ bezeichnet werden. Sokrates entwickelte diephilosophische Methode eines strukturierten Dialogs, die er Mäeutik ( »Hebammenkunst« )nannte.5

Die philosophischen Leistungen und die Person des Sokrates wurden in der Folge so hochgeschätzt, daß die neuplatonischen, christlichen Philosophen (ab 200 u.Z.) in ihm sogar einePräfiguration Christi zu erblicken glaubten; dies unter anderem deswegen, weil des Sokrateserzwungener Selbstmord durch den berühmten Schierlingsbecher (er wollte der Wahrheitseiner Lehre treu bleiben und hatte eine Flucht vor den Behörden abgelehnt) und seine10

Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele einige Schlüsselmomente des Christentumsvorwegnahmen.

Sokrates selbst hat keine Schriften hinterlassen, doch sein direkter Schüler Platon ( *428v.u.Z. - ? 348 v.u.Z.) hat die Dialoge, die Sokrates mit seinen Schülern oder Freunden führtemitgeschrieben und veröffentlicht. »Ich weiß, daß ich nichts weiß« , lautet eine bekannte,15

aber stark verkürzende Formel, mit der verdeutlicht wird, was Sokrates seinen Mitbürgernvoraushatte. Die Einsicht des Sokrates in sein philosophisches Nichtwissen (Aporie) istzugleich der Schlüssel zu Gegenstand und Methode Sokratischer Philosophie. Im SokratischenReden und Denken liegt erzwungener Verzicht, ein Verzicht, ohne den es keine SokratischePhilosophie gäbe. Diese entsteht nur, weil Sokrates im Bereich des Wissens nicht weiterkommt20

und die »Flucht« in den Dialog antritt.Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen dialogisch geworden; angeregt durch den

Philosophen Anaxagoras hat Sokrates sich ursprünglich besonders für die Naturforschunginteressiert und sich wie dieser mit der Ursachenfrage auseinandergesetzt. Er sei allerdingsverunsichert worden, wie Platon ebenfalls überliefert, weil es keine eindeutigen Antworten25

gab. Die menschliche Vernunft hingegen, durch die alles, was wir über die Natur wissen,vermittelt werde, konnte Anaxagoras nicht erklären, daher habe Sokrates sich von der Suchenach Ursachen ab- und dem auf Sprache und Denken beruhenden Verstehen zugewandt.

13.2 Ziel des Sokratischen Dialogs

Ziel des Sokratischen Dialogs, in der von Platon überlieferten Form, ist die gemeinsame30

Einsicht in einen Sachverhalt auf der Basis von Frage und Antwort. Weitschweifige Redenüber den Untersuchungsgegenstand akzeptierte Sokrates danach nicht, sondern bestand aufeiner direkten Beantwortung seiner Frage: »Im sokratischen Gespräch hat die sokratischeFrage den Vorrang. Die Frage enthält zwei Momente:

1. Sie ist Ausdruck des Nichtwissens des Fragenden und35

2. Appell an den Befragten, zu antworten oder sein eigenes Nichtwissen einzugestehen.

Die Antwort provoziert die nächste Frage, und auf diese Weise kommt die dialogischeUntersuchung in Gang.«

Durch Fragen also sollte Einsichtsfähigkeit geweckt werden, eine Methode, die Sokrates, soPlaton, als „Mäeutik“ bezeichnet hat: eine Art „geistige Geburtshilfe“. Denn die Änderung40

der bisherigen Einstellung als Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung hing davon ab, daßdie Einsicht selbst erlangt bzw. »geboren« wurde.

Der Erkenntnisfortschritt in den Sokratischen Dialogen ergibt sich in charakteristischer Ab-stufung: Im ersten Schritt suchte Sokrates dem jeweiligen Diskussionspartner klarzumachen,daß seine Lebens- und Denkungsart unzureichend seien. Um seinen Mitbürgern zu zeigen,45

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13 Der Dialog

wie wenig sie über ihre eigenen Ansichten und Einstellungen bisher nachgedacht hatten,konfrontierte er sie anschließend mit den unsinnigen bzw. unangenehmen Konsequenzen, diesich daraus ergeben würden.

Aufgaben :

a) Warum hat Sokrates seine Gedanken nicht in anderer Form niedergeschrieben?

b) Inwiefern kann ein neuer Gedanke geboren werden?

c) Haben Sie schon einmal einen Sokratischen Dialog geführt?

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14 Das Gleichnis

14 Philosophische Methodik II

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Stich nach Ölgemälde von C. van Haarlem

Das Höhlengleichnis51

Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildungfolgendem Zustande:

Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einengegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat.

In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben5

Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fesselwegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben undvon ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenherein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vorden Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.10

Ich sehe, sagte er.

51Platon, Dialog „Politeia“, VII. Buch

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14 Das Gleichnis

Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit;einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen.

Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene.15

Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschenvon sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche dasFeuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft?

Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zuhalten!20

Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses?Was sonst?Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden,

dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen?Notwendig.25

Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenneiner von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der ebenvorübergehende Schatten?

Nein, beim Zeus, sagte er.Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die30

Schatten jener Kunstwerke?Ganz unmöglich.Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem

Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenneiner entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen,35

zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte undwegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon ervorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte,damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehrSeienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und40

zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben,was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde?

Bei weitem, antwortete er.Das Hinaufsteigen zum Licht und das Wieder-Herabkommen in die Höhle

Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen45

schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist,fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte?

Allerdings.Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen

Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird50

er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun andas Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen könnenvon dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.

Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich.Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst55

würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andernDinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist undden Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehenals bei Tage in die Sonne und in ihr Licht.

Wie sollte er nicht!60

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14 Das Gleichnis

Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oderanderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachtenimstande sein.

Notwendig, sagte er.Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre65

schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen,gewissermaßen die Ursache ist. - Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen.

Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und derdamaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über dieVeränderung, jene aber beklagen?70

Ganz gewiß.Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der

das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegteund was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nunerscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei75

jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird er lieber alles über sich ergehenlassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben?

So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben.Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich

auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er80

so plötzlich von der Sonne herkommt?Ganz gewiß.Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen,

die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe ersie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern,85

würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von obenzurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondernman müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werdenund ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?

So sprächen sie ganz gewiß, sagte er.90

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14 Das Gleichnis

Aufgaben :

a) Was bedeutet es, daß die Gefangenen in der Höhle gefesselt sind?

b) Wofür steht die Höhle?

c) Wofür steht das Licht, das in der Höhle die Schatten wirft?

d) Wofür steht die Sonne?

e) Was unterscheidet die Mathematik von den Naturwissenschaften?

f) Wofür stehen die Schatten, die in der oberen Welt als erste erkannt werden?

g) Kennen Sie aus der Geschichte ein Beispiel von jemanden, der in die »Höhle« zurück-gekehrt ist und von den »Gefangenen« ausgelacht worden ist?

h) Was ist, nach Darstellung Platons, die Aufgabe der Philosophen?

i) Was ist Ihrer Meinung nach die Aufgabe der Philosophen?

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15 Schlussbemerkung

15 Schlussbemerkung

Was an dieser Stelle mit dem Höhlengleichnis des Platon endet ist der Beginn eines derspannendsten Abenteuer, auf die sich die Menschheit jemals begeben hat, eine Reise diezwar einen Anfang hatte, doch so lange es denkende Wesen gibt, kein Ende haben wird, dasAbenteuer des Geistes, des Denkens.

Auf Platon und seinen mit ihm konkurrierenden Schüler Aristoteles folgen mehr alszweitausend Jahre scharfsinniger Diskussionen, verblüffender Einsichten und umwälzenderErkenntnisse, an denen jeder von Ihnen teilnehmen kann, alles was erforderlich ist, ist einwenig Mut sich mit zum Teil schwierigen Texten auseinanderzusetzen und mehr noch demMut bereits eingeschlagene Wege des Denkens zu verlassen, selbst zu denken und sichmöglicherweise gegen verbreitete Meinungen zu stellen.

Haben Sie den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, forderte uns ImmanuelKant vor mehr als zweihundert Jahren auf. Also haben Sie Mut, es gibt viel zu entdeckenund dies nicht nur in der europäischen Geistesgeschichte, sondern auch in der afrikanischenund asiatischen Philosophie, die leider, leider in unserer Kultur viel zu selten Gegenstand derverdienten Aufmerksamkeit ist.

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