Manual zu Schmerzfokus / Painspotting Ein neuer Ansatz in der Neuropsychotherapie zur Behandlung akuter und chronischer
Schmerzen
Ó Thomas Ch. Weber, 07/2017
NB: der unveröffentlichte Fachartikel ist kopierrechtlich geschützt. Er darf ohne schriftliche Einwilligung des Autors Thomas Ch. Weber nicht zitiert oder veröffentlicht werden.
1. Einleitung
Painspotting (engl.) oder Schmerzfokus (deutsch) wurde in Österreich von Weber 2012
nach einem Seminar entdeckt, und kann als eine Weiterentwicklung von Brainspotting
(Grand, 2004) verstanden werden. Schmerzfokus wird seither in Fortbildungsseminaren
für Psychotherapeuten an verschiedenen Trauma Instituten in Deutschland, Österreich
und der Schweiz gelehrt.
Die Psychotherapie mit Schmerzfokus nutzt die Neuroplastizität des menschlichen Gehirns
zur Trauma Verarbeitung. Das Stressverarbeitungssystem des Menschen hat die Aufgabe,
ein durch körperliche, psychische oder soziale Belastungssituationen bedrohtes inneres
Gleichgewicht wiederherzustellen (Allostase). Dies geschieht über neurobiologische
ebenso wie auch über verhaltensadaptive Mechanismen.
Eine Dysfunktion beider Systeme kann über zentrale und periphere neurobiologische
Mechanismen („stressinduzierte Hyperalgesie“) zur Entwicklung ausschließlich Stress
bedingter Schmerzsyndrome führen (nach Egle1 2016).
Beispielsweise kann es nach einer Sportverletzung am Knie nach erfolgter Behandlung zu
einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (Morbus Sudeck) kommen, wobei der
1 EGLE U.T. (2016): Stress-induzierte Hyperalgesie (SIH). Neurobiologische Mechanismen und ihre
Konsequenzen für die sozialmedizinische Begutachtung chronisch Schmerzkranker. In: Der Medizinische Sachverständige Vol.5
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Schmerz in keinem Verhältnis zur Schwere der anfänglichen Verletzungsursache steht.
Hyperalgesie-Patienten klagen häufig über hohe Berührungs- oder Kälteempfindlichkeit.
Emotionaler Stress und frühkindliche, traumatische Erfahrungen, wie z.B.
Vernachlässigung wirken sich symptomverstärkend auf die schmerzende Stelle aus.
Mit Schmerzfokus haben wir einen neuen psychotherapeutischen Zugang zur nachhaltigen
Auflösung von akutem und chronischem Schmerz. Innerhalb weniger Sitzungen (max. fünf
Sitzungen) lösen sich chronische Schmerzen auf; bei Clusterkopfschmerz und Fibromyalgie
benötigt es bis zur vollständigen Schmerzauflösung mehr als fünf Sitzungen.
Fall 1: „Gabriella“
Im August 2012 entdeckte ich durch einen Zufall die rasche Auflösung eines hochakuten
Schmerzes nach Treppensturz bei einer Berufskollegin. Der rechte Fußknöchel war dick
angeschwollen, ein großer Bluterguss hatte sich gebildet, sie hatte starke Schmerzen und
konnte nicht mehr auftreten, sondern humpelte durch den Raum. Wir lagerten den Fuß
hoch und kühlten ihn mit Icepack zur Ruhigstellung.
Intuitiv schlug ich der Klientin vor eine Augenposition nach Grand2 zu finden, die mit dem
akuten Schmerzempfinden einhergeht und ließ sie tief und langsam ausatmen während
der ganzen Sitzung. Diese Kombination durch Augenposition und kontrollierter, ruhiger
Atmung bewirkte, dass der Schmerz rasch abklang bis die Schmerzintensität auf der 10-
stelligen NRS-Skala3 (numeric rating scale) von anfangs NRS=9-10 bis auf NRS=0
2 GRAND D. beschreibt in seinem 2014 erschienen Buch, „wohin wir schauen, beeinflusst, wie wir fühlen“
dass mit einem psychischen Trauma, über das eine Klientin berichtet, eine Augenposition im Gesichtsfeld unsystematisch einhergeht, die mithilfe eines Teleskopzeigestabes auf Augenhöhe von links nach rechts gefunden werden kann. Es tauchen entweder unwillkürliche Bewegungsmuster wie Blinzeln oder Starren auf, wenn ein solcher Punkt gefunden worden ist oder die Klientin gibt verbal Feedback, an welcher Stelle (Augenposition) die Sensation am deutlichsten spürbar ist. Grand nennt dieses Phänomen einen Brainspot.
3 Die Numerische Rating Skala (NRS) ist eine 11-stufige Selbsteinschätzungsskala und wird wissenschaftlich als Schmerzskala verwendet von 0 = keine Schmerzen bis 10 = stärkste vorstellbare Schmerzen. Bei auftretenden Schmerzen wird die Schmerzintensität anhand dieser Skala bestimmt. In: HAWKER, MIAN, KENDZERSKA, FRENCH (2011): Measures of Adult Pain. American College of Rheumatology. Arthritis Care & Research, Vol. 63, Nov. 2011, pp. 240-252
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zurückging. Nun ließ ich das Unfallopfer den Fuß, der bei leichter Drehung wieder
schmerzte diese erträglich schmerzende Position einnehmen und weiterverarbeiten, bis
der Schmerz wieder auf NRS=0 war. Die Klientin wiederholte diese Vorgangsweise solange,
bis sie den Fuß in alle Richtungen bewegen konnte, bis er sich ebenso wie der gesunde,
unverletzte linke Fuß bewegen ließ. Wir beobachteten beide, wie die Schwellung zur Gänze
abgeklungen war und auch der Bluterguss sich weitgehend zurückgebildet hatte, was mich
sehr überrascht hatte. War ein Wunder geschehen? Ich glaube nicht an Wunder, war mir
in diesem Moment aber bewusst, dass ich hier mit etwas in Berührung gekommen war,
das ich mir nicht erklären konnte und vorher noch nie gesehen hatte.
Sie hatte in diesem Moment die Erinnerung an einen schlimmen Beinbruch im rechten
Bein, der schlecht verheilte und zweimal brach. Es waren seit Beginn des Unfalles erst 35
Minuten vergangen. Der Schmerz hatte sich vollständig aufgelöst und ich bat die Klientin,
aufzustehen und mit dem inzwischen normal aussehenden Fuß ein paar Schritte zu gehen.
Sehr zögerlich folgte sie meiner Aufforderung. Ich werde ihren Gesichtsausdruck nicht
mehr vergessen, als sie im Raum herumging und fast biblisch ausrief: „ich kann gehen!“
Die Wien-Besucherin ging danach noch über Stunden auf Sightseeing-Tour und war auch
danach schmerzfrei.
Beim Frühstück am nächsten Tag erzählte mir Gabriella, dass in ihr über Nacht
Erinnerungen aufgetaucht seien, die mit der Verletzung zu tun hätten: Als Kind hatte sie
sich mehrere Male denselben Fuß verletzt mit Stauchungen und Knochenbruch. In der Zeit
war sie humpelnd zur Schule gegangen und wurde von Mitschülern gehänselt und
ausgelacht.
Interessant für mich war, dass sich bei der Klientin in der Folge der Schmerzverarbeitung
ihre eigene Schmerzgeschichte offenbarte. In diesem Moment war mit klar, dass zwischen
Schmerzverarbeitung und Schmerzgeschichte ein Zusammenhang bestehen muss.
In den nächsten Wochen war mir zunehmend bewusst, dass ich es mit einem
außergewöhnlichen Phänomen zu tun hatte. In den nächsten Monaten und Jahren machte
ich mit Frischverletzten weitere, ähnliche Erfahrungen.
Fall 2: „Lisa“
2014 in den Sommerferien rutschte eine befreundete Kollegin auf einem nassen
Plattenboden aus und schlug mit dem rechten Knie äußerst heftig darauf auf. Ich traf sie
einige Stunden später wieder und sah, wie stark angeschwollen ihr blau gefärbtes Knie
war. Wir machten eine Fotografie des verletzten Knies. Auch hier machte ich eine
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Painspotting-Sitzung die ca. 1 Stunde dauerte. Die Klientin wirkte sehr müde und schlief
am Ende der Sitzung ein. Am nächsten Morgen waren wir sehr überrascht, dass die
Schwellung und der Bluterguss komplett verschwunden waren und das Knie wieder voll
beweglich und schmerzfrei war.
Natürlich muss man voraussetzen, dass Schmerzfokus bei akutem Schmerz nur dann
effektiv ist, wenn kein Knochenbruch oder Sehnenriss usw. vorliegen. Eine Befundung
durch ein Unfallkrankenhaus oder einen Facharzt sollte in jedem Fall unabhängig davon
vorher oder nachher erfolgen.
Diese ersten Erfahrungen erschienen mir als ein vielversprechender Durchbruch in der
Schmerzbehandlung und Schmerztherapie, insbesondere bei chronischen Schmerz-
erkrankungen.
2. Chronische Schmerzerkrankungen – Hintergründe und Fakten
In der Folge begann ich mich intensiv und neugierig mit chronischen, somatischen
Schmerzerkrankungen zu beschäftigen und studierte dazu die entsprechende
physiologische Fachliteratur zu Neuroanatomie, psychosomatischer Medizin, sowie
wissenschaftliche Studien zu psychosomatischen Schmerzsyndromen wie Migräne,
Clusterkopfschmerz, Fibromyalgie, und zu chronischen Schmerzen des
Bewegungsapparates (Knie, Hüfte, Gelenke, Rücken). Ich stellte dabei fest, dass
chronische Schmerzen erst dann endgültig abklingen können, wenn ihre psychosozialen
Ursachen bearbeitet worden sind.
Jeder Schmerz hat seine Geschichte. Es ist für Patienten sehr hilfreich, mithilfe einer
anfänglich durchgeführten Schmerzanamnese alle erinnerbaren, bisherigen
Schmerzerfahrungen zu benennen, die Zusammenhänge so genau wie möglich zu
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beschreiben und die erwähnten Körperstellen in einem ausgehändigten Körperbild4
einzutragen. Nach einer Schmerzfokus Sitzung wirken chronische Schmerzpatienten
häufig äußerst verblüfft, welche umfangreiche Geschichte ein (neu) auftretender Schmerz
beinhalten kann, der als Ursache für den chronischen Schmerz und dessen nachhaltige
Auflösung zu verstehen ist.
Zahlreiche Forschungsarbeiten in PubMed, Lancet, New Engl. Journal of Medicine sowie
Fachbücher bestätigen, dass Schmerz ein subjektives Geschehen ist. Die beiden Schmerz-
wissenschaftler Turk und Melzack5 (2001) beschreiben im Vorwort, dass Schmerz durch
die soziale Umgebung stark beeinflusst wird. Der Umgang vonseiten der professionellen
Gesundheitspflege und des Gesundheits- systems wirkt sich direkt auf Schmerzintensität,
Behandlungserfolg oder –verschlechterung aus. Emotionale Blockaden wie Angst und
Psychotraumata sowie negative kognitive Einflussfaktoren wirken auf das
Schmerzempfinden verstärkend.
Eine akute angstauslösende Gefahr führt zu einer kurzdauernden Hypalgesie (eine
herabgesetzte Schmerzempfindung), eine permanente Gefahrensituation hingen zu einer
„Hab-Acht-Haltung“, im schlimmsten Fall zu einer chronischen Hyperalgesie, was Egle
(2017) mit einer gesteigerten Empfindung eines Schmerzreizes beschreibt.
Wenn negative Emotionen und Stress über eine längere Zeit einwirken, hat dies also eine
Senkung der körperlichen Schmerzschwelle und damit eine verstärkte
Schmerzwahrnehmung zur Folge.
Obwohl die Wissenschaft der Schmerzforschung sich seit über 15 Jahren einig ist, dass
chronisches Schmerzerleben nicht unimodal behandelbar ist, werden schmerzstillenden
Medikamenten, lokalen Massagen, Radiotherapien und Operationen immer noch weltweit
den Vorzug gegeben. Wir wissen, dass diese Methoden nicht dazu führen, chronische
Schmerzen nachhaltig zum Verschwinden zu bringen, wie dies Hancock6 (2007) und Wilco7
(2007) in randomisierten Langzeitstudien belegen. Ihre Ergebnisse haben das bisherige
Schmerzparadigma nachhaltig verändert.
4 Das Körperbild stammt aus dem deutschen Schmerzfragebogen der Deutschen Schmerzgesellschaft DGSS, welches heruntergeladen werden kann, unter: http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/12_DSF_Anamnese_Muster_2012.2.pdf 5 TURK D.C., MELZACK R. (2001): Handbook of Pain Assessment, 2nd Ed. Guilford Press, New York. 6 HANCOCK M.J. et al. (2007): Assessment of diclofenac or spinal manipulative therapy, or both, in addition
to recommended first-line treatment for acute low back pain/ a randomised controlled trial. The Lancet Vol. 370, p. 1638-1643.
7 WILCO P.C. et al. (2007): Surgery versus Prolonged Conservative Treatment for Sciatica. The New England Journal of Medicine, Vol.356, No.22
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Weitere Entdeckungen einer erfolgreichen Schmerzbehandlung
Schmerzfokus eignet sich auch sehr zur Schmerzbekämpfung nach Operationen. Es ist
bekannt, dass operative Eingriffe bis zur schmerzfreien Abheilung normalerweise Tage bis
Wochen danach noch schmerzhaft sind.
Fall 3: „Annemarie“
Aus diesem Grund bat mich im Herbst 2016 meine langjährige Bekannte Annemarie
darum, mit ihr nach einer Schulteroperation mit doppelter Sehnenruptur nach einem Sturz
beim Langlaufen eine Painspotting-Sitzung zu machen. Sie hatte von meiner
Behandlungsform mit Painspotting gehört.
Die Schmerzfokus-Sitzung fand 2 Tage nach der Operation statt. Die Bekannte bekam vom
Krankenhaus für 3 Wochen opioide Schmerzmittel mit nach Hause. Ihr Arm war mithilfe
einer Armschlinge und einem Verband ruhiggestellt. Sie hatte konstante Schmerzen vom
rechten Oberarm hinauf bis in den rechten Schulterbereich. Die Behandlung mit
Schmerzfokus dauerte 60 Minuten. Danach waren die Schmerzen nicht mehr
wahrnehmbar. Annemarie traute dem schmerzfreien Zustand nicht, der über Nacht anhielt.
Erstaunlicherweise traten auch in den nächsten Tagen und Wochen keine Schmerzen mehr
auf, nicht einmal während der beginnenden Physiotherapie nach einigen Wochen.
Diese Fallbeispiele zeigen, dass Painspotting wirkt. Bevor wir Ursache und Wirkung bei
diversen Schmerzgeschehen weiter beleuchten, benötigen wir ein größeres Verständnis
von dem subjektiven Phänomen Schmerz.
2.1. Was ist Schmerz eigentlich?
„Eine Definition von Schmerz ist schwer fassbar, wenn nicht überhaupt unmöglich“,
schreibt Engel 8 (1959, übersetzt in 2011). Das Problem ist, dass wir als Beobachter
Schmerzen nicht erkennen können; sie können nur erfahren, so Engel, und für unsere
Information über Schmerz sind wir ganz davon abhängig, wie die Person, die den Schmerz
erfährt, diesen beschreibt. Im Volksmund sprechen wir manchmal von eingebildeten oder
psychischen Schmerzen, bei denen andere Ursachen von Schmerzen ausgeschlossen
werden konnten. Obwohl in der medizinischen Schmerzforschung bereits seit Jahrzehnten
Studien vorliegen, dass bei chronischen Schmerzen die Schmerzbahnen im Gehirn aktiviert
werden, fragt man sich: wie kann Schmerz vorhanden sein, wenn die schmerzenden
8 ENGEL G. (2011): Schmerz umfassend verstehen. Der biopsychosoziale Ansatz zeigt den Weg. Huber, Bern.
Originatext in: ENGEL G. (1959): Psychogenic Pain and the Pain Prone Patient. American Journal of medicine 1959; 26 (1): 899-918
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Organe nicht stimuliert werden?
Schmerz wurde sehr lange ausschließlich als Warnsignal für eine Gewebe- bzw.
Nervenschädigung verstanden. Die vorherrschende Vorstellung der Schmerzverarbeitung
im zentralen Nervensystem hatte und hat bis heute viel Ähnlichkeit mit einer Art
„Telefonkabel“, das Aktionspotentiale von einem Ort zu einem anderen leitet, in denen
Informationen über Beginn, Dauer, Stärke, Lokalisation und Qualität eines peripheren =
äußeren Schmerz-Reizes codiert sind.
In den letzten Jahren konnten zentrale Mechanismen im menschlichen Gehirn bei
chronischem Schmerz nachgewiesen werden, d.h. Schmerzempfindung erfolgt nicht
unweigerlich durch einen peripheren Input (schmerzende, lokale Stelle). Die Art dieser
Schmerzen lässt sich für Patienten nicht von solchen, die durch einen peripheren
Schmerzreiz ausgelöst werden, unterscheiden. Neuropathische, durch wiederholte
negative Erfahrungen entstandene Schmerzreize können durch psychische
Einflussfaktoren wesentlich moduliert werden, d.h. die subjektive Bewertung eines
gleichartigen Schmerzes, wie: „ach das ist nicht so schlimm, das wird schon wieder “ im
Vergleich zu „oh mein Gott, mir tut alles immer weh“ verringert beziehungsweise verstärkt
Schmerzintensität und Schmerzdauer eines Menschen signifikant.
Leider werden bis heute neuere wissenschaftliche Erkenntnisse von vielen
schmerztherapeutisch tätigen Ärzten ebenso wie von medizinischen Gutachtern nicht
ausreichend zur Kenntnis genommen, Egle (2017). Vergleiche dazu Arbeiten von Melzack,
Wall, Turk, Hancock, Wilco, Engel und Egle.
2.2. Definition von Schmerz auf 3 Ebenen:
Schmerz kann auf drei überlappenden, verschiedenen Ebenen definiert werden.
Þ sensorisch: meint die körperliche Schmerzreiz Wahrnehmung, z.B. wenn ein
Proband in einer Testanordnung vom Versuchsleiter mit einem spitzen Gegenstand
in die Hand gepiekst wird. Dies ist ein Schmerzreiz über die Hautrezeptoren.
Proband: „Ich spüre sofort den Stich auf der Handfläche“
Þ emotional: ist der subjektive „Auah!“ Effekt in Abhängigkeit zu persönlichen
bisherigen schmerzhaften Erfahrungen, z.B. wenn man angerempelt wird, eine
Spritze oder einen Stoß erhält.
Þ kognitiv: ist die bewusste, rationale Bewertung eines Schmerzes. Jemand bewertet
es harmlos: „Ach halb so schlimm, das vergeht wieder“, oder er sieht es ganz
negativ: „Immer ich werde geschubst, ich bin ein Pechvogel“
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Alle drei Komponenten stellen gemeinsam ein Schmerzerleben dar und laufen nicht
getrennt voneinander ab.
Melzack und Wall9 begründeten 1965 mit der Kontrollschranken-Theorie (Gate Control
Theory), dass die Weiterleitung der Schmerzimpulse im Rückenmark sowohl von
peripheren als auch von absteigenden Bahnen aus dem Gehirn gehemmt werden können.
Sie zeigten mithilfe der Kontrollschranken-Theorie auf, dass die Weiterleitung der
Schmerzimpulse im Hinterhorn des Rückenmarks gehemmt werden können. Der
Organismus verfügt somit über ein körpereigenes Schmerz-Hemm-System, das individuell
und situationsabhängig mehr oder weniger stark aktiv ist. In ihrer Gate-Control-Theorie
verdeutlichten die Autoren damit den Einfluss des Gehirns auf die Schmerzwahrnehmung.
Abbildung 1 periphere Schmerzleitung
Bei psychisch traumatisierten Klienten können Schmerzen nicht mehr auf natürliche,
kognitive Weise gehemmt werden; je nachdem können Schmerzempfindungen Flashbacks
(traumatische Erinnerungen) auslösen, die zu einer kompletten Gefühllosigkeit (Numbing)
führen, oder durch einen Stoß in einer vollbesetzten U-Bahn zu einem nachhaltigen starken
Schmerzerleben werden, auch wenn es keine Erinnerungen dazu gibt.
Um diese unterschiedlichen Schmerzreaktionen verstehen zu können, müssen wir
unterscheiden zwischen einem akut auftretenden Schmerz und einem anhaltenden
chronischen Schmerz.
9 MELZACK R., WALL (1965): Pain mechanism: A new theory. Science, Vol.150, p.971-979
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2.3. Wie unterscheiden wir akuten von chronischem Schmerz?
Akuter Schmerz: ist in der Regel kurzzeitig und hat eine Schutzfunktion, die dazu dient,
sich an Gefahrensituationen anzupassen. Eine Schwellung und starker, differenziert
lokalisierbarer Schmerz schützt vor weiterer Verletzung des Gewebes und vor
Überbeanspruchung. Es kommt zu einer lokalen Bewegungseinschränkung. Das
Individuum ist dadurch genötigt, die Körperstelle ruhig zu stellen um diese nicht weiter zu
belasten. Beim akuten Schmerz wird der Schmerzreiz peripher (äußerliche Körperreize)
ausgelöst und durch die schmerzleitenden (nozizeptiven) Nerven-Bahnen unmittelbar zum
Gehirn geleitet.
Chronischer Schmerz: Beim chronischen Schmerz hat das Gehirn die Regie übernommen,
wie Egle10 in treffender Weise in einem Vortrag metaphorisch sagte.
Wir sprechen dann von chronifiziertem Schmerz, wenn dieser von 3 bis über 6 Monaten
andauert. Der chronische Schmerz hat quasi seinen physiologischen Sinn, nämlich die
Warn- und Schutzfunktion verloren. Dieser geht nicht mehr von einem akut ausgelösten
äußeren Schmerzreiz aus, wie es seit René Descartes jahrhundertelang angenommen
wurde. Sondern der Dauer-Schmerz hat sich im Gehirn verselbständigt. Er bringt immer
mehr Nervenzellverbände dazu, sich auf benachbarte Zellverbände (Neuronengruppen)
auszudehnen. Das Gehirn „lernt“ buchstäblich sich schmerzhafte Phänomene einzuprägen
und der Mensch wird dadurch immer schmerzempfindlicher. Eine der Folgen, die wir heute
klinisch kennen, ist das Hyperalgesie-Syndrom oder auch stressinduzierte Hyperalgesie
genannt (SIH), wie bereits zu Beginn beschrieben.
Fall 4: „Claire“
Ich hatte eine 38-jährige Patientin, die unter einer schwerwiegenden, anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung (F45.40 nach ICD) litt. Sie war im Dauer-Krankenstand,
lebte von der Notstandshilfe und hatte ein qualvolles Leben ohne jemals zu klagen,
wodurch das Krankheitssymptom einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung
jahrelang fehldiagnostiziert wurde. Sie hatte eine lange Leidensgeschichte hinter sich,
bevor sie in Psychotherapie und Schmerztherapie zu mir kam: 1996 Curettage nach
Missed Abortion (= unentdeckter, abgestorbener Fötus in der Gebärmutter), 2002
Bandscheibenvorfall im unteren Rücken, 2002 Gastritis, 2002 massive Medikamenten-
unverträglichkeit bei Psychopharmaka und Analgetika. 2006 Bauchdeckenoperation nach
10 EGLE U.T. (2014): Wenn der Schmerz in Gehirn entsteht. Öffentlicher Vortrag gehalten in Düsseldorf am
13.Nov. 2014 im Förderverein für psychosomatische Medizin.
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Eiter und schwerer Entzündung im Bauchraum. Im selben Jahr Beginn des
Schmerzsyndroms, das erst 2013 von mir diagnostiziert wurde. Claire wurde in einer
unglücklichen Beziehung gezeugt; die Mutter heiratete den Vater deshalb, weil sie mit
Claire schwanger war. In den monatelangen Sitzungen taucht ihre frühe Kindheit auf, bei
der sie sich als das Unglück zwischen den Eltern fühlt und in einem Strudel von
Selbstabwertung gerät. Der ältere Bruder erscheint als überlebenswichtige Ressource und
Puffer in der Kindheit gegenüber der körperlichen und sexuellen Gewalttätigkeit des
Vaters. Die Erinnerungen triggern immer wieder heftig schmerzende Körperstellen der
Patientin, die während der Sitzungen häufig stark abklingen oder sich vorübergehend für
wenige Tage auflösen. In der Schmerztherapie verwenden wir auch manuelle Techniken
zur unmittelbaren Schmerzreduktion. Die Patientin lernt ein bestimmtes Atemmuster, in
dem sie viel Luft einatmet und in der Ausatmung mithilfe eines „Aah“ Lautes so lange wie
möglich ausatmet. Während des Ausatmens drückt der Therapeut mit Fingern oder flacher
Hand gegen die schmerzende Stelle und die Patientin drückt mit der schmerzenden
Körperstelle gegen die Hand des Therapeuten. Es dürften dabei die Mechanorezeptoren
aktiviert werden, die auf der ganzen Haut verteilt sind; vergleichbar beim akuten Schmerz,
wo man instinktiv die schmerzende Stelle reibt, um den heftigen Schmerz sofort zu lindern.
Diese Technik, die etwas Übung benötigt, eignet sich insbesondere zur erweiterten
Schmerzauflösung in Kombination mit Schmerzpsychotherapie, wie das bereits vorher
beschrieben wurde. Claire’s anhaltendes somatoformes Schmerzsyndrom begann sich zu
verändern, die konstanten Schmerzen konnten für ein paar Tage unterbrochen werden, sie
war vorübergehend schmerzfrei, was keine andere Behandlungsform bisher möglich
machte. Was dieser Fall zeigt ist, dass auch quasi austherapierte Patienten auf die
Behandlungsform von Schmerzfokus unmittelbar positiv reagieren im Sinne von
vorübergehender Schmerzfreiheit, die medikamentös nicht erreicht werden kann. Dennoch
eine herausfordernde Aufgabe.
2.4. Die Schmerz-Matrix von Egle
Egle11 (2017) sagt zu chronischem Schmerz, dass frühe Lernerfahrungen im Umgang mit
Schmerz und psychischem Stress bei der Erwartungshaltung eines Schmerzreizes bzw.
eines andauernden Schmerzempfindens eine wesentliche Rolle spielen. Man kann sagen,
dass Schmerz für das Gehirn eine besondere Variante von Stress darstellt und
11 EGLE U.T. (2017) 2. Aufl.: Psychosomatische Schmerztherapie – Grundlagen, Diagnostik, Therapie und
Begutachtung. Kohlhammer, Stuttgart.
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entsprechend verarbeitet und beantwortet wird. Egle ebenda nennt die Entstehung von
chronischem Schmerz im Gehirn Schmerzmatrix. Sie hat eine weitreichende Überlappung
mit dem Stressverarbeitungssystem, siehe Abbildung 2
Abbildung 2 Schmerzmatrix
Die schwarz eingezeichneten Bahnen der Schmerzmatrix betreffen die aufsteigenden Bahnen aus der
Peripherie über die Parabrachialkerne (PB) im Hirnstamm; die rot eingezeichneten, absteigenden Bahnen
sind als Schmerzantwort des medialen Schmerzsystems (deszendierend-hemmendes System) zu verstehen,
das über das periaquäduktale Grau (PAG), dem Schmerzmodulator vom Hirnstamm in den Körper verläuft.
In die Schmerzmatrix fließt die biografische Bewertung des Schmerzreizes durch einen
Abgleich mit früheren Schmerzerfahrungen ein. Es ist ein Wechselspiel zwischen
emotionaler Bewertung des Schmerzreizes (anteriorer cingulärer Kortex und
ventromedialer präfrontaler Kortex), aktueller Affektlage (Amygdala) und emotionaler
Erinnerung (Hippocampus). Der dorsolaterale präfrontale Kortex) ist fur die kognitive
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Bewertung der Gesamtsituation zustandig und hat auch Projektionen zum PAG Hirnstamm
(periaquäduktales Grau), der wiederum Ausgangspunkt der katecholaminergen
Projektionsbahnen (Dopamin, Noradrenalin) ist, siehe Abbildung 2
2.5. Die Entstehung erhöhter Schmerzwahrnehmung:
Vergangene Schmerzerfahrungen und Stress beeinflussen die Erwartungshaltung der
nachsten Schmerzwahrnehmung. Kommt es in der fruhen Kindheit wahrend der
Ausreifung des genetisch determinierten Stressverarbeitungssystems zu anhaltendem
Stress insbesondere durch unsichere Bindungsbeziehungen oder Gewalterfahrungen,
entwickelt sich eine anhaltende Stress- und Schmerzvulnerabilitat (Soukop12 2015 nach
Meredith13 2008).
Offensichtlich besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Stress, der eine
neurobiologische Antwort auf eine Gefahr oder Lebensgefahr ist, wie Porges14 (2010) es
in der Polyvagaltheorie beschreibt, und einer nicht mehr regulierbaren Furcht, die einst
bestanden hat und unverarbeitet geblieben ist. Diese Umstände führen dazu, dass
angesammelte, schmerzhafte, psychische, soziale und physische Schmerzerfahrungen
sich oft Jahrzehnte später in chronischen Schmerzleiden niederschlagen.
3. Schmerzfokus – ein neuer psychotherapeutischer Ansatz in der
Schmerzbehandlung
Mit Schmerzfokus haben wir einen vielversprechenden Zugang gefunden, chronische
Schmerzerkrankungen insofern zu behandeln, dass wir die unbewusste
Schmerzgeschichte damit leicht aufspüren können und vermutlich dadurch die Körper-
Gehirn Regulation in positiver Weise aktivieren, so dass der Schmerzkreislauf im Gehirn
sich verändert oder in einer Art überschrieben wird, dass der Körper aufhört weh zu tun.
In jedem Schmerz steckt eine Schmerzgeschichte, die sich im Laufe des Lebens anreichert.
Im Rahmen von Schmerzfokus werden diese unverarbeiteten schmerzlichen Erfahrungen
aus dem Unterbewusstsein zur Bearbeitung freigelegt. Andererseits haben wir mit
Schmerzfokus mithilfe verschiedener, neu entwickelter, schmerztherapeutischer
12 SOUKOP W. (2015): Chronische Schmerzen und psychische Traumafolgen in Begutachtung und
Rehabilitation. Österreichische Zeitschrift für das ärztliche Gutachten. Vol.3, p.56. 13 MEREDITH P. (2008): A review of the evidence linking adult attachment theory and chronic pain: presenting
a conceptual model. Clin Psychol Rev. Vol 28(3), p.407-429 14 PORGES, S. (2010): Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Junfermann,
Paderborn.
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Techniken einen direkten Zugang zur Verarbeitung der Schmerzintensität.
Wenn eine Klientin, die beispielsweise unter starken, chronischen Knieschmerzen leidet in
Behandlung kommt, lassen wir sie zuerst den Schmerz genau lokalisieren und eine
schmerzhafte Position einnehmen, damit der Schmerz etwas aktiviert wird; dies nennen
wir den Felt Sense. Wir achten genau auf die Augenposition, die die Klientin in diesem
kurzen Augenblick einnimmt und fordern sie auf, diese gefundene unwillkürliche
Augenposition beizubehalten. Dies ist der gefundene Augenfokus, der mit dem
Schmerzgeschehen einhergeht. Mit der langsam formulierten, psychotherapeutisch-
hypnotischen Intervention leiten wir die Schmerzverarbeitung ein: „lassen Sie nun alles
auftauchen, was gerade auftaucht, ob es körperlich ist oder Emotionen, Gefühle
auftauchen oder Erinnerungen oder Bilder, lassen Sie es mich einfach wissen, okay?“ Über
diesen Felt Sense öffnet sich quasi ein Tor zum Unbewussten und es tauchen
beispielsweise frühe, schmerzhafte Erinnerungen und zurückliegende, bereits vergessene
Erfahrungen von alleingelassen sein und keinen Trost bekommen zu haben, weil niemand
da war. Die Klientin erfährt in einer filmartigen Trance, wie sie gegenüber ihren
Geschwistern von den Eltern hintangestellt wurde und als lästig wahrgenommen wurde.
Diese Erinnerungen stehen in direktem Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Schmerz.
Während der Schmerzverarbeitung beobachten wir sorgsam den Atemrhythmus der
Klientin, der immer wieder flach, stockend wird und regen sie an, „freundlich von der
inneren Haltung, tief und langsam“ weiter zu atmen. Menschen, die Schmerz spüren halten
unbewusst ihren Atem an, ähnlich wie bei den von Cannon (1916) beschriebenen Fight,
Flight und Freeze Zuständen. Eine Schmerzverarbeitung hängt insbesondere davon ab,
dass die Klientin während des Prozessierens bewusst langsam-tief ein- und ausatmet. Die
Herzfrequenz nimmt bei der Einatmung (Inspiration) zu und während der Ausatmung
(Exspiration) ab. Diese Schwankungen haben bei normaler, ruhiger Atmung einen
Rhythmus von vier bis fünf Sekunden.
Innerhalb einer Sitzung von fünfzig bis neunzig Minuten hat sich der stechende
Knieschmerz in der Weise verändert, dass die Klientin ihn nicht mehr wahrnehmen
beziehungsweise nicht mehr in irgendeiner Position aktivieren kann. Meine Seminarpraxis
zeigt, dass es für diese therapeutische Vorgangsweise von Vorteil ist, wenn eine
Therapeutin auch tiefenpsychologische Kenntnisse besitzt. Die Therapie von chronischem
Schmerz in Bezug auf Schmerzgeschichte und Schmerzintensität zählt zu den wichtigen
ersten Bausteinen bei Schmerzfokus. Zu den weiteren Bausteinen gehören vier
Grundtechniken.
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3.1. Die 4 Grundtechniken des Schmerzfokus-Ansatzes:
A. Druck-Technik: Zur verbesserten Schmerzregulation verwenden wir eine manuelle
Drucktechnik (MK = manuelle Körperintervention) auf die chronisch schmerzende
Körperstelle der Klientin, welche zum gleichen Zeitpunkt einen körperlichen
Gegendruck von derselben Stelle ausgehend ausübt. Während gedrückt wird atmet
die Klientin mit einem „Aaaahh!“ Ton aus, solange sie Luft hat.
Durch die Druck-Technik wird die Schmerzstärke innerhalb kurzer Zeit stark verringert und
durch wiederholtem Vorgehen in der Regel vollständig aufgelöst. Diese Technik kommt
insbesondere bei chronischen Schmerzen im Bewegungsapparat und Kopfbereich zum
Tragen. Die Anwendung benötigt genaue Kenntnisse und Übung im Umgang mit Patienten.
B. Gefühlte Empfindungs-Technik: Man verwendet dabei eine spezielle Felt Sense
Technik nach Gendlin15, indem wir metaphorisch Assoziationen wie Größe der
Schmerzstelle, die Oberfläche, die Form, das Gewicht von schwer bis leicht, die
Temperatur von heiß bis kalt beschreiben lassen, sowie Farbe oder Schattierung
der schmerzenden Stelle beschreiben lassen.
Mit dieser Technik entsteht aus einer direkt-identifizierten Schmerzwahrnehmung
eine umschreibende, indirekte Schmerzwahrnehmung, die nun leicht erträglich ist.
Demnach beschreibt eine Klientin metaphorisch ihren Schmerz, was sich sowohl
auf Schmerzintensität als auch auf Schmerzqualität positiv auswirkt. Meist findet
die Klientin zwei bis drei Ausprägungen und kann dadurch konstant einen
beobachtenden Abstand des gefühlten Schmerzes oder Körpersensation
einnehmen.
Diese Technik eignet sich insbesondere nachhaltig bei Patienten mit chronischen
Kopfschmerzen, Migräne und Cluster-Kopfschmerzen.
C. Kontrollierte Atemtechnik: Die Therapeutin regt die Klienten an in einer
freundlichen Haltung zu sich selbst, „tief und langsam zu atmen“ und dieses Atem-
Muster während der Schmerzfokus-Sitzung so gut wie möglich beizubehalten. Um
diesen Wahrnehmungsfokus des Atmens bewusst im Vordergrund halten zu
können, hört die Klientin auf ihre eigene Atmung, das Ein- und Ausatmen und spürt
dabei das Heben und Senken des Brustraumes während weiterer Atemzüge.
Manchmal hilft es, wenn die Therapeutin zu Beginn zur Anleitung mit atmet.
15 GENDLIN E.T. (2012): Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen
Methode. Pfeiffer, München.
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Auch beim Autogenen Training nach Schultz16 (1932) oder bei Yoga Techniken nach Van
der Kolk17 (2014) wird der Atmung ein ganz besonderer Stellenwert zugeschrieben.
Wir haben festgestellt, dass durch diese limbische „Technik“ eine Tiefenregulation in
Gehirn und Körper geschieht, die es ermöglicht, dass die oben beschriebene
Schmerzmatrix sich zusehends positiv verändert.
Die autonome Kreislaufregulation der Atmung
Bei Angespanntheit, Furcht, Stress oder akutem Schmerzerleben wird der Atemrhythmus
schneller und unregelmäßiger, die Einatmungsphase wird größer und die
Ausatmungsphase geringer. Mithilfe einer Anleitung für ein bewusstes, langsames und
tiefes Betonen der Ausatmung können wir die autonome Kreislaufregulation im Gehirn
verändern, das Zwerchfell wird nach unten gedrückt und eine Schmerz- und
Stressberuhigung wird in Gang gesetzt. Bei der Einatmung wird das Zwerchfell nach oben
gedrückt, was zu einer Frequenzsteigerung des Herzens führt, da die Dehnungsrezeptoren
in Brustkorb und in den Atemwegen aktiviert werden. Von diesen führen Nervenfasern zu
Atemzentren ins verlängerte Rückenmark (= Medulla oblongata), wo die Reizung dieser
Rezeptoren zu einer Hemmung der Einatmung führt, sodass sie Ausatmung erfolgt. Die
Zentren sind über hemmende Bahnen mit motorischen Kerngebieten des von einer
Myelinscheide18 umgebenden Nervus Vagus verbunden.
Beim Ausatmen „tiefes, langsames Ausatmen“ wird der ventrale Vagus Nerv in den
absteigenden Bahnen (rot) des verlängerten Rückenmarks im Nucleus Ambiguus des
Hirnstamms aktiviert. Beim Einatmen zur Dehnung der Lungen wiederum passieren die
aufsteigenden Bahnen (blau) in der Medulla Oblongata (= verlängertes Rückenmark) im
Kerngebiet des Nucleus Tractus Solitarii, siehe Abbildung 3
16 SCHULTZ J.H. (1932): Das Autogene Training. Thieme, Stuttgart 17 VAN DER KOLK B. et al. (2014): Yoga as an Adjunctive Treatment for Posttraumatic Stress Disorder: A
Randomized Controlled Trial. Journal Clinical Psychiatry, Vol.75 18 Die Myelin- oder Markscheide umwickelt das Axon spiralförmig. Sie dient der Senkung von
Membranleitwert und Membrankapazität und ermöglicht dadurch eine besonders schnelle Erregungsleitung.
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Abbildung 3 nach G. Stankovic
Durch diese zweigeteilte innere Wahrnehmung werden während des Verarbeitungs-
prozesses neuronale Netzwerke des „Schmerzgehirns“ bzw. „Stressgehirns“ in einen
beruhigten Zustand gebracht. Anders gesagt hat die Klientin Zugang zu ihrer unbewussten
Schmerzgeschichte mit körperlich fühlbarem Schmerz, während sie gegenwärtig auf dem
Therapiesessel ruhig dasitzt und ihr „freundlich-tief-langsames“ Atemmuster bewusst
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wahrnimmt, die Atmung hört und in der Brust spüren kann (Heben und Senken).
D. Einen passenden Augenfokus (= Augenposition) zum erlebten Schmerz finden: die
Therapeutin beobachtet sehr aufmerksam, wohin die Patientin blickt
(Augenposition), während die Patientin den Schmerz fühlt und unterstützt sie
diesen Augenfokus während der Sitzung beizubehalten. Es gibt dazu eine implizite
und eine explizite Vorgehensweise. Unter impliziter Augenfokus-Technik verstehen
wir das genaue Beobachten, wohin die Patientin während der Sitzung blickt – das
ist der right-to-right brain Effekt, den Schore 19 untersucht hat. Bei der expliziten
Vorgangsweise machen wir die Patientin aufmerksam, wenn sie den Augenfokus
zum Schmerz gefunden hat. Durch diesen Augenfokus kommt es unmittelbar zu
einer neuen Regulation im Gehirn, die Schmerzintensität nimmt kontinuierlich ab,
bis sie nicht mehr wahrnehmbar ist. Am Ende der Sitzung sucht die Patientin eine
Augenposition, die einhergeht mit dem wohligen, schmerzfreien Gefühl im Körper.
Diese kann sie zuhause durch tägliches häufiges Wiederholen des Ressourcen-
Augenfokus trainieren, um eine Nachhaltigkeit des schmerzfreien Zustandes
aufrecht zu erhalten. Dies ist ein wichtiges Instrument, welches sich für den
therapeutischen Prozess in der Behandlung von chronischem Schmerz sehr
unterstützend auswirkt.
3.2. Die therapeutische Haltung bei Schmerzfokus
Eine weitere entscheidende Rolle bei der Schmerzverarbeitung spielt die therapeutische
Haltung. Wir nennen das eine implizite, beobachtende Haltung mit limbischen
Interventionen. Was können wir darunter verstehen?
Wie wir aus den Hirnscans des amerikanischen Neurowissenschaftlers Schore19 wissen,
besteht während einer Therapiesitzung neurophysiologisch eine direkte Verbindung
zwischen Therapeutin und Klientin und vice versa. Die jeweils rechte Gehirnhemisphäre
(unbewusste Inhalte, Intuition, Imaginatives, implizites Gedächtnis) beider Personen
(Therapeutin und Klientin) interagieren miteinander. So können z.B. die inneren positiven
Bilder der Therapeutin sich positiv auf die negativen, traumatischen Erinnerungsbilder der
Klientin auswirken. Sie wirken quasi wie Bilderressourcen, obwohl sie nicht einmal
19 SCHORE A.N. (2016): The Right Brain Implicit Self: A Central Mechanism of the Psychotherapy Change
Process. Chapter in Unrepressed Unconscious, Implicit Memory, and Clinical Work. Karnac, London
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ausgesprochen werden.
1. Verwendung von Sinnes-Ressourcen: Im Traumafokus verwenden wir eigens
gefundene fünf Sinnesressourcen jeweils zu Sehen, Hören, Riechen, Schmecken,
Spüren oder Tasten. Dabei entstehen positive Sinneseindrücke, welche den
Regulations- oder Verarbeitungs-prozess hochgradig begünstigen; insbesondere
dann, wenn Flashbacks oder Trigger auftauchen, die einen oder mehrere Sinne
betreffen. Beispielsweise beim Gefühl von Ekel ausgelöst durch Geruch und
Geschmack von Sperma kann mithilfe eines Rosenduftes und einem Minze Bonbon
ein wiederkehrender Trigger zum Abklingen gebracht werden, beziehungsweise
präventiv eingesetzt werden.
Leider wirken sich belastende traumatische Schilderungen einer Klientin (Hören, Sehen
von inneren Schreckensbildern z.B.) unmittelbar auf die rechte emotionale Gehirnhälfte
der Therapeutin aus. Daher können Therapeuten/innen, die häufig mit traumatisierten
Menschen arbeiten, stark indirekt traumatisiert werden.
Die therapeutisch eingesetzten Sinnesressourcen hingegen helfen einerseits der Klientin
während der Trauma Verarbeitung und schützen andererseits die Therapeutin vor einer
indirekten Traumatisierung.
2. Das limbische Zuhören: beim limbischen Zuhören legen wir unseren Fokus darauf,
was die Klientin spricht und vernachlässigen dabei ein wenig, wie sie spricht. Die
Therapeutin registriert diese Schilderungen mit wohlwollender Neugierde.
In Schmerzfokus hingegen hören wir uns genau den Inhalt an. Ein weiterer wichtiger
Teil des limbischen Zuhörens ist, dass wir darauf achten, wie sich das Atemmuster
während der Trauma Verarbeitung immer wieder verändert: von eingangs
angeregtem „freundlich-tiefem-langsamem Atmen“ erneut zu anhaltendem,
stockendem Atemmuster bei sehr belastenden Erzählungen. Bei traumatischen
Schmerzen/ Verletzungen oder bei Lebensgefahr verändert sich nämlich bei
Menschen und Wirbeltieren das Atemmuster, lange bevor diese es bewusst
wahrnehmen.
Walter Cannon20, einer der ersten Pioniere der Stressforschung, hat dieses Phänomen vor
über 100 Jahren in seinem noch immer gültigen Paradigma von Kampf, Flucht und
20 CANNON W.B. (1915): Bodily changes in pain, hunger, fear and rage - An account of recent researches
into the function of emotional excitement, p. 52-65. D Appleton & Company, New York.
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Erstarren (fight, flight and freeze) als Reaktionsmuster auf lebensbedrohlichen Stress
detailliert beschrieben.
Wenn wir die Änderung der Atmung bemerken, führen wir die Klientin bewusst wieder
zurück zu freundlich, tiefem und langsamem Atmen. Es ist offensichtlich, dass bei Klienten
im Modus von Dissoziation (Reaktion: Erstarren) oder Angst (Reaktion: Flucht oder Kampf)
das Gehirn erneut in einen dysregulierten Zustand gerät und daher nicht mehr Stress
verarbeiten kann. Man darf an dieser Stelle anmerken, dass dieser Stress einen Mikro-
Augenblick einer Retraumatisierung darstellt, der gerade durch unsere aufmerksamkeits-
fokussierte Arbeitsweise des Prozessierens äußerst gering bleibt.
Van der Kolk (2014) zeigt in ähnlicher Weise auf, wie effektiv Hatha - Yoga sich positiv auf
die Gehirnregulation bei komplex traumatisierten Menschen auswirkt, in welchem bewusst
induzierte Atemtechniken zusätzlich zu körperlichen Übungen genutzt werden
3. Limbisches Sprechen: Wenn unsere Klientin während der Schmerzbehandlung auf
die Brust deutet und meint, „jetzt wird es hier leichter“, so spiegelt die Therapeutin
im Wortlaut der Klientin deren spürbare Veränderung verstärkend wider: „Spüren
Sie, wie es jetzt bei Ihnen hier leichter wird“. Solche spiegelnden, limbischen
Interventionen wirken sich positiv synaptisch-verstärkend auf den Organismus der
Klientin aus. Ebenso zeigt es sich therapeutisch als wirkungsvoll, Schlüsselworte
der Klientin im gleichen Wortlaut zeitverzögert wiederzugeben.
Der Verhaltenspsychologe Donald Hebb21 (1949) beschrieb eine grundsätzliche Lernregel
des Gehirnes, die besagt: Zellen, die gemeinsam feuern, verbinden sich miteinander –
„cells that fire together wire together“. Wir kennen dies aus der Hirnforschung, dass sich
bei der Entstehung von chronischem Schmerz der Neurotransmitter Substanz P hochgradig
ausgeschüttet wird und sich schmerzleitende Nervenzellenstränge mit neuen
Nervenzellgruppen verbinden und sich dadurch die Schmerzareale im Kortex vergrößern.
Das Gehirn lernt buchstäblich Schmerz, d.h. je häufiger diese Neuronen feuern, desto
stärker werden die Schmerz-Signale. Umgekehrt gilt dasselbe Prinzip, wenn die
Schmerzintensität durch Schmerzfokus sinkt und wir die beschriebenen Techniken und
Vorgangsweisen verwenden „verlernt“ das Gehirn Schmerz, d.h. die Nervenzellverbände
werden kleiner und kleiner und der chronische Schmerz löst sich im Gehirn auf.
21 HEBB D.O. (1949): The Organization of Behavior. Wiley & Sons. New York
Copyrights Ó2017 Thomas Ch. Weber 21
4. Erste klinische Forschung
Weil der Ansatz Painspotting / Schmerzfokus seit Jahren so vielversprechend ist, findet
zurzeit eine prä- post Langzeitstudie von Weber und Preschitz statt. In Painspotting
ausgebildete Therapeut/innen einer deutschen Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie führen von 2016 bis 2018 mit Klienten, die auch an chronischen
Schmerzzuständen leiden, Painspotting-Sitzungen durch. Der Zustand der Patientinnen
wird vor, während und danach statistisch ausgewertet.
Die seit 2013 gesammelten klinischen Erfahrungen zeigen auf, dass die Verarbeitung und
Auflösung von chronischem Schmerz auf zwei Ebenen abläuft:
Þ die Bearbeitung der Schmerzgeschichte
Þ die Bearbeitung der Schmerzintensität
Die Verknüpfung beider Ebenen ermöglicht mithilfe der von mir entwickelten
Schmerzfokus-Techniken eine vollständige Auflösung eines akuten oder chronifizierten
Schmerzleidens.
5. Zusammenfassung
Schmerzfokus sehen wir als einen vielversprechenden, äußerst effektiven Zugang, die
unbewusste Schmerzgeschichte ohne Suggestionen non-kognitiv freizulegen und
anschließend zu verarbeiten. Durch Schmerzfokus wird eine Körper-Gehirn Regulation in
Gang gesetzt, welche chronische Schmerzen mit wenigen Sitzungen verändern und
aufzulösen vermag, so dass der schmerzende Körper inklusive Kopf aufhört, immer „weh
zu tun“. Die einst außer Kraft gesetzten aufsteigenden, schmerzleitenden (nozizeptiven)
Bahnen beginnen wieder auf natürliche Weise Schmerz aus der Peripherie (von Haut,
Geweben, Knochen, Organen usw.) zum Gehirn zu übertragen, so wie wir es bei akutem
Schmerz kennen. Gleichzeitig löst sich im Gehirn das Schmerzmatrix auf.
Mit Schmerzfokus haben wir einen interessanten und vielversprechenden neuen Zugang
gefunden und entwickelt, um chronische Schmerzen effektiv zu behandeln und weiter zu
beforschen.
Zudem kann Schmerzfokus sehr effektiv und in sehr kurzer Zeit akute Schmerzen, wie sie
z.B. nach Unfällen und nach Operationen entstehen, dauerhaft beheben.
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6. Forschung
Seit 2016 haben wir an der SysTelios Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie in
Deutschland eine Langzeitstudie zu chronischem Schmerz mit Painspotting begonnen mit
ersten Ergebnissen, die in einer Diplom Arbeit an der Sigmund Freud Privatuniversität in
Wien im Herbst 2017 publiziert wird. Eine größere Studie mit demselben Design läuft noch
bis 2018 an derselben Klinik weiter. Die bisherigen, noch unveröffentlichten Ergebnisse
sehen äußerst positiv aus.
7. Ausblick
Zurzeit werden Schmerzfokus Seminare für Psychotherapeutinnen, in Österreich,
Deutschland, Schweiz und in der West-Ukraine durchgeführt.
Ziel ist es, Fachleute (aus Psychotherapie, Psychologie und Medizin) in der Methode
Schmerzfokus fortzubilden und Patienten zugänglich zu machen sowohl ambulant als auch
stationär. Die Schmerzfokus-Methode lässt sich in anerkannten psychotherapeutischen
Methoden erstaunlicherweise gut integrieren, wie uns viele Kollegen/innen seit Jahren
bestätigen. Schmerzfokus nützt die therapeutische Beziehung und die spezifisch-
therapeutische Haltung des genauen Beobachtens und limbischen Intervenierens (right-
to-right-brain). Es wäre notwendig und wünschenswert, wenn weitere Studien zu
Schmerzfokus an Schmerzkliniken durchgeführt werden. Leider fehlt es uns zum
gegenwärtigen Zeitpunkt an Sponsoren und Forschungsgeldern, insbesondere für
bildgebende Studien, die wichtig sind, um weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zur
Schmerzregulation im Gehirn zu erhalten.
Mag. Thomas Ch. Weber
Leiter des Institutes für Neuropsychotherapie für Fort und Weiterbildung von Traumafokus, Schmerzfokus, neuropsychotherapeutischer Methoden und Prävention Langegasse 67/17 1080 Wien – Österreich E-mail: [email protected] Website: www.traumafokus.com