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14 WOZ Nr. 19 10. Mai 2012 WOZ: Frau Jaeggi, wenn Sie an den 25. Mai 1979 denken, als die ersten Solothurner Litera- turtage eröffnet wurden, was kommt Ihnen da in den Sinn? Veronika Jaeggi: Wie Otto F. Walter vor Freude strahlte ob der vielen Leute. Und wie ich an der Kasse stand, Billette verkaufte und mit dem Geld, das wir vom Bundesamt für Kultur erhalten hatten, den 5 Autorinnen und 22 Auto- ren ihre Honorärli auszahlte. Cash? Ja, das mache ich heute noch so. Weil das am wenigsten Bürokratie verursacht. Und die Autoren so ihre Gage gleich auch in Solothurn «verprassen» können. 1979 erhielt ein Autor noch 200 Franken für seine Lesung. Unser Budget reichte nicht für Hotelübernachtungen. Die Dichter konnten wählen, ob sie im Massen- lager im «Landhaus»-Dachstock übernachten wollten oder privat bei Leuten aus unserem Be- kanntenkreis. Muss ja herrlich chaotisch gewesen sein … Eigentlich nicht. Es hat von Anfang an al- les erstaunlich gut funktioniert. Pannen gab es keine. Und alle waren da: die Kritiker, das Ra- dio und ein erstaunlich grosses und auch jun- ges Publikum – es war, als ob die Leute schon lange darauf gewartet hätten. Alles war noch einigermassen überschaubar. 1979 gingen alle Lesungen in einem einzigen Saal über die Büh- ne: im «Kreuz»-Saal über der Beiz. Nur der aus- ländische Gast trat im Landhaus auf. Das war statutarisch festgeschrieben: Die «Literatur- tage» sollen primär eine Werkschau für die ak- tuelle Literatur aus der Schweiz sein, aber um Augen und Ohren auch für Literatur jenseits der Landesgrenzen zu öffnen, soll immer je- mand aus dem Ausland eingeladen werden. Und Franz Xaver Kroetz war der Erste … Er war nicht nur der einzige Dichter aus dem Ausland, er war auch der einzige in An- zug und Krawatte. Er las brillant aus seinem damals noch unveröffentlichten Theaterstück «Strammer Max». Zudem hatte er die Aufga- be, drei Tage lang hinzuhören und als auslän- discher Beobachter über die aktuelle Schweizer Literatur ein Fazit abzugeben. So diskutierten auf dem Schlusspodium Kroetz, Niklaus Mei- enberg, Adolf Muschg, Giovanni Orelli, Yves Velan, Walter Vogt und Jürg Weibel über «Die Sache und das Wort». Worüber? Darüber, was in der Literatur fortschritt- lich sei und was reaktionär, was demokratisch und was bürgerlich. Und da sagte der bayrische Kommunist in seinem hellblauen Massanzug, er habe in Solothurn zwar viel über Schweizer Schriftsteller, aber nichts über die Schweiz und ihre Probleme erfahren. Worauf Muschg lako- nisch meinte: «Franz, das ist deine Schuld.» Hat der Mann im hellblauen Anzug am Ende gar recht gehabt? Im ersten Jahr lasen immerhin politisch wache Autoren wie Otto F. Walter, Hugo Loet- scher, Jörg Steiner, Anne Cuneo, Reto Hänny. Wie überhaupt die ersten Literaturtage stark politisiert waren. Das las sich in der Zweckbe- stimmung so: «Indem Literatur so ins öffent- liche Gespräch eingreift und umgekehrt sich diesem aussetzt, kann der gesellschaftliche Zu- sammenhang bewusst werden, in dem sie steht und für den sie wirkt.» Als Walter von einem Reporter des Schweizer Fernsehens gefragt wurde, worin er den tieferen Sinn der Literaturtage sehe, sagte er, dass er sich darunter ein «republika- nisches Bankett» vorstelle. Der Begriff geht ins Ancien Régime zurück, als Intellektuelle das Versammlungs- und Redeverbot unterwan- derten, indem sie sich bei Speis und Trank zu Gesprächen versammelten. So hat es Walter wohl auch gemeint. Mit allem, was dazu gehört: Tischreden – und eben auch Streitgespräche. Literaturtage als Brennpunkt der Aufklärung? Und der Demokratisierung! Wie po- litisch die Schweizer Literatur damals war, zeigte sich in den Werkstätten, die 1979 re- alisiert wurden. So organisierten die schrei- benden Arbeiter Zürich im Gemeinderatssaal einen Kurzgeschichten-Workshop mit dem Publikum. Franz Hohler moderierte im Löwen «Geschichten schreiben mit dem Publikum». Die Arbeiterkultur Basel stellte im Stadttheater das im Kollektiv geschriebene Stück «Betriebs- fest» vor. Die schreibenden Frauen Bern mach- ten «Schreibaktionen» auf dem Gemüsemarkt. Und Peter Bichsel moderierte einen «offenen Block», wo jedermann und jedefrau unjuriert eigene Texte vorlesen konnte. Peter Weber zum Beispiel hat in einem solchen Forum in den frühen neunziger Jahren erstmals in Solo- thurn gelesen. (Ein Hund kommt ins «Kreuz».) 1979 gab es auch eine tierische Episode. Ein junger Dichter mit Seidenhalstuch, Sohn eines berühmten Schriftstellers, las aus seinem Erstling, und beim Satz «Der Widerstand ist ausgebrochen», begann im Publikum tatsäch- lich ein realer Hund zu bellen. Wenn ich mich richtig erinnere, war es der Hund von Mariella Mehr – oder hatte Walther Kauer einen Hund dabei? Ein schönes Beispiel für die unmittelbare Wirkkraft von Literatur. Ja. Und derselbe Hund bellte auch in der Schlussdiskussion, als sich die Autoren zank- ten. Veronika Jaeggi (64) ist seit 1979 Geschäfts- leiterin der Solothurner Literaturtage. Die 34. Ausgabe am kommenden Auffahrts- wochenende vom 18. bis 20. Mai ist ihre Dernière. Auf Ende Juni übergibt sie ihr Amt Bettina Spoerri. DURCH DEN MONAT MIT VERONIKA JAEGGI (2) Literaturtage als republikanisches Bankett? Veronika Jaeggi erinnert sich an das Auffahrtswochenende im späten Mai 1979, als ein bayrischer Kommunist bei den ersten Solothurner Literaturtagen im hellblauen Massanzug über die Schweizer Literatur herzog und ein Hund sehr laut zu bellen begann. VON ADRIAN RIKLIN (INTERVIEW) UND ANDREAS BODMER (FOTO) Veronika Jaeggi, am anderen Aaareufer vis-a-vis vom Solothurner Landhaus: «Unser Budget reichte nicht für Hotelübernachtungen der Eingeladenen.»

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14 WOZ Nr. 19 10. Mai 2012

Was war das doch für ein erfrischendes Zeichen der Hoffnung, als die Schweizer Nationalmann-schaft damals vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Schweden ihr Transparent «Stop it, Chi-rac!» entrollte, anstatt die Nationalhymne mit-zusingen. Fussballer mit einem politischen Bewusstsein? Die Weltrevolution konnte nicht mehr weit sein.

Das war 1995. Die Atom-tests von Jacques Chirac liefen übrigens trotz des Protests un-gestört weiter. Alain Sutter, der Kopf hinter der Aktion, durfte bei der folgenden Fussballeuropa-meisterschaft nicht mitspie-len  – inzwischen arbeitet er für die Zürcher Grasshoppers, einen Verein, dessen Funktionäre nur ungern mit der antisemitischen Vergangenheit ihres Klubs konfrontiert wer-den. Nun gut, mag man sagen  – wer so viele Probleme hat wie GC gegenwärtig, der hat auch keine Zeit, sich mit seiner eigenen Geschichte zu beschäftigen.

In diesen Tagen diskutieren nun westeu-ropäische PolitikerInnen darüber, die Fussball-europameisterschaft in Polen und der Ukra-ine zu boykottieren. Nun gut: In der Ukraine herrscht ein dreckiges Regime. Ein Regime, das so dreckig ist, dass nach einem Händedruck

mit Präsident Wiktor Januko-witsch wohl monatelanges Wa-schen nötig ist, um die Hände wieder sauber zu bekommen  – kein Wunder, reisen Regierungs-chefs anderer Staaten nicht allzu häufig in die Ukraine. Wobei es natürlich enorm hilft, dass die Ukraine weder über Gas noch Erdöl verfügt, das hält die Moti-vation für einen solchen Besuch ganz natürlich tief.

Gegen dieses Regime zu protestieren, kann also auch nicht ganz falsch sein. Insbesondere, wenn es schöne blonde Frauen inhaftiert, die irgendwie an Prinzessin Leia aus Star Wars erinnern. Wer so etwas tut, der kann nur Darth Vader sein. Findet das Fi-

nale dieser EM eigentlich auch im Todesstern statt? Verzeihung – ich übertreibe. Aber «das ist der Eindruck, den ich erhalte, wenn ich einen Blick in die Glotze werfe», um Allen Ginsberg zu zitieren. Dass die Vergabe der Fussballeuropa-meisterschaft an Polen und die Ukraine ein Skandal war, steht nicht infrage – damals, 2005, wurde die Ukraine nach der Orangen Revoluti-on zwar gerade als Vorzeigemodell einer erwa-chenden Demokratie gefeiert, während in Po-len gerade die rechtsnationalen, homophoben Kaczynski-Zwillinge an die Macht kamen.

Dass im Land Korruption herrschte, war aber allgemein bekannt: In der WOZ berich-tete Andrew Jennings im April vor drei Jahren (siehe WOZ Nr. 14/09) bereits, dass die dama-lige ukrainische Regierung (also jene der in-zwischen inhaftierten Julia Timoschenko) Bau-aufträge im Wert von 25 Milliarden US-Dollar über Kanäle laufen liess, die intensiv nach Ma-fia rochen. Wenn nun plötzlich PolitikerInnen aller Couleur so tun, als würde ihnen das erste Mal auffallen, dass in der Ukraine nicht alles toll läuft – oder, wie aktuell in Österreich, noch

versuchen, daraus Profit zu schlagen –, dann ist das bloss verlogen.

Grosse Sportanlässe finden immer wieder in Staaten statt, deren Regimes menschenfeind-lich sind. Zum Beispiel in China, wo mehr Men-schen inhaftiert sind als in der Ukraine leben. Angela Merkel, die derzeit laut über einen Boy-kott nachdenkt, war bei den Olympischen Spie-len 2008 zwar auch nicht dabei  – stattdessen schickte sie Wolfgang Schäuble. Logisch: Mit China wollte es sich auch niemand verscherzen.

Sport ist Mord. Es geht um Geld und Macht. Sollten Sie selber den Impuls verspü-ren, gegen etwas protestieren zu wollen, dann bitte gegen Sepp Blatter, der damals das Tur-nier in die Ukraine vergab in der Aussicht, sehr viel Geld zu verdienen. Oder organisieren Sie doch eine Demo mit Kollekte gegen die selbst-ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der WOZ-Redaktion, die manchmal dazu führen, dass der Abschlussredaktion der Geduldsfaden reisst. Noch besser: Schenken Sie Frau Merkel ein WOZ-Abonnement. Damit tun Sie der Welt einen grösseren Gefallen.

Etrit Hasler war einst Katholik, was vielleicht eine Erklärung dafür ist, dass ihm empörtes Protestierertum manchmal auf die Nerven geht.

Fussball und andere randsportarten

Zu Gast im TodessternETriT HaslEr über die Proteste gegen die Fussballeuropameisterschaft in der Ukraine

WOZ: Frau Jaeggi, wenn Sie an den 25. Mai 1979 denken, als die ersten Solothurner Litera-turtage eröffnet wurden, was kommt Ihnen da in den Sinn?

Veronika Jaeggi: Wie Otto F. Walter vor Freude strahlte ob der vielen Leute. Und wie ich an der Kasse stand, Billette verkaufte und mit dem Geld, das wir vom Bundesamt für Kultur erhalten hatten, den 5 Autorinnen und 22 Auto-ren ihre Honorärli auszahlte.

Cash?Ja, das mache ich heute noch so. Weil das

am wenigsten Bürokratie verursacht. Und die Autoren so ihre Gage gleich auch in Solothurn «verprassen» können. 1979 erhielt ein Autor noch 200 Franken für seine Lesung. Unser Budget reichte nicht für Hotelübernachtungen. Die Dichter konnten wählen, ob sie im Massen-lager im «Landhaus»-Dachstock übernachten wollten oder privat bei Leuten aus unserem Be-kanntenkreis.

Muss ja herrlich chaotisch gewesen sein …Eigentlich nicht. Es hat von Anfang an al-

les erstaunlich gut funktioniert. Pannen gab es keine. Und alle waren da: die Kritiker, das Ra-dio und ein erstaunlich grosses und auch jun-ges Publikum – es war, als ob die Leute schon lange darauf gewartet hätten. Alles war noch einigermassen überschaubar. 1979 gingen alle Lesungen in einem einzigen Saal über die Büh-ne: im «Kreuz»-Saal über der Beiz. Nur der aus-ländische Gast trat im Landhaus auf. Das war statutarisch festgeschrieben: Die «Literatur-tage» sollen primär eine Werkschau für die ak-tuelle Literatur aus der Schweiz sein, aber um Augen und Ohren auch für Literatur jenseits der Landesgrenzen zu öffnen, soll immer je-mand aus dem Ausland eingeladen werden.

Und Franz Xaver Kroetz war der Erste …Er war nicht nur der einzige Dichter aus

dem Ausland, er war auch der einzige in An-zug und Krawatte. Er las brillant aus seinem damals noch unveröffentlichten Theaterstück «Strammer Max». Zudem hatte er die Aufga-be, drei Tage lang hinzuhören und als auslän-discher Beobachter über die aktuelle Schweizer Literatur ein Fazit abzugeben. So diskutierten auf dem Schlusspodium Kroetz, Niklaus Mei-enberg, Adolf Muschg, Giovanni Orelli, Yves Velan, Walter Vogt und Jürg Weibel über «Die Sache und das Wort».

Worüber?Darüber, was in der Literatur fortschritt-

lich sei und was reaktionär, was demokratisch und was bürgerlich. Und da sagte der bayrische Kommunist in seinem hellblauen Massanzug, er habe in Solothurn zwar viel über Schweizer Schriftsteller, aber nichts über die Schweiz und ihre Probleme erfahren. Worauf Muschg lako-nisch meinte: «Franz, das ist deine Schuld.»

Hat der Mann im hellblauen Anzug am Ende gar recht gehabt?

Im ersten Jahr lasen immerhin politisch wache Autoren wie Otto F. Walter, Hugo Loet-scher, Jörg Steiner, Anne Cuneo, Reto Hänny. Wie überhaupt die ersten Literaturtage stark politisiert waren. Das las sich in der Zweckbe-stimmung so: «Indem Literatur so ins öffent-liche Gespräch eingreift und umgekehrt sich diesem aussetzt, kann der gesellschaftliche Zu-sammenhang bewusst werden, in dem sie steht und für den sie wirkt.»

Als Walter von einem Reporter des Schweizer Fernsehens gefragt wurde, worin er den tieferen Sinn der Literaturtage sehe, sagte er, dass er sich darunter ein «republika-nisches Bankett» vorstelle. Der Begriff geht ins Ancien Régime zurück, als Intellektuelle das Versammlungs- und Redeverbot unterwan-derten, indem sie sich bei Speis und Trank zu Gesprächen versammelten. So hat es Walter wohl auch gemeint. Mit allem, was dazu gehört: Tischreden – und eben auch Streitgespräche.

Literaturtage als Brennpunkt der Aufklärung?Und der Demokratisierung! Wie po-

litisch die Schweizer Literatur damals war, zeigte sich in den Werkstätten, die 1979 re-alisiert wurden. So organisierten die schrei-benden Arbeiter Zürich im Gemeinderatssaal einen Kurzgeschichten-Workshop mit dem Publikum. Franz Hohler moderierte im Löwen «Geschichten schreiben mit dem Publikum». Die Arbeiterkultur Basel stellte im Stadttheater das im Kollektiv geschriebene Stück «Betriebs-fest» vor. Die schreibenden Frauen Bern mach-ten «Schreib aktionen» auf dem Gemüsemarkt. Und Peter Bichsel moderierte einen «offenen Block», wo jedermann und jedefrau unjuriert eigene Texte vorlesen konnte. Peter Weber zum Beispiel hat in einem solchen Forum in den frühen neunziger Jahren erstmals in Solo-thurn gelesen.

(Ein Hund kommt ins «Kreuz».)1979 gab es auch eine tierische Episode.

Ein junger Dichter mit Seidenhalstuch, Sohn eines berühmten Schriftstellers, las aus seinem Erstling, und beim Satz «Der Widerstand ist ausgebrochen», begann im Publikum tatsäch-lich ein realer Hund zu bellen. Wenn ich mich richtig erinnere, war es der Hund von Mariella Mehr  – oder hatte Walther Kauer einen Hund dabei?

Ein schönes Beispiel für die unmittelbare Wirkkraft von Literatur.

Ja. Und derselbe Hund bellte auch in der Schlussdiskussion, als sich die Autoren zank-ten.

Veronika Jaeggi (64) ist seit 1979 Geschäfts­leiterin der Solothurner Literaturtage. Die 34. Ausgabe am kommenden Auffahrts­wochen ende vom 18. bis 20. Mai ist ihre Dernière. Auf Ende Juni übergibt sie ihr Amt Bettina Spoerri.

durch den Monat Mit VEroNiKA JAEGGi (2)

literaturtage als republikanisches Bankett?Veronika Jaeggi erinnert sich an das Auffahrtswochenende im späten Mai 1979, als ein bayrischer Kommunist bei den ersten Solothurner Literaturtagen im hellblauen Massanzug über die Schweizer Literatur herzog und ein Hund sehr laut zu bellen begann.

Von adrian riklin (inTErViEw) und andrEas BodmEr (FoTo)

Wer so etwas tut, der kann eigentlich nur Darth Vader sein.

Veronika Jaeggi, am anderen Aaareufer vis­a­vis vom Solothurner Landhaus: «Unser Budget reichte nicht für Hotelübernachtungen der Eingeladenen.»