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Manfred Faßler
Bildung im 21. Jahrhundert Basistext meines Vortrags gehalten im Rahmen der Konferenz
Bildung Medien Subjekt (Prof. Dr. T. Meyer, Uni Köln, Köln, 22.03.2012)
Bildungsamateure & Wissensvektoren
1. Technologie und Mensch: eine fröhliche Konvergenz 1.1. Selbstgemachte Mündigkeit
Mit dem Vortragstitel werbe ich für Bildungsamateure, für die Imagination möglicher, offener Zusammenhänge. Ich spreche mich
-‐ gegen jegliche Variante aus, Zusammenhangs-‐Bedarf und Bedürfnisse auf ein vorgeklärtes Entwicklungsziel festzulegen, sowie
-‐ für Wissen, das als Neugier, pfadabhängiges Denken, Unterscheiden und empirisch, theoretisch gehaltvolle Neuerfindung verstanden, gepflegt und gefördert wird.
Ich wende mich also gegen jede Version des (institutionell, normativ, regulativ) betreuenden / betreuten Denkens. Nichts gegen Verständigungs-‐, Erklärungs-‐, Beweiskonventionen. Sie sind ´zwischen´ den Menschen ebenso erforderlich und unvermeidlich, wie die hoffende Erwartung, dass es jene Realität ´in der Tat´ und ´vor der Tat´/ ´nach der Tat´ des Denkens, Berührens, Eingreifens, Synthetisierens gibt, die der Mensch in seiner Nische und jenseits dieser vermutet. Der vorgeschlagene Realismus nimmt
-‐ die mehrfach-‐sinnlichen Erfahrungen der Körper-‐Umwelt-‐Differenzen, -‐ die damit einhergehenden neurophysiologischen Musteransammlungen, -‐ die abstrahierenden Modellentwürfe und ihre Reflexionsrelevanz, -‐ sowie die Gesten des eingreifenden, verändernden, angestrebten
Handelns auf, -‐ das auf die beeindruckende Fähigkeit des Menschen verweist, ein Bio-‐
Imaginäres (Selbst-‐Entwurf) zu erstellen, -‐ aus dem Religio-‐, Natur-‐, Sozio-‐, Techno-‐Imaginäres entstehen
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-‐ und diese Imaginationen (in psychoanalytischer Tradition wird dies gerne auch ´Phantasma´ genannt) wiederum zu eigenlogischen vorläufigen Zusammenhängen zu führen.
Hier ist nicht Platz, diese Realismus-‐Annahme weiter zu vertiefen. Sie anzusprechen mag aber verdeutlichen, dass es mir um die Wissens-‐ und Bildungs-‐Zuneigung geht, um überraschende Variationen und ungeplante Erkenntnisse, um Widerspruchstoleranz und Kooperationsfähigkeit im Zeitalter weltweiter Datenströme. Es ist eine Sympathieerklärung gegenüber dem digitalen Zeitalter selbsterzeugter und selbstorganisierter Mündigkeit. Ich halte nichts von der Fortsetzung des Schuld-‐Gestus der ´selbstverschuldeten Unmündigkeit´. Nicht nur, dass damit unterstellt ist, jemand oder eine hochkulturelle Gedanken-‐Schule wisse, worin ´Mündigkeit´ („letztendlich“) im Gegensatz zum Jetztzustand bestehe. Das ärgert. Wogegen ich mich allerdings vehement wehre ist die Haltung, in dem entstandenen Reichtum an Klugheit, visueller, semantischer, abstrakter, gestalterischer Intelligenz, an analytischen und synthetischen Fähigkeiten oder auch an Unterhaltung oder Spaß nur die Anhäufung von ´Unzureichendem´ zu sehen. Es reicht nicht, wird mit jedem Satz gesagt, der sich zur Kritik der Unmündigkeit aufbläht. Dass Menschen mit den bio-‐technischen, sozio-‐ und medio-‐technischen Komplexitäten gerade deshalb Schwierigkeiten haben, weil sie durch diese ständig zu neuen Gedanken und neuem Verhalten gezwungen werden und weil sie, die Menschen, weiter erfinden, entwerfen, verwerfen, gestalten, ist nicht neu. Auch ist nicht neu, dass seit I. Kant nicht nur die Handwerker-‐Zünfte, die Meister-‐Wirtschaft, die Landbevölkerung, die edle Stadt-‐ und Feudalbevölkerung verschwunden sind. Technologien wurden erforscht und zu Großindustriellen Maschinen oder Laborausstattungen, gesellschaftliche Entwicklungen wurden zu wissenschaftlich-‐industriellen Projekten. Es hilft nicht weiter, diese koevolutionären Dynamiken der letzten 200 Jahre unter ´mündig / unmündig´ zu diskutieren. Ließe man sich darauf ein, würde jede Variante von kultureller oder sozio-‐technischer Evolution geleugnet. Und unter dieser Vorgabe kann keine geistige, soziale, ökonomische, wissenschaftliche, technische oder ethische Entwicklung aus ihren Entstehungs-‐ und Durchsetzungs-‐ (Wirkungs-‐) Bedingungen heraus diskutiert werden. Vielmehr erscheinen sie als finalisierte Zuarbeit zum Endziel eines von allen in gleicher Weise geteilten Bedeutungs-‐ und Gestaltungsrepertoires. Arbeiten sie diesem Endziel vermeintlich nicht zu, -‐ was durch die Mündigkeits-‐Priester entschieden wird -‐, sind Ökonomie, Maschine, Technologie, Medialität oder auch Kunst entweder abwegig, dem Heil widersprechende Ketzerei, oder Einfalt.
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Dass Mündigkeit als Regulativ und Norm für Erziehung und Pädagogik manchen hilfreich sein kann, mag ich noch mitdenken. Aber dies führt jene Geste des betreuten Denkens mit sich, die ich eingangs ansprach. Es gibt zahlreiche empirische, methodische, evolutionswissenschaftliche Gründe, dieser Geste eher lächelnd den Rücken zuzuwenden. Allerdings gibt es auch Gründe diesem altlastigen Denken abweisend entgegenzutreten. Und diese liegen in den vielfach kompetenten, zunehmend ´querfeldein´ vernetzten Nischen menschlicher Akteursumgebungen, in denen multimodale Mündigkeit (visuell, ökonomisch, audiovisuell, unterhaltungsbezogen, beruflich, kinetisch, programmiersprachlich, kollaborativ, kooperativ, konkurrenziell) auf Macht, Kooperationskontrolle, kurze Projekt-‐ und Arbeitsverträge etc. stößt. In diesen kollaborativen Netzwerken, in denen Lebenszeit mit technomedialer Echtzeit verwoben wird, in denen Ort, Schreibtisch, Büro den Status von (elektronisch adressierbarer) ´Offline´ erhalten, der durch spezifische Aktivitäten zu ´Online´ in Beziehung gerät, entstehen neue Formate des ´zusammen´, neue Imaginationen oder Phantasmen: ständig werden neu kombinierte Pfade für Handlungs-‐, Denk-‐, Reaktionsmöglichkeiten hervorgebracht. So entstehen kollaborative Informationsverarbeitungen, kooperative Lösungswege, nachbarschaftliche, zufällige, kollaterale Wissensoptionen. Und Menschen entscheiden selektiv über die ´weitere Richtung´, die Denken und Wissen nehmen können (oder sollen). Sie handeln vektoral, in einer Art Kurzzeitökonomie der Richtungen, immer darauf bedacht, neue taugliche Kooperationen (bifurkativ, also an der Weggabelung) zu jeder Zeit aufgreifen und vernetzen zu können.
1.2. Kunstfertige Menschen
Manchen sind die damit verbundenen Prozesse zu schnell, um wahr zu sein. In dieser Bewertung drücken sich empfundene Verständnis-‐ und Zusammenhangsdefizite aus. Sie beziehen sich allerdings auf empirisch erkennbare Regelungs-‐ und Zuordnungsdefizite, da für die angedeuteten erdweiten Offline-‐Online-‐Strukturen bislang keine in irgendeiner Weise verabredeten Zusammenhangs-‐Imaginationen vorliegen. So lassen sich überraschend stabile medientechnologische Möglichkeits-‐ und Aktivitäts-‐Räume über z.B. 41.000 Local Area Networks beziffern. Allerdings fehlen Virtualitäts-‐Imaginationen, die über solche formalen Begriffe wie Gruppe, Community, Kollektiv, kollektive Intelligenz, Netzwerke hinausgehen. Ansätze sind gleichwohl formuliert in Konzepten Open Source oder Peer-‐to-‐Peer-‐Netzwerke und Ökonomie.
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Niemand ertrinkt durch bloßen Kontakt in Daten-‐ und Informationsströmen, denn jeder kann jeder Information im Netz aus dem Wege gehen, -‐ durch Unfähigkeit oder mit Absicht. Die Anforderungen, den Defiziten zu entgehen, betreffen den Umgang mit Abstraktionen, Imaginationen, Entwürfen, Zufällen. Mit Bildung und Wissen spreche ich demnach keine regionalen rsp. nationalen Kulturtechniken an. Es sind anthropologische und zivilisatorische Dimensionen, -‐ obwohl es wohl nicht ohne die Pflege von verabredeter Wahrnehmung, Deutung, Bedeutung, also nicht ohne Kultur als Referenz zu gehen scheint. Aus neurobiologischer Sicht sind Menschen auf verbindliche/verbindende (soziale) Resonanz und Kooperation angelegte Wesen (J. Bauer 2006, 21). Daneben ist es ihnen möglich, dieser Resonanz, der koordinierenden Reaktion und Kollaborationen eigenwillige und eigenwertige Formate zu geben. ´Freihändiges´ Wissen und Erkennen entstehen. Ihre Abstraktionsketten folgen wörtlichen, zahligen, visuellen Wahrheitspflichten. Und sie beziehen sich immer intensiver auf ihre ´eigenen´ Abstraktions-‐Produkte, seien es Maschinen, Infrastrukturen, Architekturen, Techniken, Zeichen-‐ und Sprachsysteme, auf symbolische, diabolische oder sog. kontrafaktische Bedeutungen. Heute versuchen wir wissenschaftlich klar zu bekommen, wie Abstraktion und Virtualisierung, also abstrakte (nicht-‐morphische) Realität und virtuelle (morphische, räumliche, temporale) Realität zusammenhängen. Es sind beides geistige Aktivitäten des Menschen, die auf Gestaltung, Nutzen, bio-‐technische Tauglichkeit, sozio-‐technische oder interaktive Rückwirkungen drängen. Also werden sich die Antworten um die entwerfenden, gestalterischen, standardisierenden Kunstfertigkeiten des Menschen kümmern müssen. Somit ist die entwerfende, anpassende Selbstorganisation von Menschen wichtig, die Phylogenese / Stammesgeschichte von Kultur und Soziales, d.h. die Stammesgeschichte von Abstraktion, Synthesen, Virtualität. Dies bedeutet für Wissens-‐ und Bildungsdebatten sie doppelt zu denken:
-‐ einmal als gegenwärtige Dimensionen der Selbstverständigung; -‐ zum zweiten als Zwischenprodukt eines fortlaufenden, keineswegs
zielgerichteten phylogenetischen Geschehens. In diese (noch) offenen Kontroversen stelle ich die Konzepte erkenntnisintensiven Wissens und granularen Bildung. Ihre Abstraktionsregeln entstammen zwar dem modernen Buchdenken. Dieses war und ist allerdings keineswegs kulturell, verlegerisch, politisch, literarisch, poetisch und wissenschaftlich einheitlich. Bis in die Gegenwart hinein durchziehen Verwerfungen zwischen Glauben, Bildung und Wissen das Buch-‐, Schrift-‐, und Textverständnis. Während Wissen in Erkennen, Erforschen, Experimentieren, Entwerfen begründet ist, sind Bildungsdiskurse (zumindest in
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Deutschland) entweder kirchlich, zivilreligiös oder kulturalistisch fest ummantelt. Rechtlich spricht man heute noch von Bildung als einem „Tendenzbegriff“ und bei institutioneller Bildungsförderung von „Tendenzbetrieben“. Wir haben es demnach keineswegs mit deckungsgleichen oder gar identischen Informations-‐Synthesen oder Beobachtungskonventionen zu tun.
1.3. Mediales Selbst – medialer Körper Die medientechnologischen Entwicklungen, die im Leitthema des Kongresses angesprochen sind, lösen die Fragen nach Bildung, Wissen, Subjekt, Institution aus der Buch-‐Matrix heraus. In den zurückliegenden 30 Jahren, seit der Einführung des PC, und seit 20 Jahren, der Durchsetzung von WWW, haben sich nicht nur sog. Bildungsmilieus als soziale Ordnungsgaranten verabschiedet. Weltweit sind Informationshubs, Erkenntniszellen, Wissenscommunities entstanden, in denen nicht mehr über Gesellschafts-‐ oder Lebenszeit verhandelt wird, sondern über die Wissens-‐ und Kommunikationszeiten, die sogenannte ´Sofort-‐Medien´ oder digitale Echtzeitmedien zulassen. Bedenken wir, dass mit Cloud-‐Computing oder auch mit dem aktuellen iPad die `Post-‐PC-‐Globalität´ bekräftigt wird, wirken die alten, bis gestern noch gepflegten Ordnungs-‐Illusionen/ -‐Imaginationen von Bildung und Wissen nicht einmal merkwürdig. Wir sollten diese vergessen. Klar ist dabei, dass diese Entwicklungen eher Bildungspositionen unter maximalen Stress setzen, als dass dies für Wissensentwicklungen gilt. Aber auch die Kohäsions-‐ und Kontinuitätserwartungen von politischen Wissens-‐Profis werden massiv enttäuscht. Wir können mit den Leitbegriffen Subjekt, Medien, Bildung nur dann neu ansetzen, wenn es gelingt, neue Zusammenhangs-‐Imaginationen, neu Abstraktions-‐ und Funktionsmodule zu erzeugen. Hierfür wird es, aus meiner Sicht, wichtig sein, sowohl die Entstehung und Entwicklung der medialen Körper menschlicher Selbstorganisation zu entziffern, als auch zu erforschen, wie regional und gesellschaftsunabhängig ein mediales Selbst als menschlicher Kooperationstyp sich durchsetzt. Beide Vorschläge: medialer Körper und mediales Selbst berücksichtigen, dass mit den Erfindungen nicht-‐direkt biologischer Codierungssysteme, -‐ seien es Zeichnungen, Zahlen, Schriftzeichen, und ihre Notationssysteme, die mich immer noch faszinierende Entwicklung der abstrakten, künstlichen, virtuellen Welten hervorgebracht wurden. Ganz gleich welche Materialität, Formvorgaben, welche Schreib-‐, Mal-‐ und Drucktechniken vorherrschten: kein Gerät, keine Maschine, kein Apparat konnte bislang die Erfindungsfähigkeiten
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des Menschen stoppen, -‐ weil sie Geräte und Apparate unter anderen Möglichkeiten waren und sind. Nicht nur, dass neue Medien kognitive Zusatzräume schufen, ohne frühere zu zerstören. Keine Medientechnologie löschte die Unterschiede zwischen Erfinden, Entwerfen, Nutzen, Kopieren, Fehler entdecken, Variieren, Auswählen. Nicht nur Apparate und Technologien waren eine Möglichkeit unter anderen. [Es sei nur auf die Berge von Patenten verwiesen, die nie in Produktion gingen.] Dies betrifft auch Gedanken, Wissen, Erkenntnis: zwar sind diese durch ihren Anwendungs-‐ oder Systembezug oft deutlich unbeweglicher als experimentelle technische Erfindungen. Dennoch: auch für sie gelten die Regeln der Variation, Auswahl und Gestaltung. Bestimmend für Wissen, Medien, Bildung sind demnach nicht die Computertechnologien. Bestimmend sind die Anforderungen, in vielfacher Weise mit Datentechnologien, Informationsströmen, Broadband Societies, Screens and Scoping Systems (K. Knorr-‐Cetina), bildgebenden Verfahren denken und beobachten zu können. Nicht Computer steht auf der Arbeitsliste ganz oben, sondern Computing als globale Softskill: lesen, sehen, kalkulieren, verlinken, bewegen, kooperieren, speichern, versenden, konkurrieren, produzieren, generieren in neuen Abstraktionsmatrizen, deren ´Heimat´ die digitalen Netzwerke sind. Computing verändert Wissen und Bildung. Beide müssen aus der Feindschaft von Mensch und Maschinenzeit in die Kooperation von Echtzeitmedien und Lebenszeit übersetzt werden. Diese Übersetzung oder Neuformatierung von Wahrnehmungs-‐, Denk-‐ und Bewertungsformaten wirkt auf den ersten Blick wie die Feststellung von Robert D. Laughlin (2009): „Vor unseren Augen wird das Zeitalter der Vernunft aus seiner ökologischen Nische vertrieben, und zwar durch die Wissensökonomien.“ (130) Mit der ökologischen Nische (also der industriell-‐bürokratischen, akkumulativen, regulierenden Nische) hat er wohl Recht. Aber Vertreibung möchte ich es nicht nennen. Das belässt dem sich allmählich historisierenden modernen Vernunftkartell noch zu viele Lorbeeren. Dennoch teile ich die Einschätzung, dass dies ein doch sehr auffälliger Vorgang ist. Die Neuformatierung von Wissen begleitet nicht nur die Überwindung der Unvereinbarkeitsdoktrin von Mensch und Technik. Wir beobachten konvergierende Anthropotechniken, die weder auf e i n e Beobachtungs-‐, Abstraktions-‐ noch auf regionale Denktechnik reduzierbar sind. Es wirkt wie ein fröhlicher, ohne Krieg und Unterwerfung betriebener ´Umsturz´ all jener kulturellen Wahrnehmungs-‐ und Deutungsroutinen, aus denen heraus Menschen digitale Medienverhältnisse auf ihre Spiellust, ihre Neugier, ihre Vertriebs-‐ und Produktionsverhältnisse anwenden.
1.4. Medien-‐Topologie
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Die Folgen für Imagination und Funktion von Subjekt sind erheblich: G. Russegger nennt den Subjekt-‐Nachwuchs „Smartject“, Peter Fuchs spricht eher bedauernd von „Un-‐Jekt“, V. Flusser lancierte: „Vom Subjekt zum Projekt“. Und Bazon Brock stellt fest, dass der kulturelle Schutzwall zwischen Hominisation und Humanisierung gebrochen ist: der Mensch, die Menschen müssen sich auf beschleunigte Selbstveränderung durch (von ihnen gemachte) evolvierende Technosysteme einstellen. D.h. auf Programm-‐Codes, Vernetzte Generierungsprozesse, Medienkörper. Ich betrachte im Folgenden einige Aspekte dessen, was ich den instabilen, interaktiven Medienkörper heutiger Menschengenerationen nenne. Dies erläutert den Terminus ´Format´ den ich soeben für Bildung und Wissen verwendet habe. Format, im Unterschied zu Form, ist eine Ansammlung von Verhaltens-‐ und Wahrnehmungs-‐Bedingungen, die Spielraum lassen für Anpassungen, Veränderungen, Entwürfe. Dieser Medienkörper entsteht in Umgebungen, in denen Menschen sich auf Dinge, Gegenstände, Gefühle, Zusammenarbeit, Gedanken anonym-‐anderer beziehen -‐ und auf ihre eigenen Gedanken, Reaktionen, Vorlieben und Kompetenzen. Aber dies reicht nicht, um die Situationen zu beschreiben. Medienkörper sind Akteure in rechnenden, sich mit jedem Click verändernden, Anwesenheitsräumen. Es lässt sich von einer Medien-‐Topologie sprechen, in der biografische Optionen und Erfahrungen ebenso möglich sind, wie thematisch-‐kognitive oder sozietäre, also Gruppen-‐, Foren-‐, Community-‐Zusammenhänge. Medienkörper und Medientopologie sind die (schwierig zu beobachtende) Empirie der Virtuellen Realitäten. Biografie (offline-‐online) und Medientopologie (online-‐offline) erzeugen wechselseitig Informationsströme und Selektionsverläufe, die das ´Werden´ von Wissen und Bildung in erheblichem Maße beeinflussen. Ihre Zeitweisen sind nicht auf Dauer gestellt. Sie sind diskontinuierlich (interaktiv-‐selektiv, informationsintensiv) und Projektgebunden. Mangel und Schwäche von Zusammenhangs-‐Imaginationen, wie ich oben ansprach, beeinflussen auch die Kategorien Wissen, Subjekt und Bildung: sie scheinen eher zu Projekt-‐Optionen zu werden, in denen Kontinuität in Beteiligungs-‐, Zusammenarbeits-‐, Zusammendenk-‐ und Kooperations-‐Bereitschaft besteht , als dass eine Sicherheitskopie ontologischer Gesamtsicht zu entstehen scheint.
1.5. Koevolutionärer Epochenwechsel Ich stelle also einen koevolutionären Epochenwechsel vom sozialen Selbst zum medialen Selbst in das Zentrum meiner Überlegungen. Die damit aufgegriffenen Spannungen verlaufen nicht zwischen industrieller und nach-‐industrieller Gesellschaft, wie D. Bell noch meinte, auch haben sie die Figur der
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Prosumer (Produzenten-‐Konsumer), die Jeremy Riffkin einst ansprach, verlassen. Aktuelle Koevolutionäre Dynamiken richten sich an Lebenszusammenhängen aus, die grundsätzlich jede Variante medial getragener Reproduktion mit jeder beliebigen, verstreuten Variante koppeln und wieder entkoppeln können. Dies hat nicht mit Beliebigkeit zu tun. Vielmehr bilden sich neue, nie da gewesene Repertoires an kurzzeitig gültigen und in alle Richtungen vererbbaren Denk-‐, Kommunikations-‐ und Verhaltensweisen aus. Bestehen sie die Tauglichkeitstests, sind sie für die Reproduktion von Netzwerken und Habitaten förderlich, werden sie fortlaufend angepasst. Bestehen sie nicht, wie an über 90 % der aktuell entwickelten Technischen und Sozialen Software darstellbar, verschwinden sie. Dies gilt auch für Bildungsideale, Denkformate, Vorräte an Bild-‐, Schriftsemantik.
2. Von Kultur-‐ zur Anthropotechnik 2.1. Mögliches Wissen, unwahrscheinliche Bildung
Der Umbau der Wissens-‐ und Bildungsstrukturen, von dem ich hier ausgehe, erfolgt allerdings nicht vorrangig durch stabile Ding-‐ und Sachkalküle oder durch absichtliches, zielgerichtetes, langfristiges Handeln dieser Mengen an Nutzerinnen und Nutzern. Auch ist es keine ungegenständliche, elektronisch-‐dingliche Welt vor den fassbaren Dingen, Sachen, Gegenständen, vor dem Handwerk und der zu ölenden Techniken oder außerhalb dieser (metaphysisch, transzendental, geistig). Im Gegensatz zu überlieferten Trennungen von materialem Gegenstand und (vermeintlich ´immateriellem´) Geist zeigt sich in Virtuellen Realitäten, kybernetischen Räumen, in Net of Data und Net of Things, die intime, konstitutionelle Abhängigkeit der Dinge vom Undinglichen (und vice versa). Mit jeder Nutzung digitaler Strukturen ist jeder Nutzer und jede Nutzerin kognitiver und interaktiver Teil dieser Programme. Immersion, -‐ jenes wahrnehmende Eintreten in einen physisch und semiotisch möglich gemachten Vorstellungsraum, das für ´im Roman versinken´, ´im Buch eintauchen´ ebenso gilt wie ´im Film gefangen zu sein´ oder ´in das Netz einzutauchen´ -‐, spricht diese subjektive Zuneigung deutlich an. Immersion ist zugleich ein Ereignisfeld, das verschiedene Sinne anzieht, das durch uneinheitliche Nutzungs-‐, Deutungs-‐ oder Beteiligungsoptionen bestimmt ist und das sehr unterschiedliche Aufgaben erfüllen kann. Wissen und Bildung sind als Termini nur hilfreich, wenn diese Möglichkeit des ´wahrnehmenden Dabeiseins´ zur Grundlage gemacht wird. Alle Ideen von beteiligen, kooperieren, zusammenarbeiten, sich unterschieden, Unterschied zu formulieren und zu programmieren, zugehörig sein u.v.a.m. sind ohne die Verbindung von unterscheidendem, entwerfendem, experimentierendem
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Handeln (also der Kopplung von Abstraktion und Virtualität [und diese heißt wissenschaftlich und nutzungsökonomisch immer noch: der Möglichkeit nach vorhanden]) und Immersion nicht darstellbar. Möglichkeit markiert: Wissen und Bildung sind als feste Zustände unwahrscheinlich. Wahrnehmung, Denken, Erkennen folgen den Subroutinen, Informationen über Informationen, über Daten, über Informationsströme zu sammeln. Anders gesagt: die Mediale Welt ist ein ´Geschäft in sich´. Oder weniger juristisch: sie ist längst eine selbstorganisierende Wahrnehmungswelt geworden: …Information erzeugt Information erzeugt Information erzeugt Information… Heuristik, formalisiertes Zuordnungs-‐ und Erklärungswissen, verdrängt Hermeneutik, die Entzifferung von Sinn und Bedeutung, die den Dingen und Prozessen ´eigen´ sein sollen. Betrieben wird dies durch Echtzeitmedien, die Foren, Blogs, Communities, virtuelle Nachbarschaften und Liebeserklärungen, Scheidungen per SMS, Politik per Twitter, e-‐Learning oder ähnliches erzeugen. Es sind pulsierende Kooperationsabläufe, fades Gerede, Hatepages, Lernumfelder und vieles mehr. Sie kennzeichnet: Interaktivität, unumkehrbare Informationsverwendung, Sharing und Beteiligungsformate. Dies alles setzt sich von dem Propaganda-‐Diktum ab: „Don´t talk back“. Die Medienstrukturen, um die es mir geht, sind nur als Wechselwirkungsmedien möglich. Technisch und zeitökonomisch sind es Echtzeitmedien, in denen ein neuer Reichtum sozialer Beziehungen entsteht. Mit einkanaligen Massenmedien, über die Nachrichten verbreitet wurden, hat dies nichts mehr zu tun. Thesen wie: es gäbe elektronische Massenmedien und sie besäßen eine interaktionsverhindernde Struktur, wie ich oft in Anschluss an J. Habermas lese, sollten wissenschaftlich und empirisch dringend überdacht werden. Das Fernsehen, dessen Welt-‐ und Testbild da noch in den Köpfen brummt, ist technologisch ein integriertes Sub-‐Programm geworden, -‐ was Biertrinken bei Tagesschau und „Wer wird Millionär“ nicht ausschließt. Aber Edutainement, Serious Games, E-‐Sports, E-‐Olympics, kollaborative Mediennutzung haben mit der dürftigen Feierlichkeit des TV-‐Testbildes nichts mehr gemein. Dies schließt auch das cartesianische Spiel von Naturdingen und Geistdingen, von Geist und Körper aus; das aristotelische Diktum von Technik, die dem Menschen fremd sei, verfehlt schon länger jegliches erklärende Ziel. Ich gehe also davon aus, dass Bildung und Wissen in interaktiv genutzten medientechnologischen Datenströmen und Informationskörpern entstehen und verändert werden. Es sind die Ströme des ausgewählten, gruppierten, in Projekten sortierten und des gespeicherten ´Vor-‐Wissens´ und der ´Vor-‐
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Bildung´, die erforscht werden müssen. André Leroi-‐Gourhan spricht von Operationsketten und Programmen. Für uns heißt dies:
bio-‐ und soziotechnische Programme des Medialen zu erforschen. Angesprochen sind damit Architekturen digitaler Räume, Choreographie globaler oder lokaler Kooperationen, Formate medientechnologischer Anwesenheit und deren Rückbezug zu Lebenszeiten, Künste des Entwerfens und Gestaltens.
Bildung und Wissen beschreiben, unter diesen Annahmen, kognitive und kollaborative Fähigkeiten. Sie sind so ausgerichtet, dass sich Menschen auf vor-‐ und fremdbestimmte Zustände einlassen können und deren Veränderungen mit betreiben. In dieser Allgemeinheit geht es nicht nur um einzugrenzende Kulturtechniken, sondern vorrangig um Anthropotechniken. Sie sind auf kein Ganzes, auf keinerlei Vollständigkeit oder Absolutheit bezogen.
2.2. Wissen ohne Vernunftvorsprung Was als Wissen in fünf bis zehn Jahren ökonomisch, fachlich, institutionell oder ästhetisch anerkannt sein wird, kann niemand voraussagen. Bildung, die sich zeitentspannt, zeitbefreit gab und gibt, ist längst in den Sog unsteter Zeit-‐, Aufmerksamkeits-‐ und Netzökonomien geraten. Dynamische, instabile Kollaborationsprojekte bestimmen Art und Grenzen des Wissens, seine zeitlich, dinglich und informationell begrenzten Richtungen, seine projektabhängigen Richtungsentscheidungen, -‐ seiner Vektoren. Wissen ohne Vernunftvorsprung, -‐ endlich. Kaum bestritten ist: digitale Vernetzungen erzeugen Handlungszonen ohne Vorläufer. Über Internet of Data, Internet of Things, Social Media und Net Next Generation ist informationsintensive und sensitive Welt beschreibbar. Dabei handelt es sich nicht um „Land without body“, -‐ gegen die „States of old flash and blood“, wie J. P. Barlow in der Unabhängigkeitserklärung für Cyberspace schrieb. Internet of things bildet ein zunehmend schwer beobachtbares Gefüge von Online-‐Offline-‐Kopplungen und Habitaten. Wahrnehmung, Wissen, Bildung hängen an der langen Leine globaler Echtzeit. An den pragmatischen Variationen. Es sind kleine, kurzzeitige Verzweigungen, daten-‐ und informationsintensiv und sensitiv. Zugleich sind diese Projekt-‐Vektoren millionenfach vernetzt. Absichten, im Sinne einer Metaregel, sind nicht erkennbar. Ein Vernunftvorsprung, der mit modernem Wissen und randmoderner Bildung verbunden wurde, ist nirgends erkennbar.
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Projektlogiken ordnen die Welt des Wissens und der Bildung neu. Dabei haben die Ereignisse längst die Phase des aufgeregten Multitaskings verlassen. Fast könnte man sagen, dass die Fähigkeit, zeitnah mit unterschiedlichsten medialen Informationsangeboten umgehen zu können, zu einer weltweiten medialen Intelligenzbasis geworden ist. (S. Johnson). Multitasking ist normalisiert. Umrisse einer neuen Phase sind erkennbar: der kooperativen Hierarchisierung, P2P, Beitragen, Partizipieren, Sharing. Die erreichten Vernetzungs-‐ und Kollaborationsniveaus lassen sich nicht auf verstandesregulierte Absichten reduzieren. Dies grenzt Aufklärungsphilosophie oder damit verwandte Pädagogik radikal ein. Die an Schriftvernunft, an hegelianische Wege zum absoluten Geist und Wissen oder an Piaget-‐Kohlbergscher Stufenlehre moralischer Entwicklung gewohnten Denkweisen genügen nicht mehr. Die Kultur-‐, Schichten-‐ und Generationsverträge, die zum Bildungsdenken geführt hatten, sind vergessen. Sie besitzen keine Pragmatik mehr. An ihre Stelle sind Bemühungen um Zusammenhänge von evolutionärem Egoismus und Altruismus, erdweit vernetzter Kollaboration und Kooperation getreten. Dies erfordert, über Wissen, Speichern, Aktivieren, Interaktion, Vertrauen, Verlässlichkeit, Abstraktion, Entwurf, Verantwortung und über Kontinuität völlig anders zu reden als vor 10, 20, 30 Jahren. Und vor allem schließt dies die Fragen danach ein, auf welche Zusammenhänge und Zusammenhangsmaße sich der Konferenztitel bezieht. Gesellschaft wird es nicht mehr sein können. Wir erleben und praktizieren gerade deren Souveränitätsverfall. Man spricht im Umfeld des Social Media Hype von Überlast durch soziale Netzwerke, von Content Overdose, von Überdosis an Zusammenhängen. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass irgendwann eine Überdosis von Sozialem als Kritik an digitalen Zustandsänderungen erfunden wird. Überdosis? War denn das Soziale der Heilige Gral der Moderne, der jetzt angerufen wird, um zu retten, was noch zu retten ist? Und was soll das sein – sieht man mal kurz von dem wissenschaftlichen Unsinns des Rettens ab? Aus den digitalen Communities kommen Vorschläge, die sich nur auf diese beziehen, -‐ was ja schlüssig ist. Der Content Overdose wird ein wenig technologische Assistenz nachgeschoben: ping.fm, um Nachrichten gleichzeitig zu aktualisieren, TweetDeck, um Nachfolger dieser Nachrichten zu selektieren, RSS, um Blogs, Websites, Updates strukturiert zu lesen. Es bleibt allerdings die Befürchtung, am Sozialen der Netzwerke zu scheitern, im Sozialen zu scheitern, so als verriete Social Software das Soziale. Wir haben in den Jahrzehnten der digitalen Überwältigung nicht gelernt, von Schaltern, Ports, Festplatten, Soft-‐Hard-‐Wetware, Informationsströmen, Daten den Abstand zu nehmen, der erlaubt, von der Informationsästhetik zum
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intelligenten Konsum zu wechseln, eine Verfassung informationell organisierten Lebens zu denken. Wir redeten und reden von Interaktivität, Immersion, Partizipation, deliberative oder direkte Demokratie, von Kreativität, -‐ allerdings mangelt es grundlegend an Debatten um ökonomische, normative, juridische, ethische, konkurrenzielle Verfassung informationeller Zusammenhänge.
3. Bildung – woher? Bildungskonzepte des 19. und 20.Jhs. hatten sich das Tabu auferlegt, nicht als Übergangskonzepte gelebt zu werden, sondern als Aufklärungsanrufe. Bürgerlich für immer. Ein kollektiv-‐kultureller Selbstauftrag galt: Von Unmündigkeit zur Mündigkeit -‐ und nie mehr zurück. Bildet Euch und schützt das Erreichte, schützt es durch Bibliotheken und Institutionen und durch eine Idealisierung des Subjekts als Bildungsziel! Manches liest sich so, als seien beide Souveräne, die kulturelle Allgemeinheit und das souveräne Subjekt, von Beginn an konzeptionell beschädigt. War es Misstrauen, etwa selbstverschuldet, Selbstmisstrauen? Die beiden Souveräne werden durch Normen begrenzt, die außerhalb liegen. Sie sind normative Zielzustände, und darin zumindest antievolutionär. Nie wurde das Ziel offen gelassen: eine buchstäbliche Bildung, abgeschlossen mit dem letzten Kapitel, mit der letzten Erkenntnis. Ob Humboldt diese merkwürdige Souveränitätskonkurrenz bewusst war, weiß ich nicht. Er setzte auf die Entwicklung jedes einzelnen Menschen, was bis heute sympathisch wirkt. Nur, dass diese Sympathie nicht darüber hinweg weisen kann, dass
-‐ kognitive Potenziale des Menschen bei Geburt unspezifisch sind -‐ und erst in der interaktiven Auswahl mit jeder dinglichen und
undinglichen Weltvariante eine besondere Markierung erhalten, -‐ über iterative Ereignisfolgen Muster bilden, -‐ darin emotional, sozial, semiotisch, semantisch auswählend gruppiert
werden -‐ und Modelle erzeugen, in deren Rahmungen sie sich bewegen können /
wollen / müssen. So gesehen ließe sich Bildung allerhöchstens als multisensorisches, variationsreiches Werden ansprechen, als bio-‐soziale Konstruktion (Edgar Morin).
3.1. Von abgeschlossener Bedeutung zur Kooperation
Zum ersten Mal in den Menschheitsentwicklungen wird Menschen klar, dass soziale Gruppenprozesse nicht nur medial gekoppelt sind, sondern auch
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innerhalb medialer Strukturen (sprich Zeiten, Räume, Nischen, Séparées, Labore, Plätzen, Privaten Zonen, öffentlichen Bereichen usw.) stattfinden. Durch die Ausweitung der Einzugsbereiche rückkanaliger, vernetzter, echtzeitiger Online-‐Medien werden die Differenzen zwischen medialen Infrastrukturen und sozialen Zuständen porös. Es waren gerade diese Abstände zwischen Schrift und Lesen, Bücherstube und Handwerkshütte, Bibliothek und Fabrik, die zu Bildungskonzepten als Verwaltungskonzepten führten. Diese administrierten Zwischenzonen wurden bürgerlich zu Schutzbereichen einer nicht eindeutig zuzuordnenden Individualität oder Subjektivität. So gesehen täuschte Bildungsdenken vor, Teil der Gesellschaft zu sein. Es war außergesellschaftlich, versprach, sich zu engagieren, sich einzubringen. (Engagement war eine Figur des Individualismus.) Umgekehrt gesagt entstand der Spielraum für freigestellte Bildung aus der Differenz von einkanaligem Textkorpus und Gesellschaft. In dieses weite leere Feld hinein wurden Kindergärten, Schulen, Universitäten, Bibliotheken gebaut. Die Leere wurde institutionalisiert. Die Veränderungen, die es zu verstehen gilt, betreffen heute das Zusammenschnurren der Abstände zwischen den Infrastrukturen digitaler Medien und sozialen Systemen. Und sie betreffen die Erfahrungen, dass institutionalisierte Bildungskonzepte in diesen direkten Kopplungen kaum mehr Platz finden. Merkmal der direkten Kopplungen ist, dass sie wissensökonomisch und informationell keine national-‐kulturellen Nester bilden, sondern weltweite Online-‐Offline-‐Habitate bilden. Einfach gesagt, ergeben sich hieraus Konflikte zwischen den Gruppen,
-‐ die in digitalen Spiel-‐ und Wissensformaten eine Bedrohung überlieferter Bedeutungsarchitektur sahen
und jenen, -‐ denen es um taugliche Konzepte der Wahrnehmungsvermittlung und
Beiträgen zu Netzwerken wissensfähiger Information geht. Schaut man näher auf diese Konflikte – und ist zu dem auch noch daran beteiligt -‐, ist ein Hintergrundsthema zu erkennen: etwas zugespitzt kann man sagen, dass es ein massiver Konflikt -‐ zwischen dem Willen zur Bedeutungsmacht -‐ und der Befähigung zur Kooperation geht.
3.1.1. Kooperation – ein globales Muss
Nicht in ´Bedeutung´ sind die Machtverwerfungen der Netzwerk-‐Gegenwarten zu sehen, sondern in dem Verlust jeder Kontrollmöglichkeit in binär-‐digitalen Zuständen.
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Unbestritten ist: um Vorratsdatenspeicherung demokratietheoretisch und individualrechtlich muss gestritten werden, um akzeptable rechtliche Anpassungen zu erreichen. Wie aber streitet man um Macht, die aus der Kontrolllosigkeit resultiert, die in der Prozesslogik von Betriebs-‐ und digitalen Betreibersystemen begründet ist? Die Anforderungen entstehen nicht aus irgendwie begründeten Bedeutungsanrufungen. Sie bestehen in der Art und Weise, wie Menschen innerhalb der von ihnen ´in Gang gesetzten´ Medientechnologien strukturelle, sozietäre Formate entwickeln. Die angesprochene `Befähigung zur Kooperation´ beruht also auf einem Zwang, nämlich dem Zwang, der aus der Kontrolllosigkeit entstanden ist. Dies ist für Pädagogik sicher einer der schwierigsten Ausgangspunkte. Es geht um Kooperation als Selbstorganisation und Selbstregulierung. In ihrem Zentrum liegt die (reproduktions-‐) taugliche Formatierung der Wissensprojekte, ihrer Netzwerke, ihrer bio-‐technischen und sozio-‐ökonomischen Reichweiten. Kooperation bereitet Entwicklungsänderungen vor. ´Vorbereitung´ meint, Modelle zu fördern, die informations-‐ und komplexitätssensible Wahrnehmung ermöglichen sowie Denkweisen zu fördern, die selbst als offene Kooperationen strukturiert sind. Es gibt nichts Unveränderliches, weder in Bedeutung noch Funktion. Digitale Netz-‐Medien sind Zustände global verstreuter, instabiler, widerrufbarer Kooperationen. Durch sie werden neue Formate des Sozialen erzeugt, -‐ nicht mehr als vorherrschende One-‐Way-‐Medien, sondern als Online-‐Offline-‐Habitate (M. Faßler 2011/2012). Und dies gilt inzwischen für knapp 3 Milliarden Menschen, die täglich in medialen Meta-‐Strukturen leben.
3.1.2. Mediale Selbstorganisation – Zukunft der Kollaboration In diesen Verbindungen von
-‐ Macht durch Absenz von Kontrolle, -‐ erzwungener, reproduktionsbezogener Kooperation, -‐ datenintensiven medialen Meta-‐Strukturen, in denen sich ständig neue
Formate kurzzeitiger (sozietärer) Zusammenhänge bilden, -‐ und -‐ erdweit verstreuten Offline-‐Online-‐Habitaten
rücken die neurophysiologischen Fähigkeiten des Menschen, von Dingen, Zuständen, Personen zu abstrahieren, Prozessmuster anzueignen und Prozessmodelle zu aktivieren in die Forschungsblicke. Eine Forschungs-‐ und Theorielücke zeigt sich: wir wissen sehr wenig über die entstandenen Hirn-‐Fähigkeiten der Abstraktion und darüber, wie Menschen mit Zeichen, Zahlen und Ziffern mehrere explodierende Kunstwelten erzeugten (wie z.B. die
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semiotische Explosion vor 10.000 Jahren, die semantische Explosion vor 4 – 3.000 Jahren, die gesellschaftliche vor 500 Jahren, die maschinen-‐technisch und industrielle vor 200 Jahren, die digitale vor 70 Jahren) und in diesen lebten. Ich fasste die physiologischen Bedingungen unter dem Titel „Der Infogene Mensch“ (2008) zusammen und die Phylogenese medialer Strukturen unter dem Terminus der „medialen Selbstbefähigung“ (2001; 2005). Über Jahrtausende musste der Bereich der medialen Selbstbefähigung offiziell die Rolle neben dem religiösen, militärischen oder sozialen Selbst spielen. Die Evolution von Abstraktions-‐ und Sprachfähigkeit wurde stumm gemacht in der Figur der Mosaischen Sprachweitergabe und in der ´Verteufelung´ des schöpferischen Unterschieds (´diabolisch´). Obwohl der Homo sapiens erst zum Homo sapiens sapiens wurde, indem er Zeichen, Zeichengruppen, Zeichensysteme erfand und entwickelte, waren diese faszinierenden Fähigkeiten medialer Selbstbefähigung und Selbstorganisation nicht zum (klerikal-‐religiösen und zivil-‐religiösen) Bedeutungs-‐Bankett eingeladen. Jungsteinzeitliche Sesshaftigkeit, Eroberungskriege, Entstehung von Nation nach dem Ende der Kreuzritter-‐Kriege und dem Römischen Reich unterbanden diese Selbstbeobachtung. Klassisch könnte man sagen: die mediale Selbstbefähigung war vom Primat der Nation-‐Politik, der Nation-‐Gesellschaft und der Kultur-‐Nation (später dann der Klassen-‐Gesellschaft) verschüttet worden. Ruppig und ohne Zögern ändert sich dies. Digitale Medienentwicklungen zwingen uns, das menschliche Betriebssystem für abstrakt begründete Kooperation und Kultur endlich zu erforschen: das mediale Selbst. Wie kommen die Echtzeit-‐ und Aufmerksamkeitsregime digitaler Daten-‐ und Informationsströme mit analogen (gedehnten) Lebens-‐, Unterhaltungs-‐, Arbeitszeiten zusammen?
4. Mediales Selbst Durch digitale Medienwelten sind (mindestens) zwei Souveränitätskrisen ausgelöst: die des Subjektes und die der Institution. Vertreter der Souveränitätsattituden wirken wie Heimatvertriebene, -‐ desorientiert in einer Welt von derzeit knapp 3 Milliarden Netznutzern, die sich Ende des Jahrzehnts auf 4 Milliarden summieren werden -‐, hilflos in Netzwerken von 20 oder 200 Milliarden vernetzten Geräten (und mit dem Standard IP v6 wird dies noch verwirrender), ratlos in Konkurrenz zu global Informational Commons. Und diese Global Commons berufen sich nicht mehr auf die Heldenfigur europäischer Subjektivität. Sie setzen auf respektvolle Kooperation, entwicklungs-‐ und veränderungsfreudige Ideen, auf Kommunikation als
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Konsum und nicht als Ordnungsauftrag. Und seit Kurzen zeigen sich Umrisse des
„emergence of global brain, which consists of all the humans connected to each other and to the machine and interacting in a very unique and profound way, creating an intelligence that does not belong to any single human being or computer“. (Yuri Milner, ukrainischer Venture-‐Capitalist, Newsweek, 10.Oct.2011)
Information und Intelligenz, die niemandem gehören? Intelligenz, Erkennen und Wissen, die nur durch Interaktion in Zeichengebenden, technologischen Zusammenhangsofferten entstehen, also zum erheblichen Teil als Verfahrensergebnisse und zum anderen ebenso erheblichen Teil als Zuordnungs-‐ und Deutungsergebnisse? Wie lässt sich Bildung formulieren unter der Annahme selbst hervorgebrachter Intelligenz (also nicht selbstverschuldeter Unmündigkeit), unter den Bedingungen globaler Vernetzung, informationeller Mündigkeit? Realitäten, die durch Medien möglich werden, liegen nicht außerhalb dieser Operations-‐ und Kooperationsgefüge. Medien sind diese Gefüge. Eigenschaften wie kooperierendes Verhalten, Fehlersuche, debugging-‐Prozesse, Ausquatschen, anonymes aber interpersonales Vertrauen entstehen in diesen Mensch-‐Medien-‐Kopplungen. Die medien-‐technologischen Prozesse, die seit einigen Jahrzehnten die Welt unseres Lebens verändern, bekräftigen von mir vertretene anthropologische These sich evolutionär erweiternder medialer Selbstbefähigung des Menschen. Ohne diese gäbe es weder Ökonomie, Institutionen, Wissenschaften, Kirchen, Rechtssysteme, Poesie.
4.1. Ein Produkt des medialen Selbst: variierende und evolvierende Zusammenhänge
Über lange Zeit fügten sich Medien und Ordnungsinstanzen zusammen. Ihnen wurden Gedächtnis-‐, Vererbungs-‐, Erziehungs-‐, Bildungs-‐ und Wissenskonventionen und Formate zugewiesen. Gegenwärtig erleben wir das Ausschwärmen des Medialen und die Absorption zunehmend mehr sozialer Praxis in Medienstrukturen. So entsteht unter den Bedingungen sich erweiternder medialer Selbstbefähigung des Menschen ein neues Subjektformat. Ich nenne es das „mediale Selbst“, das eine Querschnittspersönlichkeit bildet: funktional in Ökonomie, Nachbarschaft, Forschung, Schule, bei E-‐Tickets, E-‐Books, E-‐Dating, E-‐Democracy.
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So organisiert sich das mediale Selbst des Menschen neu, und mit diesem medialen Selbst entstehen auch neue Organisationsweisen für Gedankenaustausch, Gedankenübernahme, für informationelle Reichweiten, Lernen, Vermitteln. (vrgl. „unternehmerisches Selbst“ Ulrich Bröckling). Medienkritik wird sich als Ökonomie-‐, Lern-‐, Bildungs-‐, Design-‐, Programmierkritik herausbilden müssen, ohne je den Kontext erreichter Mediensozialität verlassen zu können. Ein Außen gibt es nicht. Eine bessere Bildung liegt nicht in einer besseren Rezeption von bildungstypischen Klassikern, -‐ was immer dabei ´besser´ sein kann. Bildung verwende ich als integrierendes Format von geführtem, experimentellem und kontrolliertem Lernen, Einübung in alle Wahrnehmungs-‐ und Denkmöglichkeiten der Zeit und Umgang mit allen medientechnologischen Zusammenhängen. Dass ich dies nicht aus pädagogischer Sicht tue, sei mir zugestanden. Dabei gehe ich von einem zunehmend dichteren Netz von Lebenszeit und Echtzeit aus. In ihm kommen auf den einzelnen Menschen vielmehr Lern-‐ und Entscheidungslasten zu, als in den Zeiten institutioneller Kontrollgesellschaften. Die Grundthese lautet also:
die Menschheit werkelt mit verschiedensten Interaktions-‐ und Organisationskonzepten an einem „neuen Menschentyp“. Mit diesem Ausdruck versuchte Serge Moscovici Epochewechsel von Sammlern, zu Sesshaften, Landwirtschaftern, Städtern, Handwerkern zu fassen. Ein neuer Typ von Selbst entsteht, eine neue (Ver-‐)Fassung des einzelnen Menschen: ein mediales Selbst, das den begrenzenden Kommunikationsbedarf früherer Sozialordnungen durch Kooperations-‐ und Kollaborationsbedarf ersetzen muss.
´Selbst´ ist immer zusammengesetzt. Bei G.H. Mead war es zusammengesetzt aus den Vorstellungen, die ein Mensch davon hat, wie andere ihn sehen. Beschrieben wurde ein funktionales Mischbild, das es dem Menschen ermöglichte, sich in verschiedene soziale Situationen zu begeben, und nicht über ´Me´, die Einzelvorstellung, oder ´I´, dem spontanen, kreativen, triebhaften Ich zu stolpern. Derzeit ändern sich die Selbst-‐Anteile, -‐ die Selbst-‐Beiträge. Die Entwicklungen medialer Selbstorganisation erfordern ein mediales Selbst, das in der Lage ist, sich auf Anonymität der Projekte so einzulassen, dass daraus Habitate-‐Intelligenz (Kooperation mit Verkörperungen des medialen Selbst weltweit) entstehen kann.
4.2. Verhaltenspflichten und Denkspäße
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Das „mediale Selbst“ birgt nur wenig Rollen-‐ oder Funktionssicherheit. Umso größer wird der Druck, die Verhaltenspflichten des Selbst über Medienbiografien zu bestimmen (über Operations-‐ und Kooperationsverläufe innerhalb der medial strukturierten Räume zu bestimmen). Dies betrifft derzeit ca. 3 Milliarden Menschen in globalen Mediennetzwerken. Symmetrien zwischen Lebenszeit und Echtzeit sind da ebenso wenig erkennbar, wie dauerhafte, reproduktionssichernde symbolische Zusammenhänge. Das mediale Selbst ist nervös, aufmerksam, anpassungsbereit und anpassungsfähig, flexibilisiert, -‐ also asymmetrisch. Ich betrachte Subjekt demnach durch die Linse des medialen Selbst. Dies ermöglicht eine Arbeitsthese:
Weder Bildung noch Subjekt sind als Interventions-‐ oder Widerspruchsgrößen außerhalb der medialen Kontexte darstellbar.
Sie werden in denselben Zuständen hervorgebracht wie Algorithmen, Programme, Kommunikationsregeln, Vertrauenszusagen, Abstraktionen, Spiele, Lernsoftware, Exel, Power Point. Bildung und Subjekt sind mit diesen koemergent, sie beflügeln, befördern sich als Formate strukturierender Intelligenz wechselseitig. Mit der These der Koemergenz (oder auch Koevolution) versuche ich zu vermeiden, jede Veränderung als Lernen oder als Herrschaft miss zu verstehen. Neugier, Versuch, Test, schlampige Bauweise oder annähernd fehlerlose Programmierungen, Durchwursteln, zufällige und unbeabsichtigte Variation lassen eine solche unsinnige Idealisierung nicht zu. Und ökonomische Tauglichkeit spricht andere Realitätsnormen an, als symbolische Tauglichkeit. Gleichwohl sind Koemergenz und Koevolution auf Lernen bezogen, das kognitionswissenschaftlich als Gedächtnisbildung verstanden wird. So schließt dies sowohl iterative Prozesse ein, in denen durch Wiederholungen Muster, Routinen, unbedachte Selbstverständlichkeiten entstehen, als auch reflexive Prozesse, in denen Modelle erfunden und ´hin und her überlegt´ werden, bis man damit etwas absichtlich anstellen kann und will.
4.3. Mediales Selbst – neugieriges Selbst
Bildungs-‐Diskurse stehen in schwierigen Situationen: Bildungskonzepte des 19. und 20.Jhs. hatten sich das Tabu auferlegt, nicht als Übergangskonzepte gelebt zu werden, sondern als Aufklärungsanrufe. Heute ist kein Echo mehr zu hören. Und: Die sich leitkulturell verstehenden Mittelschichten ahnen nicht mal, welches Wissen von Ihnen und ihren Kindern in 10 Jahren verlangt werden wird.
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So scheint es nahe zu liegen, auf rückblickende Bildungsideen zu setzen, die keinen Bezug zu Experimenten, zu Innovation, zu selektiver Interaktion und Vernetzung haben. Traditionelle Bildungsideen die, auf Neugier verzichten, konkurrieren mit modernen Konzepten, die die Neugier befördern. Da beide allerdings darin gründen, dass Kultur die optimale Leistung der gegebenen Gesellschaft sei, verfehlen sie das zu verantwortende Ziel, Menschen in ihrer Anpassungsfähigkeit zu unterstützen. Beide kommen nicht nah genug an den Dauerstress aus Flexibilisierung, Arbeits-‐ und Wissensmigrationen, Informationsströmen und Innovation heran. Nichts Ketzerisches ist erkennbar. Es war gerade dieser häretische Kampf, wie Hans Blumenberg den Modernisierungsprozess der Wissenschaften nennt, der das moderne Bildungsverständnis bei Kant und Humboldt festigte und der Etliches im 19. Jahrhundert in Bewegung setzte. Es ist hilfreich daran zu erinnern, dass bis in das 18. Jahrhundert in katholischen Lebenswelten Neugierde eine Todsünde war. Begleitet wurde dies von christlichem Sinnlichkeitsverbot, und im 19. Jahrhundert erweitert durch die bürgerliche Denunzierung der Schaulust und des Spiels sowie der Tabuisierung des Privaten als intim. [Eine Randbemerkung ist hier hilfreich: lange bevor sich die Umrisse eines medialen Selbst abzeichneten, kippte Intimität des Privaten in Tyrannei um, in die Neurotisierung von Öffentlichkeit (R. Sennett: Tyrannei der Intimität)] Nun mag man zu Recht einwerfen, dass G. W. Leibniz (1646-‐1716) oder Christian Wolff (1679-‐1754) auf ars inveniendi setzten, auf die Kunst der Entdeckung (und/oder Erfindung). Leibniz war bestrebt, die Vollständigkeit des Wissens, also restloses Auffinden von Wahrheit zu erreichen. Neben der auf Cicero zurückgehenden ars inveniendi setzte er auch auf ars combinatoria, übrigens eine Denkfigur, die sich in der These von N. Luhmann wiederfindet, Innovation sei nur die Rekombination von bereits Bekanntem. In der Biologie sind es die rekombinanten Praxen. Manches, das heute als Medienkritik beobachtbar ist, wirkt wie ein selektiver Rückgriff, nicht auf die Todsünde, aber auf die starre Festlegung, was Bildung zu sein hat. Kritik daran verfasste Klaus Norbert unter dem Titel: „Idioten Made in Germany“, wobei Idiot altgriechisch den Unfreien, Sklaven, Arbeiter, Handwerker meint. [Es ließe sich auch an Jean Paul Sartres Portraits von Gustave Flaubert denken, das unter dem Titel „Idiot der Familie“ steht.] Neugier veränderte die Einstellung zur Sache und zu Sachen, führte diese überhaupt erst in Bildungsdenken ein. Sie stellte Wahrnehmung frei gegenüber den Verhältnissen und Verhältnismaßen. Vorteil für das 19. und 20. Jahrhundert bestand in der Menge der sichtbaren, praktischen, technisch fassbaren Sachen, in Eisenbahn-‐ und Straßennetzen, Abwasser-‐ und Transportkanälen, Versorgungsstraßen und Flaniermeilen. Diese dinglichen
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Sachbezüge verkörperten Gesellschaft, bis zur bedrohlichen Realität der „faits sociaux“, die Emil Durkheim als Quelle von Selbstmordwellen Ende des 19. Jahrhunderts aufdeckte. Obwohl ich diese Verbindung von Bildung und Neugierde für wichtig ansehe, werden wir mit ihr nicht viel weiter kommen. Warum nicht? Nun, die Realitäten, in denen Menschen lernen, Zusammenhänge wahr-‐, ernst-‐, für-‐sich-‐zu-‐nehmen, sich auf andere zu beziehen, sind weitgehend undingliche Sachverhältnisse geworden. Ihre Infrastruktur besteht in medialen Querschnitts-‐ und Universaltechnologien. Neugierde wird überlagert von Forderungen und Fähigkeiten, koordinierende und kooperierende Veränderung denken zu können. Wir nennen dies etwas ungenau: Entwurfs-‐, Anpassungs-‐, und Innovationsfähigkeit und meinen entwerfende Anpassung.
5. Mediamorphe Zustände, weltweit
Die Fähigkeiten, Denken in den Informationsflüssen komplexer Zustände zu entwickeln, sind vorherrschend mediamorph und mediapoietisch. Mediapoietisch spricht die Selbstorganisation der Informationsströme durch ihre Nutzung an. Mediamorph weist auf die organischen und anorganischen Körper des Medialen. Ich werde hierauf noch näher eingehen. Diese dauerhaft bedingten Fähigkeiten lösen den Menschen aus den Zwängen symbolischer Denkweise. Vermutlich ist diese die schmerzhafteste Erfahrung für manche Bildungsdenker. Aus den symbolischen Zuordnungsidealen speisen sich viele Empörungsklischees zur Rettung „der Bildung“. Sprach ich vorhin davon, dass Heuristiken die Hermeneutik verdrängt, so schreibt der Anthropologe Michael M.J. Fischer in „Forms of Life and the Anthropological Voice“ (2006): “Das Leben läuft den Heuristiken, in denen wir ausgebildet wurden, davon.“
Er spricht damit instabile, sich ständig verändernde Formen an, -‐ und stellt damit die Sicherheiten des Formkonzeptes in Frage. Mit Formen versuchen Menschen, ein wenig Ordnung in prinzipiell asymmetrische Prozesse zu bringen. Wissenschaftlich reicht dies von Platon, über Herbert Spencers „Laws of Form“ bis zur beharrlichen systemtheoretischen Rettung der Form Gesellschaft. Norbert Elias hatte statt Form von Figuration gesprochen, verlagerte Mensch-‐Umwelt-‐Beziehungen in die Verkörperung. Er beschrieb damit Verhaltensskripte, die den höfischen und sozialen Körper inszenierten. Beide Konzepte, Figuration und instabile Form, weisen darauf hin, dass Verhalten und Denken im weiten Sinne soziomorph sind. Sie sind in ihrem Aufbau abhängig
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von überraschenden Wider-‐ und Einsprüchen, Änderungsanforderungen oder wechselnden Unterscheidungsökonomien. ´Aufbau von Verhalten und Denken´ kann so verstanden werden, als näherte ich mich einer strukturalen Bildungstheorie, wie sie von Winfried Marotzky und Benjamin Jörissen 2009 vorgeschlagen wurde. Nähen mag es da geben. Wichtiger sind mir an dieser Stelle die Unterschiede zu ihrem Konzept der „Medienbildung“. Sie binden ihre Grundlagen strukturaler Medienbildung an Ideen, die Immanuel Kant entlehnt sind: an Wissen, Handlung, Transzendenz und Biographie. Dies wirkt schlüssig, hat aber einen Mangel: die Regeln medialer Entstehung werden nicht geklärt, nicht angesprochen. Sie bestehen in der medialen Selbstorganisation menschlichen Handelns seit der Durchsetzung formalisierter Notationssysteme. Seit ca. 6000 Jahren werden menschliche Lebenszusammenhänge zunehmend und immer umfangreicher mediamorph. ´Morph´ kennen Linguisten als kleinster bedeutungstragender Wortanteil; und ´Morphing´ kennen wir als computergenerierten Effekt bei der Veränderung von Ton-‐ oder Bildaufzeichnungen. Mit dem Terminus Mediamorph spreche ich an, dass kleinste, plausible Schrift-‐, Bild-‐, Rechen-‐, Bewegungs-‐, Farb-‐, Bedeutungs-‐, Zustands-‐Kombinationen zusammengefügt werden, um etwas erkennen und verstehen zu können. Unsere heutigen Denk-‐ und Lebensweisen sind ohne die Karriere medialer Realabstraktionen in keiner Weise möglich, in keiner Weise zu verstehen oder zu kritisieren. Roger Fidler hat vor Jahren mit seinem Buch zur Evolution von Medien die wissenschaftliche Position skizziert, die ich hier bedenke: Mediamorphosis. Dies zu erforschen, gerade in Bezug auf Subjekt und Bildung, schließt ein, die infrastrukturellen, sinnlich-‐kognitiven und interaktiven Reichweiten von Medien zu behandeln. Dies wird bei Marotzky / Jörissen nicht aufgenommen. Ganz aus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit ist die Mediamorphis nicht. Sie taucht nur negativ auf als Datenflut, Informations-‐ und Bilderflut, als mediale Manipulation, als Social Overdose oder Social Overload durch die Menge von Sozialen Netzwerken und der rasant wachsenden Nutzerzahlen. Eine Entwicklungslehre des Medialen liegt noch nicht vor. Kurz gefasst: Das Leben, das den Heuristiken davon läuft, ist mediamorph. D.h. umgekehrt: egal, wie schnell es läuft, benötigen wir Modelle, mit deren Hilfe wir uns zumindest am Ende eines Tages über die Bedingungen des nächsten Tages verständigen können. Dass dies bei globalen Online-‐Bedingungen auch schon wieder schwer fällt, sei angemerkt. Leben ´läuft davon´, weil jede Aktivität selektive Inter-‐Aktivität ist, auch ohne
digitale Prozessketten.
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Und Interaktivität ist immer auswählend, reduzierend, vergesslich, erfinderisch, anarchisch in der Rekombination von Bekanntem, schöpferisch in der Lösung von Problemen, -‐ in jeder globalen Sekunde, in jeder globalen Minute, an jedem verstreuten Ort. Dieser Hinweis auf die selektiven Abläufe von Interaktivität ist medienwissenschaftlich gerade deshalb entscheidend, weil wir heute nicht mehr einer Dominanz einkanaliger Printmedien unterliegen. Rückkanaligkeit, Internet-‐Transferprotokolle, embedded mind und embedded machine, Online-‐Räume für Design, Labors, netzgestützte weltweite Fernsteuerung von Laborprozessen, Open Source oder Peer to Peer –Netzwerke, User Generated Content, die Fusion von Produzent und Nutzer zeigen an: Mediamorphose ist Soziomorphose. Menschen lernen durch Zeichen, Speicher, deren Aktivierungs-‐, Lese-‐, Nutzungsprogramme in bestimmten Weisen zu denken. Sie unterscheiden, erfinden, entwerfen, verwerfen nach den Regeln der Archive, ihrer evolutionären Tauglichkeit, ihrer Machtbindungen, der Widerstände dagegen. Befehls-‐, Wissens-‐, Rechts-‐ und Glaubensordnungen sind Formate dieser Mediamorphose.
5.1. Mediamorph leben Das 21. Jahrhundert wird dauerhaft von den Problemen bestimmt sein, die die Unabhängigkeitserklärungen vernetzter Online-‐Offline-‐Habitate erzeugen. Ihre Akteure sind die Mitglieder einer sich rasch ausweitenden Global Middle Class. Mancher mag sich noch an J.P. Barlows „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von vor knapp 20 Jahren erinnern oder diese kennen. Damals ging es um Cyber Culture, Electronic Frontier, Cyber Pioneers. Heute geht es um globale Denk-‐ und Wissens-‐Programme und deren differenzierte Kreativitäts-‐ und Wertschöpfungsketten. So wie das Konzept Gesellschaft im 19. Jh. von Staatsformen des 18. Jh. unabhängig erklärt wurde, trennen sich vernetzte Habitate von Gesellschaft. Menschen nahmen mit Siedlungen, Häfen, Kanälen, Transport-‐ und Produktionstechniken massiven geomorphen Einfluss auf Welt. Sie bauten ihre Welt, erfanden eigene künstliche Regeln und entdeckten Naturgesetze. Medien schienen das zu tun, was ihr Namen versprach: zu vermitteln. Das Regelwerk war stur, brutal, strikt, inquisitorisch, veränderungsfeindlich. Allmählich wird aber deutlich, dass jede entwickelnde Erfindung des anthropologisch modernen Menschen mit seinen Fähigkeiten einher geht, Gedanken und Gegenstand in Medienkörper zu verwandeln, -‐ seien es Beschreibungen, Patente, Gebrauchsanweisungen, Bücher, Flugblätter. Es sind die Eigenlogiken dieser evolutionären Mediamorphosis, die früher durch ´drucktechnisch verbreitetes Schriftgut´ zur Stärkung moderner Gesellschaftslegitimität beitrugen, deren
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digitale Betriebssysteme jetzt aber das Gegenteil bewirken: sie führen zur Schwächung, zum Rückbau der Gesellschaftsmoderne. Druck geht von den digitalen Infrastrukturen mediamorpher Wissenschaft, Technologie, Ökonomie, Wahrnehmung und Kooperation aus.
5.1.1. Netzwerke ohne Nachwelt?
Eine völlig neue Mischung von Zeitweisen entsteht dadurch, dass die digitalen Netzwerke keine Nachwelt erfinden oder komponieren müssen. Die Zeitökonomien verändern sich nicht deshalb dramatisch, weil wir mit sich alles beschleunigt, sondern weil die Reproduktionsabsichten des körperlichen, semantischen und informationellen speed dating / speed hating / speed debugging keine Nachweltfunktion haben. Ihre Erhaltungs-‐ und Reproduktionsabsichten sind asexuell, in der Erwartung von projektbezogener oder seriell erneuernder Anerkennung. Und dieser Druck trifft in vollem Umfang die Produktion von Wissen und die Legalisierung ihrer Bedeutung. David F.J. Campbell, Elias G. Carayanis hatten 1994 in ihren Untersuchungen zu „the new production of knowledge“ auf den Übergang von Wissensanhäufung außerhalb der Anwendung zu Wissensproduktion markiert, die pragmatisch, in Anwendung entsteht und dort bleibt. Sie (und 2003 H. Nowotny) nannten dies den Übergang von Mode 1 to Mode 2. Dieser Mode 2 ermöglichte ein zwar stressiges, aber noch zu kontrollierendes Zeitregime zwischen Beobachten, Erkennen, Entscheiden, Kollaborieren. Labore waren der Lieblingsort dieser Forschungen. Die, wie Alice B.M. Vadrot schreibt, „co-‐evolution of knowlege“(ICCR, Austria, 2011) bewog Campbell & Carayanis dazu, die Veränderungen neu zu bewerten. 2009 veröffentlichten sie „Mode 3“ und „Quadruple Helix: Toward a 21st Century Fractal Innovation Ecosystem“. Damit reagieren sie auf die digitalen Zeitökonomien. In ihnen schrumpfen die Unterschiede von Datum, Information, Innovation und Wissen auf ein Echtzeitmodul. Wenn dem aber so ist, dass von Menschen hervorgebrachte Medienevolution heute die klug bewerteten und gepflegten Unterschiede zeitökonomisch wegwischen: wie sind Subjekt, Bildung, wie ist Abwarten, Aufschieben, noch mal drüber schlafen, wie Intelligenz beschreibbar? Die Konsequenzen für Subjekt und Bildung, und selbst für überlieferte Medienideale und –feindschaften, sind erheblich. Der Schutzpatron Gesellschaft vergreist, und zugleich zeigt sich eine ungemütliche anthropologische Dimension des Sozialen. Der Wert der Gesellschaft bestand nie in der Verwirklichung von Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern in der Fähigkeit, Einfluss auf Naturgesetze, Naturerscheinungen zu
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nehmen, und darin, Technologien, Wissenschaften, synthetische Stoffe und synthetisches Leben zu erzeugen (S. Moscovici 1982, 17). Mit den Entwicklungen digitaler Daten-‐ und Medientechnologien rücken wahrnehmende Unterscheidung und selektive Produktion aufs Engste zusammen. Sie werden zu einer weltweit eingesetzten, unhintergehbaren Anthropotechnik. In dieser These der Anthropotechnik ist eine Überlegung zentral:
Die Zustände bergen keinen Wettkampf der Gesellschaftssysteme. Es sind Konkurrenzkämpfe der mediamorphen Denk-‐, Lebens-‐ und Re-‐Produktionsweisen, und diese sind über die Erde ausgeschwärmt, verstreut. Ungleichheit durch Eigentum an Produktivkräften weicht der Ungleichheit an Häufigkeit der Kontakte, Kollaboration, Kooperation, der Anwesenheit, der Beteiligungschancen. Ungleichheit wird personalisiert, zu einer medialen „assemblage“ (A. Ong), mit Auswirkungen auf die Verfassung von Subjekt und Bildung. Widerstand nimmt die anarchischen Formen von Cultural Hacking (Th. Düllo / F. Liebl 2005) an oder von Hacker-‐Sozialismus, -‐ der allerdings, wie der Chaos Computer Club zeigt, sehr gut kompatibel ist mit staatlichen-‐ und wirtschaftlichen Sicherheitsarchitekturen. Die Digitale Klassik, die ihren Reichtum und ihre Restriktionen gerade erst zu festigen beginnt, zerlegt die Kopplungen von Gesellschaft und Selbst. Obwohl noch national, kulturell, topographisch zugehörig, immer noch Teil der sozialen Humangeographie Köln, Montpellier, Kairo, entstehen die Fremd-‐ und Selbsterwartungen dieses medialen Selbst in Welten von digitalen Betriebssystemen (MS-‐Dos oder Linux), in Suchmaschinen (Google), Videoportalen (Youtube), Buch-‐, Video, Musikläden (amazon), Auktionshäusern (e-‐Bay), Social Networks (Facebook) und Dating-‐Mating-‐Portalen (ElitePartner.de) etc.
5.2. Verbreitete Mündigkeit oder das Problem mit Masse, Menge & Kollektiv
In dem ich -‐ wie skizziert -‐ beeinflussende Wechselwirkungen von biotischen und nicht-‐biotischen Weltanteilen vermute, halte ich Abstand zur prominentesten Idee der Mensch-‐Ding-‐Wechselwirkungen: der Actor-‐Network-‐Theory / ANT. Damit meine ich nicht, dass sie methodisch falsch oder ungeschickt ist. Sie weist einen gravierenden Mangel auf: sie bietet keine Beobachtungsprogramme für Veränderung, adaptive Lernverläufe, selektives Entwurfsverhalten. Will man erforschen, warum sich wiederholende, warum verstärkende, schwächende, verändernde Wechselwirkungen entstehen, genügt es nicht, die Netzwerkkanäle und deren Nutzungsintensität zu untersuchen.
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Die so gewonnenen wertvollen Ergebnisse zur sachlich, dinglich, medial erzeugten Wahrnehmung und Intelligenz erklären nicht, wie, durch wen, über welche Operationsprogramme und Zufälle granulare Zustände entstehen, aus denen vielleicht Wissen, Erkennen, Veränderung, Hacks, Netzstrategien, vernetzte Habitate oder Intelligenz werden können. Ich gehe von prinzipiell ergebnis-‐ und veränderungsoffenen Zuständen aus. Dies betrifft auch Wissen und Intelligenz. Wissenschaftlich halte ich deshalb auch das DFG – Netzwerk „Medien kollektiver Intelligenz“ für methodisch und theoretisch erweiterungsbedürftig. Dieses Netzwerk hat als Aufgabe „mediale Konstituierung kollektiver Intelligenz“ und beruft sich u. a. auf ANT. Einstieg erfolgt über „Medien als Akteure in Kollektiven verteilter Handlungsmacht“ (Teil 2 des Netzdokuments http://www.uni-‐konstanz.de ). In solchen Formulierung drückt sich der kontrolltheoretische und machttheoretische Reduktionismus aus, der nie klärt oder erklärt, wie es zu dieser Macht kam, kommen konnte, ob es Konvergenzen von Innovation und Macht, Kollaboration und Macht gibt, warum es sie so gibt -‐ und vieles mehr. Darüber hinaus, und dies führt zum Tagungsthema zurück, weiß ich nicht, was > kollektive Intelligenz < in Netzwerken meint. Mir kommt es so vor, als behandle das DFG-‐Netzwerk das Kollektive als politik-‐ und salonfähigen erzogenen Bruder der Masse. „Mediale Konstituierung kollektiver Intelligenz“? Massenmedien zur Verdummung und Kollektivmedien für Intelligenz? Aus meinen Forschungen zur Phylogenese medialer Selbstorganisation (1999; 2005; 2008; 2010; 2012) und zu akuten Netzdynamiken heraus halte ich dagegen: es gibt keine kollektive Intelligenz, die über „in Kollektiven verteilte Handlungsmacht“ betrieben wird, auch dann nicht, wenn „Medien als Akteure“ behauptet werden. Zu beobachten sind Projekte, Gruppen, Communities, Crowdsourcing, Foren, Companies, Online-‐Märkte, netzintegrierte Labore, erdweit vernetzte Online-‐Offline-‐Habitate. Sie erzeugen überraschende Prozesse, Programme und Formate von Divergenz und Konvergenz zwischen den Milliarden einzelner Menschen, Milliarden Geräten, Milliarden Situationen, Milliarden Zuständen. Und in ihnen entstehen die radikalen Reduktionen, die Kommunikation, Erkennen, Wissen, Erinnerung, Speicherung ermöglichen.
[Hilfreich hierzu auch: Merlin Donalds Forschungen zur Phylogenese der Repräsentationssysteme: 1993: Précis of the modern mind. Three stages in the evolution of culture and cognition. In: Behavioral and Brain Sciences, 16, 737-‐791; sowie: > A mind so rare. The Evolution of Human Consciousness. < – Forschungen zur Phylogenese der Abstraktion könnten dem folgen. Vrgl. N. Elias Forderung nach einer
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„Entwicklungslehre der Abstraktion, des Symbolischen“ in Essay über die Zeit]
5.2.1. Grenzen eines Kollektiv Imaginären
Es gibt für Bildung und Wissen, ganz gleich wie überliefert oder aufgefrischt, keine Ziellinie, keine Siegertreppchen. Kulturwissenschaftlich heißt es zwar, „Kultur benötige einen Vorrat an symbolischen Varianzspielräumen“ (z.B. W. Menninghaus, 2011, 242). Aber: Aus welcher Not heraus? Und: Wo sind die technologischen, dinglich-‐abstrakten, medialen Spielräume und Varianzen? Das klassische deutsche Bildungsparadigma stritt um Formen zeitloser Selbstbildung und Selbstbeschäftigung. Im Zentrum stand der schaffende und aneignende Umgang mit Künsten. Abstraktion und Figuration wurden als Besonderheiten des einzelnen Menschen gesehen. Sie schufen jene Deutungs-‐Kultur, die der Nachversorgung durch individuelle Leistungen bedurfte. Zugleich war Kultur nur über diese einzelmenschlichen, anti-‐ und nachfeudalen Fähigkeiten bestimmt. Darin lag ein ab und an diskutierter Konstruktionsfehler. Er besteht darin, die Singularität des Kunstereignisses und der Erkenntnis auf Kultur hochzurechnen. In evolutionswissenschaftlicher Sprache gesagt: Die Ontogenese der Kunst überlagert die Phylogenese der Kultur. Mir ist nicht wichtig, ob Entwicklungen und Variationen von Zeichen, Bedeutungsgefügen, Denktechniken, Produktions-‐ und Medientechnologien absichtlich vergessen wurden. Jedenfalls entstand aus der unüberwindlichen Ferne zu langzeitigen Technikentwicklungen und bürgerlich-‐maschinentechnischen Entwürfen Bildung als ein kollektives Imaginäres ohne Ölgeruch und Maschinenlärm. Zwar setzte sich die bürgerliche Gesellschaft mit Buchdruck und Schwarzpulver durch, wie Hegel schrieb. Aber sie schuf eine permanente Revolution von Abstraktion und Verhaltensformaten, Lernkurven und Körperinszenierungen. Nur einmal, im 19. Jahrhundert, verließ der Buchstabendruck die Salons und Bibliotheken und machte Denken und Interessen öffentlich. Plakatiert, über Flugblätter und Flugschriften verbreitet entstand öffentliche Rede und schuf das Parlament. Das kollektive Imaginäre der maschinenfreien Bildungs-‐Kultur koalierte mit dem polit-‐ökonomisch Imaginären, Kultur mit Verfassungs-‐ und Sozialstaat. Aktuell wird Denken in digitalen medialen Zusammenhängen und Räumen aktiviert; Menschen beteiligen sich an erdweiten Gruppenprozessen, kehren den alten gesellschaftlichen und politischen Selbstillusionierungen den Rücken, erzeugen neue Praxen und Illusionen über Communities, Clouds, Cooperative Networks.
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Die Ambivalenzkonflikte (E.O. Wilson), die jedes menschliche Sozialleben durchziehen, verlagern sich weg von Nationalkultur, weg von Ortsgesellschaften. Und mit ihnen entstehen Anforderungen, keine zeitlosen, sondern zeitnahe Modelle für Zusammenhänge und Bedeutung zu erfinden. Dieses Zusammenschnurren von Lebenszeit, datentechnologischer Echtzeit, Kurzzeitprojekten, 24 Stunden Online, 20stündige Bereitschaft in den Blackberry-‐Berufen, Kollaboration mit Menschen, deren Grundverständnis von Menschen-‐ und Sozialrechten mir nicht geläufig ist, -‐ und wäre es mir bekannt und fremd, so hätte ich nicht die Zeit es zu beeinflussen -‐, erfordert die Fähigkeit, ein Zusammenhangsformat des Denkens zu erzeugen, für den Moment. Und dies erzeugt einen Bildungssturz: entweder Bildung wird zu einem zivilisatorischen, weitgehend formalisierten Modell potentieller Beteiligungsmöglichkeit an allen schrift-‐, bild-‐, raumsprachlichen Medien, oder es wird Denk-‐Folklore.
5.2.2. Und noch einmal Evolution: Phylogenese
Mit Evolution ist also keine Annahme zielgerichteter, zielführender Bildung, Medialität oder Subjektivität verbunden. Evolutionäre, oder richtiger: koevolutionäre Zusammenhänge ergeben keine dauerhaften Zustände, ganz gleich wie drängend und bedrohlich Technologien empfunden oder wie determinierend genetische Bedingungen erachtet werden. Die entstehende vielfach differenzierte Topologie eines medialen Selbst ist Produkt langer, seit ca. 40.000 Jahren verlaufender medialer Selbstorganisation des Menschen, beginnend mit der Überwindung der Signale durch diskrete Zeichen und mit der Überwindung der einzelmenschlichen figürlichen Erinnerung durch expressive Höhlenzeichnungen. So wie sich Menschen heute entwickeln, zu Ansicht, Einsicht, Absicht, Wahrnehmung und Wissen kommen, hat also zum einen mit ihrer biologischen Ausstattung, aber weit mehr mit den Formaten der Techno-‐, Gruppen-‐, Wirtschafts-‐ und Medienorganisation zu tun. Richard Dawkins hat dies in seinem Buch zum „erweiterten Phänotyp“ hilfreich reichhaltig dargestellt. Auf die Frage nach der „Phylogenese von Kultur“ sind Ruth Mace, Clare Holden und Stephen Shennan (2005) in „The Evolution of Cultural Diversity“ präzise eingegangen. Wobei wissenschaftlich zu bedenken bleibt, dass es kein Ende von Evolution im Hier und Jetzt gibt (S.J. Gould). Alles verändert sich weiter. Der Evolutionsbiologe Mark Pagel (edge.org) bringt deshalb auch „the idea of idea evolution“ ins Spiel (Jan. 2012). Obwohl ich J. Piagets „genetische Epistemologie“ sehr schätze, wird an diesen Hinweisen erkennbar sein, dass eine genetisch bedingte Individualentwicklung nicht ausreicht, um an die Koevolution variationsreicher menschlicher Selbstorganisationen heranzukommen, an ihre Operationsketten
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und Programme, wie André Leroi-‐Gourhan die uneinheitliche Langfristigkeit zu fassen versucht.
5.3. Zivilisatorische Anstrengungen, mediamorph
Sicher: es bleibt schwer zu sagen, wie sich Neues, in unserem Falle: Mensch-‐Medien-‐Kopplungen, formieren wird. Wie viel Medientechnologie in Blusen, Hemden, Jacketts, in Brillen, Hauswänden, Kühlschränken oder Uhren eingebaut und getragen wird, ist ungewiss. Mit Cyber Physical Systems, die alle die von mir genutzten digitalen Systeme verknüpfen können, über IP v 6 jede Dingstruktur zur elektronischen Adresse machen kann, wird so Vieles smart und intelligent, dass wir uns schon anstrengen müssen, Bildung zu reformulieren. Ich vermute, dass es nicht mehr um Bildung als Alleinstellungsmerkmal von Subjekt oder Kultur geht, sondern um Bildung als kooperative und selektive Interaktionsfähigkeit. Marktforscher gehen von 76 Milliarden App-‐Stores 2014 aus. Die dritte digitale Revolution nimmt es mit der Welt auf, nimmt Welt in sich auf: nach PC (1980), WWW (1990) jetzt all präsente Cloudtechnologien. Nun soll es ja hier nicht vorrangig um technologische Infrastrukturen gehen, sondern um die ehrenwerten Gesellen Medium, Subjekt und Bildung. Sie waren drei Säulen der Kulturimagination früherer Zeiten. Sie sind es nicht mehr, zumindest gibt es keinen semantischen und symbolischen Direktkontakt mehr zwischen Subjekt, Bildung und nationaler Kultur. Die Versprechen, dazu zu gehören, werfen immer häufiger die Frage auf: Wozu gehören Menschen in Köln, Moskau, Kairo, Boston, Seoul? Ist der „arabische Frühling“ der „europäische Herbst“? Oder teilen viele Menschen weltweit dieselbe mediale Jahreszeit, dieselbe mediale Anwesenheit, Kommunikationszeit? Dasselbe Neue? Schaut man sich die Proteste der letzten Jahre an, so geht es nirgends mehr darum, sich mit Haut und Haaren einem sektiererischen Regelwerk von Gesellschaft, Kultur, Bewegung zu unterwerfen, -‐ keinem zielgerichteten Bildungskonzept. Es handelt sich in Manhatten, Tottenham, Kairo oder Frankfurt um keine subkulturellen Lebensstilproteste. Vielmehr bilden sich ungezählte Projekte, in denen verbundene Themen aufgegriffen, formuliert und ebenso ´Vor Ort´ wie im Netz verhandelt werden (atac, occupy, hack). Die Netzkooperationen drücken Einverstandensein mit den vielfachen Informationsströmen aus, und zugleich das Nicht-‐Einverstandensein mit ökonomischen, kommunikativen und auch lizenzierten medialen Zuständen jeweiliger Gesellschaft. Im kooperativen Einverständnis entstehen brauchbare (viable, E.v. Glasersfeld) Online-‐Offline-‐Habitate, die über thematische, also informationelle
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Kopplungen miteinander verbunden sind. So versammeln sich viele gleichzeitige Räume, ähnliche Projekte, sicher auch unklare Hoffnungen. Sie verstärken zugleich die medialen Infrastrukturen, die diese Koordination von Themen und Protesten möglich machen. Da diese Technologien sich als ökonomie-‐ und reproduktionstauglich erwiesen haben, belebt werden können und brauchbar sind, begünstigen sie eine entwicklungsgeschichtlich interessante Veränderung: die Entstehung eines hoch differenzierten medialen Selbst. Trotz der vielen Versuche, die digitalen Medienverhältnisse als Massenmedien oder Massenechtzeitmedien so fortzuschreiben, dass alle Verdummungsargumente fortgeführt werden können, verbinde ich mit medialem Selbst die Gegenthese:
die entstehenden Figuren des medialen Selbst sind die Steigerungsform der Masse und deren Überwindung!
Von der „einsamen Masse“ (D. Riessmann 1958) bleibt nichts übrig. Von Masse geht es über Menge, Communitiy, Crowd, Leute zur Selbstüberbietung in kooperativen, spielerischen, zufälligen Gruppen, Networks, Projekten. In der „unablässigen Bewegtheit des Subjekts“, die Hannelore Bublitz in „Im Beichtstuhl der Medien“ herausstellt, überlässt sich die Interessenlage der Subjekte nicht der Bewegung der Masse, sondern agiert im Bewegungserfolg der Community, Crowd etc. [Hannelore Bublitz, Im Beichtstuhl der Medien: http://www.transcript-‐verlag.de/ts1371/ts1371_1.pdf] Subjekt, das sich permanenter Darstellung, systemischer Selbstkontrolle, angepasster Bewerbung und Selbstkorrekturen verschreibt, bis zur Täuschung, zum Betrug, zur Coolness, Smartness und Bildung, rettet sich vor dem Verschwinden in coole Anwesenheiten und in Unbeobachtbarkeit. Das ist vermutlich das Kritische daran: Subjekt erschließt sich für sich und andere in der medialen Präsentations-‐, d.h. in der medialen Interaktionsform. Im Moment des Verschwindens oder Abschwächens vordigitaler Referenzen für Subjekt, lernen Menschen sich selbst sichtbar, hörbar, lesbar, ansprechbar zu machen, weltweit. Und sie organisieren sich medial selbst, erzeugen als Nutzer Weltmärkte – und werden von den Gewinnern dieser Märkte vor unbeabsichtigte Organisations-‐ und Sozialitätsalternativen gestellt. Menschen stehen dabei weder außerhalb der Demokratietraditionen, -‐ wie alle Untersuchungen aufzeigen -‐, noch außerhalb sozietärer Erwartungen.
5.3.1. Selbst-‐ und “ Bewusstseins-‐Internationale“ Die Figur des globalen, medialen Selbst erzeugt „eine globale Imagination und Fantasie, eine Bewusstseins-‐Internationale“ (Klaus Schönberger im FR-‐Interview, 07.Okt. 2011).
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Hunderte, Tausende, Millionen, Milliarden tragen zu diesen Entwicklungen bei, beeinflussen ihre Wahrnehmung, ihr Denken, ihre Wissensformate wechselseitig, strittig, projektgebunden. Bildungsdebatten müssen diesen Wegen globaler, medialer Selbstformierung und globaler Imagination folgen.
6. Wissenskopien gegen Bildungskopien? Wie sollte man zu Wissen, zu Subjekt, zu Bildung raten? Herkömmliche Bildungsdebatten sind Streits zwischen Profis. Dabei geht es nicht um neue Denk-‐, Gedächtnis-‐ und Entwurfsverfahren. Dies liegt unter anderem daran, dass Bildungskonzepte keinen Einigungsvertrag mit Innovationen geschlossen haben. Der Gesellschafts-‐ und Generationenvertrag, mit dem Bildungsargumente auftreten, ist ein Erbschaftsgestus: Tradierung genannt. Kopien und Kopierregeln stehen hoch im Kurs. Debattiert wird darüber, was innerhalb einer relativ geschlossenen Kultur oder Gesellschaft oder landesüblicher, parteigebundener Schulpolitik kopiert werden soll. Kopieren ist der Goldstandard sich absichernder sozialer Reproduktion: „Kennst Du das? Hast Du das gelesen? Kannst Du das wiederholen? Wendest Du das an?“ Nun ist Kopieren weder ehrenrührig noch verkehrt. Etwas zu wiederholen, zu standardisieren, in Routinen hinüber gleiten zu lassen, seine Herkunft zu vergessen, begleiten menschliches Denken und seine Intelligenz schon immer. Wer will schon Rad, Fußball, Häuserbau, Satzbau, Maschinenbau ständig neu erfinden? Jede Verbreitung einer Idee, einer Ware, eines Konzeptes bedient sich dieses Prinzips. Jedes Zeichen, das zur Verständigung ausgewählt wird, muss in der Gruppe gestreut, verbreitet werden, muss kopiert werden. Störungslos verläuft das nicht. Ständig entstehen Kopierfehler, auffällig, unauffällig, individuell, in Gruppen. Sie sind das Tor zur zufälligen Veränderung. Dies dokumentiert, dass Zustände nur relativ stabil bleiben. Und es spricht an, dass hieraus keine absichtlichen Erneuerungen, sondern eher Verstöße gegen die Erhaltungsregeln entstehen. Dies ist für das heutige Verhältnis von Bildung und Innovation sehr wichtig. Menschen sind nicht ständig innovativ, und, was viel wichtiger ist: nur die wenigsten Menschen sind organisatorisch, konzeptionell, entwerfend innovativ. Bildungskopien konsumieren Vorheriges, indem sie es reproduzieren. Das ist ihre Funktion. Die Intelligenz der Menschen besteht nun darin, die Kopierfehler in Denken und Verhalten zu entdecken, und sie entweder geschickt zu ignorieren (bis das es nicht mehr geht), oder sie als Quelle neuer Unterschiede zu verwenden. Unvorbereitet trifft nun auf die Bildungsmodelle eine kommunikative Praxis, die auf die Programmierung und Aktivierung von
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Zuständen setzt, in denen die wahrscheinliche Erzeugung von Kopierfehlern und deren Behebung zum zentralen Kooperationsangebot werden: Bildung müsste unter diesen Bedingungen auf Entwurf und Entwicklung eingeschworen werden, also zum Gegenmodell fehlerloser Kopien mit regulierter (kontrollierbarer und benotbarer) Variabilität. Je umfangreicher die Aktionsfelder des medialen Selbst werden, umso vielfältiger werden die Unterschiede im Kopieren werden. Wir erleben rasche Zunahmen von (kontingenten) überraschenden Veränderungen. Ihre Menge und zeitliche Intensität kann nicht geschickt ignoriert werden. Immer klarer wird dabei, dass es nicht genügt, über Nachkorrekturen bei kulturellen Kopierregeln nachzudenken, -‐ z.B. darüber, wie mehrsprachige Dateien auf einen nachvollziehbaren Bedeutungszusammenhang bezogen werden können -‐. Die Grundkonflikte ergeben sich aus der Haltung gegenüber den Wahrnehmungs-‐, Wissens-‐, und Reproduktionsressourcen, die durch die Globalisierung des medialen Selbst entstehen.
6.1. Zukunft – auf sich selbst gestellt
Die Ressource Abstraktion ist der Weltkode von möglichen und zufälligen, gewünschten und sich aufdrängenden Zukünften. Nun, dies war schon seit den ersten erinnerten Anleitungen zur Produktion von Faustkeilen, vererbten musikalischen Lautfolgen, Zeichen, Zeichnungen so. Die heutigen Beziehungen zwischen Abstraktion, Weltkodierung, Entwurf und Reproduktion liegen also im Feld der Phylogenese (der „Entwicklungslehre“, N. Elias) von Abstraktion und Synthese. Neu ist, dass, wie schon angesprochen, die derzeitigen (medialen, technologischen, kooperativen) Abstraktions-‐Repertoires nicht um Vererbung von Programmen und Kooperationsketten konkurrieren. Ihr Erbe sind formale Kalküle für völlig andere Programme. Ihre Erbschaft ist Veränderung. Mögliche Zukunft ist keine Fortsetzung von Formaten oder Formen. Vernetzte Zukunft ist auf sich selbst gestellt. Sie ist nicht anders, weil heutige Menschen den kommenden Menschen so viel Freiheit(en) lassen. Sie ist anders, weil die Kopierregeln nicht mehr das Augenscheinliche und Sinnfällige, die Phänomene oder die Stabilität eines materialen Dinges betreffen:
-‐ nicht die Displays werden vererbt, sondern die Beobachtungslogik, -‐ nicht die Screens, sondern die skopischen Ordnungen, -‐ nicht die virtuellen Nachbarschaften, sondern die Meta-‐Struktur aller
möglichen Cluster-‐ und Gruppenbildungen, -‐ nicht sicheres Herkunftswissen, sondern (passive) Muster und
(aktivierbare) Modelle von Wissensfähigkeit,
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-‐ nicht land-‐, berufs-‐, institutions-‐gebundene Kultur (Gedächtnis-‐Pflege), sondern verlässliche Intelligenz,
-‐ nicht abfragbare Kopien, sondern das Hacking von Kopierregeln und Kopien,
-‐ nicht gefordertes festgelegtes, spezialisiertes Wissen, sondern geforderte unspezialisierte Neugier.
Um diese Veränderungen vordenkend begleiten zu können, muss auch kopiert, standardisiert, konventionalisiert werden. Aber was? Wie? Wann? Durch wen? Sollte man die Kontrolle der Kopierverläufe der breiten User-‐Menge überlassen, weltweiten Zufalls-‐ und Projekt-‐Populationen? Sollte man Bildungsamateuren die Entscheidungen über Wissensvektoren überlassen? Was machen dann die legalisierten Bildungsprofis? Nun, in weiten Bereichen ist das schon entschieden. Amateure kopieren weltweit und haben als ebenso amateurhafte, aber oligarchische Lehrmeister Betriebssysteme (MS-‐Dos; Mac), Suchmaschine (Google), Videoportal (Youtube), Buch-‐, Musik-‐, Filmversand (Amazone), Versteigerungsmonopol (e-‐Bay), Social Network (Facebook). Wissens-‐ und Bildungsforschung sollte hierauf nicht nur reagieren. All dies sind Dimensionen einer „Phylogenese der Kulturen“, wie Ruth Mace und Clare Holden es nennen. Noch sind wir erst am Anfang der Forschungen und Theoriebildung zur „idea of idea evolution“, wie der britische Biologe Mark Pagel es vor kurzem (edge.org, Januar 2012) ansprach. Die Verhältnisse von Kopie und Innovation, von Können und Neugier stehen für die Reformulierung eines Bildungskonzeptes ganz oben auf meiner Wunschliste.
7. Zum Abschluss
Ein Satz von Serge Moscovici aus „Versuch über die menschliche Geschichte der Natur“ mag den Abschluss bilden. Er ist in der Lage, mediales Selbst, Mediamorphosis, Computing, die ich eingangs gegen die Technologieromantik einsetzte, zusammenzufügen:
„Man sagt zu Unrecht, die Maschine (hier: die Informationstechnologie) ersetze den Menschen; in Wirklichkeit ersetzt ein Mensch einen anderen Menschen, eine menschliche Fähigkeit eine andere.“ (1982, 254)
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Literatur: Bauer, J., 2006: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg Faßler, M., 2012: Kampf der Habitate. Neuerfindungen des Lebens im 21. Jahrhundert, Wien Faßler, M., 2008: Der Infogene Mensch. Entwurf einer Anthropologie, München Faßler, M. 2005: Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen, Wien New York Leroi-‐Gourhan, A. 1984: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M Laughlin, R. B., 2008: Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft, Frankfurt/M Menninghaus, W., 2011: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Berlin Moscovici, S., 1982: Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt/M Mühlmann, H., 2011: Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, München Roth, C., Cointet, J.-‐P., 2009: Social and semantic coevolution in knowledge networks. Social Networks, p. 14ff Schurz, G. 2011: Evolution in Natur und Kultur, Heidelberg