Vorlesung Sportpädagogik WS 2014/15Prof. W.-D. Miethling
Heute:
Anthropologisch-phänomenologische
Grundlagen von Körper, Bewegung und
Sport
Willkommen
zur
Vorlesung ‚Sportpädagogik‘
Vorlesung Sportpädagogik WS 2014/15Prof. W.-D. Miethling
1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
2. Die Doppelrolle: Leib-Sein und Körper-Haben
3. Der Gestaltkreis von (Sich-)Bewegen und
Wahrnehmen
4. Zusammenfassung
5. Klausurfragen
6. Literatur
Anthropologisch-phänomenologische Grundlagen von Körper, Bewegung und Sport
Vorlesung Sportpädagogik WS 2014/15Prof. W.-D. Miethling
Anthropologisch-phänomenologische
Grundlagen von Körper, Bewegung und Sport
1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
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1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
• Biologische Grundbedürfnisse:
Bewegungsbedürfnis, Schlaf, Nahrungsbedürfnis,
Fortpflanzungs-Trieb/Sexualität
• Körperliches Erscheinungsbild (Phäno-Typ):
Körperbau, Körperform, Gesicht, Haare, Extremitäten,
sekundäre Geschlechtsmerkmale
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• Körperliche Fähigkeiten: als spezies-spezifische Anlage:
aufrechter Gang, der die oberen Extremitäten “freisetzt“; keine Kiemen
(Tauchen?); keine Flügel (Fliegen?); individuelle, genetisch determinierte
Möglichkeiten und Grenzen (Hochleistungssport; frühzeitige “Selektion“)
• Wachstums-/Reifungs-/Alterungsprozesse
(Veränderungen der Körperproportionen; Variabilität der Entwicklungen;
Akzeleration; Verschiebungen im Leistungsspektrum, z. B. bei Älteren
bzgl. Ausdauer- und Kraftfähigkeiten)
1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
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• Zum einen: Über diese weitgehenden genetisch determinierten
Merkmale werden unsere Existenz-/Handlungsmöglichkeiten biologisch
definiert. Sie stellen unsere prinzipiellen Handlungschancen und
Handlungsgrenzen dar.
• Zum anderen aber: Innerhalb dieser genetisch determinierten Grenzen
können wir auch unsere Biologie manipulieren. Schärfer noch: Wir
müssen uns mit unserer Biologie, mit unserem Körper auseinandersetzen,
mit ihm umgehen, zu ihm Stellung nehmen.
1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
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Beispiele:
• Wir haben Hunger und müssen uns entscheiden, wann, wieviel, was
wir essen. Extreme: Pubertätsmagersucht; Bulimie; Fettsucht;
Adonissyndrom
• Das Bewegungsbedürfnis wird exzessiv ausgelebt (und andere
Lebensaufgaben darüber vernachlässigt) oder rigide unterdrückt.
• Man findet sich mit seinem äußeren Erscheinungsbild ab, oder man
verdeckt die (vermeintlichen) Mängel mit Kleidung und Schminke, oder
man unterzieht sich einer Schönheitsoperation.
1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
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Beispiele:
• Man nimmt in der alltäglichen Lebensführung auf seine Gesundheit
Rücksicht oder lebt auf Kosten der Gesundheit
• Man treibt Sport in vernünftigem Maße, oder man beutet seinen
Körper im Hochleistungssport aus oder überfordert ihn mit Doping –
mit allen noch ungeklärten langfristigen Folgewirkungen
• Auseinandersetzung mit Reifungs- und Alterungsprozessen
1. Der Körper als biologische Existenzgrundlage
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Anthropologisch
bedingte Offenheit
Handlungsproblem Institutionalisierte
Entlastung
Sozio-kulturelle
Persönlichkeit
Instinktarmut
Weltoffenheit
Zeitöffnung
Innere und äußere
Unsicherheit
Improvisations-
zwang
Triebregulierung
Kulturelle
Werte
Soziale
Strukturen
Soziale Kontrolle
der Triebstrukturen
Identität
Individuum
Elemente soziologischer Denkweise(Heinemann 1998; 12)
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Instinktarmut besagt, daß Handeln nicht durch angeborene, artspezifische und
erfolgssichere Verhaltensfiguren bestimmt ist, die durch genau festgelegte Reize
ausgelöst werden; menschliches Handeln ist letztlich nicht biologisch determiniert.
Selbst zwischen organisch bedingten Bedürfnissen (Hunger, Durst, etc.) und der
Art ihrer Befriedigung liegt ein weites Feld möglicher, kulturell unterschiedlicher
Handlungen, die erlernt und erprobt werden müssen. Umweltoffenheit besagt, daß
der Mensch aufgrund seiner biologischen Konstitution nicht an eine genau
festgelegte, spezifische Umwelt gebunden ist; vielmehr besitzt er eine hohe
Anpassungsfähigkeit an eine Vielzahl von Umweltbedingungen und kulturellen
Gegebenheiten. Zeitöffnung bedeutet, daß sich der Zeithorizont des Menschen
notwendigerweise zur Entzerrung und Verlagerung momentaner Eindrücke, Reize
und Bedürfnisse in Vergangenheit und Zukunft öffnet, der Mensch also nicht (nur)
in der Gegenwart lebt.
Anthropologische Gegebenheiten(Heinemann 1998; 12/13)
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2. Die Doppelrolle: Leib-Sein und Körper-HabenWas heißt das?
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a) Leib als “Verankerung des Subjekts in der Welt“ (Merleau-
Ponty 1966)
„Ohne den Leib gäbe es weder ein Ich noch eine Welt. Anders
als der anatomische, physiologisch und physikalisch
beschreibbare Begriff “Körper“, ist der “Leib“ also keine
Unterabteilung der menschlichen Person, sondern ein Aspekt,
der in allen unseren Aktivitäten ständig mit anwesend ist“
(Prohl 199; 222/3).
Beispiele: Gespräch, Tanzen, Rudern
Merkmal: Relationalität
2. Die Doppelrolle: Leib-Sein und Körper-HabenWas heißt das?
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b) Das leibliche Verhältnis zur Welt ist ein spannungsvoller,
veränderlicher, vor allem aber sinnhafter Prozeß.
Dynamisches Wechselspiel zwischen Ich-Zentrierung und
Weltzentrierung.
Leib-Sein Körper-Haben
Doppelcharakter der leiblichen Existenz: Wir sind leiblich
haben aber Körperliches.
Beispiel: Phantom-Schmerz; Konzept der “Körpererfahrung“
als absichtsvolle leibliche Zentrierung
Merkmal: Zentrierung
2. Die Doppelrolle: Leib-Sein und Körper-HabenWas heißt das?
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c) “Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den
Durchgang durch ‘Vorstellungen‘ nehmen ... zu müssen.“ (Merleau-
Ponty 1966; 170)
Beispiel: der geübte Skifahrer fühlt nicht den Ski als Gegenstand,
sondern er erfühlt den Widerstand des Schnees unmittelbar; Tennis;
Verhalten eines Babys
Merkmal: Intentionalität
2. Die Doppelrolle: Leib-Sein und Körper-HabenWas heißt das?
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Phänomenologische Grundannahmen der
menschlichen Leiblichkeit:
• Relationalität
• Zentrierung
• Intentionalität
2. Die Doppelrolle: Leib-Sein und Körper-HabenWas heißt das?
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Zum Begriff ‘Gestalt‘ (i.S. der Gestaltpsychologie):
Im Erleben wirkt etwas immer schon mit anderem zusammen. Es
wird also nicht Einzelnes gesammelt und dann zusammengefügt,
sondern umgekehrt, ein Gesamt wird durchformt und die dabei
entstehende Gestalt bestimmt dann die Wirkung der einzelnen
unterschiedlichen seelischen Gegebenheiten.
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Ausdruck der Augenpaare
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Ausdruck der Augenpaare
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Ausdruck der Augenpaare
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Ausdruck der Augenpaare
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Müller-Lyer-Illusion
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Referenz-Illusion
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Referenz-Illusion
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Kipp-Figur
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Klassischer Satz der Gestaltpsychologie:
“Das Ganze ist mehr und anderes als
die Summe seiner Teile.“
Beispiel: “Versagen“ des Stürmers vor dem leeren Tor.
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Zur Wahrnehmung: Eine “objektiv“ identische Umgebung wird als
spezifische Situation wahrgenommen.
Beispiel: Wahrnehmung durch Spieler und Trainer
U
Spielerverhalten (S)
Trainerverhalten (T)
Situation (S‘): „Loch in der
Deckung“
Situation (T‘): Freistehender
Anspielpartner, den der Spieler
„übersieht“
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Die äußerlich gleiche Bewegung hat eine völlig
andere Struktur, ist ein anderes Verhalten, je nach der
wahrgenommenen Situation, auf die sie sich bezieht.
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Das Wahrnehmen der Umwelt geschieht
situationsspezifisch “als etwas“, und das (Sich-)Bewegen
vollzieht sich intentional “um zu“.
(Sich-)Bewegen Wahrnehmen
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Beispiel: Traversieren beim Ski-Fahren: Die
Fall-Linie
als (a) Sturzgefahr
als (b) notwendige Bedingung und
Herausforderung zum Fahren
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Das (Sich-)Bewegen und Wahrnehmen greifen ineinander, sind eng
miteinander verflochten. Sie sind ein fortlaufendes und gegenseitiges
sich erhellendes, in sich geschlossenes körperlich-seelisches Hin und
Her in kreisartiger Verbundenheit. Genau dies ist der ‘Gestaltkreis‘. Er
ist durch ein dialektisches Verhältnis gekennzeichnet. Insofern ist der
Gestaltkreis prinzipiell anders als der Regelkreis. Er ist nicht kausal,
sondern als Koinzidenz angelegt.
3. Der Gestaltkreis von Bewegen und Wahrnehmen
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Der Körper ist unsere biologische Existenzgrundlage. Er setzt uns
Grenzen, eröffnet Freiheiten und er ist darauf angewiesen, dass wir ihn
entwickeln und ihn gestalten.
Unser Körper-Verhältnis läßt sich als Doppelrolle von Leib-Sein und
Körper-Haben charakterisieren. Durch ihn sind wir als Subjekt in der Welt
verankert.
Im Zusammenhang von (Sich-)Bewegen und Wahrnehmen strukturieren
wir unsere Leibeserfahrungen und Weltbegegnungen in
situationsspezifischer Weise.
4. Zusammenfassung
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5. Klausurfragen
• Beschreiben Sie die Zusammenhänge zwischen
antropologisch bedingter Offenheit,
Handlungsproblemen, institutionalisierter Entlastung
und sozio-kultureller Persönlichkeitsentwicklung.
• Skizzieren Sie die drei phänomenologischen
Grundannahmen.
• Was ist mit dem gestalttheoretischen Satz gemeint:
Das Ganze ist mehr und anderes als die Summe
seiner Teile?
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Ennenbach, W (1998). Gestaltkreis als Erklärungsprinzip für
motorische Leistung – zugleich eine Einführung in seine
Theorie. In: K.H. Leist (Hg.), Ordnungs- und
Organisationsleistungen menschlicher Motorik.
Heinemann, K. (1998). Einführung in die Soziologie des Sports.
Hofmann-Verlag/Schorndorf; S. 12-15 u. S. 138-147.
Prohl, R (1999). Grundriß der Sportpädagogik. Limpert
Verlag/Wiebelsheim; S. 218-235.
6. Literatur