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Montag, 6. September 2010 Kölner Stadt-Anzeiger

08Reportage

Rein statistisch gesehen istMurat Vurals Leben einäußerst unwahrscheinli-

cher Fall. Er ist Deutsch-Türke.Und er ist als Wissenschaftler er-folgreich. Beides zusammen istin Deutschland die große Aus-nahme. Der Politikwissenschaft-ler Claus Leggewie sagt,Deutschland brauche mehr CemÖzdemirs in der Wissenschaft –eben weil es kaum welche gibt.Murat Vural ist so einer – unddarin sieht er für sich eine Ver-pflichtung. „Ich fragte mich, inunserem Wohnviertel leben soviele Migranten, warum schaffendie es nicht in die Uni?“

Im Jahr 2004 hatte er und eini-ge Kommilitonen eine simpleund doch brillante Idee: ein Bil-dungs-Schneeballsystem. „EinStudent hilft acht Oberstufen-schülern. Er macht Frontalunter-richt mit ihnen etwa in Mathema-tik“, sagt Vural. „Dafür bekommter ein bisschen Geld. Seine Schü-ler verpflichten sich, jeweils vierweitere Nachhilfeschüler aus derMittelstufe zu unterrichten – sieerhalten dafür kein Geld, weil sieja von dem Unterricht profitierthaben.“ Der Schneeball fliegt bishinein in die Grundschulen. DieKosten pro Schüler und Schul-jahr liegen bei maximal 90 Euro.Nicht viel im Vergleich zu übli-chen Nachhilfe-Vergütungen.

Vural sitzt im 4711-Haus inKöln und blickt aus der neuntenEtage auf Ehrenfeld hinab, dortleben besonders viele Türken.Das Büro ist noch nicht einge-richtet. Beim ersten Besuch beiVural wird Wasser in Pappbe-chern gereicht, die Flure undArbeitszimmer sind leer. DerDeutsch-Türke sitzt mit dem Rü-cken zum Fenster und erzählt. Je-der soll eine Chance haben, dassei seine Meinung. Deshalb habeer mit Freunden 2004 dieses Bil-dungsinstitut gegründet. Es heißtIBFS-„Chancenwerk“. Was zu-nächst als Hilfe für Migranten-kinder gedacht war, erstreckt sichnunmehr auch auf deutsche Kin-der. Er glaubt, das Chancenwerksei eine Konsequenz seines Le-bensweges. Vural ist 34 Jahre altund diplomierter Elektroinge-nieur – an der Uni Bochumschreibt er an seiner Dissertation.Eigentlich wäre er wie die meis-ten Migrantenkinder gar nichtnach oben gekommen, sagt er.Das deutsche Bildungssystem seistarr und kalt, wenn es um Auf-stiegschancen geht.

Das Modell hätte vielfältigeWirkungen. Die Kinder nehmenihre Nachhilfelehrer als Vor-bilder, sie orientieren sich neuund nehmen neue Perspektivenein. „Sie haben neue Ziele undstellen sich vor, irgendwannselbst zu studieren“, sagt Vural.Wie die Schüler der BochumerSchulklasse der Heinrich-Böll-Gesamtschule. Im Nachhilfe-unterricht sitzen sie Kinder inDreiergruppen zusammen. Ka-tharina Friesen von der Ruhr-UniBochum ist die Teamleiterin vonIBFS-Chancenwerk an der Schu-le. Sie will ein gutes Beispiel fürihre Schüler sein, „weil man ander Uni studiert und den Kindern

einen Weg weist. Gleichzeitig istman ein Beispiel für jemanden,der soziales Engagement zeigt,im besten Fall ein Vorbild.“

Die Kinder verändern nach we-nigen Monaten Nachhilfeunter-richt ihr Arbeits- und Sozialver-halten, die Noten werden besser.„Enver weiß, wenn er in derSchule etwas nicht verstandenhat, dass ihm Erkan oder Mehmethelfen werden“, erläutert Vural.Die Schüler verbessern sich vorallem in den Kernfächern und be-sonders in Mathematik, sagtSchulleiter Walter Bald von derErich-Kästner-Gesamtschule inBochum. „Es ist ein dauerhafterErfolg bei den Schülern“, stellt erfest. Und die Akzeptanz fürSchule, Mitschüler und Lehrerwachse. Auch bei den Eltern. Be-sonders auffällig sei aber ein an-derer Effekt. Die Schüler sindweniger aggressiv. Warum?„Weil sie sich sicherer fühlen. ImKern gehe es nicht nur um dasLernen, sondern darum, Bezie-hungen herzustellen“, sagt Vural.„Ihnen bedeuten die Studenten,die sie unterrichten, etwas“, sagter. „Ich gehe zu Fünft- und Siebt-klässern und erzähle denen, wasmöglich ist: Ich als Türke aus derzweiten Generation und einfa-chen Verhältnissen kann inDeutschland studieren und eineDoktorarbeit schreiben.“ Für dieSchüler ein Erweckungsruf. „DieKinder fangen plötzlich an, sichstärker für die Schule und dasLernen zu interessieren.“ „VieleKinder haben Probleme mit demSchulstoff. Ihre Eltern können ih-nen nicht helfen; die Lehrer ha-ben viel zu wenige Möglichkei-ten, auf die jeweiligen Schwie-rigkeiten der Migrantenkindereinzugehen.“ Diese Kinder, sagt

Vural, sind mit ihren Sorgenmeistens allein. Ihr Selbstbe-wusstsein holen sie sich notfallsmit Gewalt. Jetzt lernen sie:„Wissen ist cool.“

Zwei Beispiele: Yasemin Dik-biyik ist eine Schülerin aus Ca-strop-Rauxel, sie startete mit demNachhilfeprogramm, als sie inder 9. Klasse war. Durch dieUnterstützung kam sie in dieOberstufe und studiert nun Jura.Mittlerweile gibt sie Oberstufen-schülern Nachhilfe. Oder YasinErkul, er kam vor sechs aus derTürkei und hatte von „Chancen-werk“ im Radio gehört. Er hatden besten Abschluss in der Ber-gerfelder Gesamtschule in Gel-senkirchen geschafft und stui-diert nun Elektrotechnik. „Manmuss mutig sein und einfach vieltun, um seine ziele zu erreichen,sagt Yasin Erkul. „Von den Stu-denten bekommt man viele Tippsund Ratschläge, die mir zeigen,worauf es ankommt. Ich kann nurjeden empfehlen mitzumachen.“

Anfang des Jahres hat Vural inder Uni Köln vor rund 300 Zuhö-rern im Hörsaal II über seine Ideeeinen Vortrag gehalten. Das Mo-dell Chancenwerk soll möglichstvielen Kindern und Jugendlichenhelfen, das ist Vurals Vorsatz,deshalb will möglichst viele fürdie Idee gewinnen. An den altenruntergekommenen Holztischen,wo sonst junge Studenten ihreKöpfe zermartern oder die Tischezerkratzen, sitzen an diesemAbend die Erfolgreichen und be-ruflich Etablierten. Es sind Per-sonalberater, Firmenchefs, Desi-gner oder Hochschullehrer, dieMurat Vural zuhören. Vuralwirbt für seine Idee. Er erzähltseine Geschichte, von seinemAufstieg und den vielen Hürden

im Leben eines Türken, der kom-plexen Wirklichkeit einer türki-schen Familie, von der die meis-ten Deutschen wenig mitbekom-men. So packend, wie er redet,können es nur wenige. Vural istnicht nur ein Wissenschaftler,sondern auch ein guter Entertai-ner. Am Ende gibt es viel Ap-plaus. „Der ist klasse“, sagt einUnternehmensberater. Murat istin seinem Element. Wie auch ei-nige Wochen später, in Bremen,wo er vor 50 türkischen und deut-schen Eltern spricht. Auch ihnenhat Vural viel erzählt, vieles vondem, was sie nur zu gut wissen.Über ihr Leben, ihre Probleme,ihre Hoffnungen für die Kinder.Er kennt es ja selbst nur zu gut.Von dem schwierigen Verhältnisder Väter zu ihren Söhnen, denoftmals überforderten Müttern.Aber dass es auch einen anderenWeg gebe, den nach oben. Undfür den stehe er. Die Eltern müss-ten ihn nur anschauen. DiesenWeg könnten auch viele anderegehen, nämlich ihre Kinder. Aberdafür brauche er ihre Unterstüt-zung. Als er die entscheidendeFrage stellte, wer mitmachenwolle, war er von der Antwortselbst überrascht. „Alle haben dieHand gehoben.“

Es ist das genaue Gegenteil derDebatte, wie sie derzeit hierzu-lande geführt wird. Wie ja auchMurat Vural nicht ins Bild der In-tegration in Deutschland hinein-passen will. Dabei ist sein Le-bensweg bis zu einem bestimm-ten Punkt exemplarisch für soviele. Er wuchs in Deutschlandauf, im Alter von elf Jahren ginger mit seinen Eltern in die Türkei.Fünf Jahre später kehrte er zu-rück. Er besuchte die Hauptschu-le, der typische Weg eben. „Ich

wollte unbedingt Elektroinge-nieur werden. Die Lehrer sagtenmir: Das schaffst du nicht“, er-zählt er. Er habe trotzdem denbesten Hauptschulabschluss allerSchüler seines Jahrgangs ge-macht – allen Hürden zum Trotz.Ein Notendurchschnitt von 1,5 –und das mit wenig Deutschkennt-nissen. Dann ging es aufs Gym-nasium, er war ein Quereinstei-ger, „die hatten ohnehin schlech-te Karten.“ Einige Lehrer erkann-ten sein Potenzial und unterstütz-ten ihn, andere wollten ihm nurklarmachen, warum er das Abiturnicht schaffen könnte. Nach dreiJahren hatte er es dennoch in derTasche. Durchschnittsnote: 2,2.Auf der Ruhr-Uni Bochum stu-dierte er anschließend fünf Jahrelang Elektrotechnik, heiratete,wurde Vater zweier Söhne. Da-nach begann sein Promotions-projekt in Plasmatechnik.

Das Chancenwerk gibt es mitt-lerweile an acht Schulen – in Ca-strop-Rauxel, Bochum, Herne,Schwerte, Gelsenkirchen undBremen – für insgesamt 330Schüler. Was sie in Bremen in ei-ner Schule geschafft haben, sollin Köln an sechs Schulen gelin-gen. Auch in München und Duis-burg sind sie bereits aktiv.

„In diesem Land gibt es vieleMöglichkeiten. Man muss es nurwissen und wollen“, glaubt Vu-ral. Der Bildungsaufsteiger ausBochum lässt keinen Zweifelaufkommen, dass es an der Zeitist, dass die Chancen von Ein-wanderern verbessert werdenmüssen. In der Gegenwartstammt ein Drittel der Kinder ausMigrantenfamilien. In 15 Jahrenwird es jedes zweite sein. Ein reinstatistisch gesehen, so Vural, sehrwahrscheinlicher Fall.

Wie Migrantenkinder dasWissen lieben lernenMurat Vural hat eine brillante Idee: Ausländische Schüler geben Schülern Nachhilfe –Aus Ausgeschlossenen werden Bildungsaufsteiger

Von Michael Hesse

Murat Vural (hintereReihe, Dritter vonlinks) mit Helfern undSchülern in einer Bo-chumer Schule BILD: PV

Es gibt vieleMöglichkeiten.Man muss es nurwissen und wollenMurat Vural

Viele Kinderhaben Problememit dem Schul-stoff. Ihre Elternkönnen ihnennicht helfen; Leh-rer haben zu weni-ge Möglichkeiten, auf die Schwierig-keiten einzugehen

Murat Vural

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