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5.Ausgabe, Mai 2012 Bremens freies Unimagazin Prüfungsangst? Die Spirale aus Versagensängsten und Misserfolgen Lyrik: Ist die hohe Kunst der Sprache todgeweiht? PABO: Die Bürokratie- Baustelle der Uni Bremer Sandstein: Die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Obernkirchner Bodenschatzes Endstation

5. Ausgabe

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5 . A u s g a b e , M a i 2 0 1 2

B r e m e n s f r e i e s U n i m a g a z i n

Prüfungsangst? Die Spirale aus Versagensängsten und Misserfolgen

Lyrik:Ist die hohe Kunst der Sprache todgeweiht?

PABO:Die Bürokratie-

Baustelle der Uni

Bremer Sandstein:Die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Obernkirchner Bodenschatzes

Endstation

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Kurzmeldungen 4

Hochschulpolitik Gremienwahlen an der Uni: Du hast die Wahl 5

Die Exzellenzinitiative 8

Zivilklausel und OHB: Plötzlich sind sich alle einig? 11

Pabo: Heute leider keine Sprechstunde 14

Campusleben Energiewende mit UniBremenSolar 16

Ein Supermarkt an der Uni?! 17

Ausgeartet 18

Mit dem Navi durchs GW2 20

Glauben an der Uni 22

Die akute Prüfungsangst 24

Bremen Exquisite Handarbeit bei Koch & Bergfeld Corpus 26

Off-Space Kunstprojekt „Der vierte Raum“ 28

Sandstein: Auf der Weser bis nach Bremen 30

Cup Cakes dank Crowdfunding 32

Viva con Agua 34

Der Bremer Bahnhofsvorplatz 36

Feuilleton Stummfilme: Schweigen bleibt Gold 37

Das Molotow in Hamburg 38

Lautsprecher 40

Kolumne 41

Lyrik: Ein unrentables Geschäft 42

Meinungen zum Gedicht von Günter Grass 44

Fernweh: Berlin 46

Das Symptom ACTA 48

Die Stadt als Zentrum des Erlebens 50

Impressum 52

Inhalt

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18 Ausgeartet

22 Glauben an der Uni

37 Schweigen bleibt Gold

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Hochschullandschaft in Elite und Normaluniversitäten auftei-len. Rektor Müller nimmt zu den Vorwürfen in einem Interview Stellung, erklärt die Motivationsgründe für die Bewerbung und schätzt die Chancen ein, ob sich unsere Uni bald „exzellent“ nen-nen darf. Ebenso ungewiss wie die Zukunft unserer Universität in Bezug auf die Exzellenzinitiative ist die Zukunft eines einst so großen, bedeutsamen Teils deutscher Hochkultur – der Lyrik. Jahr für Jahr kämpft sie ums Überleben. Autoren und Verlage halten schon lange nicht mehr des Geldes wegen an der hohen Kunst der Sprache fest, sondern aus Leidenschaft. Der Scheinwerfer er-klärt die Hintergründe der immer noch sehr aktiven deutschen Lyrikszene. Ein Gedicht, welches in den letzten Wochen trotz des Lyrik-Desinteresses für Aufsehen gesorgt hat, ist zweifellos „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass. Es entstand ein unvor-stellbarer Medienrummel um den greisen Literaturnobelpreisträ-ger, der fortan massenhaft mit Vorwürfen überschüttet wurde. Doch was steckt hinter dieser Aufregung? Können wir Deutsche uns einfach nicht von unserer Vergangenheit emanzipieren, oder steckt reiner Populismus hinter Grass‘ Gedicht?

Bei manchen Studierenden sorgt eine Klausur für soviel Nervosität wie die Post von der GEZ – nämlich gar kei-ne. Das kann jedoch ganz schnell dazu führen, dass man

alles auf die leichte Schulter nimmt und eines Tages die Exma-trikulation wegen Nichtbestehens in den Händen hält. Für an-dere hingegen ist eine Uniprüfung nicht nur immer wieder ein bedeutungsvoller Moment, sondern sogar ein Horrorszenario, das schlaflose Nächte bereiten kann. Die Lösung wäre wohl das Mittelmaß: Ein gesundes Selbstvertrauen in das eigenen Kön-nen gepaart mit einer leichten Nervosität. Doch das in einer Testsituation an den Tag zu legen, fällt vielen Studenten schwer. Der Scheinwerfer berichtet über Hintergründe und Ursachen der Prüfungsangst sowie über Möglichkeiten, den Teufelskreis zu verlassen.Doch nicht nur Prüfungen bestimmen den Studentenalltag, sondern auch die Stiftungsprofessur von OHB und die Frage, ob diese sich mit der Zivilklausel in Einklang bringen lässt. Nachdem die Zivilklausel vom Akademischen Senat Anfang des Jahres bestätigt wurde, fragt der Scheinwerfer kritisch beim Pressesprecher von OHB nach, inwiefern diese Entscheidung die Stiftungsprofessur beeinflusst und klärt Missverständnisse auf, die bei der Debatte entstanden sind. Ein anderes Thema, welches für laute Proteste seitens der Studierenden gesorgt hat, ist die Bewerbung unserer Universität für die Exzellenzinitiati-ve, welche nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Besonders laut wurde die Kritik, die Exzellenzinitiative würde die deutsche

Editorial

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Ihr erreicht uns bei Fragen, Anregungen oder Kritik entweder persönlich auf dem Campus, jeden Montag von 12 bis 14 Uhr in unserem Redaktionsraum C3180 im Sportturm oder unter [email protected].

Liebe KommilitonInnen, liebe LeserInnen!

Anne Glodschei Lukas Niggel

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Eröffnung des Café Kultur

Zum vierten Mal ist das Team B-Human am 01. April bei den RoboCup German Open in Magdeburg Europameis-

ter geworden. Das Team ist eine Kooperation des Deutschen Forschungszentrums für künstliche Intelligenz und des Fach-bereichs Informatik der Universität Bremen. Ziel ist es, einen humanoiden Roboter zu entwickeln, der den Gegner im Fußball schlagen soll. Mit diesem Roboter setzte sich B-Human gegen 14 Teams aus sechs anderen Nationen durch und setzte so ihre Siegesserie fort, denn seit 49 Spielen ist der entwickelte Roboter ungeschlagen. Das Team trat in der Kategorie „Standard Plat-form“ an, die auf einer einheitlichen Hardware basiert und nur in der Software modellierbar ist. Die Initiative des RoboCup soll die Forschung in dem Bereich der technischen Entwicklung der künstlichen Intelligenz fördern. Die entwickelten humanoiden Roboter sollen im Jahre 2050 die amtierenden Fußballweltmeis-ter schlagen. Bis dahin wird es noch einige Europa- und Welt-cups zu gewinnen geben. Die nächste Station von B-Human ist im Juni Mexiko-Stadt, wo sie ihren Weltmeistertitel gegen die anderen Teams verteidigen wollen.Wer mehr über den Robocup erfahren möchte, kann die offizi-elle Homepage oder die Homepage von B- Human besuchen:http://www.robocupgermanopen.dehttp://b-human.de

Bremen ist RoboCup-Europameister

Kurzmeldungen

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Kurzmeldungen

Gute Lehre ist ein ausschlaggebender Faktor für die Zufrie-denheit der Studierenden. Aus diesem Grund jährt sich die

Vergabe des Berninghausenpreises dieses Semester das einund-zwanzigste Mal.In drei Kategorien wird hervorragende Lehre ausgezeichnet:In der Kategorie „exzellentes Lehrprojekt“ hat sich das Projekt „Moot Court“ von Dr. Tanja Henking und Dr. Andreas Mau-rer aus dem Fachbereich sechs durchgesetzt. Den Preis für ein „hervorragend gestaltetes Einführungsmodul“ erhält Professor Lothar Probst aus dem Fachbereich acht mit seiner Vorlesung „Einführung in das politische System der BRD“. Dr. Hans Kon-rad Nettmann aus dem Fachbereich zwei erhält den „Studieren-denpreis“. Die feierliche Vergabe des Berninghausenpreises findet am 06. Juni um 18:00 Uhr statt. Auch diese Preisträger werden dem-nächst auf der 2011 installierten Berninghausenbank vor dem MZH verewigt.

Berninghausenpreis 2012

Die Initiative „Arbeiterkind“ berät bundesweit, unter ande-rem auch in Bremen, Schüler und Studierende bei allen

Fragen rund ums Studium und die Finanzierung desselben. Eh-renamtliche Mentoren berichten auf Messen und Informations-veranstaltungen von ihren persönlichen Erfahrungen und küm-mern sich um die konkreten Anliegen aller Interessierten. Ziel ist vor allem, auch Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern zum Studieren zu ermutigen. Doch auch für jene, die ihr Studi-um bereits aufgenommen haben, bietet „Arbeiterkind“ Informa-tionen und Hilfestellungen, beispielsweise bei der Bewerbung um ein Stipendium, einem Auslandsaufenthalt oder Fragen zu Möglichkeiten für die Zeit nach dem Studium. Wer sich bei dieser Initiative engagieren und selber als Men-tor tätig werden möchte, erhält weitere Informationen auf der Homepage www.arbeiterkind.de oder bei „ArbeiterKind Bre-men“ auf Facebook.

In der Uni Bremen hat ein neues Café eröffnet. Seit dem 7.Mai gibt es hier montags bis donnerstags von 14:00 bis 18:00 Uhr

Kaffee und selbstgebackenen Kuchen gegen Spenden, mit denen kulturelle Veranstaltungen finanziert werden. Neben dem nor-malen Cafébetrieb möchte das vom AStA ins Leben gerufene Projekt Raum für studentische Kultur bieten. In den Räumen können Livebands auftreten und Lesungen sowie Workshops abgehalten werden. Das Caféteam organisiert regelmäßig kultu-relle Veranstaltungen. Das Café Kultur befindet sich im ehema-ligen Theaterfoyer, beim unteren Mensaeingang.

Studieren, aber wie?

Foto: http://junior.robocupgermanopen.de/

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Du hast die Wahl - Deine Stimme für die UniErneut stehen die Wahlen zum Akademischen Senat und zum Allgemeinen Studierendenausschuss an. Neben alten Bekannten treten auch neue Listen auf den Plan. Um wen es sich handelt und was von allen Listen zu erwarten ist, hat der Scheinwerfer zusammengetragen.

Dialog: An den geäußerten Positionen ließ sich ein weiteres Mal erkennen, wie weit die politischen Lager mitunter auseinander liegen. Dabei reichten die Aktionen von der Ausrichtung einer öffentlichen Kandidatenvorstellung anlässlich der Rektorenwahl bis hin zum Versuch, den Akademischen Senat zu sprengen, in dem über die Zivilklausel beraten wurde. Während Rektor Prof. Dr. Wilfried Müller den amtierenden AStA aus AStA für Alle (AfA) und Campusgrün (CG) für die Organisation der Kandida-tenvorstellung noch in höchsten Tönen lobte, wünschte er sich beispielsweise beim Thema Exzellenzinitiative mehr Dialog, wie er sagt, und richtet sich damit zumindest implizit an Akteure der linken Opposition. Aus diesen Kreisen kam es im Zuge der Uni-versitätsbegehung zur Exzellenzinitiative zu kleineren Protesten. Einig waren sich die meisten Listen beim Thema Stiftungspro-fessur beziehungsweise Zivilklausel. Einzig der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) beteiligte sich nicht an den Protesten gegen die, so zumindest der Vorwurf, Abschaffung je-nes Konsenses. Und während eine gewisse Einigkeit herrschte, dass die Rektorwahl nicht optimal verlaufen sei, entschied sich nur die Liste der Studiengangsaktiven (LiSA) im Akademischen Senat (AS) dazu, die Stimme ungültig zu machen. Grund war der Vorwurf, die Wahl des neuen Rektors sei in dieser Form nicht demokratisch. Dass der amtierende AStA vor den Semesterferien noch seinen Koalitionspartner einbüßte, als der Vertreter des Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverbandes (SDS) sich entschloss, seine politischen Ziele lieber aus der Opposition heraus zu errei-chen, erscheint bei all diesen Themen fast als Makulatur, zumal die stabile Mehrheit von Rot-Grün auch weiter Bestand hatte. Um nun zu erfahren, was die Listen sich für die kommende Wahlperiode vornehmen und womit die politisch engagierten Studierenden um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler kämpfen, hat der Scheinwerfer ihnen Wahlbausteine vorgelegt, zu denen sie sich äußern konnten. Neben AfA und CG antwor-teten uns auch LiSA, der RCDS sowie die neu gegründete, aber nur zur AS-Wahl antretende, naturwissenschaftlich geprägte Lis-te MINT (LiMINT). Die übrigen Listen aus der linken Oppo-sition reagierten nicht auf eine Anfrage. Der möglicherweise zur Wahl antretende Pirat, der dieser politischen Strömung bei

Erneut stehen die Wahlen zum Akademischen Senat und zum Allgemeinen Studierendenausschuss an. Neben alten Bekannten treten auch neue Listen auf den Plan. Um wen

es sich handelt und was von allen Listen zu erwarten ist, hat der Scheinwerfer zusammengetragen.

Die vergangene Wahl liegt knapp ein Jahr zurück und die „Stem-pelproblematik“ wurde von so manchem vergessen, verdrängt oder verpasst. Erstmals hatten sich AStA und Wahlkommission darauf verständigt, auf die Verwendung des üblichen Wahlaus-weises zu verzichten, um so die Wahlmotivation zu erhöhen. Alternativ entschied sich die Kommission deshalb für einen unsichtbaren Stempel auf dem Studienausweis. Dass der nach einem misslungenen Testverfahren plötzlich gar nicht mehr zu sehen war, führte nicht nur zum Abbruch der Wahl, sondern auch zum Beschluss, in diesem Jahr einen sichtbaren Stempel zu verwenden. Die Hoffnung ist nun, dass es dieses Mal besser läuft. Gründe, das selbst zu überprüfen, gibt es einige. Dass der Wahlgang demokratische Verpflichtung ist: geschenkt. Dass die Gelder, über die der jeweils gewählte AStA nach der Wahl ver-fügt, von den Studierenden stammen, wissen die meisten auch und für viele ist bereits das Grund genug, zur Wahl zu gehen. Wenn aber in diesem Jahr laut teilweise unbestätigten Gerüch-ten auch neue Listen auf dem Wahlzettel stehen, ist es vielleicht nicht nur eine Wahl zwischen diesem oder jenem bekannten hochschulpolitischen Lager. Es ist auch eine Wahl, die darüber entscheidet, ob die Studierendenschaft allgemein mit dem bis-herigen Angebot ihrer Vertreter zufrieden ist, oder gänzlich neue Listen und Menschen in verantwortliche Position bringen will.

Das Jahr der großen ThemenDrei große Themen waren in der vergangenen Legislatur von besonderer Bedeutung: Die Wahl des neuen Rektors sowie die Bewerbung der Universität Bremen zur Exzellenzinitiative (sie-he Seite 8). Außerdem bekam die Universität das Angebot, eine Stiftungsprofessor vom Bremer Satellitenhersteller OHB finan-ziert zu bekommen (siehe Seite 11). Die hochschulpolitischen Akteure gingen dabei ganz unter-schiedlich mit diesen Themen um. Ob Protest oder konstruktiver

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Hochschulpolitik

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Wahlantritt erstmals einen Sitz im studentischen Parlament der Universität Bremen sichern könnte, wollte den Scheinwerfer aus wahlorganisatorischen Gründen vorläufig nicht als Plattform nutzen. Über weitere zur Wahl antretende Listen liegen dem Scheinwerfer zum Redaktionsschluss keine Informationen vor.

Wen wählen – und wieso eigentlich?Die Listen haben klar Stellung bezogen. Einigkeit herrscht im Bereich der universitären Bürokratie. AfA äußert den Wunsch, dass PABO sich durch neue Ideen weiterentwickelt. Weiteres Ziel ist der Abbau von Bürokratie im Prüfungsamt. CG will sich für eine Verlängerung der Anmeldefristen einsetzen und strebt auch einen Ausbau der derzeitigen Öffnungs- zeiten an. Langfristig ist das Ziel, ein einheitliches Prü- fungssys-tem voranzutreiben. Weiter wird der Universität vorgeworfen, äl-tere Bestände der Unibibliothek ohne Prüfung zu vernichten und vor Ort Arbeitsplätze abbauen zu wollen. LiMINT fordert zum Bürokratieab-bau die Verringerung der Prüfungs-leistungen, schlägt aber auch vor, die personelle Ausstattung zu verbessern und Fortbildungen anzubieten. LiSA sieht in der Verwaltung eine enorme Überlastung und strebt eine Verbesse-rung unter dem Motto „Entlasten, Aus-rasten, Abschaffen“ an. Der RCDS setzt seinen Fokus wie die übrigen Listen auf PABO, welches er als „größte Baustelle“ bezeichnet. So fordern die Konservativen, dass das Eintragen und Freischalten von No- ten schneller vonstatten gehen soll. Im Bereich der studentischen Mitbestimmung herrscht weniger Einigkeit. Während AfA und CG sich weiterhin für eine erwei-terte Repräsentation der universitären Statusgruppen durch bei-spielsweise die Viertelparität einsetzen, setzt LiMINT eher auf verstärkte Anreize für die StugA-Arbeit. Außerdem wolle man eine Diskussion über einen studentischen Konrektor-Posten anstoßen. Mehr Transparenz fordern jedoch alle. LiSA hinge-gen wendet sich komplett gegen die herrschenden Zustände, betrachtet die Universität als undemokratisch und lehnt den Parlamentarismus tendenziell ab. Der RCDS geißelt unter an-derem diese Position als Blockadehaltung und fordert, dass die Studierenden erstmal die gegebenen Mitbestimmungsmöglich-keiten nutzen, bevor man nach mehr ruft. Dazu wolle man auch selbst motivieren. Im Themenfeld Soziales äußern sich die Listen mit unterschied-

licheren Positionen. AfA will sich für eine Verbesserung der fi-nanziellen Situation von Studierenden einsetzen, sich aber auch um andere Studierende kümmern, die aus verschiedenen Grün-den im Studium beeinträchtigt sind. Deshalb setzt die Liste sich jetzt schon mit der AG Familienfreundliches Studium sowie der IG Handicap auseinander. Beklagt wird auch eine schlechte Wohnsituation Studierender in Bremen. CG fordert, dass der soziale und finanzielle Hintergrund keine Einschränkung für ein Studium darstellen dürfe und fordert unter anderem ein elternunabhängiges Bafög. Bei den Erfolgen der vergangenen Legislatur wird auf die Bafög- und Sozialberatung des AStA so-wie auf die dortige Möglichkeit zur Kinderbetreuung verwiesen. LiMINT setzt ihre Akzente im Bereich studentischer Beschäf-

tigung. So soll es leichter werden, auch während einer Ab-schlussarbeit die Arbeitsstelle zu behalten

sowie das entsprechende Gehalt zu be-ziehen. LiSA fordert kostenlose Bil-

dung und beklagt die Schwierigkeit, mit Nebenjob das Studium zu bewältigen.

Der RCDS setzt dabei eher auf den Ausbau der Bremer Stipendienlandschaft und auf den AStA als „Service-Dienstleister“. Beim Thema gesellschaftspolitische Posi-tionen stehen LiSA, CG und AfA für das

allgemeinpolitische Mandat beziehungs-weise dafür, dass sich hochschulpolitische

Gruppen auch zu allgemeinen politischen Themen äußern dürfen. Kapitalismuskritik

fällt in diesen Bereich ebenso wie eine Kritik an der Bildungsfinanzierung durch den Bund. LiMINT vermeidet

es, sich allgemeinpolitisch zu äußern und kon-zentriert sich auf die Themen, die die Universität und die Studierenden direkt betreffen. Ähnlich äußert sich der RCDS, der das allgemeinpolitische Mandat entschieden ablehnt. In Bereichen mit direktem Hochschulbezug wolle man sich zwar äußern, aber Kapitalismuskritik, Tierversuche und Rüstungsfor-schung gehören nach Ansicht der Christdemokraten nicht dazu. In der folgenden Tabelle hat der Scheinwerfer noch mal ausge-wählte Aussagen der Listen zu den wichtigsten Wahlbausteinen zusammengetragen.

Text: Björn KnutzenIllustration:

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Hochschulpolitik

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Hochschulpolitik

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klammen Länder vorm Verfassungsgericht klagt. Vor fünf Jahren stemmten sich die Länder gegen die Beeinflussung der Länderpoli-tik durch Bundesgelder, weshalb die EI auf Forschung ausgerichtet wurde – nur dort kann der Bund das Geld geben. Interessant ist, dass die Länder es beim Qualitätspakt akzeptieren. Klagt nur ein Land, ist das jedoch verfassungsrechtlich problematisch. Vor diesem Hintergrund hatten die Universitäten, zumindest vor fünf Jahren, keine andere Chance, als auf Forschung zu setzen. Diesmal gab es aber immerhin die Möglichkeit, sich zu entscheiden, auch einen Lehranteil drin zu haben, wofür es aber kein Geld gibt. Ist er aber drin, wird er auch bewertet. Wir haben uns unter dem Titel „for-schendes Lernen“ dafür entschieden. Ich glaube, dass der Antrag keine negativen Effekte für die Lehre hat, sondern überwiegend po-sitive. Wir haben den Antrag so formuliert, dass die Lehre über Ne-beneffekte profitiert. Alle Gruppen, die bei einem Erfolg Mittel be-kommen, verpflichten sich, das, was sie in der Forschung machen, in die Lehre einzubeziehen – auch in den Bachelorprogrammen. Wir kriegen natürlich eine Reduktion der regulären Lehrverpflich-tungen für einige Professoren, bekommen aber auch neue Profes-soren und vor allem wissenschaftliche Mitarbeiter, die allesamt zur Lehre verpflichtet werden. Wir haben auch zugesagt, dass wir allen, die sich am forschenden Lernen beteiligen, anhand eigener Mittel die Möglichkeit bieten, ein halbes Jahr ausschließlich in die Lehre zu gehen.

: Weiter wird unterstellt, die Naturwissenschaften wür-den begünstigt, während die Geistes- und Sozialwissenschaften zu kurz kämen. Das liege schon daran, dass die EI strukturell eher auf deren Forschungsmethoden ausgerichtet sei.Müller: Auch da ist etwas dran. Der Wettebewerb setzt im Bereich der so genannten Cluster kooperative Forschung voraus. Allerdings kann man auch kleinere Cluster aufbauen. Die Naturwissenschaf-ten sind begünstigt – bei den großen Clustern. Aber in der Wett-bewerbslinie der Graduiertenschulen trifft dieser Vorwurf nicht zu. Wir haben in unserem Antrag bewusst drei Dimensionen verfolgt. Eine für die großen Forschungsprojekte – überwiegend Naturwis-senschaften, aber nicht nur – und eine zweite für creative units, in der wir kleine Gruppen zum Förderobjekt gemacht haben. Das ist das riskanteste Element unseres Antrags, weil wir bisher wenig Er-fahrung in der Förderung solch kleiner Gruppen haben und das merkt so eine Kommission sofort.

: Herr Prof. Dr. Rektor Müller, universitätsintern wird vieles an der Exzellenzinitiative (EI) kritisiert. Viele bezweifeln, dass Bremen überhaupt eine Chance in dieser Förderlinie hat. Deshalb die erste Frage: Wie schätzen sie die Chancen ein?Müller: Wenn ich mich an die inneruniversitäre Selbstwahrneh-mung gehalten hätte, hätten wir uns nie beworben, weil sich die meisten nicht vorstellen konnten, dass wir es schaffen. Aber es gab ein paar Leute, die gesagt haben: „Ich möchte nicht an einer Uni-versität sein, die das nicht wagt.“ Wir haben im Moment neun Uni-versitäten, die den Titel „Exzellenzuniversität“ tragen, und es haben sich 22 weitere beworben, wovon sieben, unter anderem die Uni-versität Bremen, das Recht bekamen, den Vollantrag zu schreiben. Das bedeutet: Wir haben schon unglaublich viel erreicht. Dement-sprechend haben wir eine gute Chance.

: Unabhängig davon: Können Sie die Kritik und den Protest der Studierenden nachvollziehen?Müller: Wir haben viel getan, vor allem über die Konrektorin für Lehre und Studium, Prof. Dr. Heidi Schelhowe, um diese Kritik einmal im Detail nachzuvollziehen. Das ist nicht so einfach. Wir hatten den Semestergipfel, da ist Kritik geäußert worden – aller-dings nur von relativ wenigen. Und es war keineswegs nur negativ. Deshalb glaube ich, dass, wenn man die Zeit und die Ruhe hat, darüber zu reden, sich die Kritikpunkte auflösen. Aber wenn man nicht miteinander redet, dann ist das schwer. Ich glaube ja, dass die Diskussion das wesentliche Element einer Universität ist und an dem Punkt hätte ich mir mehr Diskussionslust gewünscht.

: Ich will einige der deutlichsten Kritikpunkte heraus-greifen. Ein Vorwurf lautet, die EI mag der Forschung zu Gute kommen, die Lehre aber verkümmert. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?Müller: Es ist an diesem Vorwurf etwas dran. Man kann allerdings die kritischen Punkte für die Lehre deutlich mildern – wie wir das gemacht haben. Warum ist da etwas dran? Es gibt ein komplizier-tes politisches Verhältnis von Bund und Ländern. Und die Län-der haben nicht zugelassen, dass der Bund in der Universität die Lehre fördert, weil strategisch die Länder zuständig seien. Verfas-sungsrechtlich ist das relativ einfach: Der Bund kann Projekte in der Forschung fördern. Über den Qualitätspakt findet auch eine Lehrförderung statt, was allein deshalb möglich ist, weil keines der

Die Exzellenzinitiative – „Wir wollen keine Elite sein“Eines der großen Themen, über die derzeit hochschulpolitisch gestritten wird, ist die Exzellenzinitiative. Während die einen ein Zwei-Klassen-System im Hochschulbereich fürchten, hoffen andere auf Geld und Prestige. Der Rektor der Universität Bremen, Prof. Dr. Wilfried Müller, stand dem Scheinwerfer für ein Interview zur Verfügung.

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: Es wird, auch mit Verweis auf die Naturwissenschaf-ten, unterstellt, dass nicht nur universitätsintern die Bereiche, die bereits stark gefördert werden, von der EI profitieren. Darüber hin-aus profitierten auch bundesweit jene Universitäten am meisten von der EI, die bereits Großes leisten konnten. Genannt seien hier München oder Heidelberg. Stimmen Sie diesem Vorwurf zu bezie-hungsweise halten Sie es in Anbetracht dessen für wünschenswert, die EI fortzuführen?Müller: Der Impuls für die EI bestand ja in der Wahrnehmung der damaligen Bildungsministerin Edelgard Buhlmann, dass die deutschen Universitäten interna-tional eine äußerst schlechte Posi-tion in den Rankings einnehmen. Und unabhängig von den Rankings gingen tausende deutsche Nach-wuchswissenschaftler mit Diplom ins Ausland – das heißt, der wis-senschaftliche Nachwuchs haute ab. Es geht da nicht um zu wenige Nobelpreise oder zu wenige Veröf-fentlichungen, sondern darum, dass der wissenschaftliche Nachwuchs Deutschland verlassen hat. Vor die-sem Hintergrund war das Ziel, dass eine kleine Zahl an Universitäten dem Nachwuchs solche Arbeits-bedingungen bieten kann, damit vielleicht nicht unbedingt alle hier bleiben, aber neue nach Deutsch-land geholt werden können. Dabei kann man gar nicht anders, als die Zahl der Universitäten, die an das ganz große Geld kommen können, zu begrenzen. Ein Teil der Kritik ist richtig, aber das Spielfeld für die Be-wertung ist nicht das eigene Land, sondern Europa. Es treten nicht nur Universitäten an, sondern Clu-ster und Graduiertenschulen. Die Gesamtzahl der geförderten Uni-versitäten liegt bei 35 von den 70 Einrichtungen, die man richtige Universitäten nennen kann. Ohne die EI hätten wir niemals so viel Aufmerksamkeit bekommen. Erst durch diesen Wettbewerb sind wir weltweit wahrgenommen worden. Die Frage ist also, ob man so einen Effekt will oder nicht. Offen gesagt: Ich bin unter anderem Rektor geworden, um so was zu erreichen.

: Aber besteht nicht die Gefahr einer „Amerikanisie-rung“ des deutschen Hochschulsystems? Es heißt nicht umsonst, dass in den USA mit ihrer Elitenförderung vielleicht die 40 besten, aber auch die 400 schlechtesten Universitäten der Welt stehen. Lau-fen wir nicht Gefahr, die Hochschullandschaft zu spalten in Eliteu-niversitäten und den Rest? Müller: Das erwarte ich nicht und hielte es auch nicht für positiv. Ich finde den Vergleich mit dem amerikanischen Hochschulwesen völlig daneben. Der wird immer von Leuten herangezogen, die sich

nicht auskennen. Wir haben dort doch Studiengebühren, die wir uns alle nicht erhoffen und zugleich, ganz bedeutungsvoll für die USA, sind die großen Forschungseinrichtungen – vergleichbar Helmholtz, Fraunhofer und so weiter – dort in den Universitäten. Erst bei gleicher Struktur in Deutschland hätten wir einen Vergleich mit den US-Universitäten. Wir wollen aber nicht die Gebühren und wir können nicht die großen Einrichtungen in die Universi-täten integrieren, die werden alle vom Bund bezahlt. Die USA ha-ben eine Differenzierung zwischen miserabel und exzellent, die für Deutsche unannehmbar ist. Auch die Steuergesetzgebung ist an-

ders, sodass dort beliebig Universi-täten gefördert werden können, was von der Steuer absetzbar ist. Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Es muss schon einen deutschen Weg geben, der auch eine gewisse Differenzierung beinhalten muss. Aber nicht in reine Forschung und reine Lehre, denn das haben wir bereits zwischen Universitäten und Fachhochschulen – das sind ja Leh-runiversitäten. Es wird aber eine Differenzierung innerhalb der Uni-versitäten, die Forschung betreiben, geben. Alle werden Forschung be-treiben, das ist ihr Auftrag. Einige werden dort aber breitere, andere schmalere Felder haben.

: Sehen Sie keine Ge-fahr, dass das Entstehen einzelner exzellenter Universitäten das Prin-zip der Chancengleichheit unter-laufen könnte? Es gibt Befürch-tungen, besonders herausragende Hochschulen können und werden auch hohe Hürden schaffen – hohe Studiengebühren, verstärkter Ein-satz von Aufnahmetests oder, wie teils in den USA, Aufnahme nach

Intelligenz und Charaktereigenschaften.Müller: Ich glaube nicht, dass das passiert. Es gibt das verfassungs-mäßige Recht auf Bildung. Wenn Universitäten die Nadelöhre zu eng machen, gewinnen die Studierenden vor Gericht. Es gibt schon Universitäten mit unterschiedlichem Ruf, was unter den Studieren-den zu einer Selbstselektion führt. Hochschulstrukturell wird sich aber in den Bachelorstudiengängen wenig ändern. Es wird sicher Universitäten geben, die sich das vorstellen. Wir stellen uns das nicht vor. Der Clou des Bremer Antrags ist doch, etwas zu probie-ren, was nicht mit sozialer Selektion in Verbindung steht, sondern mit Chancen. Wir sind weder, wie der alte Vorwurf oft lautet, Ka-derschmiede, noch wollen wir Elite sein. Das ist nicht das Ziel, es geht hier um gute Forschung. Wenn wir das packen, werden wir eine Fülle interessanter Studierende aus vielen Ländern der Welt bekommen. Das hat unter den Promovierenden jetzt schon zuge-nommen. Mein Ziel ist auch, ein Stück internationale Community

Hochschulpolitik

Der Rektor der Universität Bremen, Prof. Dr. Wilfried Müller, im Gespräch mit dem Scheinwerfer.

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hier zu schaffen. Und das geht nicht, wenn Sie nur eine ganz gute Regionaluniversität haben. Dann kriegen Sie niemals die Leute aus anderen Ländern in großer Zahl.

: Was genau bringt die EI überhaupt konkret für die Studierenden? Welche Vorteile ergeben sich für die große Masse an der Universität?Müller: Es bringt drei positive Punkte. Erstens kommt man bei großen Bewerberzahlen als Absolvent solch einer Universität in die engere Auswahl der Unternehmen und Institutionen und verbessert so seine Berufschance. Zweitens bekommen die Studierenden in der Lehre, wenn die Forschungsprojekte an die Lehre angebunden sind, das neueste Wissen angeboten. Und drittens, wenn Sie mal wirklich wissenschaftlicher Mitarbeiter werden und promovieren wollen, haben Sie viel bessere Chancen, eine Stelle zu bekommen. Also Reputation, Verbindung von Forschung und Lehre, zumindest in unserem Antrag, und mehr Stellen für die Promotionsförderung.

: Eine letzte Frage: Auf dem vergangenen Semestergipfel entstand die Idee, so etwas wie ein „Exzellenzwatch“ zu gründen.

Ein inneruniversitäres Evaluations- und Kontrollsystem also, das darüber wacht, welche Vorteile, aber vielleicht auch welche Nach-teile die EI für die Uni Bremen insgesamt hat. Wie stehen Sie zu dieser Idee und könnten diejenigen, die sich darauf einlassen, auf größtmögliche Transparenz und Kooperationsbereitschaft ihrerseits und ihres Nachfolgers hoffen?Müller: Ich glaube, dass Rektoren an diesem Punkt verkehrt ein-geschätzt werden. Wir werden handlungsfähiger, je offener wir agieren. Das heißt, offenes Agieren vergrößert die Aktionsmög-lichkeiten eines Rektors. Deshalb würden wir ein „Exzellenzwatch“ fördern. Sonst kommen wir ja gar nicht an die Probleme ran. Na-türlich kommen wir ran, weil wir Berichte schreiben müssen, aber so ein Projekt wäre ein Geschenk des Himmels, um zu prüfen, ob die Wünsche unseres Antrages überhaupt umgesetzt werden.

: Ich bedanke mich für das Interview.

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Exzellenzinitiative – Ein F.A.Q.

Was ist die Exzellenzinitiative?Bei der EI handelt es sich um ein 2005 gestartetes Bildungsförderungsprogramm in Deutschland.

Woher kommt das Geld?Die finanziellen Mittel stammen vom Bund, der sie unter anderem aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen erhielt.

Wie erhält man die Gelder?Es handelt sich um einen Wettbewerb um die besten Forschungskonzepte. Die Gelder fließen daher ausnahmslos in die Forschung. Für den Bereich Lehre gibt es den so genannten Qualitätspakt.

Wie sieht dieser Wettbewerb genau aus?Innerhalb des Wettbewerbs gibt es drei Förderlinien. Dazu zählt neben den Graduiertenschulen (wie die BIGSSS) und den Exzellenzclustern (Forschung in thematischen Komplexen) auch der Bereich Zukunftskonzepte, in dem sich die Universität Bremen momentan befindet.

Nur große Namen?Während vielfach Universitäten mit bestimmtem Ruf in der EI siegen, gilt dies nicht generell. Neben München oder Heidelberg haben auch Mannheim, Hannover oder die Universität des Saarlandes, aber natürlich auch die Universität Bremen, Erfolge zu verzeichnen.

Was passiert nach dem Ablauf der Förderungsdauer? Die Förderungsdauer soll fünf Jahre nicht überschreiten, wie es im Gesetzesbeschluss heißt. An gleicher Stelle wird die Möglichkeit einer einjährigen Überbrückungsfinanzierung sowie einer maximal zweijährigen Auslauffinanzierung erwähnt, die zumindest den Abschluss von Projekten und Forschungen ermöglichen sollen. Die oft vorgebrachte Kritik, dass zugesicherte Bezüge nach Ablauf der Zeit wieder verschwinden und neu geschaffenen Stellen dann die sofortige Abschaffung droht, ist somit nur teilweise richtig.

Text: Björn KnutzenFoto: Katrin Pleus

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Abschaffung der Zivilklausel hat es zu keiner Zeit eine Mehrheit gegeben.“ Vielmehr seien Äußerungen, die Zivilklausel zu modifizie-ren um sie anwendbarer zu machen, miss-verstanden worden. Auch Professor Arnim von Gleich, Dekan des Fachbereichs vier, steht der neuen Formulierung positiv ent-

gegen. Seinem Fachbereich soll die Professur zugute kommen. Zuvor hatte er noch gegen

eine Zivilklausel argumentiert. „Ich bin immer noch der Meinung, dass eine Friedensklausel

für die Universität angemessener wäre als eine Zi-vilklausel, da sich die Abgrenzung von der Bundeswehr

nicht unbedingt mit dem Grundgesetz verträgt.“ Allerdings habe die Formulierung „militärisch nutzbare Forschung öffentlich zu diskutieren und gegebenenfalls zurückzuweisen“ und nicht grundsätzlich alles abzulehnen, was militärisch nutzbar sei, dazu geführt, dass er mit dem Beschluss leben könne. Dazu hat wohl auch beigetragen, dass Rektor Müller während der Sitzung an-kündigte, dass die OHB bereit sei, ihren Anteil an der Finan-zierung der Stiftungsprofessur auch bei Erhalt der Zivilklausel bereitzustellen. Einzig das Mitglied des RCDS stimmte gegen die neue Zivil-klausel, da „durch die Zivilklausel die Forschungsfreiheit negativ betroffen ist“ und Rüstungsforschung für den Schutz der deut-schen Bevölkerung und deutscher Soldaten unabdingbar sei. Die anderen Hochschulparteien zeigten sich hingegen erfreut über das Ergebnis. Gleichzeitig wurde allerdings auch deutlich, dass die Debatte noch nicht vorbei ist. So bietet auch die neue Zivil-klausel keine Möglichkeit, die Stiftungsprofessur von OHB und DLR zurückzuweisen, da keine militärische, sondern Grundla-genforschung betrieben werden soll. Das sehen viele Studierende weiterhin kritisch: „Wir lehnen die Professur weiterhin ab und werden die Debatte darüber am laufen halten“, sagt Sonja Kova-cevic (CampusGrün).Rektor Wilfried Müller zeigte sich nach der Sitzung optimistisch hinsichtlich einer zukünftigen Zusammenarbeit mit der OHB. „99 Prozent der Weltraumforschung in Deutschland sind zivil“ und auch die Stiftungsprofessur behandle nur Grundlagenfor-schung. Gleichzeitig zeigte er sich überrascht über die Aufregung vor dem Beschluss. „Da ist wohl etwas hysterisch reagiert wor-den. Da wurde etwas falsch verstanden oder es wurde sich zu wenig informiert.“ Insgesamt empfand der Rektor die Stimmung während der AS-Sitzung als angenehm. „Ich freue mich, dass wir so viele interessierte Zuschauer hatten, die sich so Verhalten ha-ben, dass der AS eine freie Entscheidung treffen konnte. Es ist gut, dass wir die Thematik ausführlich diskutieren konnten und ehrlich gesagt, habe ich mit einem solchen Ergebnis gerechnet.“

Warum im Vorfeld so viele Irritationen entstanden sind lässt sich wohl nicht mehr beantworten. Jetzt geht es wohl hauptsächlich darum, die zukünftige Forschung der Stiftungsprofessur zu be-obachten und zu bewerten, ob diese die Zivilklausel verletzt.

Die Zivilklausel wurde bestätigt. In der Sitzung vom 25. Januar beschloss der AS den Erhalt der Zivilklau-

sel und nimmt diese sogar in die Leitziele der Universität auf. Der Beschluss war mit Spannung erwartet worden, da im Vorhin-ein lange diskutiert wurde, ob die Zivilklau-sel ein Relikt des Kalten Krieges sei und ak-tualisiert werden müsse. Ausgelöst wurde die Diskussion durch eine geplante Kooperation der Universität Bremen mit der Orbitalen Hoch-technologie Bremen System AG (OHB) und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die gemeinsam eine Stiftungsprofessur finanzieren sollen.Viele Studierende und Wissenschaftler sahen darin eine Verlet-zung der bestehenden Zivilklausel, die besagt, dass die Uni Bre-men nicht für militärische Zwecke forschen darf. In ihren Augen ist die OHB ein Rüstungskonzern, da das Unternehmen Satelli-tensysteme für die Bundeswehr entwickelt hat. Angeheizt wur-de die Diskussion durch einen Artikel im Weser-Kurier, in dem Marco Fuchs, der Vorstandsvorsitzende der OHB, ankündigte, die Professur nur zu finanzieren, wenn die Zivilklausel geändert beziehungsweise abgeschafft würde. Kritiker der Stiftungspro-fessur sahen darin einen Eingriff in die Forschungsfreiheit der Universität, während Befürworter die Zivilklausel als solche als ein Problem sahen, das die Forscher einschränke.Es entspann sich ein monatelanger Streit, über den der Schein-werfer berichtete. Die Fronten schienen verhärtet und in der Studierendenschaft gab es die Befürchtung, dass die Zivilklau-sel abgeschafft werden solle. Deshalb wurde die Sitzung des AS auch von circa 100 Protestierenden begleitet, die Plakate mit Aufschriften wie „ Keine Kriegs-Uni mit OHB“ und „Für eine friedliche Uni, für den Erhalt der Zivilklausel“ in den Händen hielten und ihre Meinung lautstark kundtaten. Umso überra-schender war dann das Ergebnis der AS-Sitzung: Die Mitglieder diskutierten weniger über einen grundsätzlichen Erhalt der Zi-vilklausel als vielmehr über eine klarere Formulierung. Haupt-sächlich ging es dabei um den Begriff der friedlichen Forschung, der laut Sören Böhrnsen (AfA) Forschung für militärische Frie-densmissionen (beispielsweise im Kosovo) nicht ausschließe. Eine Abschaffung der Zivilklausel stand also nicht zur Debat-te, stattdessen wurde sie konkretisiert und in die Leitziele der Universität aufgenommen. Das heißt, dass sich die Universität als generelles Ziel vornimmt, sich der zivilen Forschung zu ver-schreiben und dies auch schriftlich darzustellen. Im Endeffekt einigte man sich auf die Formulierung, dass sich „die Universität Bremen der zivilen Forschung und dem Frieden verpflichtet“.Professor Jens Falta, Dekan des Fachbereich eins, hatte wäh-rend der Sitzung den Entwurf der Dekane für eine Neuformu-lierung der Zivilklausel eingereicht, der im Laufe der Sitzung modifiziert und konkretisiert wurde. Er äußerte sich im Nach-hinein sehr erfreut über den Ausgang und zeigte sich irritiert über die hitzigen Diskussionen im Vorfeld. „Ich denke, für eine

Und plötzlich sind sich alle einig?Nach langer und ausgiebiger Diskussion wurde die Zivilklausel vom Akademischen Senat (AS) bestätigt und konkretisiert. Das klare Votum mit 18 Jastimmen, drei Enthaltungen und einer Gegenstimme über-rascht angesichts der großen Aufregung im Vorfeld.

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Hochschulpolitik

: Wie hat die OHB den eindeutigen Beschluss des Akademischen Senats (AS) aufgenommen, die Zivilklausel zu erhalten?Leuthold: Die Reaktion darauf war entspannt. Wir haben die Änderung der Zivilklausel niemals zur Bedingung gemacht, um die Stiftungsprofessur zu finanzieren. Wir haben letztlich gesagt, dass Zivilklausel und Stiftungsprofessur vereinbar sein müssen. Es ist allerdings nicht unsere Aufgabe das zu prüfen, sondern die Aufgabe der Universität. Wenn beides miteinander vereinbar ist, unterstützen wir diese Stiftungsprofessur finanziell, so wie wir das vertraglich festgelegt haben. Wenn dem nicht so ist, ziehen wir unsere finanzielle Zusage zurück.

: Der Weser-Kurier zitierte den Vorstandsvorsitzen-den Fuchs allerdings mit einer anderen Haltung („Entweder die Uni ändert die Zivilklausel oder wir lassen die Professur sein“).Leuthold: Leider wurden die Aussagen meines Chefs nicht kor-rekt wiedergegeben. Es ist jedenfalls nicht die offizielle Meinung des Unternehmens. Wir wollen nicht, dass die Zivilklausel für unsere Stiftungsprofessur abgeschafft oder geändert wird, son-dern wir wollen nur, dass Stiftungsprofessur und Klausel mitei-nander vereinbar sind.

: Warum wurde das denn nicht noch einmal öffent-lich klargestellt? Rektor Müller hat die Mitglieder des AS erst während der Sitzung am 25. Januar darüber informiert, dass die OHB die Professur auch ohne Änderung der Zivilklausel finan-zieren will.Leuthold: Wir sehen uns nicht in der Rolle, das Thema zu trei-ben. Unser Angebot steht. Unser Angebot bedeutet, dass wir diese Stiftungsprofessur über einen bestimmten Zeitraum mit einem bestimmten Betrag finanzieren. Das ist übrigens nicht nur unser Geld, das sollte man auch nie vergessen. Die eine Hälfte ist unser Geld und die andere kommt von DLR (Deutsches Zen-trum für Luft- und Raumfahrt, Anm. d. Red.). Das ist in der ganzen Diskussion auch niemals so offensichtlich geworden.

: Die Zivilklausel wurde noch einmal spezifiziert und sogar in die Leitziele der Universität aufgenommen. Inwiefern beeinflusst das die zukünftige Zusammenarbeit der OHB mit der Uni Bremen?Leuthold: Für uns macht das keinen Unterschied. Alles was wir vertraglich geregelt haben, ist der Beitrag von OHB. Wir sind weder verantwortlich für den Inhalt der Professur, noch geben wir Lernziele vor, noch sagen wir, wer der Professor sein soll. Das ist alles Aufgabe der Universität. Alles was wir leisten, ist die Finanzierung und auch das nur, wenn der Akademische Senat beides für miteinander vereinbar hält.

: Können Sie den Widerstand gegen die Stiftungspro-

fessur innerhalb der Studierendenschaft nachvollziehen? Zum Beispiel den Vorwurf, die OHB sei ein Rüstungsunternehmen?Leuthold: Ich akzeptiere, dass es solche Meinung gibt. Wir selbst sehen uns natürlich nicht als Rüstungsunternehmen. Klar, wir geben zu und stehen auch dazu, dass wir mit der Bundeswehr Geschäfte gemacht haben und hoffentlich künftig auch machen werden. Wir sehen uns allerdings nicht als Rüstungsunterneh-men im eigentlichen Sinne. Das ist allerdings eine schwierige Frage. Wer ist Rüster? Reicht es aus, wenn man einen militäri-schen Auftraggeber hatte? Ist er dann Rüster oder ist er es nicht? Es gibt viele gute Beispiele, die es nicht sind, allerdings auch viele, die es sind. Wir sind es unserer Meinung nach nicht, des-wegen sind wir auch ein bisschen angefasst von der Bezeichnung „Rüstungsunternehmen“. Wir wollen uns dieser Diskussion auch gerne stellen, aber die hat bis dato noch nicht stattgefun-den. Allerdings verstehen wir auch die andere Seite, die sagt, dass Rüstungsforschung im Sinne einer Massenvernichtung nicht zu unterstützen ist. Da sind wir der gleichen Meinung.

: Glauben Sie denn, dass diese Diskussion dem An-sehen ihres Unternehmens in der Studierendenschaft geschadet hat?Leuthold: Ja, das denke ich schon, da ich erlebe, dass Mitarbeiter von uns, die viele Freunde innerhalb der Studierendenschaft ha-ben, auf ihre Tätigkeit in unserem Unternehmen angesprochen werden. Und das nicht in einer freundlichen Art und Weise. Die Mitarbeiter fühlen sich dann natürlich nicht besonders wohl mit der Tatsache, dass sie hier arbeiten und können auch nicht mit so viel Stolz sagen, dass sie für unser Unternehmen tätig sind, weil sie eben unter Umständen im Kreise ihrer Freunde dadurch benachteiligt werden.

: Wo genau sehen Sie denn den Unterscheid zwischen zivilen Firmen und Rüstungsunternehmen?Leuthold: Ganz klar beim Herstellen einer Waffe und das ist ein Satellit eindeutig nicht. Allerdings ist die Grenze natürlich schwer zu ziehen und genau diese Diskussion muss man jetzt führen oder akzeptieren, dass es eine Grauzone gibt, in der man für militärische Auftraggeber arbeitet, ohne Waffen herzustellen die jemanden töten. In erster Linie sehe ich immer das Produkt und unsere Satelliten können bei weitem nicht das, was von der gegnerischen Seite unterstellt wird. Das muss man eindeutig sa-gen. SAR-Lupe ist nicht in der Lage, so wie es oftmals dargestellt wird, für Frontex irgendwelche Flüchtlingsboote im Mittelmeer aufzuspüren. Das kann dieses System schlichtweg nicht. Das ist technisch gar nicht möglich. Außerdem ist SAR-Lupe eine rein deutsche und von der Bundeswehr betriebene Technik und wird nicht im europäischen Kontext für Grenzschutz eingesetzt.

Nachdem die Zivilklausel vom Akademischen Senat der Universität Bremen bestätigt wurde, traf sich der Scheinwerfer für ein Interview mit Steffen Leuthold, Pressesprecher der OHB, um mit ihm über die künftige Zusammenarbeit, Missverständnisse, die aktuell schlechte Außendarstellung und den Einfluss der OHB auf die Stiftungsprofessur zu reden.

„Die Zivilklausel ist im Wesentlichen keine schlechte Sache“

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Text: Helge WohltmannInterview: Helge Wohltmann und Fabian Nitschmann

: Wie genau funktioniert die SAR-Lupe?Leuthold: SAR-Lupe ist ein militärisches Satellitenaufklärungs-system, keine Frage. Mit diesem System können Sie von so ziemlich jedem Punkt auf der Erde Aufnahmen mit einer ho-hen Auflösung machen. Allerdings geschieht das nicht im opti-schen, sondern im Radarbereich. Deshalb braucht es Experten, die diese Bilder auswerten. Unausgebildete Menschen könnten auf diesen Bildern nichts erkennen. Das System wird für die Führung und Einsatzplanung der Bundeswehr für Truppen im Ausland verwendet. Also sicherlich für die Bereiche Afghanistan und Kosovo.

: Wie genau sieht denn der Ablauf einer solchen Auf-nahme aus?Leuthold: Ein Satellit fliegt über die Bodenstation und be-kommt seine Informationen, zum Beispiel den Auftrag, eine oder mehrere Aufnahmen aus einer Krisenregion aufzunehmen. Dann braucht der Satellit erst einmal eine gewisse Zeit, um da-hin zu kommen, weil er in seiner Orbitalbahn permanent um die Erde kreist und nicht irgendwie querbeet gelenkt werden kann. Das heißt er muss so lange fliegen, bis er genau über dem gewünschten Punkt der Erde angekommen ist. Dann vergeht Zeit, bis er das Bild aufgenommen hat und wieder über der Bo-denstation ist. Wir reden hier über Zeitabläufe zwischen 12 und 24 Stunden. Für Frontex ist dieses System also nicht brauchbar, da Flüchtlingsboote in dieser Zeit längst auf ganz anderen Po-sitionen, meist sogar bereits angelandet sind. Außerdem ist die Radartechnologie nicht in der Lage, Menschen zu erkennen. Da geht es eher um Objekte, die größer als ein Quadratmeter sind. Beispielsweise kleine Häuser. Fahrzeuge zu detektieren ist mit diesem System bereits nicht mehr so einfach.

: Zurück zur Stiftungsprofessur. Warum ist die Pro-fessur so wichtig für die OHB?Leuthold: Das muss ich relativieren. Es ist für alle Parteien wichtig, dass es diese Professur gibt. Es ist nicht so, dass wir diese Idee haben, sondern wir sind gemeinsam mit dem DLR von der Universität angesprochen worden, einen solchen Raumfahrtstu-diengang einzurichten. Für uns als Unternehmen ist es wichtig, einen solchen Studiengang zu haben, weil Bremen inzwischen der Raumfahrtstandort hier in Deutschland ist. Wir sind natür-lich immer interessiert an frisch ausgebildeten Studenten, die dann bei uns anfangen können. Inzwischen rekrutieren wir un-sere Mitarbeiter aus Europa, weil es selbst in Deutschland viel zu wenige gibt.

: Es wird dabei ja eigentlich immer über die For-schung gesprochen, Ihnen geht es aber ausschließlich um die Ausbildung der Studenten?Leuthold: Wir wünschen uns natürlich auch einen Schwerpunkt auf der Lehre. Damit die Leute wirklich mit einem Fachwissen hierher kommen. Raumfahrt ist nicht so schnelllebig wie ande-re Branchen, wo sich in Abständen von jedem Jahr viel Neues entwickelt. Wir wollen also gut ausgebildete Facharbeiter. Wenn dann noch Forschung dabei ist, super.

: Wäre es nicht genau aus diesem Grund in Ihrem Interesse, Einfluss auf die Ausbildung dieser Studenten zu be-kommen?Leuthold: Dem ist definitiv nicht so. Raumfahrtsysteme als Stu-

diengang beinhaltet letztendlich die komplette Idee eines welt-raumtauglichen Vehikels. Das heißt, wir müssen nicht vorgeben, was die Studenten zu studieren haben, sondern das Wissen ist allgemein in anderen Universitäten auch verfügbar und dieses Wissen müsste hier im Prinzip nur multipliziert werden. Damit wären wir ja schon vollkommen zufrieden.

: Gleichzeitig sitzt die Familie Fuchs der Kommission bei, die die Professorenstelle besetzt. Zwar können sie nicht mit abstimmen, allerdings in beobachtender Funktion teilnehmen. Gab es da keine Möglichkeit der informellen Einflussnahme?

Leuthold: Ich kann Ihnen gerne sagen, wie es da gelaufen ist. Uns wurde nur der Kandidat vorgestellt. Wir haben nicht aktiv an der Suche nach einem Professor teilgenommen und auch in diesem Gremium keinen Einfluss genommen. Wir haben letzt-endlich nur den Kandidaten, der es werden soll, vorgestellt be-kommen und haben gesagt: Ja, warum nicht. Ich kann nicht für die Familie Fuchs sprechen, weil ich deren Aktivität in diesem Bereich nicht umfänglich genug kenne, das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich weiß nicht, an wie vielen Sitzungen sie teilgenommen haben. Ich kann mir aber vorstellen und so schätze ich sie auch ein, dass sie gesagt haben: „Macht das mal, wir vertrauen euch.“

: Herr Leuthold, vielen Dank für das Gespräch.

Hochschulpolitik

Steffen Leuthold im Interview

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berichten Studierende, dass eingereichte For-mulare nie beim zustän-

digen Sachbearbeiter an-gekommen sind. Leider

kann niemand Auskunft geben, wo diese geblieben

sind. Wer nun erwartet, dass die Mitarbeiter des Prüfungs-amtes für eine schnelle Lösung einstehen, der irrt. Meist muss der Betreffende selbst alle Nachweise noch einmal zusammensuchen und erneut einreichen – dieses Mal hoffent-lich in Kopie. Denn kein Mitarbeiter der Behörde wird einem Studenten schriftlich bestätigen wollen, dass ein Nachweis ab-gegeben worden ist.Das ZPA ist eine der wichtigsten Systemstellen im Unibetrieb. Hier werden alle der rund 260 Prüfungsordnungen umgesetzt. In diesen Ordnungen ist festgelegt, wie viele und vor allem wel-che Prüfungen ein Student ablegen muss. Prüfungsordnung ist jedoch nicht gleich Prüfungsordnung. Die Inhalte des fachspe-zifischen Teils unterscheiden sich nicht nur von Studiengang zu Studiengang, sondern auch innerhalb der Fächer selbst. So studiert ein Lehramtler nach einer anderen Ordnung als seine Kommilitonin, die sich für einen Vollfach-Bachlor entschieden hat. Hinzu kommt, dass sich die Prüfungsformalia regelmäßig ändern. Daneben gibt es viele andere Reglungen, die die Studie-renden selbst nicht direkt betreffen. Dazu zählt zum Beispiel die Besetzung des Prüfungsausschusses. Dieses kleinteilige System kritisiert der Allgemeine Studieren-denausschuss (AStA). Im Gespräch mit dem Scheinwerfer mahnt Reichwald die bürokratischen Abläufe an. Die differenzierten Verordnungen brächten viele Aufgaben mit sich – Arbeit, die das ZPA nicht mehr leisten könne. Überall fehle es an finan-ziellen Mitteln und Personal. Freie Stellen könnten nur über ein kompliziertes Verfahren beim Kanzler der Universität neu besetzt werden. Auch die Teambildung sei eine Folge der Un-terbesetzung. „Die wichtigste Strukturstelle der Universität ist unterfinanziert“, bringt es Christina Kock, Erstsemesterbeauf-tragte im AStA, auf den Punkt. Sich das Arbeitspensum im ZPA vorzustellen, ist nicht schwer. Aufgaben aus dem vergangenen Semester müssen abgearbeitet werden, während die Modulein-pflegung des aktuellen Sommersemesters ansteht. Die Software PABO rechnet zwar automatisch alle Punkte zusammen und setzt ein Häkchen bei bestandenen Prüfungen, die Ergebnisse müssen aber manuelle im Prüfungsamt eingegeben werden. Das Arbeitsklima sei alles andere als gut, die Zahl der Krankschrei-bungen läge über dem Universitätsdurchschnitt. Ob es wirklich nur an der schlechten finanziellen Situation des ZPAs liegt, dass nichts läuft? Die Pressestelle der Universität könnte darauf Ant-wort geben. Deren Erreichbarkeiten gestalten sich aber ähnlich schlecht wie jene im Prüfungsamt. Auf Anfrage folgte die Nach-

Das zentrale Prüfungs-amt (ZPA) gibt es schon so lange wie

die Uni Bremen selbst. Zu Diplom-Zeiten ging es hier recht beschaulich zu. Die Studie-renden reichten zum Ende ihres Studiums alle Scheine ein und meldeten sich zur Abschlussprüfung an. Die Berührungspunkte zwischen ihnen und dem Prüfungsamt belie-fen sich auf eine verschwindend kleine Zahl.Heute ist alles anders. Semesterende bedeutet Prüfungszeit und Belastungsprobe, nicht nur für die Lernenden. Jetzt zeigt sich, ob das Anmeldesystem in diesem Jahr funktioniert hat und alle Fehler rechtzeitig gelöst werden konnten. Im Wintersemester 2011/2012 stand das System „kurz vor dem Kollaps“, so Ele-na Reichwald, AStA-Beauftragte für Studium und Lehre. Die Probleme zeichneten sich bereits während der Anmeldepha-se im November ab. Zahlreiche Prüfungsmodule wurden erst verspätet freigeschaltet, einige von ihnen waren auch nach der verlängerten Frist nicht aufgeführt. So bangten die meisten Kulturwissenschafts-Erstsemester um ihre Anmeldung zum Eth-nologie-Modul. Am 30. Dezember war eine Anmeldung nicht möglich, die Ethnologie-Vorlesung noch nicht auf der Seite des Prüfungsamtes Bremen Online (PABO) zu finden. Mitten in den Weihnachtsferien liefen Anrufe und E-Mails ins Leere. Auch die Dozenten konnten die zuständigen Sachbearbeiter nicht erreichen und riefen ihre Studenten zu Beschwerden im Prüfungsamt und bei der Fachbereichsleitung auf. Was vielen nicht klar ist: Obwohl PABO und das ZPA oft in einem Atem-zug genannt werden, handelt es sich um unterschiedliche Dinge. Während im Zentralen Prüfungsamt Sachbearbeiter sitzen und sich um die Anliegen der Studenten kümmern, handelt es sich beim PABO lediglich um ein Computerprogramm. Ist ein Mo-dul nicht auf der Internetseite zu finden, so liegt das also eher an einem Softwarefehler als an den Mitarbeitern des Zentralen Prüfungsamtes. Das ZPA ist, so der Eindruck vieler Studenten, eine der am schlechtesten organisierten Einrichtungen innerhalb der Uni-versität. Kurze Öffnungszeiten, lange Warteschlangen und wo-chenlange Bearbeitungsdauer von Anfragen tragen nicht unbe-dingt zu einem besseren Image bei. Egal, wen man fragt, am Prüfungsamt lässt niemand ein gutes Haar. Wer sich neben dem zeitaufwendigen Studium auch noch darum kümmern muss, dass eine Unibehörde richtig arbeitet, hat weniger Zeit zum Lernen. Wer dann noch „ausführlich begründen“ soll (Zitat aus einer Mitteilung des ZPA zur Modulnachmeldung im vergan-genen Wintersemester), warum die Prüfungsanmeldung nicht erfolgreich war, der kann mit Recht sauer sein.Dabei macht nicht nur PABO Probleme. „Reiche nie ein Formu-lar im Original ein!“ Dieser Satz fällt oft, wenn das ZPA Nach-weise wie die General Studies Scheine verlangt. Immer wieder

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Heute leider keine Sprechstunde

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frage, ob der Redaktionsschluss des Scheinwerfers nicht schon verstrichen seien. Auch innerhalb der nächsten dreieinhalb Wo-chen gab es keine Auskunft. Ein Beschluss des Rektors soll nun Besserung im Prüfungscha-os bringen. Zum 1. April stand Entbürokratisierung auf dem Programm. Seitdem müssen die Mitarbeiter des ZPA nicht mehr überprüfen, ob die sogenannten anderen Leistungen be-reits bestanden worden sind. Unter anderen Leistungen fassten die Prüfungsordnungen bisher zusätzliche Qualifikationen wie Sprachnachweise oder den erfolgreichen Abschluss eines vor-ausgehenden Moduls zusammen, das die Teilnahme zu weiteren Prüfungen ermöglicht. Nun muss lediglich abgesichert werden, dass der betreffende Student immatrikuliert ist und, im Fall der Bachlorarbeit, alle Module bestanden hat. Diese Neureglungen gelten allerdings nicht für jeden Studiengang. Lediglich die Ordnungen, deren allgemeiner Teil im Jahr 2010 bereits geän-dert wurde, sind von diesem Beschluss betroffen. Alle anderen Ordnungen sollen bis 2013 umgestellt werden. Mittlerweile zeichnet sich jedoch ab, dass das so einfach nicht werden soll. Wahrscheinlich werden die zusätzlichen Leistungen doch ge-prüft, dann aber studiengangsintern. Wer genau dafür verant-wortlich gemacht werden soll, steht nicht fest.An diese Änderung sind dennoch viele Hoffnungen geknüpft. Allen voran steht die Erwartung, die Probleme aus dem vergan-genen Wintersemester begraben zu können. In den Augen der beiden AStA-Vertreterinnen ist der Beschluss jedoch nur ein ers-ter Schritt. „Ich hoffe, die Uni merkt auch, wie brenzlig die Lage ist und leitet weitere Veränderungen ein“, sagt Reichwald. Um die Belange der Studierenden an das ZPA heranzutragen, wurde der Arbeitskreis Prüfungswesen gegründet. Sein Ziel laut Pres-semitteilung: PABO reformieren. Bei den ersten Treffen wur-den zunächst die Forderungen der Studenten gesammelt und später an das Amt herangetragen. Im Mittelpunkt stehen hier die An- und Abmeldefristen. Wer kann schon, so die Arbeits-

kreismitglieder, nach sechs Wochen sagen, in welchem Fach er sich eine Prüfung zutraut? Am liebsten würden sie eine kom-plette Abschaffung der Abmeldefrist sehen. In der Kritik stehen ebenfalls die drei Klausurversuche. „Die Studierenden sollten selber entscheiden können, ob sie ein Fach weiter studieren wol-len oder aufhören. Nach fünf missglückten Versuchen wird sich jeder schon selbst überlegen, ob er das richtige Fach gewählt hat. Durch die drei Versuche entsteht nur unnötiger Druck“, meint Reichwald. Wie realistisch solche Forderungen sind, wird sich zeigen. Änderungen, die Fristen und Versuche betreffen, müssten in den Prüfungsordnungen geändert werden. Der Weg führt also über die Dekane. „Ich glaube nicht, dass es leicht wird“, fasst Kock die Situation zusammen.Auch die Mitarbeiter selbst haben einige Schritte in Richtung Veränderung gewagt. Eine Servicehotline für allgemeine Fra-gen sowie eine FAQ-Seite solle eingerichtet werden. Außerdem werden die TANs zukünftig per Post versendet. Ebenso gab es interne Veränderungen. Alle Mitarbeiter haben neue Computer-arbeitsplätze erhalten und die E-Mail-Weiterleitung wurde ver-bessert. Nun können Sachbearbeiter sehen, wie dringend eine Anfrage ist und ob der Absender bereits mehrere Nachrichten zum Thema versendet hat. Die Internetpräsenz ist bereits auf die offizielle Homepage der Uni umgezogen, lässt dabei jedoch noch auf ein vereinfachtes System warten. Momentan leitet ein Link zum nächsten und nach langer Suche landet der Benutzer doch wieder auf der alten Seite. Grundlegende Veränderungen kann es jedoch nur geben, wenn alte Strukturen aufgebrochen und mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dann können auch die Studenten mit längeren Sprechstunden und schnellerer Bearbei-tung rechnen. Um es mit Christina Kocks Worten auszudrücken: „Wir sind auch gespannt, was da raus kommt.“

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Text: Marie BornickelGrafik: Wienke Menges

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UniBremenSOLAR – dieser etwas sperrige Name steht für die deutschlandweit verbreitete Idee, umweltfreundlich und nachhaltig Strom an der eigenen Universität zu

erzeugen. Zu diesem Zweck wurden kürzlich im Rahmen des achten Uniumwelttages die ersten Photovoltaikanlagen auf den Unidächern eingeweiht. Über ein Jahr nach Fukushima sind sich die meisten noch immer einig: Die Energiewende ist nötig. Außer bei den Ewiggestrigen, die im wahrsten Sinne des Wortes den Knall nicht gehört haben, erstreckt sich die meiste Kritik heute auf technische und finanzielle Fragen. Denn auch das ist sicher: Die Energiewende wird kein Katzensprung, kostet viel und macht jede Menge Arbeit. Um diese Mühen zu bewältigen und ungenutzte Potenziale fruchtbar zu machen, ging vom Umweltmanagement der Uni Bremen die Initiative aus, eine universitätseigene Genossenschaft zu gründen. Diese hat zum Zweck, „das persönliche und finanzielle Engagement der Universitätsmitglieder für Nachhaltigkeit produktiv zu bündeln“. Es gehe darum, „die Energiewende und Klimaschutz gemeinsam zu schaffen“, wie es auf der Homepage zur Gründungsidee heißt. Maßgeblich getragen wurde die Idee zu Anfang von Dr. Doris Sövegjarto-Wigbers, derzeit Vorsitzende der Genossenschaft und Angehörige des Zentrums für Umweltforschung und nachhaltige Technologien. Bei der Frage nach ihrer persönlichen Rolle und wie sie den bisherigen Projektverlauf bewertet, kommt die überaus ambitioniert wirkende Frau sogar etwas ins Schwärmen. „Da entwickelte sich eine unglaubliche Dynamik. Jeder wollte mitmachen, jeder wollte dabei sein! Es war wie eine Welle“, fasst sie das Engagement der Beteiligten zusammen. Dabei brauchte es schon einen kurzen Vorlauf, bis das Projekt in trockenen Tüchern war. Schon seit zwei bis fünf Jahren wird das Thema in Bremen diskutiert. Offensichtlich war es nicht erst die Katastrophe von Fukushima, die die Menschen zum Nachdenken anregte. Trotzdem

war alles anfangs noch ein bisschen vage. „Das Konzept einer Genossenschaft hatten wir damals noch gar nicht so klar vor Augen“, erläutert Sövegjarto-Wigbers dazu. Doch am Ende habe vieles dafür gesprochen. Mit dem Genossenschaftskonzept sei unter anderem sichergestellt, dass die unieigenen Dächer das Eigentum von Universitätsangehörigen bleiben und nicht an Dritte gehen. Es sorge zusätzlich für eine auch ideelle Verbindung der Investierenden zum Projekt, als es ansonsten der Fall wäre. Im Zuge des Aufbaus der Genossenschaft galt es, die Leute für die Idee zu begeistern und möglichst alle mit ins Boot zu holen. Dabei mussten

sich die Initiatoren sowohl mit der Unileitung als auch mit Studierenden, wie zum Beispiel den Vertretern im AStA, auseinander setzen. „Das kam dann so langsam ins Rollen“, beschreibt Frau Sövegjarto-Wigbers den Verlauf, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass letztlich alles sehr schnell ging. Die Energiewende, das sei schnell klar geworden, ist ein Thema, das alle interessiert. Und so fanden sich die vormals kleinen Arbeitsgemeinschaften, die die Grundzüge des Projekts entwickelten, im August des vergangenen Jahres zu einem Gründungstreffen zusammen. Darauf angesprochen, dass es doch sicher auch Kritiker

gebe, reagiert die Genossenschaftsvorsitzende gelassen, wenn auch nicht ohne Emotion. Die Vorwürfe, dass Solarenergie in Deutschland weniger effizient sei als beispielsweise Windkraft, habe sie oft gehört. Auch die Sorgen über die ökologischen Auswirkungen der Solarpanelproduktion kenne sie gut. All das werde in den Fachbereichen und auch mit Kritikern diskutiert. Bei allem Zweifel steht sie aber zu ihrem Projekt. „Was haben wir denn für eine Alternative?“, fragt sie im Interview, als sie mit der Kritik konfrontiert wird. „Natürlich ist das eine Übergangslösung und am Ende geht es um eine breit gestreute Energieproduktion“, weiß sie für den Sonnenstrom zu werben. Dass jetzt aber Solarzellen auf die Dächer geschraubt und keine Windräder im Zentralbereich oder anderswo aufgestellt wurden, habe ganz praktische Gründe.

Campusleben

Der Universität aufs Dach gestiegen – Energiewende mit UniBremenSOLARWährend an manch anderem Ort über den Bau oder die Reaktivierung von Kohlekraftwerken nachgedacht wird, ist man an der hiesigen Uni schon weiter. Solarenergie – genossenschaftlich erzeugt – ist das Ziel eines Projekts, dem sich bereits einige Hochschulangehörige angeschlossen haben.

Gerd-Rüdiger Kück (Kanzler d. Universität); Christoph Schulte im Rodde (Vorstand UniBremenSolar eG); Dr. Doris Sövegjarto (Vorstandsvorsitzende UniBremenSolar eG); Dr. Lohse (Umweltsenator), v.l.n.r.

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Fast jeder kennt es. Es ist 16:00 Uhr und man hat noch mindestens eine Vorlesung vor sich. Die Mensa hat schon lange zu und auf noch ein Brötchen, das schon länger in der

Caféte liegt, hat man keinen Hunger. Wie schön wäre es da doch, einfach zum Supermarkt um die Ecke zu laufen und sich einen Joghurt oder einen fertigen Salat zu kaufen.Bald wird es vielleicht so weit sein. Im Januar dieses Jahres hat sich der Beirat Horn-Lehe dazu entschieden, die freie Fläche Universitätsallee Ecke Enrique-Schmidt Straße, in der Nähe der Bahnhaltestelle NW1/Universum der Linie sechs, die seit Jahren ungenutzt brach liegt, bebauen zu lassen. Diese Fläche gehört zum Gebiet des Technologiepark Bremen, der im kommenden Jahr sein 25-jähriges Bestehen zu feiern hat.Der aktuelle Bebauungsplan sieht vor, dass das bisher geplante Gebäude 14 bis 17,5 Meter hoch wird und im Erdgeschoss 800 Quadratmeter Platz für Büros und Einkaufsmöglichkeiten geschaffen werden sollen. Unter anderem sind ein Postamt und eine Textilreinigung im Gespräch, primär wird aber Wert auf eine Einkaufsmöglichkeit gelegt. Die Fläche ist sowohl durch die Universitätsallee, als auch durch den Autobahnzubringer gut an den Verkehr angebunden und für Studenten und Mitarbeiter des Technologieparks sowie Anwohner erreichbar.Staatsrat Dr. Heseler, Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen, erklärte auf der Sitzung der Staatsbürgerschaft am 27. September vergangenen Jahres, dass die Kaufkraft, um ein solches Bauvorhaben rentabel zu machen, durch den Bau und die Planung der neuen Studentenwohnheime erreicht werde und so der Umsetzung nichts mehr im Wege stehe. Auch der Ausschuss für Stadtentwicklung arbeitet für die Verbesserung der Infrastruktur im Gebiet der Universität und des Technologieparks und steht dem Projekt positiv gegenüber. Angesichts der 400 Unternehmen mit 6.500 Mitarbeitern und den 21.000 Universitätsangehörigen wird es Zeit, eine solche Einkaufsmöglichkeit zu schaffen. Bis auf die universitätseigenen

Bewirtungsmöglichkeiten, wie Mensa oder GW2- Caféte, und einige Lokale und Bistros, wie dem O´Flyns oder dem Café Unique, gibt es nicht viel in der Umgebung, um Güter des täglichen Bedarfs zu erstehen. Laut Heseler gibt es schon zwei potentielle Investoren, die ein solches Bauvorhaben unterstützen, jedoch wäre es in der Vergangenheit nicht lohnend gewesen und man konnte sich bisher auf keinen geeigneten Standort einigen. Es wurde auch eine Befragung mehrerer Studenten auf dem Unicampus durchgeführt, die herausfinden sollte, ob durch die neue und vermeintlich günstigere Einkaufsmöglichkeit der Umsatz der Universitätsmensa sinken würde. Da jedoch noch unklar ist, ob Discounter oder Einzelhandel in das Gebäude einziehen werden, lässt sich der Rückgang der Mensagäste schwer abschätzen. Vermutlich jedoch wird es keine großen Einbußen geben, denn ein warmes Essen ist immer noch besser als der erstbeste Artikel in einem Supermarkt, wenn man vom Hunger gepackt wird.Die Ausschreibung für das Bauvorhaben wird, nach Ausarbeitung und Veröffentlichung, sechs bis acht Monate laufen. Danach wird ein Bauvertrag mit der Baufirma unterschrieben, die den Zuschlag bekommen hat, in dem dann steht, dass die Realisierung und die Aufnahme des Betriebs binnen 24 Monaten geschehen müssen. Die jetzige Generation von Studenten wird außer Lärm wohl nicht viel von diesem Bauvorhaben haben, da bis zur Fertigstellung noch circa drei Jahre vergehen werden.Trotzdem ist es ein Schritt, der nötig ist, um die Anwohner zu entlasten und ihren Alltag komfortabler zu gestalten und auch der Nachfrage an Bürogebäuden auf diesem Gebiet entgegen zu kommen. Der Technologiepark erfreut sich immer größerer Beliebtheit bei Firmen und das Vorhaben, eine Einkaufsmöglichkeit auf diesem Gebiet zu bauen, wird diese Entwicklung sicherlich fördern.

Text: Natalie Vogt

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Ein Supermarkt an der Uni?!Die Vorstellung, zwischen den Vorlesungen oder nach der Uni seine Einkäufe erledigen zu können, gefällt bestimmt jedem Studenten. Diese Möglichkeit soll bald geschaffen werden, nützt den jetzigen Semestern jedoch wenig.

Allein die Frage der Baugenehmigung sei dort schwieriger. „Aber ausgeschlossen sind Windräder nicht“, fügt sie hinzu. Ein großes Anliegen hat die mit ihrem Projekt erfolgreiche Frau aber doch noch. „Ich wünsche mir, dass auch der AStA noch Mitglied in der Genossenschaft wird“, teilt sie im Interview mit. Tatsächlich ist es dem AStA als Institution möglich, so etwas zu tun. Gespräche gebe es bereits. Auf die Nachfrage, wie man als Student oder Studentin denn Mitglied werden könne, verweist sie auf einen derzeitigen Aufnahmestopp. Neue Mitglieder können erst aufgenommen werden, wenn neue Anlagen gebaut werden, denn genau das sei das Ziel der Genossenschaft. Wer sich aber doch sofort beteiligen möchte und derzeit Angehöriger der Universität ist, dürfe sich gern persönlich bei ihr melden. Es freue sie sowieso

und ganz allgemein, wenn sich viele für das Projekt interessieren. Was bleibt, ist der Eindruck einer Frau, die sich der Schwierigkeiten in diesem Bereich durchaus bewusst ist. Doch während andere lamentieren und man das Fertigstellungsdatum von Stromtrassen mal locker um ein oder zwei Jahre verschiebt, ist der Bremer hier handlungsbereit. Zukünftig versüßt der sommerliche Sonnenschein nicht nur die Tage auf der Wiese, sondern treibt die Wende mit voran. Ein Hoffnungsschimmer.Internet: http://www.uni-bremen.de/unibremensolar.htmlE-Mail: [email protected]

Text: Björn KnutzenFoto: Pressestelle Uni Bremen

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Neonfarbene Plakate mit den Worten „Bremen artet aus. Machst du mit?“ säumen den Weg zur Schaulust, in der am 28. April das von Studierenden der Universität

Bremen organisierte Festival ausARTen. stattfand. Mit einfa-chem Konzept hat die Veranstaltung erreicht, womit die Or-ganisatoren im Vorfeld nicht gerechnet hatten: ein volles Haus. Rund 400 Personen genossen zehn Stunden lang die Angebote, an welchen es nicht mangelte. Von Bands, die auf der Bühne ihre Lieder zum Besten gaben, über die Kunstausstellungen und Kurzfilme junger Nachwuchstalente bis hin zu Workshops, an

denen man seiner eigenen Kreativität freien Lauf lassen konnte, war für jeden etwas dabei.

Für die Psychologiestudentin Tonja war es die erste Ausstellung ihrer Bilder. „Was mir besonders gefällt, ist die unglaublich entspannte Atmosphäre des Festivals. Da hat man richtig Lust rumzulaufen und sich selbst mal umzuschauen“, beschreibt sie ihren ersten Eindruck. Im Gegensatz zur Band Avery Mile, die über die Homepage „bremen.de“ auf das Festival aufmerksam geworden waren, hatte sie über Flyer in ihrem Wohnheim davon

AusgeartetDas Kulturfestival ausARTen. hat alle Erwartungen übertroffen und gezeigt, dass die Zusammenarbeit von Studierenden zu einer erfolgreichen Veranstaltung führen kann. Doch was geht hinter den verschlos-senen Türen der Organisation eines solchen Events eigentlich vor sich?

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erfahren. Wie Avery Mile ihren Auftritt an diesem Abend in we-nigen Worten beschreiben würden? „Emotional, heiß, kurz und knackig.“ Denn für jede Band war nur eine halbe Stunde Aufbau und Soundcheck und eine halbe Stunde Spielzeit vorgesehen. Die Motivation hinter ihrem Auftritt beim ausARTen.-Festival war ihr neues Album „A Place Called Home“, das gerade erschie-nen ist und die Einführung ihres neuen Bassisten Thilo Kirsch. „So ein kleines Konzert hat auch was“, sagt die Band, „schnell auf die Bühne, schnell verkabelt, das hat schon seinen Reiz.“ Besonders gefreut hat sie, dass das Publikum auf ihre Musik ein-gegangen ist und das, obwohl die meisten sie im Vorfeld nicht kannten.

Entstanden war das komplett über Fördergelder der Universi-tät finanzierte Projekt im Rahmen des Seminars „Kultur- und Eventmanagement“ von Dr. des. Oliver Hinkelbein, Dozent der Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. Die Frage-stellung im Hinterkopf war, wie man das theoretisch Gelernte umsetzen und mit der Praxis verbinden kann. Die Studierenden sollten nicht nur Texte konsumieren, sondern abstrakt und the-oretisch kennen lernen, aufnehmen und in die Praxis umsetzen, so Hinkelbeins Credo. In diesem Zusammenhang war die Idee des nicht kommerziellen Kulturfestivals ausARTen. entstanden, das regionalen und noch relativ unbekannten Künstlern die Möglichkeit geben sollte, sich auf einer offenen Bühne präsen-tieren zu können. Wenn man ihn nach seinen Erwartungen an das Projekt befragt, bleibt er bescheiden. Er habe mit nichts ge-rechnet, denn in dem Moment, in dem man ein festes Bild vor Augen habe, würde man unzufrieden. „Man muss sich einfach überraschen lassen“, so Hinkelbein. Sein Erfolgsrezept? Den Studierenden Verantwortung übergeben und nicht einfach etwas vorwerfen, sie frei gestalten lassen. Ein Konzept müsse sich erst entwickeln können. In diesem Falle hätte die Kombination von Fachbereich sieben und neun in dem Seminar einfach funktio-niert.

Obwohl das Abgrenzen einer Zielgruppe eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Durchführung einer erfolgreichen Ver-anstaltung ist, wollte sich das Organisationsteam zunächst keine festen Grenzen setzen. Das Festival sollte jeden ansprechen, der sich für Kunst und Kultur begeistern kann und darüber hin-aus auch der Meinung ist, dass unbekannten Talenten zu we-nig Aufmerksamkeit zuteil wird. Beim Betreten der „Schaulust“ wird allerdings schnell klar, wer die indirekte Zielgruppe ist: Obwohl man erstaunt sein mag, dass auch der eine oder andere Erwachsene sich an den Workshops vergnügt und den Klängen der Bands lauscht, so gehört die breite Masse doch der Jugend-bewegung an, die von Vielen als „alternativ“ beschrieben wird. Es sind die „Viertel“-Gänger, die für ihre Jutebeutel und „laissez-faire“-Attitüde bekannt sind, die die Sonnenstrahlen draußen, auf den ehemaligen Bahnsteigen des Güterbahnhofs sitzend, ge-nießen und sich drinnen von den Workshops, der Kunst und den Bands inspirieren lassen. Für die Veranstaltung geworben wurde hauptsächlich mit Plakaten und über Facebook. Im Vor-feld hatten sich 378 Personen hierfür über die Plattform ange-meldet. Ursprünglich gerechnet hatte die Projektleitung mit nur circa 100 Gästen – den 20 bis 30 aktiv beteiligten Organisatoren und ein bis zwei Freunden von jedem.

Am Veranstaltungstag läuft alles ohne große Probleme oder Hin-dernisse ab. Das war jedoch nicht immer so, während der Pla-nungsphase mussten einige Hürden überwunden werden. Denn hinter der Organisation so eines Events steckt mehr Arbeit, als man erwarten mag. „Anfangs waren 80 Personen für die Veran-staltung eingetragen. Letztlich aktiv davon waren 20-30 Perso-nen“, sagt Caroline Hylla von der Projektleitung. Durch die gro-ße Gruppe ergaben sich nicht nur Kommunikationsprobleme, sondern auch Schwierigkeiten bezüglich der einzelnen Verant-wortlichkeitsbereiche. „Entweder fühlte sich keiner zuständig, weil jeder davon ausging, dass es ein anderer schon erledigen wird oder es brach eine Diskussion aus, weil einzelne Gruppen sich übergangen fühlten“, beschreibt Hylla die Konflikte, die während der Planungsphase auftraten. Dazu kam außerdem, dass in dem Projekt zwei Fachbereiche aufeinander trafen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Zusammenarbeit von Kulturwissenschaftlern und Wirtschaftswissenschaftlern führte zwar einerseits zu Synergieeffekten, die dem Festival schließlich zu seiner erfolgreichen Durchführung verhalfen. Die Vertreter beider Studiengänge brachten jedoch andererseits auch die ver-schiedensten Meinungen mit sich, die alle unter einen Hut ge-bracht werden mussten. Komplikationen traten zusätzlich durch die Zeitspanne auf, in der die Veranstaltung geplant wurde. Das Seminar begann im Wintersemester 2011/12 und die Organi-sation setzte sich über die Semesterferien fort bis zum Veran-staltungstermin Ende April. Dies verkomplizierte nicht nur die Kommunikation, sondern trug außerdem zu einer Verschlep-pung des gesamten Prozesses bei. „Wenn wir den Leuten nicht zwischendurch mal in den Hintern getreten hätten, wären wir vermutlich immer noch dabei, zu entscheiden, was für eine Ver-anstaltung wir überhaupt machen wollen“, so Hylla. Dabei hatte die Projektleitung von Anfang an kein leichtes Spiel. Respekt und Akzeptanz hätten sie sich erst erarbeiten müssen, so Hinkel-bein. Letztlich wären sie jedoch die einzigen gewesen, die sich mal getraut hätten, auf den Tisch zu hauen. Er selbst habe nicht zu sehr eingreifen wollen. „Learning by doing ist immer noch der beste Weg, um sich etwas anzueignen. Jeder Konflikt hat schließ-lich auch zu einem Ergebnis geführt“, so der Dozent. Und dieses Ergebnis kann sich sehen lassen. Durch den zeitlichen Druck ist dann Ende März schließlich der Knoten geplatzt und die Initia-tive und das Engagement von einigen Einzelpersonen haben das Ruder noch einmal herumgerissen. „Letztendlich kann man ein Jahr vorher anfangen, aber im Endeffekt zählen die letzten paar Wochen am meisten“, ist sich die Projektleitung einig. Studen-ten arbeiten eben unter Zeitdruck am besten, wie man so schön sagt. Am Ende hat sich die harte Arbeit bezahlt gemacht: Die „Schaulust“ ist brechend voll und die Massen tanzen zur Musik der auftretenden Bands. Euphorie liegt in der Luft. Denn nun, da das Spektakel vorbei ist, können die Projektbeteiligten durch-atmen und ein erstes Resümee ziehen. „Im Endeffekt hat es sehr viel Spaß gemacht. So viel Spaß, dass wir jetzt schon darüber nachdenken, nächstes Jahr möglicherweise in eine zweite Runde zu starten“, sagt Birthe Holtmann von der Projektleitung. Für alle die dieses Jahr nicht teilnehmen konnten, heißt es nächstes Jahr also womöglich wieder „Bremen artet aus. Machst du mit?“

Text: Jacqueline NiemeyerFoto: Hanna Düspohl

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Veranstaltungsbeginn: 10:15 Uhr in Raum A4170 im GW2. Die Uhr zeigt bereits 10:05 Uhr. Also geht man die große Mitteltreppe rauf bis in den dritten Stock und

rein ins nächste Treppenhaus – und dann: Sackgasse! Am Ende der Treppe ist nur ein kahler, grauer Absatz. Keine Tür, kein vierter Stock. Auf der Suche nach einem anderen Weg oder ei-nem Fahrstuhl verliert man sich im Labyrinth der ewig gleich aussehenden Gänge, die Schilder weisen in widersprüchliche Richtungen, man schaut auf die Uhr und stellt fest, dass man es nicht pünktlich schaffen wird.

Bremer Studenten kennen diese Geschichte. Sie ereignet sich so oder so ähnlich jeden Tag im GW2 (Geisteswissenschaften 2), dem größten Gebäude des Campus. Das GW2 ist ein architektonisches Monster aus der Gründungszeit der Universität, 1973 erbaut, grau, verwinkelt und unübersichtlich, mit einer Gesamtfläche von 34.600 Quadratmetern. Wie findet man bei rund 460 Räumen, seien es Büros, Computerräume, Labors, Archive oder Seminarräume die richtige Tür? Wie sucht man sich seinen Weg durch 155 Flure, Treppen und Aufzüge? Wie Schloss Hogwarts scheint das GW2 seine Besucher in die Irre zu führen mit seinen Türmen und dem mysteriösen vierten Stockwerk, das nur dann auftaucht, wenn man genau das richtige Treppenhaus oder den richtigen Fahrstuhl nimmt.

In Zukunft könnte die Suche jedoch ein Ende haben: In der Orientierungswoche zu Beginn des Wintersemesters 2011 wurde relativ unbemerkt ein Prototyp eines Indoor-Navigati-onssystems im GW2 getestet. Das Experiment ist ein Projekt der Forschungsgruppe I5 Diaspace aus den Fachbereichen drei

(Informatik) und zehn (Linguistik), das sich mit Dialogsystemen und Kommunikation beschäftigt. Hauptsächlich geht es dabei um die Frage, wie Menschen mit Computersystemen kommu-nizieren. Als nützliches Nebenprodukt könnte dabei jedoch in Zukunft eine Art „Navi“ für das GW2 herausspringen. Vivien Mast ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderfor-schungsbereich Raumkognition und hat das Experiment im GW2 durchgeführt. Sie hat 2011 ihr Magisterstudium in Lin-guistik und Medieninformatik an der Universität Bremen abge-schlossen und kennt das Problem, den richtigen Raum im GW2 zu finden, selbst nur zu gut.

„Wir wollen das Projekt auf jeden Fall realisieren“, so die 28-Jährige. „Es wird irgendwann in den nächs-ten Jahren einen elektronischen In-fo-Kiosk im GW2 geben, den man nach dem Weg fragen kann.“

Doch dafür muss die Technik erst einmal ausgereift sein. Regelmä-

ßige Experimente sind dafür wichtig, für diese werden ständig Versuchspersonen gesucht (mehr dazu siehe Info-Box). Das Experiment in der Orientierungswoche hat die Forschung zum Info-Kiosk schon ein gutes Stück vorangebracht. Insgesamt 78 Versuchspersonen kommunizierten bei dem Test mit einem Computer, der ihnen die Wegbeschreibung zu einem bestimm-ten Raum gab. Diesem mussten sie aus dem Kopf folgen. „Es stellte sich heraus, dass ein Navigationssystem, wie wir es aus dem Straßenverkehr kennen, in Innenräumen nicht ausreicht“, erzählt Mast. „Aus dem Kopf ist es schwer, Anweisungen wie ‚Gehe links, nach 100 Metern biegst du rechts ab‘ zu folgen. Man muss deshalb den Raum selbst beschreiben, zum Beispiel so: ‚Am Ende des Ganges erreichst du den großen Flurbereich. In der Mitte ist eine Treppe, dahinter sind zwei Glastüren des

Mit dem Navi durch das LabyrinthHat die ewige Suche nach dem richtigen Raum im GW2 bald ein Ende? Wie ein Experiment zur Lösung für das Orientierungsproblem werden könnte.

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„Das GW2 ist ein architektonisches Monster aus der Gründungszeit der

Universität.“

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Flurs. Nimm die Linke davon.‘“ Solche detaillierten Beschrei-bungen sind natürlich aufwendiger – das Computersystem ge-neriert sie noch nicht von allein, daher mussten sie für das Ex-periment per Hand geschrieben werden. Als Kontrolle sollten die Versuchspersonen am Ende noch angeben, wie gut sie ihr Orientierungsvermögen allgemein einschätzen. Immerhin: Den Raum gefunden haben sie schließlich alle.

Wäre der Info-Kiosk also die Lösung für das Labyrinth GW2? Es scheint so simpel zu sein, dass man sich fragt, weshalb es so etwas nicht schon längst gibt. Doch die Navigation in Innenräumen stellt die Technik vor ein paar schwerwiegende Probleme. „Na-vis basieren normalerweise alle auf GPS-Technik“, erklärt Mast. „Das ist in Innenräumen schwierig.“ Mobile Navigationssyste-me, wie jeder sie kennt, ermitteln per Satellitentechnik (Global Positioning System) den Standort einer Person und lotsen sie von dort aus zum gewünschten Ziel. Grundlage dafür sind digi-tale Straßenkarten. In Gebäuden ist die Satellitenortung jedoch durch dicke Wände gestört. Zudem existieren keine ausreichend detaillierten Lagepläne. Die Idee der Indoor-Navigation ist na-türlich nicht neu – das Problem der Ortung ist an sich leicht ge-löst, da durchaus Alternativen zu GPS existieren. Internet-fähige Geräte wie Smartphones und Laptops können geortet werden, indem ihr Abstand zu einem fest installierten Funkmodul, z.B. einem Wi-Fi-Spot oder Telefonmast gemessen wird. Dazu muss in Gebäuden ein Netz von Sendern und Empfängern installiert werden, das wie ein privates Satellitennetz funktioniert. Dieses Local Positioning System (LPS) kann jedoch bisher niemandem den Weg weisen, sondern nur angeben, wo sich ein Objekt im Gebäude genau befindet. Aber bekanntlich gibt es nichts, was es nicht bereits gibt. Google entwickelt 3D-Indoor-Karten, mit denen sich Besitzer von Android-Smartphones auf gewohnte Google-Maps-Art in Gebäuden ihren Weg suchen können. Vor-erst beschränkt sich dieses Projekt auf die USA, zum Beispiel

den Flughafen in Chicago und große Einkaufszentren. Doch auch ein Riesenkonzern wie Google steht bei der Digitalisierung der Indoor-Karten und der genauen Positionsbestimmung vor einigen Hindernissen. Zu große Hindernisse für die Forschungs-gruppe I5 Diaspace der Universität Bremen. Daher wird der In-fo-Kiosk im GW2 den Studenten wohl nur im Voraus den Weg beschreiben können – finden müssen sie ihn dann allein. „Wenn es den Info-Kiosk gibt, dann wird er technisch nie so ausgereift sein wie ein kommerzielles Produkt“, stellt Mast klar. „Unser Ziel ist in erster Linie die Forschung.“ Und bei der Umsetzung tauchen dann auch noch ganz banale Probleme auf, wie zum Beispiel der Diebstahlschutz. Solange der Info-Kiosk nur in einem normalen Laptop existiert, wäre es ris-kant, ihn offen im GW2 aufzustellen.

In ein paar Jahren jedoch könnten all diese Probleme gelöst sein. Und vielleicht ist es dann irgendwann so weit, dass man das GW2 betritt, sich vor den Info-Kiosk stellt und sagt: „Wo ist Raum A4170?“ Und der Computer wird antworten: „Gehen Sie durch die Glastür zur Cafeteria. Dort gehen Sie ein paar flache Stufen hinunter und kommen direkt auf drei Fahrstühle zu. Nehmen Sie einen davon bis in den vierten Stock. Oben wenden Sie sich nach links und folgen dem Korridor bis zu Raum A4170.“Sie haben ihr Ziel erreicht.

Text: Alice Echtermann

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Die Forschungsgruppe I5 Diaspace sucht regelmäßig „Versuchskaninchen“ für ähnliche Experimente wie den Info-Kiosk. Eine halbe Stunde Arbeitsaufwand wird mit vier Euro belohnt. Für Studenten des Fachbereichs Linguistik ist ebenfalls die Anerkennung fürs Studium möglich. Anmeldung unter: [email protected]

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Glauben an der Uni – zwischen Halbmond und christlichem KreuzFür die einen Seelenheil, sinnstiftend und Berge versetzend, für andere Schuld am Leiden afrikanischer Kinder und verantwortlich für etliche Kriege. Religion scheint viel zu häufig in Extremen gedacht zu werden. Um dieser alltäglichen Polarisierung entgegen zu treten, hat der Scheinwerfer sich mit Mitgliedern zweier religiöser Hochschulgruppen, den christlichen Navigatoren und dem islamischen Hochschulbund (IHB)*, zum sonntäglichen Gespräch getroffen.

: Herzlich Willkommen. Zu Beginn ein paar Infos über eure Gruppen: Wie viele seid ihr denn, gibt es mehr Männer oder mehr Frauen bei euch und sind das alles Studierende?IHB: Der islamische Hochschulbund vertritt als freie und politisch unabhängige Gruppe das Interesse einer demokratischen, vorurteilslosen, aktiven, multikulturellen und gleichberechtigten Gesellschaft. Diese Intention sehen wir primär in Aufgaben wie der Vertretung der sozialen, religiösen und kulturellen Interessen und Bedürfnisse der muslimischen Studierenden, sowie der muslimischen Hochschulangehörigen der Universität Bremen. Unabhängig von der Abstammung, der Religion, der Weltanschauung, des Alters, des Geschlechtes und unzählig anderen Unterscheidungen möchte der IHB jedem Studierenden die Möglichkeit bieten, sich einen Einblick in die islamische Welt zu verschaffen, um als Weltbürger zu einem Ganzen verschmelzen zu können. Darüber hinaus ist der IHB bestrebt, innerhalb der muslimischen Studierenden den Austausch und Dialog mit anderen Religionen, Hochschulgruppen und außeruniversitären Einrichtungen zu fördern und möchte dadurch zu einer besseren Verständigung beitragen.

: Wird euer Glauben an der Uni denn toleriert oder werdet ihr dafür eher belächelt – gibt es Beispiele von sehr positiven oder negativen Erfahrungen?IHB: Es hängt absolut davon ab, wer der Gesprächspartner ist. Die meisten gehen damit recht locker um. Es ist ja nicht so, dass wir

unseren Glauben an die große Glocke hängen, das machen andere für uns. Aber es gibt einige Dinge, die für uns selbstverständlich und normal sind (wie zum Beispiel die täglichen Gebete), die aber von Außenstehenden als ungewöhnlich wahrgenommen werden. Aber die meisten Menschen sind sehr weltoffen und sogar interessiert, sodass die Diskrepanzen keine Reibereien verursachen.Beispiel Gebetsraum: Da ich an der Hochschule Bremen studiere, habe ich die Möglichkeit, die rituellen Gebete in einem gesonderten Gebetsraum zu verrichten. Aber als ich an der Universität Bremen das Gebet verrichten wollte, war ich über die dort herrschenden Umstände schockiert, denn die männlichen Studenten an der Uni Bremen verrichten ihr Gebet im Treppenhaus auf einer maximal zwei Quadratmeter großen Fläche. Muslima haben es wiederum einfacher, da sie Ihre Gebete im Frauenraum verrichten können.

: Glauben und Studium – passt das wirklich zusammen?IHB: Selbstverständlich gehört es dazu. Die Religion ist genauso ein Teil der Gesellschaft wie Politik und Sport auch. Es gibt ebenso viele Spielarten und Varianten und jeder hat seine eigenen Vorlieben. Damit sollten auch religiöse Themen aller Art ebenso an der Universität ihren Platz haben können.

: Vielen Dank für das Interview.

*Das Interview mit dem IHB erfolgte aus organisatorischen Gründen per E-Mail.

IHB

Treffen: zu wechselnden Zeiten an der UniKontakt: www.facebook.com/IHBremen

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: Herzlich Willkommen. Zu Beginn ein paar Infos über eure Gruppen: Wie viele seid ihr denn, gibt es mehr Männer oder mehr Frauen bei euch und sind das alles Studierende?Sabine: Insgesamt sind wir etwa 25 bis 30 Leute mit den verschiedensten Motivationen, auch wenn nicht immer alle bei jedem Treffen da sind. Außerdem sind wir ein paar mehr Frauen als Männer, wobei dienstags mehr Männer und mittwochs meist mehr Frauen da sind. Wir sind fast alle in den 20ern. Die Leute kommen aus den ganz verschiedenen Studienrichtungen, was echt eine Bereicherung ist. Die gemeinsame Schnittstelle ist halt das Interesse am christlichen Glauben und die Lust, über Religion und die Bibel zu diskutieren.

: Wird euer Glauben an der Uni denn toleriert oder werdet ihr dafür eher belächelt – gibt es Beispiele von sehr positiven oder negativen Erfahrungen?Joscha: Das ist ganz unterschiedlich. Ich studiere jetzt Medieninformatik an der Hochschule. Vielleicht liegt es an meiner Studienrichtung, aber so viele Punkte gibt es bei mir jetzt nicht, wo es zum Thema kam. Ansonsten wird es, zumindest wo ich mit meinen Kommilitonen Erfahrungen gemacht habe, toleriert und auch so stehen gelassen nach dem Motto „Ist vielleicht gut für Dich, aber lass mich damit mal in Ruhe“. Sara: Einige können damit wirklich nichts anfangen, andere sind aber verwundert oder auch irgendwie fasziniert, wodurch ich auch coole Gespräche darüber hatte. Sabine: Von einigen kommt auch Bewunderung. Das passiert nun nicht am laufenden Meter, aber kommt doch vor - nach dem Motto „Ich wünschte, ich könnte das auch“. Insbesondere wenn es um persönlichere Themen geht.Sara: Ansonsten gibt es Momente, in denen Dozenten manchmal ja fragen, wer in die Kirche geht und plötzlich lachen dann alle. Da fragt man sich schon, ob die dann auch über einen selbst lachen würden. Und ich frage mich auch, warum die Frage nicht so ernst genommen wird.

Sabine: Auch werden manchmal unsere Plakate abgenommen, aber ich rege mich nicht darüber auf. Immerhin müssen diejenigen sich darüber Gedanken gemacht haben und sind nicht gleichgültig an allem vorbeigelaufen - und es wäre spannend, mal mit denen zu diskutieren. Trotzdem muss das Abnehmen natürlich nicht sein.

: Glauben und Studium – passt das wirklich zusammen?Joscha: Religion gehört auf jeden Fall hierher. Auch wenn es nicht unbedingt einfach ist, weil für viele Wissenschaft und Glaube oft nicht zusammen kommt. Und natürlich bleibt immer die Frage: Wo hört das eine auf und wo fängt das andere an? Aber es gibt nun mal Fragen, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens, die jeder Mensch hat, die aber wissenschaftlich nicht geklärt werden kann.Sabine: Das Studium ist schon eine gute Zeitspanne, sich mit sowas zu beschäftigen. Das Leben liegt noch vor einem, man hat noch Möglichkeiten, Weichen zu stellen. Und während das früher in der Familie thematisiert wurde, findet das heute vielleicht auch in der Uni statt. Sara: Ich glaube, die Uni kann einem beibringen, wie die Welt funktioniert und was so die Vorgänge sind. Aber sie kann uns nicht sagen, wieso wir hier sind, wie es mit uns weiter geht und wieso wir das alles hier machen. Und wenn man sich mit solchen Fragen auch an der Uni beschäftigt, kommen vielleicht auch persönliche Fragen auf. Sabine: Und ich finde es auch eine coole Umgebung, weil man besonders an der Uni total herausgefordert ist, weil alles in Frage gestellt wird und man mit Leuten diskutiert, die relativ gemischt sind. Das ist anders, als wenn man zum Beispiel in eine eher homogene Gemeinde geht.

: Vielen Dank für das Interview.

Interview: Björn Knutzen Fotos: IHB, Navigatoren

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Navigatoren

Treffen: dienstags und mittwochs um 20 UhrKontakt: navigatoren-bremen.com [email protected]

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Mündliche Prüfungen und Klausuren gehören sicher-lich für viele Studenten zum unangenehmeren Teil des Studiums. Der Großteil von ihnen versucht, Job

und Studium unter einen Hut zu kriegen, sie müssen mit der Doppelbelastung klar kommen und das führt nicht selten zu Stresssituationen und Druck. Die Belastung wird größer wenn sich Studenten an den Leistungen ihrer Kommilitonen messen. Während einige in der Prüfungszeit „nur“ nervös sind und viel-leicht etwas wackelige Knie haben, steigert sich die Angst bei anderen ins unermessliche. Die Angst, in Prüfungen zu versagen oder ein völliges Blackout zu bekommen, macht einigen Betrof-fenen das Studium zur Hölle. Professor Michael Koch ist seit zwölf Jahren Dozent an der Uni Bremen im Fachbereich zwei. Er arbeitet am Institut für Hirnforschung in der Abteilung der Neuropharmakologie, zu sei-nem Forschungsgebiet gehören die Neuronalen Grundlagen kognitiver Prozesse, wie das Gedächtnis, Auf-merksamkeit, Lernen und Verhal-tenskontrolle, und die Neuro- und Psychopharmakologie von Drogen und Medikamenten. Das Thema Prüfungsangst spielt für ihn als Dozent auch eine Rolle: „Ich kenne das Gefühl aus meiner eigenen Erfahrung als Student und vor Prüfungen unterhalte ich mich mit Studenten über das Thema und versuche, Tipps zu geben.“ Koch ist Co-Autor des Buches „Mensch im Stress“ und an Forschungen über psycho- und pharmakotherapeutischen Ansätzen zur Behandlung von Angst- und Furchtstörungen beteiligt.

Der Dozent für Neuropharmakologie weiß, was bei Prüfungs-angst im Körper vorgeht: „In Stresssituationen werden im Kör-per zwei hormonelle ‚Stressachsen‘ durch Stressoren aktiviert“, so Koch. Normalerweise werden dabei durch die Ausschüttung von Stresshormonen verschiedene Anpassungsreaktionen ausge-löst, die den Stress beenden sollen. Die zwei Stressachsen tragen die umfangreichen Namen Hypothalamus-Hypophysen-Ne-bennierenrinden-Achse und Symphathikus-Nebennierenmark-

Achse. Die beiden „Stressachsen“ schütten Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin aus und wirken auch auf das Gehirn. „Fataler-weise erschweren Noradrenalin und Cortisol den Abruf von Ge-dächtnisinhalten, also genau das, was wir vorher gelernt haben, gleichzeitig verbessern die Hormone und Botenstoffe aber auch das Lernen in dieser Situation“, erklärt der Neuropharmakologe. Das bedeutet, während der Prüfung versagt das Gedächtnis und der gelernte Stoff fällt einem nicht mehr ein, man hat eine Blo-ckade. Die akute Prüfungsangst setzt sich wie eine folgenreiche Spirale zusammen: gerade weil man sich in der Prüfung nicht mehr an das Gelernte erinnert, ist die Blockade im Gedächt-nis umso präsenter. Vor der nächsten Prüfung wird man alleine schon panisch, weil das Versagen vom letzten Mal einem noch so stark in Erinnerung geblieben ist. Das Stresssystem des Men-

schen ist sehr kompliziert reguliert, deswegen reagiert auch jeder anders: „Es gibt ‚coole‘ Leute, die nicht so leicht gestresst reagieren und denen fallen Prüfungen dann auch leichter, sofern sie was gelernt haben“, meint Koch. Die Stressanfälligkeit ist übri-gens stark genetisch festgelegt. Die neuesten Befunde haben nachgewie-

sen, dass die Stressanfälligkeit epigenetisch von der Mutter ver-erbt werden kann. Wer dahingehend vorbelastet ist, kann jedoch zumindest teilweise beruhigt werden, denn die Stressanfälligkeit kann sich im Laufe des Lebens positiv verändern. Doch auch Veränderungen ins Negative sind möglich.

Hans Selye ist der Wegbereiter der modernen Stressforschung und hat vor etwa 70 Jahren Stress als das „Zentrale Anpassungs-syndrom“ bezeichnet, bei dem Stressreaktionen eigentlich dem Körper helfen mit gefährlichen Situationen klar zu kommen. Dieses Anpassungssystem des Menschen stammt aber noch aus dem Zeitalter der Neandertaler und hilft uns in der heutigen „modernen Welt“ nicht mehr richtig. „Früher war es so, dass ein Raubtier kommt, wir rennen weg und damit war die Stresssitu-ation vorbei. Heute bekommen wir ständig Anrufe und müssen etwas bis gestern fertig gestellt haben, der Stress ist jetzt viel

Die akute Prüfungsangst -eine beängstigende Spirale Warum das Jahrhunderte alte Anpassungssyndrom – Stress – heute nicht immer funktioniert und wie Prüfungsangst von der anderen Seite des Examens wahrgenommen wird.

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Die neuesten Befunde haben nach-gewiesen, dass die Stressanfälligkeit epigenetisch von der Mutter vererbt

werden kann.

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subtiler und schleichender und wir sind ständig Stressoren, zum Beispiel Lärm, schnellem Bilderwechsel und sozialem Druck, ausgesetzt“, erklärt Michael Koch. Von Beruhigungsmitteln, wie Valium oder Johanniskrautextrak-ten, die die Prüfungsangst eindämmen sollen, rät Michael Koch aber ab, denn die beruhigende Wirkung hat auch Einfluss auf das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit. Dann sitzt man zwar relativ entspannt vor der Klausur, aber wenn einem dann der Stoff nicht einfällt, bringt das auch nichts. „Man sollte eher ver-suchen, den hormonellen Teufelskreis zu durchbrechen“, rät er stattdessen. Und da sind Erfolgserlebnisse viel hilfreicher. Wenn man es schafft, bei der Simulation einer Prüfung ein gutes Ge-fühl zu bekommen, oder bei einem Thema das einem liegt, ein vielversprechendes Ergebnis zu erzielen, sinkt auch die Panik vor der nächsten Klausur.

Für Doktor Ute Siewerts ist das Thema Prüfungsangst heute sehr präsent: „Das ist vor Klausuren und mündlichen Prüfungen schon fast normal, aber man sollte unterscheiden zwischen der ‚üblichen‘ Angst und extremen Formen von Prüfungsangst.“ Sie-werts betreut über das Studienzentrum die Germanistik, Lingu-istik und alte Studiengänge, sie vertritt in der Germanistik den Teilbereich Deutsche Sprachgeschichte. Siewerts hatte früher selbst nur die „übliche“ Angst, also weiche Knie und zitternde Hände. In ihrer mündlichen Magisterabschlussprüfung hat ihr Prüfer ihr gesagt, dass es gut sei, Angst zu haben, weil die Ner-vosität auch Energien freisetzt. Als Dozentin hat Siewerts bei Studentinnen und Studenten schon unterschiedliche Formen von Prüfungsangst erlebt, von der normalen Nervosität bis hin zu großer Prüfungsangst und krankhafter Angst. „Es gab schon weinend zusammenbrechende Studierende und welche, die gar nicht erst zur Prüfung antreten“, schildert sie ihre Erfahrungen. In solchen Situationen arbeitet sie als Prüferin gegen die Spirale der Prüfungsangst, die Michael Koch beschrieben hat: „Es ist wichtig, die Prüfung zu Ende zu bringen, sonst setzt sich die Erfahrung fest und es wird immer schlimmer“. Mit einfachen Fragen versucht sie, die Kandidaten wieder zurück ins Prüfungs-geschehen zu bringen und regt sie zu tiefem Durchatmen an. Dennoch habe sie bei krankhafter Prüfungsangst ihre Grenzen erreicht, weil sie da zu wenig Wissen habe. Wenn sie vor der Prüfung weiß, dass die Betreffenden zu großer Nervosität nei-gen, empfiehlt sie die Prüfung vorher zu üben. „Leider trauen sich viele Studierende nicht zuzugeben, dass sie Angst haben“, meint Siewerts. Aber auch von der anderen Seite der Prüfung kann es unangenehm werden, vor allem wenn man weiß, dass der Prüfungskandidat Angst hat. „Es ist immer unangenehm, wenn Prüfungen schief gehen“, sagt die Studienberaterin. Elisabeth Medicus-Rickers bietet seit zehn Jahren bei der Psy-chologisch Therapeutischen Beratungsstelle (ptb) der Uni Bre-men Workshops gegen Prüfungsangst an. Sie lebt seit 1987 in Bremen, hat Sozialpädagogik studiert und verschiedene Weiter-bildungen gemacht. Prüfungsangst war an Hochschulen schon immer ein Thema, an der ptb wurden die Studierenden einzeln beraten, der Bedarf nach einem Workshop wurde auch hier an der Uni Bremen immer größer: „Man kann bei diesem Thema in einem Workshop mehr vermitteln als in Einzelgesprächen“, sagt

Medicus-Rickers. Zu den Symptomen von Prüfungsangst zählt sie unter anderem Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen und körperliche Unruhe. Die Reaktion auf Prüfungsangst ist oft eine archaische, meistens ergreift man die Flucht und geht erst gar nicht zur Prüfung. „Prüfungsangst ist aber nicht vollständig handlungsorientiert, man muss lernen, die Energien, also die Ausschüttung von Adrenalin, zu nutzen, denn die Stresshormo-ne sind auch förderlich für die Leistungsfähigkeit“, erklärt sie. In dem zweitägigen Workshop geht es auch darum zu lernen, wie man die Angst bündeln kann, so dass sie hilfreich ist. Prüfungs-angst ist ein komplexes Phänomen, das aus bewussten und unbe-wussten Ängsten besteht. Einer der ersten Schritte im Workshop ist es, seine eigene Angst zu definieren und sie dadurch selbst wahrzunehmen. Dazu kommt die Fremdwahrnehmung der an-deren Teilnehmer. „Die Angst vor Prüfungen stammt oft schon von früheren Erfahrungen, einige sind streng autoritär erzogen worden oder hatten negative Erlebnisse in der Schule“, so Medi-cus-Rickers. Man kann sich mit dem Phänomen Angst nur ausei-nandersetzen, wenn man sich dessen bewusst ist. „Wenn mir die hohen Erwartungen meiner Mutter bewusst sind, kann ich mich umso leichter davon entfernen.“ Die Teilnehmer lernen durch psychodramatische Spiele unter anderem die Gründe ihrer Angst kennen und auch, wie sie damit umgehen können. Dadurch wer-den Fragen aufgeworfen: Wer erwartet von mir, dass die Prüfung gut wird? Wie kann man sich dagegen wehren? In solchen Si-tuationen sitzt manchmal gedanklich die ganze Familie mit im Raum. Entspannungsübungen gehören auch mit zu den Inhalten des Workshops. Elisabeth Medicus-Rickers bietet verschiedene Aufgaben an, weil jeder eine andere Art hat, um zur Ruhe zu kommen. Den negativen Gedanken kann man dann zum Bei-spiel mit Atemübungen entgegen wirken. Die genaue Planung der Prüfungsvorbereitung ist sehr wichtig, dadurch werden die Betroffenen sicherer in ihrer Situation, es gibt ihnen das Gefühl, dass sie die Prüfung bestimmen und gestalten können. Das Ge-neralproblem, zum Beispiel die mündliche Prüfung, die kann man auch schon vorher durchspielen oder vor der Prüfung mit dem Dozenten sprechen: „Denn deren Ziel ist es ja nicht, dass die Studenten vor ihnen unter den Tisch fallen“, sagt Medicus-Rickers. Wenn man sich einen Plan macht, was man in welchem Zeitraum vor der Prüfung an Stoff lernen muss, hat man die Prü-fung zumindest mental schon vorbereitet. „Wichtig ist auch, dass man sich für danach etwas Schönes vornimmt und nicht wie das Kaninchen auf die Schlange schaut“, meint die Mitarbeiterin der ptb. In den Workshops hat sie die Erfahrung gemacht, dass die Studenten miteinander an ihrer Angst arbeiten und es eine Er-leichterung für sie ist, dass andere ähnliche Probleme haben. Eli-sabeth Medicus-Rickers weiß, dass Prüfungsangst auf keinen Fall ein hoffnungsloser Fall ist, denn jeder der Betroffenen hat auch schon eine positive Erfahrung mit Prüfungen gehabt: „Man muss diese Erfahrung erkennen und das Bewusstsein dafür stärken“.Der nächste Workshop für Prüfungsangst ist am 15. und 16. Juni von 9 bis 16 Uhr, eine vorherige Anmeldung ist erforderlich. Zu erreichen ist die Psychologisch Therapeutische Beratungsstelle unter 0421-220111310 oder per Mail an [email protected].

Text: Elisabeth Schmidt

Campusleben

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Am 19. Mai war es wieder so weit: in der Allianz-Are-na in München wurde der heiß begehrte Champions-League-Pokal vergeben. Wer sich in der Königsklas-

se des Fußballs bis ins Finale schießt, gehört definitiv zur Crème de la Crème des wohl beliebtesten Mannschaftssports der Welt. Alljährlich richtet die UEFA (Europäischer Fuß-ballverband) diesen Wettkampf aus, welcher zusätzlich zu den allgemeinen Liga-Spielen und den jeweiligen Pokalrunden läuft. Im Leben eines Profifußballers ist es höchstwahrschein-lich die Krönung, die Gewinnertrophäe einmal in den Nacht-himmel zu recken. Im vergangenen Jahr durften die Spieler vom FC Barcelona dieses Gefühl mit der Fußballwelt teilen.

Der Preis ist ein Wander-pokal und wird jedes Jahr an den jeweiligen Gewin-ner weitergereicht. Hat ein Fußballteam mehr als drei Mal in Folge oder insgesamt fünf Mal den begehrten Sieg errungen, bleibt der Pokal beim Sieger. Der aktuelle Pokal ist mittlerweile das sechste Exemplar seiner Art. Aber woher kommen diese neu angefertigten und weltbekannten Pokale über-haupt? Der Pokal kommt aus unserer schönen Hanse-stadt! Entworfen wurde er vom Bremer Designer Horst Heeren und hergestellt wird

er von der in Bremen ansässigen Silberwarenmanufaktur Koch & Bergfeld Corpus. 1829 wurde die Bremer Traditonsmanufak-tur als Meisterwerkstatt gegründet und etablierte sich in den nachfolgenden Jahren weltweit mit qualitativ hochwertigen, landesweit anerkannten und populären Fabrikaten für die Me-dien- und Sportwelt. Darunter befinden sich neben dem Cham-pions-League-Pokal auch Nachbildungen des DFB-Pokals und der Deutschen Meisterschale. Das Original der letztgenann-ten Trophäe stammt aus einer Kölner Werkschule. Als sich der DFB-Pokal aufgrund einer vorgenommenen Instandsetzung in Bremen befand, wurde ebenfalls ein Entwurf angefertigt, da es diesen in seiner Urfassung nicht mehr gibt. Nur Koch & Berg-feld Corpus hat offziell die Erlaubnis originalgetreue Kopien

zu erstellen, welche immer kleiner als die Urform sein müssen, damit man den Unterschied deutlich erkennen kann. Die be-kanntesten Auszeichnungen für die Medienwelt ist die Goldene Kamera, deren Entwurf ebenfalls aus der Bremer Produktions-stätte stammt, für die Zeitschrift Hörzu und Nachbildungen der Medaille des Karlspreises, die jährlich für Verdienste um die eu-ropäische Einigung in der Stadt Aachen verliehen wird.Die Manufaktur Koch & Bergfeld ist bereits seit 1993 in zwei kleinere eigenständige Werkstätten aufgeteilt. Zum einen gibt es Koch & Bergfeld Corpus und zum anderen die Koch & Berg-feld Besteckmanufaktur, welche sich in der Neustadt befindet. Erstere ist überwiegend für die Preise und Letztere für die ma-schinelle Produktion von hochwertigen Bestecken zuständig. Solche Bestecke befinden sich weltweit in bisher 21 Deutschen Botschaften. Nach einem Wettbewerb der UEFA wurde der Traditions-werkstatt 1967 der Auftrag zur Produktion der Champions-League-Pokale erteilt. Horst Heeren, der damals als langjäh-riger Mitarbeiter die Leitung über das Design inne hatte, gilt als Konstrukteur. Mit dem eingereichten Entwurf gelang es der Manufaktur, die Produktion einschließlich aller anfallenden Reparaturarbeiten an die Weser zu holen. Es dauert ungefähr einen Monat, um solch einen wertvollen, beinahe 8 Kilogramm schweren und knapp 62 Zentimeter hohen Pokal zu fertigen.

Bremen

Die Traditionswerkstatt Koch & Bergfeld Corpus stellt seit mehreren Jahren neben dem glanzvollen Champions-League-Pokal viele weitere nationale und internationale Preise her – so siedelt sich auf der ganzen Welt ein bisschen Bremen an.

Exquisite Bremer Handarbeit in derKönigsklasse

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Er besteht aus reinem 925er Sterling Silber und hat vor der Übergabe an den Auftraggeber mehrere Produktionsschritte durchlaufen, wie der Leiter der Silbermanufaktur Florian Blu-me erklärt: „Es geht durch unterschiedliche Abteilungen – vom Metalldrücker zum Hammerarbeiter, vom Hammerarbeiter zum Monteur, vom Monteur zum Schleifer, vom Schleifer zum Polierer und abschließend in die Galvanik. Jedes Werkstück geht hier durch alle Hände.“ Das Besondere an diesem Pokal sei, laut Blume, dass er einer Amphore ähnele und durch die beiden doppelwandigen Griffe vom Sieger erfolgreich in die Luft gestemmt werden könne. Doch genau diese geschweiften Griffe seien auch das Schwierigste an der Fertigung, da der Pokal nicht aus einem Stück bestehe, sondern aus mehreren kleineren, die zu einem großen Exemplar zusammengelötet würden. Das verwendete Material und die bereits wertvollen Zwischenergebnisse lagern über Nacht in einem Tresor. Des Weiteren legt der Geschäftsführer besondere Betonung darauf, dass alle Arbeitsschritte in reiner Handarbeit erfolgen.Im Jahr 2005 wurde Koch & Bergfeld Corpus von dem ehe-maligen Lehrling der Silbermanufaktur Florian Blume über-nommen, der mit seinen Umstrukturierungen die Stilllegung abwenden konnte. Zuvor stand Corpus angesichts unrentabler Arbeitsweisen kurz vor der Geschäftsaufgabe. Mitsamt seinen zehn Mitarbeitern und zwei Auszubildenden zog Blume 2007

in die Überseestadt. Hier eröffnete er die gläserne Manufaktur, „damit die Leute im Austellungsraum die Arbeitsgeräusche hö-ren und auch sehen, dass das Menschen sind, die da hinten ar-beiten. Dann bekommen sie auch einen ganz anderen Bezug zu den Produkten und man muss gar nicht mehr über den Preis re-den, weil sie sehen und wissen, was Arbeit in Deutschland kos-tet“, wie der Silber- und Goldschmiedemeister schildert. Die Silbermanufaktur und Goldschmiede, ansässig in einem alten Kaffeespeicher im Schuppen 2, ist tatsächlich gläsern. Der neu-gierige Zuschauer kann gleich auf dem Weg zum Haupteingang kurze Blicke auf die Herstellung und die unterschiedlichen Ar-beitsschritte erhaschen. Während sich im Eingangsbereich zahl-reiche handgefertigte Stücke aus Silber und Gold befinden, gibt es im hinteren Bereich antik aussehende Werkbänke, Werkzeu-ge und Holzformen aus den frühen Zeiten der Manufaktur.Stellt die Silbermanufaktur einmal keinen Pokal her, ist sie für die Produktion von verschiedenem Tafelsilber, wie Leuchter, Schalen, Kaffee- und Teekannen, Platzteller und Tassen, die unter hohem Niveau und mit viel Können gefertigt werden, zu-ständig. In der Corpuswerkstatt werden zum Beispiel auch die Sieger der unterschiedlichsten Auszeichnungen in die selbigen eingraviert. Auch der Supercup-Pokal als Preis für die wiederbe-lebten Begegnung zwischen dem Sieger der UEFA Champions League und der UEFA Europa League wurde zuvor in Bremen erschaffen.

Aktuell betreut die Manufaktur einen Großauftrag des FC Bay-ern Münchens, der für sein neugestaltetes Museum alle bisher gewonnenen Trophäen als Repliken ausstellen möchten, was bekanntlich sehr viele sind. Insgesamt sind darunter 21-mal die Meisterschale, 14-mal der DFB-Pokal und 4-mal der Cham-pions-League-Pokal, davon gelten drei Exemplare offiziell als damalig verliehener Europapokal der Landesmeister. Darüber hinaus sind alle Gravuren inklusive. Aber auch im örtlichen Weserstadion, im „Wuseum“, befindet sich eine Meisterschale und ein DFB-Pokal von Koch & Bergfeld Corpus. „Na klar ist man ein bisschen stolz“, erklärt Blume auf die Frage, was er fühle, wenn er eine Trophäe aus der eigenen Fabrikation sieht, „das ist für uns auch eine gute Werbung“.

Text: Neele MeyerFotos: Katrin Pleus, Koch & Bergfeld (links)

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Bremen

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Wohin gehen wir, wenn wir des Alltags überdrüssig sind und uns der Sinn nach Kunst und Kultur steht? Meist entscheiden wir uns für Galerie, Museum oder

Kunsthalle. Dort setzen wir uns dann mit den Werken mehr oder minder bekannter Künstler auseinander, indem wir sie be-trachten, interpretieren und ihre Komposition analysieren. Um uns den Zugang zu den Werken zu erleichtern, wurden die Aus-stellungsstücke vorher für uns arrangiert oder in Texten aufbe-reitet. Der Ausstellungsraum selbst ist dabei aber nur selten Teil der Rezeption, und so entsteht eine spürbare Grenze zwischen Werk und Betrachter.Das Raumkonzept des Off-Space versucht diese Grenze aufzu-brechen, indem die Arbeiten eines Künstlers in einem alternati-ven Raum in einen neuen Zusammenhang gesetzt werden und so der Raum selbst zum Teil des Werkes werden kann. Solche alternativen Räume sind oft Ateliers oder Wohnräume, in denen junge Künstler fernab des etablierten Kunstmarktes arbeiten, ausstellen und performen können – eine Art Laboratorium der Avantgarde. „Der vierte Raum“ ist ein solcher Off-Space, gut versteckt in einem Wohngebäude in der Bremer Bahnhofsvorstadt. Ein weiß gekachelter Flur führt durch die Wohnung, am Ende eine wei-ße Tür. Was dahinter liegt, ist jedes Mal eine neue Erfahrung; mal sind die Wände holzvertäfelt, mal mit Fotos tapeziert. Beim nächsten Besuch ist der Raum auf ein Viertel seiner Größe geschrumpft oder die Tapete hängt in Fetzen von der Wand. Mitten im Alltagsleben einer Wohngemeinschaft arbeiten hier die unterschiedlichsten jungen Künstlerinnen und Künstler mit und an einem Raum, der die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem subtil verschiebt.

Das Konzept dieses Raumes haben die Bewohner der Wohn-gemeinschaft gemeinsam ausgearbeitet, geplant und ausgeführt: Anstatt einen der Wohnräume unterzuvermieten, wurde er zum Projektraum umfunktioniert, der Künstlern und Publikum offen steht. Das WG-Leben läuft um diesen Raum herum jedoch nor-mal weiter, sodass der Ausstellungsraum privat beziehungsweise die Wohnräume öffentlich werden. Der Besucher ist dabei ent-scheidender Bestandteil des Projektes, da erst durch ihn der pri-vate Raum der Wohnung durchbrochen und öffentlich gemacht wird. Das Konzept des Projektraumes wirkt sich also unmittel-bar auf die gesamte Wohnung aus und verändert direkt oder in-direkt die Lebenssituation aller Bewohner. So kann es schon mal passieren, dass der Zugang zum eigentlichen Ausstellungsraum von einem Künstler verbaut wird und „der vierte Raum“ nur noch durch das Zimmer eines Mitbewohners erreicht werden kann. Für den Besucher kann aber gerade dieses Verschwimmen von Grenzen interessant werden, da er so selbst zum Teil der Ausstellung wird. Er beeinflusst alleine schon durch seine Anwe-senheit und sein Verhalten direkt die Wirkung und die Aussage der Werke. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ar-beiten geht dadurch über die bloße Rezeption hinaus und kann selbst zur neuen Kunst werden. Privat und Öffentlich sind dabei die Begriffe, die ständig bearbeitet werden. Ihre Gegensätzlich-keit wird durch den Aufenthalt im „vierten Raum“ in Frage ge-stellt und im Endeffekt vielleicht sogar überwunden. So erlebt der Besucher einen sich stets im Wandel befindlichen Raum. Die Auseinandersetzung mit diesem Konzept muss jedoch nicht immer so komplex sein. Neben den verschiedenen Ausstel-lungen und Happenings gibt es auch eine andere Möglichkeit sich dem Projektraum zu nähern: Jeden Mittwoch steht dort

Bremen

Die Grenze zwischen öffentlich und privatHeute gibt’s Kultur, aber ordentlich!Der Scheinwerfer besucht für euch den Off-Space „der vierte Raum“.

Die Holzvertäfelung war Hauptbestandteil des Konzeptes „# no place like home.“

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ein DJ-Set, auf dem jeder selbst mitgebrachte Platten auflegen kann. Unter dem Namen „Time and Place“ kommen hier die unterschiedlichsten Menschen zusammen, plaudern, trinken ihr Feierabendbier und lassen das Zusammenspiel von Vinylmusik und Raumkonzept auf sich wirken. Die Plattenmusik steht an diesem Abend als eigene Kunst im Vordergrund und eröffnet so den einen oder anderen neuen Blick auf den Rest des Raumes. „Der vierte Raum“ ist ein junges, vielseitiges und engagiertes Projekt, das sich mit zentralen Themen des modernen Lebens auseinandersetzt. Das Konzept mag auf den ersten Blick viel-leicht etwas abgehoben wirken, die eigentliche Umsetzung ist je-doch für jeden zugänglich und stellt unsere Trennung von priva-

ten und öffentlichen Räumen gekonnt in Frage. Das Projekt läuft noch bis Ende Mai und wer neugierig auf Kunstprojekte jen-seits des etablierten Kunstmarktes ist, dem sei dieser Off-Space wärmstens ans Herz gelegt. Hier liegt Avantgarde in der Luft!

Wie ihr den „vierten Raum“ finden könnt, erfahrt ihr unter www.dervierteraum.org

Text: Jan-Hagen RathFotos: Der vierte Raum

Der vierte Raum nach der Performance „Beziehen“ von Z. Schmidt

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Steht man mitten auf dem schönen Bremer Marktplatz ist es unwesentlich in welche Himmelsrichtung man schaut, man kann ihn einfach überall erblicken: Der Bremer Stein

befindet sich an zahlreichen Fassaden in der Innenstadt und prägt seit ewigen Zeiten das bekannte Stadtbild.Bremer Stein ist – um ihn korrekt geologisch zu beschreiben – einer von vielen Sandsteinen, der zu der Gruppe der Sedi-mente, einer der drei Hauptgruppen der Gesteine, gehört. Die Steine entstehen, indem sie zunächst auf verschiedenen Wegen erodiert werden, was soviel heißt wie „abtragen“. Anschließend erfolgt über weite Strecken der Transport der einzelnen Bruch-stücke durch Wind und Wasser, bis diese schließlich an einem beliebigen Ort wieder abgelagert und letztendlich verfestigt werden. Diese vorläufige Vollendung ereignete sich unter ande-rem auch in Obernkirchen am Bückeberg in Norddeutschland. Dieses Vorkommen ist gewissermaßen Zeuge eines urzeitlichen Sandstrandes. Bereits im elften Jahrhundert begann von diesem Standpunkt aus der Transport über die Weser bis nach Bremen. Demnach diente die Weser schon seit jeher als wichtiger und vor allem auch als natürlicher Handelsweg. Die Überführung, welche zunächst noch eine mühselige Arbeit mit Pferd und Wa-gen war, wurde mit Hilfe von Schiffen durchgeführt. Lange Zeit diente der Bremer Teerhof als Zwischenlager für die Ware. Der Teerhof ist eine Halbinsel zwischen der Weser und einem ih-rer Zwischenarme und kann von den zahlreichen Besuchern der Schlachte auf der anderen Uferseite betrachtet werden. Infol-ge des Handelsaufschwungs siedelten sich seinerzeit die ersten Steinmetze auf und um den Teerhof herum an, um das Material einerseits als Rohstein und andererseits auch als Fertigprodukt zu vertreiben. Im Zuge des Handelsaufschwungs im 17. Jahr-hundert wurde eine Namensänderung erwirkt: Der beschriebe-ne Stein sollte nicht mehr – wie es korrekterweise lauten sollte – als Obernkirchener Sandstein betitelt werden. Aufgrund der engen Beziehung mit der Hansestadt durch den Transport, La-gerung und Handel, wurde er künftig unter der irrtümlichen Handelsbezeichnung Bremer Stein angeboten.Von der Zweigstelle des Teerhofes aus verwendete man das Se-dimentgestein nicht nur für zahlreiche Bauwerke, sondern auch zum Ausbau von Schifffahrtskanälen sowie – aufgrund seiner Feinkörnigkeit und hohen Qualität – für Skulpturen, Baudenk-mäler sowie für Restaurationen. Im letztgenannten Fall ersetzt man andere Steine, durch Umwelteinflüsse anfällig geworden, durch den stabileren Obernkirchener Sandstein, was sich zuletzt

am Königlichen Palais in Amsterdam im Jahre 2011 ereignete. Dieser wurde zuvor im Jahre 1648 größtenteils aus dem Bre-mer Stein gebaut. Durch solch eine Instandsetzungen kann eine langfristige Erhaltung gewährleistet werden. Das Geschäft mit dem Rohprodukt, welches relativ unbe-schränkt in der Hansestadt verbaut wurde, ist nach und nach aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften, seiner Witte-rungs- und Frostbeständigkeit sowie Druckfestigkeit, zu einem begehrten Werkstoff geworden. Da der Stein zu knapp 95% aus reinem Quarzsandstein besteht, ist das Material sozusagen dau-erhaft verwitterungsbeständig, womit es neben der helleren Far-be einen großen Vorteil gegenüber den anderen Sandsteinarten aufweist. Diese Verlässlichkeit auf das Produkt führte zu dem enormen Wirtschaftsaufschwung. Schon damals sind Bauwerke von großer Bedeutung gewesen und dienten der Demonstrati-on von Macht und Reichtum. Wichtig war neben dem Ausse-hen auch das verwendete Material. War es besonders feinkörnig und filigran, galt der Besitzer als wohlhabend und einflussreich. Diesen Anforderungen entspricht das gräulich-braune Sediment perfekt, da es angesichts seiner Feinkörnigkeit auch filigrane Ar-beiten zulässt.Bereits zu Zeiten des Mittelalters sind die Bremer Handelsschiffe aktiv an der Weser-Schifffahrt beteiligt gewesen. Weitere Han-delsgüter neben dem zuvor genannten Bremer Sandstein waren unter anderem Rohstoffe wie Holz und Kalk sowie Lebensmit-tel, wie zum Beispiel Getreide und Fisch und andere Erzeugnisse aus der Viehwirtschaft. Den Plan zur Erweiterung des Einflussbereiches setzte man zu Beginn der frühen Neuzeit in die Tat um. Fortan wurde nicht nur die Unterweser, sondern auch der obere Weserbereich mit Bremer Handelsschiffen befahren. Nach dem Mindener Dom (1062), dem Rathaus in Antwerpen (1566) und dem Bremer Rathaus (1612) gelangte der markante Stein über mehreren Sta-tionen auf dem Wasserweg bis in weitläufigere Teile Europas. Allein in Antwerpen wurden knapp 2.000 Tonnen des begehr-ten Materials verbaut. Weitere Zeugen der ausgedehnten Trans-portwege aus der frühen Neuzeit sind das Schloss Rosenborg in Kopenhagen (1634) und der Katharinenpalast in der Nähe von Sankt Petersburg, Russland (1751).Später wurde das Sediment neben Europa auch weltweit expor-tiert und galt bereits im 18. Jahrhundert als eines der erfolg-reichsten Wirtschaftseinkünfte für die Hansestadt. Nachdem 1783 die erste transatlantische Schiffsroute zwischen Bremen

Bremen

Auf der Weser bis nach Bremenund von hier in die ganze Welt

Nicht nur das „Weiße Haus“ in Amerika, sondern viele weitere prächtigeBauwerke sind durch den Bremer Stein geprägt.

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und Amerika entstand, wurder der Sandstein während der Über-fahrt zunächst als Ballast auf den Segelschiffen verwendet. Es konnte eine komfortablere Beförderung erreicht werden, indem der an Bord spürbare Wellengang durch das Gewicht abgemil-dert wurde. Im Zielhafen angekommen, erkannte man auch dort dessen hohe Qualität und der Rohstoff diente fortan auch inter-national als Handelsgut unter dem mittlerweile renommierten Namen Bremer Stein. Das Naturprodukt diente in Amerika als eines der Hauptmaterialien bei dem Bau eines der bekanntesten Gebäude der Welt, dem Weißen Haus. Die Grundsteinlegung der Machtzentrale Amerikas war im Jahre 1792. Nennenswert ist hierbei, dass das berühmte Bauwerk 1819, nach einem Brand im Jahr 1814, neu aufgebaut wurde und im Anschluss weiß ge-strichen worden ist, um so die entstandenen Rauchschäden zu übertünchen. Erst im 20. Jahrhundert erhielt es den berühmten Namen. Seit 2004 wird die weiße Farbe ebenfalls aus Deutsch-land, aus einem kleinen Ort bei Augsburg, geliefert. Weitere berühmte Bauwerke die komplett oder zumindest teilweise aus dem Sediment bestehen oder restauriert wur-den, sind unter anderem die Pfeiler des Bremer Rolands, die Hamburger Börse, der Kölner Dom, die Berliner Siegessäu-le und das Nationaldenkmal in Belém do Para (Brasilien). Das gesamte Vorkommen der Sandsteinschichten in Obernkir-chen erreicht eine bis zu 20 Meter große Mächtigkeit. Bereits seit 1.000 Jahren wird in diesem Steinbruch der Sandstein ab-gebaut und verarbeitet. Demnach zählt er zu einem der ältesten noch aktiv bearbeiteten Steinbrüche der Welt überdies hinaus sind bis jetzt noch keine Erschöpfungsanzeichen zu erkennen. Bis zur Frühindustrialisierung machte die Arbeit die Haupter-werbstätigkeit der Obernkirchener Bevölkerung aus. Die Be-schäftigung, welche damals noch mit Muskelkraft und einfachen Werkzeugen erfolgte, wurde im Laufe der Zeit von Maschinen übernommen und infolgedessen erleichtert. Es gibt nur noch vereinzelt Steinmetze, die weiterhin die filigranen Handgriffe am Sediment erledigen.

Text: Neele MeyerFoto: Johannes Lang (l.o.)

Bremen

Auch über die Grenzen Deutschlands hinaus wurde das feinkör-nige Gestein neben seiner Qualität auch für die Entdeckung von Saurierspuren bekannt und ist seitdem ebenfalls für die welt-weiten Forschungsbereiche der Paläontologie von großer Bedeu-tung.

Zum Abschluss noch ein paar Tipps, wie ihr – bewaffnet mit Lupe und einem klitzekleinen Tröpfchen Salzsäure – testen könnt, ob auch euer Haus oder eines in der Nachbarschaft aus Bremer Sand-stein besteht. Ein guter Beginn könnte dabei die hellgraue Farbe sein, sie sollte aber nicht als Hauptmerkmal in Betracht gezogen werden.

Der untersuchte Stein ist ein Bremer Sandstein, wenn:• er sehr feinkörnig und gut sortiert ist – was so viel

heißt, dass die einzelnen Bestandteile alle gleich groß sind

• er nicht geschichtet ist – damit ist gemeint, dass die zahlreichen Körner ohne eine bestimmte Richtung an-geordnet sind und keine Fließrichtung zu erkennen ist

• eventuell Fossil-Reste vorhanden sind• und er nicht mit Salzsäure schäumt (lasst euch bei

dem Versuch nicht erwischen, denn der Stein könnte nachhaltig zerstört werden), denn wenn bis auf diesen Test alle anderen Faktoren bestätigt werden können, kann es sein, dass ihr auf einen anderen Sandstein mit Kalkanteilen gestoßen seid

Kleiner Tipp: beginnt in der Nähe des Bremer Rathauses!

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Sie sehen aus wie kleine Minikuchen-Kunstwerke, tragen wohl klingende Namen wie Schoki-Schoki oder Banana-Ja-ke und kommen bei der Bremer Bevölkerung gut an, sonst

würde es Jake loves Cake wahrscheinlich nicht geben. Jake loves cake ist ein Cup Cake Laden, den Nadine und Kevin Windhorst mithilfe von Crowdfunding eröffnet haben.Das junge Ehepaar hatte vor etwa einem Jahr die Idee, über die Finanzierungsmethode des Crowdfunding einen eigenen Laden aufzubauen. Kevin Windhorst ist durch einen Artikel auf die kleinen Torten aufmerksam geworden. Seit einer Folge aus der US-Serie „Sex and the city“ erfreuen sich die kleinen „Tassen-kuchen“ in Amerika mittlerweile großer Beliebtheit. Die Hob-bybäcker waren noch nie in den USA und haben die Cup Cakes dort auch noch nicht probiert. Als sie zu Nadines Geburtstag zum ersten Mal die Mini-Kuchen nach amerikanischem Rezept backen wollten, war das Ergebnis ziemlich ernüchternd, denn diese amerikanische Variante wird mit Buttercreme und ganz viel Zucker zubereitet. „Das ist so süß, das kann hier keiner es-sen“, sagt Kevin Windhorst. Die beiden ließen sich, trotz der anfänglich übersüßten Erfahrung, nicht so schnell von den cremigen Törtchen abbringen. Sie probierten mehrere Rezepte aus, wandelten sie ab und erarbeiteten sich so ihre eigenen Cup Cakes.

Die kleinen Mini-Kuchen wurden früher in Tassen gebacken, daher auch der Name „Tassen Kuchen“(engl. Cup Cake). Äu-ßerlich unterscheiden sie sich von Muffins, vor allem durch ihre cremige Sahnehaube und der Teig der Cup Cakes ist weicher. Die kleinen Backwerke von Jake loves cake werden mit phos-phatfreiem Backpulver angerührt, der Hauptunterschied liegt aber beim Topping, das auf die kleinen Muffin-ähnlichen Ku-chen kommt, und nicht aus Buttercreme sondern aus Frischkäse zubereitet wird. Das nimmt den Cup Cakes den extrem zuckri-gen Geschmack, macht sie leichter, luftiger und man schmeckt die fruchtigen Zutaten mehr heraus. Das Jake loves cake Team achtet auf hochwertige, teilweise biologisch hergestellte Zuta-ten, was auch die nicht ganz so niedlichen Preise erklärt. Als das Paar ihre eigenen Rezepte kreiert hatte, wollten sie ger-ne mehr, als nur ihren Familien- und Bekanntenkreis damit zu versorgen. Sie hatten den Wunsch die Cup Cakes in einem ei-genen Laden zu verkaufen, aber die finanzielle Grundlage fehl-te. Dann kam die Methode des Crowdfunding mit ins Spiel. Kevin Windhorst kannte die Finanzierungsvariante aus dem Wirtschaftsmagazin „brand-eins“, bei der man im Internet für sein Projekt wirbt. Direkt auf der Internetseite des jeweiligen Projektes können die User spenden, wenn ihnen die Idee gefällt. Die Spender werden mit in den Prozess des Projektes einbezogen und können seine Entwicklung mit beeinflussen, außerdem gibt es für jede Spende ein kleines Geschenk als Dankeschön. Zu den bekannten Crowdfunding Projekten in Deutschland gehört Startnext, auf der Plattform können Interessierte die Ideen und Konzepte von Künstlern, Kreativen und Erfindern unterstützen.

Bremen

Cup Cakes dank CrowdfundingNadine und Kevin Windhorst finanzieren ihren Traum vom eigenen Laden durch dieFinanzierungsmethode des Crowdfunding.

„„Wir wollten auf unserer Plattformden passenden Weg finden zwischen

‚lass mal die Allgemeinheit entscheiden‘und ‚Selbstbestimmung‘.“

Kevin Windhorst

Bei Startnext gibt es die unterschiedlichsten Projekte von einer Vater-Sohn Doku, über Schülerzeitungen gegen Rechts bis zu dem Soloalbum eines Sängers. Bei den meisten Crowdfunding Aktionen überwiesen die Spender ihr Geld an eine Bank. „Die-ses Korsett war uns aber zu eng und es sollte nicht zu kompli-ziert sein“, erzählt Winhorst. Das Crowdfunding Projekt von

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Jake loves cake ging Anfang 2011 online. Das junge Paar setzte sich selbst ein Limit: Hätten sie mit Crowdfunding nicht bis zum Spätsommer die eingeplanten 20.000 Euro zusammen be-kommen, dann wären die bisherigen Einnahmen in ein gemein-nütziges Projekt gewandert. Aber so weit kam es nicht, denn die Idee, in Bremen einen Cup Cake Laden zu eröffnen, stieß auf Interesse. Am klassischen Crowdfunding von Jake loves cake ha-ben sich 40 Leute beteiligt, außerdem hatte das Team noch eine Reihe unentgeltlicher Unterstützer, die das Projekt mit vorange-trieben haben. Auf der Internetseite konnten die Spender selbst entscheiden, wie sie spenden wollten, unter anderem über Pay Pal. Die Höhe des gespendeten Betrages war dabei frei wählbar. Jeder Spender bekam als Dankeschön eins der Geschenke, die Nadine und Kevin Windhorst auf eigene Kosten produziert hat-ten. Ab fünf Euro gab es die ersten „Geschenke“ für das inves-tierte Geld, je nachdem, wie hoch der Betrag war, gab es Sticker, Buttons, T-Shirts oder Tassen mit dem Namen des zukünftigen Cup Cake Ladens. „Der Gegenwert der Spende sollte die Leute daran erinnern, dass sie Teil dieses Projektes sind“, sagt Kevin Windhorst. Die Spender wurden persönlich mit in den Prozess des Cup Cake Ladens einbezogen und regelmäßig per E-Mail mit neuen Informationen versorgt. Die Macher von Jake loves cake fragten ihre Spender, in welchem Stadtteil sie den Laden gerne hätten und welche Cup Cake Sorten zum Angebot gehö-ren sollten. „Wir wollten auf unserer Plattform den passenden Weg finden zwischen ‚lass mal die Allgemeinheit entscheiden‘ und ‚Selbstbestimmung‘“, erklärt Kevin Windhorst. Die Immo-biliensuche erwies sich als weitaus schwieriger und als Jake loves

cake im vergangenen Oktober im Schnoor eröffnet wurde, war das eher eine Notlösung. Das Catering steht bei dem Cup Cake Laden im Vordergrund und in der sechs Quadratmeter kleinen Küche im Schnoor mussten die Cup Cake Bäcker auf dem Weg zum Backofen ständig den Kopf einziehen. Die Nachfrage wurde größer und seit Januar ist Jake loves cake in der Konfiserie Schrie-fer untergebracht, dort kann man von Montag bis Freitag Cup Cakes kaufen. „Das Umfeld in der Konfiserie ist sehr professio-nell und die Produkte ergänzen sich gut“, meint Kevin Wind-horst zum neuen Standort. Im Nachhinein hat sich das Crowd-funding-Projekt für das junge Ehepaar auf jeden Fall gelohnt: „Es war eine super Erfahrung und wir haben viel gelernt.“ Ke-vin Windhorst sieht den Erfolg des Crowdfunding in den USA vor allem in der hohen Spendenbereitschaft der Amerikaner. „In Deutschland gehört viel Selbstwerbung dazu, bei uns hat es auch deshalb geklappt, weil wir eine tolle Nachfrage hatten und die Presse super schnell darauf angesprungen ist.“ Kevin Windhorst hat jetzt im Frühling die Zitrone-Mohn Variante zu seinem Lieb-lings Cup Cake erkoren. Ob ihr lieber Apfelbeere-Vanille oder Schokolade-Himbeer mögt, könnt ihr in der Hemmstraße 103 selbst herausfinden. Die Menükarte und die Öffnungszeiten fin-det ihr auf der Internetseite www.jakelovescake.com.

Text: Elisabeth SchmidtFotos: Elisabeth Schmidt (Portrait), Katrin Pleus

Bremen

„„Der Gegenwert der Spende sollte die Leute daran erinnern, dass sie

Teil dieses Projektes sind.“

Kevin Windhorst

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verbessern und Hunger und Wasserknappheit zu bekämpfen. Die UN hat sich im Jahr 2000 fünfzehn Dörfer ausgesucht,

in denen diese Ziele umgesetzt werden sollten, aber nur in Afrika. Viva con Agua hat den Partner Welthungerhilfe

und die haben sich auch zwölf Dörfer ausgesucht, aber weltweit, weil es auch Dörfer in Asien gibt, denen es

noch schlechter geht, als denen in Afrika. Dort werden auch die Milleniumsziele umgesetzt und Viva con

Agua übernimmt den Teil der Wasserversorgung. Wir sammeln das Geld, geben es an die Welthun-

gerhilfe weiter und die setzen es sofort um, direkt vor Ort. Seit ein paar Jahren verfolgen wir den sogenannten „WASH“-Ansatz („Water Sanita-tion Hygiene“), das heißt, es geht nicht nur um Trinkwasserversorgung, sondern auch um sanitäre Anlagen. Denn es gibt 9,5 Millionen Menschen weltweit, die kein Trinkwasser haben, aber 2,5 Milliarden, die keinen Zugang zu sanitären Anlagen haben. Viva con Agua gibt es jetzt seit 2005 und wir machen nicht nur das Be-chersammeln, worüber uns die meis-ten kennen, sondern auch viele an-dere Aktionen, z.B. Konzerte, Partys und Fußballturniere. Dieses Jahr sind wir unter anderem bei der Bre-minale und beim Viertelfest dabei.

: Das besondere an Viva con Agua ist, dass die Organisati-

on nicht nur einen festen Standort in Deutschland hat, sondern in vielen

Städten aktiv ist. Seit zwei Jahren gibt es euch jetzt auch in Bremen, wie kam es

dazu?Konrad Kreutzer: Also ich habe über YouTu-

be die Band Irie Révoltés gefunden, die Viva con Agua schon ganz lange unterstützen und die ein Lied

gemacht haben, das auch „Viva con Agua“ heißt. Das habe ich mir angehört, weil ich die Band cool fand und daraufhin

Jeder Deutsche verbraucht am Tag etwa 130 Liter Wasser, wovon alleine 42 Liter buchstäblich die Toilette herun-tergespült werden. In vielen anderen Ländern der Welt

hingegen ist sauberes Wasser immer noch ein knapp be-messenes Gut. Seit dem Jahr 2005 setzt sich deshalb der Verein Viva con Agua für eine Verbesserung dieser Situation ein. Gegründet vom ehemaligen FC St. Pauli-Profi Benjamin Adrion, nachdem er während eines Trainingslagers auf Kuba die problematische Wasserversorgung mit eige-nen Augen sah, gibt es Ableger der Initiative mittlerweile in vielen Städten. Der Schein-werfer sprach mit Konrad Kreutzer und Elena Flathmann von Viva con Agua in Bremen.

: Ich kenne Viva con Agua vor allen Dingen dadurch, dass ich häufiger auf Konzer-te oder auch auf Festivals gehe und euch dann immer mit eu-ren blauen Tonnen sehe. Aber viele wissen vielleicht gar nicht, was überhaupt dahin-ter steckt. Worum geht es bei Viva con Agua genau?Elena Flathmann: Wir sam-meln bei Konzerten und bei den Festivals die Pfandbecher ein, um dadurch Spenden zu sammeln. Diese Spenden ge-hen dann an verschiedene Pro-jekte auf der ganzen Welt, aktuell nach Burkina Faso. Dort werden dann Trinkwasseranlagen, Brunnen und sanitäre Anlagen finanziert.Konrad Kreutzer: Die UN hat im Jahr 2000 die Millenium-Ziele festgesetzt, die die Welt und vor allem die Entwicklungslän-der verbessern sollten. Dabei ging es unter anderem darum, die Kindersterblichkeit zu verringern, die Bildung zu

Bremen

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vals an. Wir sind natürlich auf dem Hurricane Festival und dann auch beim Deichbrand Festival und Omas Teich Festival unter-wegs. In Bremen sammeln wir beim Sommerfest Vorstraße, auf dem Überseefestival und beim Viertelfest Becher und auf der Breminale werden wir eine eigene Bühne haben, auf der es dann verschiedene Aktionen geben wird. Letztes Jahr im November gab es die Wassertage, die eine Woche lang in 24 Städten in Deutschland stattfanden. Da haben wir auch mitgemacht und ein Fußballturnier, einen Poetry Slam und ein Konzert im Tower veranstaltet. Das wird es in diesem Jahr auch wieder geben.

: Wie erfolgreich wart ihr mit euren Aktionen im letzten Jahr?Konrad Kreutzer: Wir haben im letzten Jahr 13.000 Euro ge-sammelt. Insgesamt haben wir in den letzten beiden Jahren un-gefähr 16.000 Euro gesammelt und ich denke, dass 2012 noch einmal mindestens 10.000 bis 15.000 Euro dazu kommen wer-den.

: Was sind eure Ziele für die Zukunft von Viva con Agua?Konrad Kreutzer: In Bremen geht es immer noch darum, mehr Leute zu finden, die mitmachen, um Viva con Agua noch be-kannter zu machen. Ein Ziel wäre es, dass die Leute sagen, da gehe ich hin, weil es eine Viva con Agua-Veranstaltung ist und da weiß ich, dass es cool wird. Letztendlich sind wir eine große Familie. Klar geht es in erster Linie darum, möglichst viel Geld zu sammeln, um Leuten zu helfen, aber ein genau so großer Anteil ist, dass wir eine Gemeinschaft sind und dass wir Spaß zusammen haben.

bin ich auf die Homepage von Viva con Agua gegangen, weil mich das Thema Wasser interessiert. Dann habe ich dem Ver-ein geschrieben und gefragt, ob es in Bremen schon eine Zelle gibt, weil ich sie ansonsten gerne gründen würde. So hat alles angefangen. Viva con Agua ist ein offenes Netzwerk, jeder kann mitmachen, es gibt keine wirklichen Regeln. Man kann einfach zum Treffen kommen und sich einbringen, wenn man Lust hat. Mittlerweile gibt es das in ungefähr 20 Städten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in Spanien.

: Elena, wie bist du zu Viva con Agua gekommen?Elena Flathmann: Ich kam eher zufällig über einen Freund dazu. Er hat mir von Viva con Agua erzählt und ich dachte mir, dass sich das ganz gut anhört und bin dann einfach spontan zu einem Treffen mitgekommen und seitdem bin ich dabei.

: Wie viele Leute sind im Moment bei Viva con Agua in Bremen aktiv?Konrad Kreutzer: Also in unserem E-Mail-Verteiler sind circa fünfzig Leute eingetragen, davon kommen einige ab und zu mal und machen bei einer Aktion mit. Aber es sind ungefähr zehn Leute, wo man wirklich sagen kann, dass sie leitende Aufgaben übernehmen.

: Und jeder der Lust hat auch bei Viva con Agua mit-zumachen, kann einfach spontan zu euren Treffen kommen?Elena Flathmann: Genau, wir treffen uns jeden ersten Donners-tag im Monat um 19 Uhr im „Amt“ in der Wandschneiderstraße 6 und jeder, der Lust hat, kann einfach dazukommen.Scheinwerfer: Könnt ihr schon sagen, was ihr in diesem Jahr noch für Aktionen geplant habt?Konrad Kreutzer: Der Plan ist, jeden Monat eine Aktion zu veranstalten. Wir haben also ziemlich viel vor.Elena Flathmann: Genau, wir machen zum Beispiel am Pfingst-montag, dem 28. Mai, im Tower abends einen Flohmarkt. Dazu gibt es dann Kuchen, bei gutem Wetter wird gegrillt und es spie-len zwei Bands. Wir nehmen dann auch keine Standgebühren ein, aber von den Einnahmen der Verkäufe werden zehn Prozent als Wassersteuer an Viva con Agua gespendet.Konrad Kreutzer: Und im Juni fangen dann ja wieder die Festi-

Bremen

Die nächsten Termine von Viva con Agua in Bremen:Viva con Agua-Flohmarkt im Tower am 28. Mai ab 17 UhrSommerfest Vorstraße vom 08. bis 09. Juni

Weitere Infos und Kontaktmöglichkeit:https://www.facebook.com/vivaconaguabremen [email protected]

Text: Kira KettnerFoto: Philipp Johannßen

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Am 05. März war ordentliches Affentheater auf dem Bahnhofsvorplatz angesagt. Es wurde großes Geschütz aufgefahren: Ein Tieflader, zwei Kräne und einige ge-

standene Männer, die sich mit viel Sachverstand und versierten Handgriffen über die Affen her machten. Kurze Zeit später ver-luden Mensch und Maschine die Affenbande und weg waren die fünf Meter hohen Affen – ohne Widerstand! Die Rede ist von der Bronzeplastik, die seit 2007 vor dem Bremer Haupt-bahnhof stand. Doch warum wurde die Skulptur entwendet und wo ist sie nun? Die „Affenskulptur“ von Immendorff gehört zur Sammlung eines anonymen Bremer Leihgebers. Dieser stellte die Bronzeplastik 2007 für die temporäre Ausstellung über den im gleichen Jahr verstorbenen Künstler in der „Weserburg“ zur Verfügung. Aus diesem Grund wurde zum einen am Haupt-bahnhof die „Affenskulptur“ aufge-stellt und zum anderen eine weitere Bronzeplastik von Immendroff – das „Affentor“– am Brill aufgebaut. Die Gestalt der Affen taucht immer wie-der in Immendorffs Werken auf und ist eine Metapher für Selbstironie und die Rolle des Künstlers im Gefüge der Gesellschaft. Die Integration der bei-den Bronzeplastiken auf dem Bahn-hofsvorplatz und am Brill hatte aber nicht nur die Funktion, die Ausstel-lung zu untermauern, sondern fügte sich darüber hinaus in das Programm „Kunst im öffentlichen Raum“ ein, welches 1973 vom Bremer Senat be-schlossen wurde. Dieses Programm soll vor allem die Bremer in Kontakt mit Kunst und Kultur bringen, die sonst nicht die Möglichkeit dazu haben. Es zielt darauf ab Diskussionen zu provozieren und die Öffentlichkeit mit Kunst zu konfrontieren. Mit diesem Programm von 1973 ist Bremen ein bundesweiter Vorreiter, der den öffentlichen Raum zur kulturellen und künstlerischen Weiterbildung stellt und so-mit nicht nur örtlich eine Plattform bietet. Nun hat das „Mu-seum der Moderne“ in Salzburg die Ehre, der Affenbande bis voraussichtlich Mitte Juli 2012 Obhut zu gewähren. Im Zuge der Ausstellung Immendorff und Lüpertz (ein weiterer deut-scher Künstler) zeigt es erstmals einen größeren Komplex von Skulpturen, Gemälden und Grafiken beider Künstler. Nachdem die Affenbande weg ist, könnte man meinen, dass ein wenig Ruhe auf dem Bremer Hauptbahnhofsplatz einkehren würde. Falsch gedacht: Neben den bevorstehenden Umbaumaß-nahmen, die die Bremer Gemüter durchaus spalten, gibt es wei-tere merkwürdige Ereignisse: Schlendert man über den noch mit Skaterrampen und Bänken bestückten Bahnhofsplatz und wagt einen Blick gen Himmel gibt es einiges zu sehen: Wahrschein-lich schweben dort über einem bremische Regenwolken, es krei-sen dort womöglich auch ein paar Möwen – und Schuhe hängen

direkt über den Köpfen der Menschen. Schuhe? Um genau zu sein baumeln dort 16 Paar Schuhe an den Schnürsenkeln zu-sammengebunden. Dieses Phänomen ist nicht nur in Bremen zu beobachten, sondern auch in Hamburg, Berlin und in anderen Ländern wie Großbritannien oder Österreich. Es gibt viele The-orien, die das Phänomen erklären sollen. In den USA soll es zum einen ein Ritual sein, bei dem Studenten und Schüler ihren Ab-schluss feiern, zum anderen beenden Soldaten symbolisch ihren Militärdienst. Außerdem gibt es dort eine Geschichte, in der es heißt, dass in den neunziger Jahren ein streitendes Brautpaar auf dem Highway 50 in Nevada unterwegs war. Der Streit eskalierte und der Bräutigam warf die Schuhe der Braut aus dem Auto und in einen Baum, aus dem sie die Schuhe nicht wieder zurückho-len konnten. Erfolglos setzten sie sich unter den Baum, sprachen

sich aus und vertrugen sich. Dem Beispiel folgen nun viele Reisende, sodass an der Pappel auf dem High-way Hunderte von Paaren baumeln. Ein weiterer Erklärungsansatz be-sagt, dass die Straßenbanden damit ihr Revier markieren aber auch die Äußerung von Protest wird darin gesehen. Dies ist nur ein kleiner Teil der Annahmen, die vielfältiger sind als die Auswahl an hängenden Schu-hen. Einen eindeutigen Nachweis gibt es nicht, doch so kann sich jeder seine Theorie zu Eigen machen und den im Wind baumelnden Schuhen mit einem Schmunzeln zusehen…

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Wer hat die Kokosnuss geklaut?!In dem bekannten Kinderlied löst sich das Rätsel zum Ende hin auf, da das Affenbaby die Kokosnuss stibitzt hat. Die Kokosnuss ist wieder da, doch wo sind die Affen hin? Tatort: Bahnhofsvorplatz!

Bremen

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Affenskulptur auf dem Bahnhofsvorplatz

UPDATE: Umbau des BahnhofsvorplatzesBauzeit: Voraussichtlich Herbst 2012 bis Ende 2014Investor: Mitte Februar hat der Hamburger Investor den Kaufvertrag unterzeichnet. Die Investition soll sich angeb-lich auf 100 Millionen Euro belaufen.Architekt: Der Schweizer Max Dudler übernimmt die Ver-antwortung als Architekt und ist in Bremen kein unbe-schriebenes Blatt. Für die Jacobs University entwarf er das Sports and Concention Center.Entwurf: Auf dem Bahnhofvorplatz werden zwei siebenstö-ckige Hochhäuser entstehen, zwischen denen ein Abstand von etwa zehn Metern gelassen werden soll, um die Innen-stadt und den Hauptbahnhof zu verbinden.Nutzung: Folgende Einrichtungen sollen bislang einziehen: Hotel, Gesundheitszentrum, Büros, Restaurants und Ge-schäfte

Text: Katrin Pleus Foto: kunst im öffentlichen raum bremen

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Wir befinden uns in Hollywood im Jahr 1927. Dort trifft der Stummfilmschauspieler George Valentin auf seinen Fan Peppy Miller, besorgt der jungen Schauspielerin

eine Statistenrolle in seinem neusten Stück „A German Affair“ und verliebt sich in sie. Sie wird ein gefeierter Tonfilmstar während er von der Leiter des Erfolgs stürzt. Normalerweise würde man bei diesem Inhalt einen Hollywoodfilm mit viel Herzschmerz erwar-ten, doch „The Artist“ überrascht mit dem Gegenteil. Denn ty-pisch ist an dem Gewinner der diesjährigen Oscarverleihung gar nichts. Nicht nur, dass der als bester Film ausgezeichnete Streifen in schwarzweiß gedreht wurde, bis auf die Musik haben wir es mit so gut wie keinem Ton zu tun – der Film ist stumm. Seit die letz-ten beiden Stummfilme bei den ersten Oscarverleihungen 1929 als beste Filme ausge-zeichnet wurden, hat sich in der Filmbranche so einiges getan: Technicolor, Dolby Surround und dreidimensio-nale Digitalprojektionen sind allgegenwärtig. Und nun wer-den wir urplötzlich in der Zeit zurückversetzt und finden uns wieder bei den Anfängen des Films, ganz nach dem Motto „back to the roots“.Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Stummfilm in Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Filme verdrängten mit der Zeit andere Formen der Unterhaltung und zo-gen die Zuschauer nur so an, was dazu führte, dass dafür sogar ganze Filmpaläste gebaut wurden. Doch durch das Aufkommen des Tonfilms Ende der 1920er Jahre und dem großen Erfolg von „Der Jazzsänger“ (1927) wurde der Stummfilm innerhalb weniger Jahre verdrängt und gehörte bald der Vergangenheit an. Obwohl der Tonfilm bereits etabliert war, drehte Charles Chaplin weiter-hin Stummfilme („Lichter der Großstadt“ (1931) und „Moderne Zeiten“ (1936)), die an den Kinokassen sehr erfolgreich waren. Und auch in den Jahren darauf wurden immer wieder vereinzelt Stummfilme gedreht. Im Jahre 2006 inszenierte Franka Potente die deutsche Produktion „Der die Tollkirsche ausgräbt“. Bei einer Spiellänge von 43 Minuten gibt es in dem Film nur einen Charak-

ter, der spricht. Neben diesen neueren Stummfilmen sind in den letzten Jahren viele der „klassischen“ Stummfilme auf DVD her-ausgebracht worden. Die ursprüngliche Filmmusik, wenn es denn eine eigene Komposition gab, wurde oft von bekannten Künstlern aus der heutigen Zeit neu eingespielt. Allerdings leiden viele dieser Stummfilme unter Qualitätsverlust, der auf das Hochrechnen von einer niedrigeren Bildgeschwindigkeit auf unsere heutige Abspiel-geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde zurückzuführen ist, da diese niedrigeren Geschwindigkeiten für unseren DVD-Standard nicht konzipiert sind.Liebhaber der großen Leinwände können die stummen Streifen bei Angeboten in Filmkunstkinos (Bremer Filmkunst Theater) an-

schauen. Bei Filmfestivals ist das Konzept „Kino Kabaret“ ist sehr beliebt. Es besteht aus mehreren gezeigten, mitunter stummen, Kunstfilmen, die innerhalb von 48 Stunden von Kleingruppen produziert werden und das so gut wie ohne Budget. In Deutschland gibt es dies beim „Internatio-nalen KurzFilmFestival Ham-burg“ (festival.shortfilm.com) vom 29. Mai bis zum 4. Juni.

Obwohl die Stummfilmzeit schon lange vorbei ist, ist das Genre nicht gänzlich tot. Ob der Erfolg von „The Artist“ nun eine Revolu-tion ist, bleibt fraglich. Doch dass es sich um eine Hommage an die alte Zeit, in der der Ton nicht ausschlaggebend für den Filmerfolg war, handelt, liegt wohl auf der Hand. So gelangt der Zuschauer durch die Reduktion der Farben und die bekannten Elemente der melodramatischen Filme in die Atmosphäre einer Zeit, die uns nur noch aus Erzählungen bekannt ist. 100 Minuten lang bietet der Film durch die klassische Stummfilm-Inszenierung nach Hollywood-Art und die frischen Ideen mit vielen Anspielungen auf Szenen aus Klas-sikern eine zeitlose Unterhaltung. Vielleicht ändert dieser Erfolg von „The Artist“ etwas an dem Zustand der Stummfilme in unserer Zeit und lockt wieder mehr Menschen zum tonlosen Filmvergnügen.

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Unsinnige Dialoge oder schmalzige Liebeserklärungen sind bei diesen Filmen fehl am Platz. „The Artist“ befördert den Stummfilm in alle Munde.

Schweigen bleibt Gold

FeuilletonFeuilleton

Text: Nadine Döring Illustration: Fatima Yoldas, Farrin N. Abbott

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Neonlicht, Strip-Clubs, die wohl berühmteste Polizeista-tion des Landes und viele tausende Touristen im Jahr - das alles macht die Reeperbahn in Hamburg aus. Ge-

nauso wichtig für Deutschlands „sündigste Meile“ ist und war immer schon die Musik. Die Beatles begannen ihre Weltkarriere genau hier in einem der zahlreichen Musikclubs und auch heute, über 50 Jahre später, kommen junge Bands aus aller Welt nach Hamburg, um ihre ersten Bühnenerfahrungen auf deutschem Boden zu sammeln. Die erste Anlaufstelle für eine Vielzahl hoffnungsvoller Musiker ist dann meist das Molotow. Bereits seit 1990 direkt am Spielbu-denplatz gelegen, führen 23 Treppenstufen hinunter in den rot gestrichenen Club mit den niedrigen Decken und der kleinen Bühne im hinteren Raum. Hier erlebt man Musik noch so wie sie sein sollte, so nah an der Band, dass man den Musikern beim Spielen auf die Finger schauen kann und mit nur etwa 350 anderen Menschen, die auf der kleinen Flä-che vor der Bühne zu einer Einheit verschmelzen und nach einem ge-lungenen Auftritt alle gleicherma-ßen verschwitzt und glücklich sind. Das Molotow ist einer dieser so sel-ten gewordenen Orte, an denen noch alles möglich scheint: Lädt die Band das Publikum zur Zugabe spontan auf die Bühne ein? Entdeckt man seine neue Lieblingsband oder hört man zum ersten Mal diesen einen ganz besonderen, lebensverändernden Song? In diesem Club gibt es keine fünf Meter breiten Bühnen-gräben, die Band und Fans voneinander trennen und so ist es gut möglich, dass sich nach dem Konzert Musiker und Konzert-besucher an der Bar treffen, um gemeinsam ein Bier zu trinken. Im Molotow werden Geschichten geschrieben und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Bands, die heute zehn Mal so große Hallen füllen, genau hier ihr Debüt auf einer deutschen Bühne feierten. Unter anderem spielten im Keller unterhalb des Spielbudenplatzes schon The Killers, Mando Diao, Gossip oder Wir Sind Helden. Allesamt Bands, die heute große Festivals headlinen. Das alles könnte jedoch schon bald ein Ende haben, denn seit einigen Jahren verändert sich die Reeperbahn. Die alteingeses-

senen Kneipen und Clubs werden durch Supermärkte und Fast-Food-Ketten ersetzt und die Preise für Wohnraum auf St. Pauli steigen kontinuierlich, so dass sich viele langjährige Kiezbewoh-ner ein Leben nahe der Reeperbahn nicht mehr leisten können. Diese sogenannte Gentrifizierung, wie sie in vielen „Szenevier-teln“ vorkommt, ist längst auch auf St. Pauli angekommen. Über dem Eingang des Molotow hängt nun ein großes weißes Banner, das nicht etwa auf das nächste Konzert hinweist, sondern auf dem in Großbuchstaben „Kein Abriss!“ prangt. Was ist passiert? Das Gebiet rund um den Spielbudenplatz, auf dem sich neben dem Molotow auch zwei Wohngebäude und die aus zahlreichen abendlichen Dokumentationen im Privatfernsehen landesweit bekannte Esso-Tankstelle befinden, soll neu gestaltet werden. Auf 19000 Quadratmetern will der Investor Bayrische Hausbau,

dem dieses sogenannte „Esso-Areal“ seit 2009 gehört, einen Neubau mit Wohnungen und Gewerbefläche er-richten. Dafür müssten die bishe-rigen Gebäude aber weichen, also auch der Block, in dessen Keller sich das Molotow befindet. 2014 sollen die Bagger und Kräne anrücken, doch St. Pauli wäre nicht

St. Pauli, wenn sich die Anwohner nicht zu wehren wüssten. Inzwischen hat sich die Initiative Esso-Häuser gegründet, die sich gegen den Abriss und für eine Sanierung der betroffenen Gebäude einsetzt. Denn die Sorge ist groß, dass die bisherigen Anwohner durch steigende Mietpreise in den neuen Wohnhäusern gezwungen werden, ihr Zuhause zu verlassen und Platz zu machen für Bü-ros und vermögende Neumieter, die dem Lockruf des nächsten Trendviertels folgen. „Die Investoren versuchen St. Pauli zu zer-stören, indem sie es zu einer Yuppie-Ausgeh-, und Wohngegend machen“, fasst Andi Schmidt, der das Molotow seit 1994 leitet, das Problem zusammen. St. Pauli aber lebt von der Vielfalt der Menschen, eben dieser einzigartigen Mischung aus Künstlern, Rotlicht-Größen und Kreativen aller Art sowie den außergewöhnlichen Geschäften und Kneipen, die den Kiez teilweise schon seit vielen Jahrzehn-ten ihre Heimat nennen und maßgeblich dazu beigetragen ha-

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Das Molotow: Ende einer Kiezlegende?

Das Molotow auf der Reeperbahn ist einer der bekanntesten Musikclubs Hamburgs. Hier begannen die Karrieren zahlreicher namhafter Bands. Nun droht der Abriss.

Feuilleton

„Die Investoren versuchen, St. Pauli zu zerstören, indem sie es zu einer Yuppie-Ausgeh- und Wohngegend

machen“

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ben, dass sich dieser Stadtteil zu einem der beliebtesten Besuchs-ziele in ganz Deutschland entwickelt hat.Auch das Molotow selbst will nicht so einfach kampflos aufge-ben. Inzwischen hat sich die Facebook-Gruppe „Molotow Must Stay“ gegründet, die sich für den Erhalt des Clubs und damit für ein wichtiges Stück Hamburger Kultur einsetzt. Die Seite hat momentan fast 5000 Fans und informiert fortlaufend über den neuesten Stand der Entwicklungen und die Möglichkeiten für Besucher und Freunde des Clubs, sich für den Erhalt des Molotows zu engagieren. Diese Unterstützung und der positive Zuspruch von vielen Sei-ten ist besonders wichtig für den Club, wie Nils Warkentin vom Molotow verdeutlicht: „Am meisten hilft es, wenn das Thema aktuell bleibt und die Politik und die Investoren den kulturellen Wert des Molotows begreifen. Dies kann der „normale“ Besu-cher unterstützen, indem er bei uns vorbeikommt und hilft, das gesamte Problem weiterzuerzählen.“Hilfe kommt auch von prominenter Seite. Die Band Sportfreun-de Stiller wird am 26. Mai ein Support-Konzert im Molotow spielen. Die Münchner, deren letztes Album „MTV Unplugged in New York“ wochenlang auf Platz 1 der deutschen Charts stand, spielten ihr erstes Hamburger Konzert vor Jahren selbst im Molotow und fühlen sich dem Club immer noch persönlich und musikalisch eng verbunden. Die Karten für ihre Rückkehr zur Rettung des Musikclubs waren bereits nach wenigen Minu-ten restlos ausverkauft.Trotz mehrerer Runder Tische zur Vermittlung zwischen den Investoren und der Bürgerinitiative verkündete die Bayrische Hausbau im Februar ihre Entscheidung für den endgültigen Abriss des Esso-Areals. Es gibt jedoch immer noch Hoffnung, wie Nils Warkentin erklärt: „Grundsätzlich ist es so, dass der

Investor das gesamte Areal abreißen will. Hierfür fehlt jedoch die Rückendeckung der Politik, die erst weiterführende Gesprä-che mit Bewohnern, Mietern und Gewerbetreibenden fordert. Da sich die Bayrische Hausbau hierzu noch nicht geäußert hat, ist es offen, wie es weitergeht. Es sah aber in der Vergangenheit wesentlich schlechter aus als momentan.“

Eine Stadt wie Hamburg lebt von Vierteln wie St. Pauli und ihre Kultur profitiert ungemein von Musikclubs wie dem Molotow. Klinisch wirkende Glasbauten, Starbucks und vermeintlich hip-pe Designer-Läden gibt es mittlerweile in jeder mittelgroßen deutschen Stadt. Sie sind wie das Gesicht einer auf ewig jugend-lich gebotoxten Neureichen, die nur aus der Ferne ganz hübsch anzusehen ist, aber nichts zu sagen hat. Die Hafenstadt Ham-burg und gerade St. Pauli waren aber seit jeher immer eher wie der bärtige Kapitän mit dem herben Gesicht, der bei einem Bier den einen oder anderen Schwank aus seinem langen Leben voller Abenteuer erzählt und zu fortgeschrittener Stunde Seemannslie-der anstimmt. Es wäre eine Schande, ihn für immer aus der Stadt zu verbannen.

Text: Kira KettnerFotos: Kira Kettner

FeuilletonFeuilleton

Weitere Infos:http://www.molotowclub.com/

http://www.facebook.com/pages/Molotow-Must-Stay

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Howler:Minnesota ist ein Bundesstaat im Norden der USA, an der Gren-ze zu Kanada. Dessen größte Stadt Minneapolis ist zwar der Ge-burtsort von Prince, abgesehen davon aber nicht gerade bekannt für seine musikalische Geschichte. Dies könnte sich in diesem Jahr ändern, denn genau von hier aus schicken sich Howler an, die Musikwelt zu erobern. Obwohl die vier Bandmitglieder alle gerade einmal Anfang 20 sind, konnten sie im vergangenen Jahr einen Plattenvertrag mit Rough Trade Records abschließen. Ge-nau der Plattenfirma also, die in der Vergangenheit immerhin schon die Alben namhafter Größen der alternativen Musikszene, wie zum Beispiel The Smiths, Arcade Fire oder The Libertines veröffentlicht hat. Im Januar erschien nun Howlers Debütal-bum, das geradezu herausfordernd betitelte „America Give Up“. Songs wie „Back Of Your Neck“ (den man auf der Homepage der Band auch kostenlos downloaden kann) oder „I Told You Once“ beleben den leicht schrammeligen Garagen-Rock wieder und sind dabei so eingängig, dass man sich gut vorstellen kann, zu dieser Musik die ein oder andere Nacht durchzutanzen. Ob Howler wirklich DIE Band des Jahres 2012 werden bleibt ab-zuwarten, den Soundtrack für einige unvergessliche Momente könnten sie aber durchaus liefern.Weitere Infos: http://www.howlerband.com/

Dominik Eulberg:Er hat weder Metallschmuck, der sich durch seinen Körper bohrt, noch auffällige, gefährlich wirkende Tattoos oder einen freakigen, szenischen Kleidungsstil. Er ist der Naturbursche aus

dem Westerwald. Doch trotz seines unscheinbaren Aussehens und der Herkunft bringt der 33-Jährige stetig die bedeutends-ten Technoclubs des Landes zum kochen und wird auch immer häufiger international gebucht. Dominik Eulberg ist Minimal-Techno DJ und einer der bekanntesten der deutschen Elektro-szene. Sein musikalisches Alleinstellungsmerkmal ist die Vereini-gung der Kontroverse. Der Biologiestudent verwendet für seine Musik Laute und Geräusche aus der freien Natur und füttert diese mit satten Beats und Bässen. Wenn wir uns im Moloch der Großstadt in einem verranzten Elektroschuppen zu Dominik Eulbergs minimalistischen Arrangements ausgelassen tanzend wiederfinden, wird einem unweigerlich die Reinheit der weit verdrängten Natur nahe gebracht. Dominik Eulberg erschuf den Öko-Techno. Weitere Infos: http://www.dominik-eulberg.de/

Lautsprecher

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Dominik Eulberg

Howler

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Text: Kira Kettner, Lukas Niggel Fotos: Rough Trade/Beggars Group (Howler), Blue Rose Records (Baskery), Thorsten Kohlhaas (Eulberg)

Baskery

Baskery:Die Musikgeschichte ist voll von erfolgreichen Brüderbands, man nehme nur die Bee Gees, Oasis oder Kings Of Leon. Aber auch Schwestern können zusammen allerfeinste Musik machen. Bestes Beispiel dafür sind Greta, Stella und Sunniva Bondesson alias Baskery, aus Schwedens Hauptstadt Stockholm. Zusam-men machen sie Musik, die hörbar vom amerikanischen Coun-try inspiriert wurde, dabei aber ganz ohne Cowboyhüte und Karohemden daherkommt. Ganz im Gegenteil, Baskery fügen noch einen Schuss Rock und jede Menge tanzbare Melodien hinzu und heraus kommt Countrymusik, wie sie im Jahr 2012 klingen sollte. Aus genau diesem Grund konnten sie schon Auf-tritte beim britischen Glastonbury Festival und dem texanischen SXSW Festival, sowie als Vorband ihrer Landsmänner Mando Diao verbuchen. In diesem Januar standen Baskery dann aber auch im Rahmen ihrer eigenen Tour auf der Bühne des Bremer Lagerhaus. Dabei glänzen die Schwestern nicht nur als Multiin-strumentalistinnen, sondern alle drei auch mit ihren Fähigkeiten als Sängerinnen. Mehr von den talentierten Schwedinnen gibt es auf ihrem aktuellen Album „New Friends“ zu hören.Weitere Infos: http://www.baskery.com/

Seit diesem Frühjahr ist es für nieman-den mehr zu übersehen und genauso wenig zu überhören: Der Boulevard wird umgebaut. Die Notwendigkeit zu diesem Großprojekt kann wohl niemand bezweifeln. Im Frühling und Herbst ist lustiger Pfützen-Slalom an-gesagt, auch wenn man dann riskiert, sich von den rettenden Pfeilern zu weit zu ent-fernen und bei der nächsten Windböe wie-der zum Ausgangspunkt zurückgefegt zu wer-den. Einzig und allein im Sommer kann man dieses immer wieder fragwürdige Konstrukt halbwegs angstfrei betreten ohne den Lau-nen der Jahreszeiten allzu schutzlos aus-geliefert zu sein. Schön macht das den Boulevard, wie wir ihn kennen, aber noch lange nicht. Die Fertigstellung im Jahre 2014 werden die Allermeisten von uns lei-der nicht mehr miterleben, aber für zu-künftige Studierende scheint sich einiges zu ändern. Nein, damit ist nicht der si-chere Weg in Mensa, Bibliothek oder Keks-dose gemeint, sondern eher eine Annäherung an die bisher photogeshoppte Pseudo-Rea-lität der Bremer Uni-Internetpräsenz. Wer

kennt nicht die tollen Bilder? Aber viel wichtiger: Wer war beim ersten Besuch an der Uni nicht ziemlich schnell wieder zu-rück in der Offline-Realität? Es wird zwar keinen größeren Hörsaal geben, oder mehr Lehrende, um den wachsenden Studierenden-ansturm halbwegs auszugleichen. Auch das GW 2 bleibt in seiner vollen Herrlichkeit bestehen. Aber Hauptsache, es entsteht ein neues Motiv für die universitätseigene In-ternetpräsenz. Freuen wir uns also auf Jah-re voller Dreck, Staub und Lärm für eine neue Offline-Realität, die sich der Online-Realität anpasst. In der Zwischenzeit aber bleibt irgendwie alles beim Alten, nur die Wegführung wird ein wenig kreativer und abwechslungsreicher. So ganz scheint aber auch das noch nicht bei allen angekommen zu sein. Nicht selten verirrt sich der ein oder andere immer wieder auf die Baustelle ohne es wirklich zu merken. Und das sagt mehr über den wahren Zustand des Boulevards aus, als jedes Wort.

Text: Benjamin Reetz

Dank Boulevard-Umbau zurück in die Offline-Realität

Feuilleton

Kolumne

Dominik Eulberg

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Die Situation der Poesie hierzulande ist widersprüchlich. Die miesen Verkaufszahlen lassen vermuten, dass Poesie ihre besten Tage hinter sich hat: Von den ungefähr

500 Lyrikbänden, die im Jahre 2011 erschienen sind, haben sich die wenigsten gut verkauft. Die Auflagen liegen meistens zwischen 100 und 1000 Exemplaren, wobei letzteres schon als Erfolg gilt. Dabei war die stilistische Bandbreite „selten so hoch wie heute“, sagt der Dichter und Journalist Gerrit Wustmann. Sein letzter Gedichtband „Beyoglu Blues“, der 2011 im Fixpoetry Verlag erschienen ist, verkaufte sich 700 Mal. Für die Lyrikszene ein Bestseller. Gedichte werden hierzulande fast nur von engagierten Kleinverlagen verlegt. Selbst das namenhafte „Jahrbuch der Lyrik“ wird seit Jahrzehnten von Verlag zu Verlag gereicht, weil es sich nicht rentiert. „Die Beobachtung, dass es diese Texte gibt und keiner sie sich anschaut, ist eine Zuspitzung, aber das trifft schon das Problem“, sagt Professor Thomas Althaus, Literaturprofessor der Universität Bremen. Dabei gilt gerade die Poesie traditionell als Königsdisziplin der Sprache. Schon seit dem späten 18. Jahrhundert führt sie jedoch ein Schattendasein: „Früher war Versdichtung die Dichtung, Prosa war eher ein Problem. In den Buchhandlungen finden sie heutzutage Lyrikbände in einer verstaubten Ecke. Alles andere ist Romanprosa. Darauf hat sich die Wahrnehmung sehr stark eingestellt“, sagt Althaus. Früher waren Studierende der Literatur- und Geisteswissenschaften im Zweifelsfall noch die letzten Lyrikleser.

Doch wie viel Poesie gibt es heutzutage noch im Bachelor und Master? Professor Althaus ist gelassen, was die Stellung der Lyrik in den Lehrplänen betrifft. „Man macht schon noch Gedichte zum Thema. Doch unter den Bedingungen eines ganz effektiv angelegten Studiums kann überhaupt nur noch wenig gelesen werden.“ Das Vorlesungsverzeichnis des Bachelorstudiengangs English-Speaking Cultures (ESC) lässt wenig Optimismus aufkommen: Im gesamten sechssemestrigen Studium gibt es keinen Pflichtkurs, bei dem Gedichte umfassend besprochen werden. Im Einführungskurs in Englische Literaturen erwartet man neue Herangehensweisen an Gedicht vergebens, es bleibt bei der formalen Suche nach Alliterationen und Metaphern. Im Multiple-Choice-Test wird man anschließend gebeten, Reime zu klassifizieren. Danach müssen die Bachelorstudenten der ESC nie wieder ein Gedicht sehen. In der Germanistik ist es nicht ganz so schlimm. „Galileis Fernrohr und Guerickes Sperling – frühmoderne Wissenschaft in der postmodernen Lyrik“ heißt das Seminar, das Althaus im Sommersemester 2012 hält: „Moderne Lyrik setzt sich stark mit der Geschichte moderner Wissenschaften auseinander, in der sich die Wissensgebiete von den Wahrheitsfragen, die Leute bedrängen, abgespalten haben.“ Die Lyrik, die er in seinem Seminar behandelt, ist nicht einfach: „Es gibt einen neuen Hang zu so etwas wie kulturkritischer Gelehrtendichtung“. Wustmann sieht darin einen weiteren Grund für die Unpopularität der Lyrik: „Schwierig und komplex“ werde oft mit „intellektuell und

Ein unrentables Geschäft

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Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt ein auffälliges Desinteresse an Poesie im Land der Dichter und Denker. Dabei ist die deutsche Lyrikszene sehr aktiv. Doch kaum jemand kennt, geschweige denn liest moderne deutsche Gedichte.

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künstlerisch hochwertig“ gleichgesetzt. Damit könne die Masse der Leser nichts anfangen. Außerdem herrsche im Lyrikbetrieb viel Gegeneinander: „Viele halten sich für wichtige Künstler trotz schlechter Verkaufszahlen. Nennenswerte Kooperationen zwischen Lyrikverlagen, um große Marketingkampagnen auf die Beine zu stellen, gibt es nicht. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. So steht sich die Lyrikszene selbst im Weg.“ Die Situation der Lyrik ist nicht überall so trist wie in Deutschland: „Lyrik hat in einigen arabischen und lateinamerikanischen Ländern einen sehr hohen Stellenwert; in Dubai werden Wettbewerbe und Lesungen teils zur Primetime im TV ausgestrahlt. Davon kann man hier nur träumen“, seufzt Wustmann. Es wäre jedoch voreilig, den Bachelor an sich für alles verantwortlich zu machen. Denn ein Blick auf die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten im Ausland zeigt, dass kaum irgendwo so wenig Literatur gelesen wird wie hierzulande. Laura Beck promoviert an der Universität Bremen in Germanistik und hat ihre Gedichte bereits in diversen Zeitschriften veröffentlicht. Während ihres zweijährigen Auslandsstudiums in Frankreich bemerkte die 26-Jährige den Unterschied: „Man merkt es auch daran, worüber sich Studenten unterhalten. Es wäre sicherlich falsch, zu pauschalisieren, aber mein Gefühl war, dass in Frankreich generell mehr Interesse an Kultur besteht.“Regina Dyck ist die Festivalleiterin von „Poetry on the Road“. Das internationale Literaturfestival, das dieses Jahr vom 30. Mai bis zum 4. Juni stattfindet, gehört bereits seit zwölf Jahren zur Bremer Kulturlandschaft – und hat sich zu einer weltweit renommierten Marke entwickelt. „Über die Jahre ist das Festival kontinuierlich gewachsen und lockt immer mehr Publikum“, sagt Dyck. Internationale Größen wie Cees Nooteboom, Ulla Hahn und viele andere lesen während des Festivals an unterschiedlichen Orten, zum Beispiel auch vor Schülern eines Bremer Gymnasiums. „Dass die Poesie in Deutschland eher ein Nischendasein pflegt, liegt vielleicht auch am Deutschunterricht in der Schule“, stimmt Dyck zu, die selbst Germanistik auf Lehramt studiert hat. Vermiesen uns die Schulen das Interesse an Poesie? Wustmann erinnert sich an die eigene Schullaufbahn. Die Lehrer würden ihre Schüler mit unsinnigen Interpretationen nerven: „Sie plappern bloß auswendig gelernte Schemata nach, anstatt die Schüler frei lesen zu lassen, ihnen zu erklären, dass jeder Gedichte anders verstehen darf, und ihnen die Angst vor vermeintlich schwierigen Texten nehmen.“ Die Festivalleiterin hofft, dass Poesie durch Literaturfestivals noch mehr Wertschätzung und mehr Leser gewinnt. Im Ausland geschehe dies bereits: „In Kolumbien beispielsweise kamen im letzten Jahr 5.000 Besucher zur Eröffnung des Poesiefestivals in Medellín, die Gedichte der teilnehmenden Autoren wurden herumgereicht, teilweise auswendig rezitiert“, erzählt Dyck. Der Blog der Dichterin Vera Polozkova, besser bekannt unter dem Nickname vero4ka, hat 25.000 Leser, weit mehr als der durchschnittliche Gedichtband in Deutschland. Polozkova gilt als Wunderkind der russischen Lyrikszene, sie schreibt seit sie 15 ist und wurde in der Presse viel beachtet. Ihre Lesungen sind überfüllt, sie versteht es, mit ihren Gedichten zu unterhalten und zu berühren. „Ich muss zugeben, ich bin ein Glückspilz und

mache nur Projekte, die mir etwas bedeuten“, sagt Polozkova. Die Autorin gilt zwar als Ausnahmeerscheinung, jedoch ist sie nicht die Einzige, die so populär ist: Die vierundzwanzigjährige Poetin Alja Kudrjaschova kommt aus St. Petersburg und führt unter dem Nickname izubr ebenfalls einen Blog, der von über 13.000 Lesern verfolgt wird. Jedes Gedicht Kudrjaschovas, die bereits mehrere Wettbewerbe gewonnen hat, sammelt hunderte von Kommentaren. In der außerordentlich aktiven russischen Blogosphäre haben aber auch viele Dichter der älteren Generation ihre Chance entdeckt, eine größere Leserschaft zu finden.Auch Madjid Mohit macht sich für Gedichte stark. Der Inha-ber des Bremer Sujet Verlags hat vor kurzem die Lyrikanthologie „Hier ist Iran!“ mit Gedichten persischer Autoren in deutsch-sprachigen Ländern verlegt. Für Mohit ist Lyrik „die schönste Form der Sprache, in der ein paar Zeilen so viel auszudrücken, dass man sich stundenlang damit befassen kann“. Mohit selbst kommt aus dem Iran, wo er bereits als Verleger gearbeitet hat. Er kam nach Deutschland, da er wegen staatlicher Zensur nicht weiter in seiner Heimat arbeiten konnte und lebt seitdem zwi-schen zwei Kulturen: „Die Situation der Literatur im Iran ist nicht vergleichbar mit Deutschland. Ein Gedicht hat eine an-dere Funktion in der Gesellschaft als hier. In Europa redet man über Tatsachen. In Iran liest man ein Gedicht vor, um seine Behauptungen zu stützen, einen Beweis zu geben oder einfach zum Schlusspunkt und jeder versteht das sehr gut.“ Teilweise

werden Dichter sogar als Propheten betrachtet – die Gesellschaft vertraut auf ihre Worte. Dass Gedichte sich schlechter verkaufen, überrascht den Verleger nicht: „Gedichte zu lesen ist eine Übungssache. Über Bestseller braucht man in der Regel nicht viel nachdenken. Auf Lyrik muss man sich konzentrieren.“ Professor Alt-

haus sieht das genauso: „Gerade bei moderner Lyrik gibt es einen Moment des Hermetischen, man muss mit ihnen kämpfen, wäh-rend die Texte, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt als sehr populär erwiesen haben, diesen Widerstand nicht haben.“ Viele Lyriker und Poesiebegeisterte beschwören oft das baldige Aussterben der Lyrik. „Ich bin anderer Meinung“, sagt Mohit, „Ein Gedicht lässt sich nicht nur schnell lesen, sondern man kann lange darüber nachdenken. Ich denke, das ist sogar notwendig für Menschen in unserer schnellen Zeit. Die Lyrik wird eine Stelle finden.“ Außerdem gebe es neue Formen von Lyrik, zum Beispiel Slam Poetry, die der jüngeren Generation entsprächen.„Kein Lyriker ist so naiv zu glauben, er könne von der Lyrik leben“, sagt Wustmann. „Gottfried Benn hat mal errechnet, dass er mit seiner lyrischen Arbeit zu Lebzeiten kaum sechs Mark verdient hat.“ Aufhören zu schreiben wird er nicht. „Gedichte zu schreiben ist ein innerer Drang, den ich schon als Kind hatte. Lyrik ist die prägnanteste literarische Form, mit ihr kann man auf minimalstem Raum sehr viel ausdrücken und zugleich experimentieren, neue Bedeutungsebenen erschließen. Das fasziniert mich als Autor und als Leser.“ Der Kölner Dichter nimmt die Situation mit Humor: „Selbst wenn zeitweise die Leser komplett verschwinden, wie es immer wieder passiert, liest die Lyrikszene sich eben gegenseitig“.

Text und Foto: Natalia Sadovnik

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„In Dubai werden Wettbewerbe und Lesungen teils zur Primetime im TV

ausgestrahlt“

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“Da kann man nur noch vonAntisemitismus sprechen”

Der Scheinwerfer im Gespräch mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde im Land Bremen, Elvira Noa.

Warum schweige ich, verschweige zu lange,was offensichtlich ist und in Planspielen

geübt wurde, an deren Ende als Überlebendewir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,der das von einem Maulhelden unterjochte

und zum organisierten Jubel gelenkteiranische Volk auslöschen könnte,

weil in dessen Machtbereich der Baueiner Atombombe vermutet wird.

Doch warum untersage ich mir,jenes andere Land beim Namen zu nennen,

in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten - ein wachsend nukleares Potential verfügbaraber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung

zugänglich ist?

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,

empfinde ich als belastende Lügeund Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,

sobald er mißachtet wird;das Verdikt „Antisemitismus“ ist geläufig.

Jetzt aber, weil aus meinem Land,das von ureigenen Verbrechen,

die ohne Vergleich sind,Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch

mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,ein weiteres U-Boot nach Israel

geliefert werden soll, dessen Spezialitätdarin besteht, allesvernichtende Sprengköpfedorthin lenken zu können, wo die Existenzeiner einzigen Atombombe unbewiesen ist,

doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,sage ich, was gesagt werden muß.

Warum aber schwieg ich bislang?Weil ich meinte, meine Herkunft,

die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit

dem Land Israel, dem ich verbunden binund bleiben will, zuzumuten.

Warum sage ich jetzt erst,gealtert und mit letzter Tinte:

Die Atommacht Israel gefährdetden ohnehin brüchigen Weltfrieden?

Weil gesagt werden muß,

was schon morgen zu spät sein könnte;auch weil wir - als Deutsche belastet genug -

Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld

durch keine der üblichen Ausredenzu tilgen wäre.

Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,weil ich der Heuchelei des Westens

überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,es mögen sich viele vom Schweigen befreien,

den Verursacher der erkennbaren Gefahrzum Verzicht auf Gewalt auffordern und

gleichfalls darauf bestehen,daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle

des israelischen atomaren Potentialsund der iranischen Atomanlagendurch eine internationale Instanz

von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,mehr noch, allen Menschen, die in dieser

vom Wahn okkupierten Regiondicht bei dicht verfeindet lebenund letztlich auch uns zu helfen.

Was gesagt werden muss

(C) 2012 Günter Grass + Steidl Verlag

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: Frau Noa, wie haben Sie persönlich die Debatte um Grass‘ Gedicht wahrgenommen, insbesondere die Antisemistismusvorwürfe. Hat Grass nicht hauptsächlich mit der israelischen Außenpolitik abgerechnet?Noa: Wenn es so konkret und differenziert um israelische Außenpolitik gegangen wäre, dann hätte wohl kein Mensch über Antisemitismus geredet. Das Manko an Grass‘ Gedicht liegt vor allem darin, dass er unglaublich pauschalisiert, dass er Stereotypen und Vorurteile bedient, die aus dem Antisemitismus herrühren. Beispielsweise die Behauptung, Israel bedrohe den Weltfrieden. Vielleicht bedroht Israel den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, Israelis und Iranern oder umgekehrt. Er verdreht die Tatsachen: Wer den Weltfrieden bedroht, wer überhaupt Frieden bedroht, sind doch all die Länder, die Israel von der Landkarte verschwinden lassen möchten. Aber auch unabhängig von Israel besteht doch eine viel größere Bedrohung durch radikalislamischen Terrorismus – obwohl die nach meiner Auffassung auch nichts mit dem Islam zu tun haben. Diese Gruppen verüben weltweit Anschläge, bei denen tausende von Menschen sterben, das sind die Feinde des Weltfriedens. Da kann auch ein deutscher Literat und Nobelpreisträger, in seiner sehr rudimentären Sprache – Gedicht kann ich das nicht nennen – nicht glauben, auf diese Weise den Deutschen ihre Schuldgefühle nehmen zu dürfen, indem er die Opfer des Holocaust jetzt zu Tätern, ja sogar zu Mördern macht. Da kann man nur noch von Antisemitismus sprechen!

: Aber hat unsere zweifellose Verantwortung für den Staat Israel und dessen Existenz etwas mit Schweigen zu tun? Können wir mit Blick auf unsere Geschichte die Problematik nicht differenziert genug betrachten?Noa: Ja, ich denke das geht in die richtige Richtung. Leider wird es hier nicht differenziert genug gesehen. Wenn man über diese Themen spricht, scheint immer die Angst mitzuschwingen, etwas falsch zu machen. Diese Angst kann ich niemandem nehmen. Das ist eine Folge der Geschichte. Genauso wie Sie heute in der Verantwortung des Geschehenen stehen, haben wir das Leid unserer vorangegangenen Generationen miterlebt. Wenn Sie sehen, von welchen gebrochenen und körperlich kranken Menschen der Staat Israel aufgebaut wurde, laufen Ihnen kalte Schauer über den Rücken. Davon können die nachfolgenden Generationen nicht frei sein, auch wenn das leider oftmals zu Überreaktionen führt, wenn man sich bedroht fühlt. Ähnlich ist es bei euch, die nachfolgenden Generationen der Täter haben ebenfalls Ängste entwickelt und da muss man vorsichtig sein. Aber – ein dickes Aber! - wir leben im 21. Jahrhundert, Israel ist eine Demokratie und hat eine Politik, die man auch kritisieren darf und muss.

: Sie nehmen das Gedicht also so wahr, dass er die iranischen Gräueltaten damit rechtfertigt?Noa: Ja, er sagt doch, das Ahmadinedschad ein „Großschwätzer“ ist, wo nichts dahinter steht und das arme iranische Volk jetzt bald in Israel ausgelöscht wird. Das ist doch wahnsinnig! Wenn Israel angreift, dann nur, um das Atomprogramm zu stoppen und nicht, um das iranische Volk auszulöschen. Israel will ebenso wenig das palästinensische Volk auslöschen und das behauptet Grass. Das ist Antisemitismus, wie er leibt und lebt. Den Juden werden hier Dinge vorgeworfen, die man nicht will! Natürlich gibt es Diskriminierungen und auch katastrophale Fehltritte israelischer Soldaten im Gazastreifen, aber das wird auch – genau wie beispielsweise Fehltritte von US-Truppen im Irak oder in Afghanistan – verurteilt. Aber auch die Art und Weise, wie so etwas verurteilt wird diskutiert man in Israel sehr stark... : ...auch das Grass- Gedicht? Text: Benjamin Reetz

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Das Grass- Gedicht sorgte vor Wochen für einen wahren medialen Auf-schrei. Von Antisemitismus bis zum Vorwurf, der Literaturnobelpreisträger hinge immer noch der Ideologie des Nationalsozialismus an, war einfach alles zu lesen. Jeder, der glaubte etwas zum Thema beitragen zu müssen, konnte sich frei von der Leber weg in offenbar allen deutschen Medien äußern. Das Bild des Ganzen fiel leider weniger differenziert aus, als man es sich wünschen konnte. Ja, die Sprachwahl Günter Grass‘ und seine in Teilen zweifelhafte Stammtischdialektik à la „Man wird ja wohl noch sa-gen dürfen“ können nicht kritiklos im politischen Raum stehen gelassen werden. Der Öffentlichkeit jedoch zu suggerieren, alles und jeder, der nur einen Anflug von Kritik am Staate Israel äußert, sei gleich ein Antisemit, dürfte es in einer freiheitlichen Gesellschaft auch nicht. In diesem selte-nen Falle aber schienen mediale und politische Funktionsträger – sonst so streitbar und entzweit – einmütig im Kampf um den Status Quo des „Bloß-nichts-gegen-Israel-Sagens“. Doch die damit suggerierte Einigkeit im Kampf gegen angebliche Grass‘sche Verschmähungen finden in der Re-alität wenig Anklang. Kaum jemand versteht es, wenn man für Kritik an israelischen Kriegsplänen gleich als Sympathisant des iranischen Terrorre-gimes eingestuft wird. Und noch viel weniger ist es verständlich, warum unsere zweifellose Verantwortung für den Staat Israel mit dem Verschwei-gen von offensichtlichen Fehlern und Waffenlieferungen gleichgesetzt wird. Eine Debatte, wie wir sie um das Grass- Gedicht erlebten, macht erneut einmal deutlich, wie groß noch die Angst davor ist, mit dem NS-Regime gleichgesetzt zu werden und wie wenig wir selbst gelernt zu haben scheinen. In jedem anderen Falle legt die Weltöffentlichkeit bei Verstö-ßen gegen die Menschenrechte den Finger auf die Wunde, um bloß nicht glauben zu machen, man könnte dies tun ohne internationale Isolation zu fürchten. In den meisten anderen Fällen ist man sich einig, dass durch Waffengewalt kein Frieden hervorgebracht werden kann. Doch wenn es um Israel geht, gilt all das nicht. Es gehört viel Mut dazu, in einer derart verängstigten Gesellschaft ohne jegliche Debattenkultur einmal den Mund aufzumachen und sich dem Dogma des Verschweigens unangenehmer Tatsachen zu widersetzen. Israel ist eine Besatzungsmacht, die durch ihre eigene Politik – allem voran den ungehinderten Siedlungsbau in palästi-nensischen Gebieten – den Hass der eigenen Nachbarländer schürt. Israel lebt in einer ständigen Existenzangst, die zu großen Teilen selbst gemacht ist. Wenn nun mit einem Erstschlag gegen den Iran – oder, um im Duktus israelischer Offizieller zu bleiben, gegen iranische Atomanlagen – koket-tiert wird, dann ist dies eine Heraufbeschwörung eines neuen Krieges mit unabsehbaren Folgen. Atomwaffen in den Händen der iranischen Mullahs will niemand, aber Atomwaffen in den Händen der momentan in Israel regierenden Nationalisten sind nicht weniger gefährlich. Ein Staat, der die-se schlimmste aller menschengemachten Technologien illegal besitzt und zudem gleich neben Nordkorea den Atomwaffensperrvertrag nicht unter-zeichnet hat, versucht mit allen Mitteln, den Iran vom ebenso illegalen Besitz der Atombombe abzuhalten - und wir dürfen schweigen.

Text: Benjamin Reetz Foto: Phillip Johannßen

Kommentar: Die zwei Seiten der Medaille

Noa: Natürlich wird auch dieses Gedicht heftig diskutiert. Günter Grass hat vollkommen daneben gelegen! Er hat keinesfalls das Recht, Israel auf diese pauschale Weise zu Verdammen und zu Verurteilen, sodass alle jetzt sagen: „Wir haben Recht!“, die Israel sowieso schon immer in eine Ecke gestellt haben. Wenn man sich mit der Entwicklung von Antisemitismus auskennt, passt auch das leider in eine Reihe. Es gab Jahrhunderte lang durch die Kirchen vorgepredigte Vorurteile, die Juden seien an der Pest schuld, die Juden haben christliche Kinder ermordet, um ihre Matzen zu backen, die jüdische Weltverschwörung der Nazis und jetzt die Juden als Gefahr für den Weltfrieden. Was soll man da noch sagen? Und das aus dem Mund eines deutschen Literaturnobelpreisträgers! Alles andere was wir diskutiert haben, kann und muss diskutiert werden, aber so ein sogenanntes Gedicht zu veröffentlichen, nein!

: Frau Noa, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Berlin ist von einer starken Kiez-Kultur geprägt und jeder Stadtteil weist seine speziellen Eigenarten auf. Als einer der interessantesten Stadtteile Berlins ist

wohl Kreuzberg zu nennen. Dieses Viertel bietet unheimlich viel: Bummeln auf dem Markt am Landwehrkanal, Pizza im Prisma Pavillon, Minigolf im Görlitzer Park und vegan/vegetarisches Fastfood bei Yellow Sunshine. Es reicht aber auch schon aus, sich in ein gemütliches Straßencafé zu setzen und die vorbeigehenden Passanten zu beobachten: Stil- und Sprachvielfalt sind allgegenwärtig. Im Straßenbild zeigt sich weiterhin eine hohe Affinität zur Kunst, Musik, Literatur und Politik. Das Foto von dem Bücherturm ist ebenfalls in Kreuzberg aufgenommen. Bei Regen lohnt sich das Kreuzbergmuseum (kein Eintritt), welches unter anderem die Geschichte des Häuserkampfes im Kiez anschaulich darstellt. Inzwischen gehört Kreuzberg zu den Szenevierteln Berlins und ist deshalb stark von Gentrifizierung betroffen. Weitere Informationen zu Kreuzberg findet man auf der Seite www.kreuzberg24.net.

Gleich nebenan liegt Neukölln. Leider zu Unrecht medial in Verruf geraten, weist auch dieser Stadtteil eine Vielzahl von Au sg ehmög l i chke i t en , Restaurants und Veransta l tungszentren auf. Für diejenigen, die dem Trubel der Millionenstadt mal

entfliehen möchten, lohnt sich ein Spaziergang über das riesige Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Dort kann man sich den Wind um die Nase wehen lassen und die Eindrücke des Tages verarbeiten. Weiterhin zeigt sich deutlich, was Menschen – wenn man ihnen die Möglichkeit lässt – mit ein wenig Kreativität aus einem Brachland machen können. Es gibt kleine Gärten und Äcker, verschiedenste Sportmöglichkeiten und vieles mehr.Besonders sehenswert in Neukölln ist die heutige Ortslage Rixdorf rund um den Richardplatz. Aus einer kleinen im Jahre 1737 gegründeten Gemeinde protestantischer Flüchtlinge aus

Böhmen entstand der heutige Ortsteil Neukölln im Bezirk Neukölln. Interessant sind der Friedhof (Böhmischer Gottesacker, 1751), die Rixdorfer Schmiede, die zuerst 1624 erwähnt wurde, und die Bethlehemskirche auf dem Richardplatz aus dem Jahr 1481. Beim Schlendern durch die Kirchgasse fühlte ich mich, aufgrund der kleinen alten Häuser und des

Fernweh Berlin

Feuilleton

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„Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?“, fragte schon vor einigen hundert Jahren Johann Wolfgang von Goethe. In diesem Fall ist das Gute - und zwar Berlin - 395 Kilometer von Bremen entfernt.

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abgetretenen Kopfsteinpflasters, in längst vergangene Zeiten zurückversetzt. Aber nicht nur dort, im unterschätzten Neukölln, sondern in ganz Berlin ist die historische Bedeutung dieser Stadt zu spüren. Aus diesem Grund ist für mich bei jedem Berlin-Besuch eine Aktivität absolute Pflicht: Ein Spaziergang vom Alexanderplatz zur Siegessäule. Für Lauffaule lohnt sich die Buslinie 100, die viel preiswerter ist als ein Sightseeing-Bus für Touristen, und ebenfalls die wichtigsten Stationen abfährt. Aber dann verpasst man natürlich das Großstadt-Flaneur-Gefühl.

Auf dem Alexanderplatz fällt der Blick als Erstes auf den riesigen Fernsehturm. Wenn man mit dem Fahrstuhl hinauffährt, hat man zwar einen wunderschönen Blick über Berlin, ist jedoch auch um elf Euro ärmer. Das Geld kann man besser investieren.Weiter geht’s Richtung Westen. Links kann man das Rote Rathaus sehen, das zwischen 1861 und 1869 erbaut wurde. Es folgt auf der rechten Seite der Berliner Dom, der in Anlehnung an die italienische Hochrenaissance und den Barock errichtet wurde, und dahinter die Museumsinsel. Dort befinden sich einige der bedeutendsten Berliner Museen (unter anderem Bode- und Pergamonmuseum). Gleich nebenan ist das Deutsche Historische Museum im alten Zeughaus. All diese Museen bieten einen ermäßigten Eintrittspreis für Studierende an (4 Euro bis 6,50 Euro).

Auf der linken Seite kann man sich den Platz ansehen, auf dem einmal der Palast der Republik stand und zukünftig das Stadtschloss teilweise wieder aufgebaut werden soll. Der Weg führt weiter an dem Palais am

Festungsgraben, der Reiterstatur Friedrichs des Großen und dem Hauptgebäude der Humboldt-U n i v e r s i t ä t vorbei. Dort findet sehr häufig ein Bücherflohmarkt statt, bei dem man das eine oder andere S c h n ä p p c h e n abstauben kann.

Auf der linken Seite folgt das Gebäude der Komischen Oper Berlin. Berlin fungiert innerhalb D e u t s c h l a n d s als Kunst- und

Text und Fotos: Anna Tappe

Feuilleton

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Kulturzentrum sowie Produktionsstätte für verschiedenste Bereiche der kreativen Arbeit. Dazu zählen Theater, Opern- und Konzerthäuser. Durch den Studierendenrabatt ist ein Besuch in einer dieser Einrichtungen erschwinglich und lohnt sich unbedingt. (Zum Beispiel: Deutsches Theater neun Euro, Deutsche Oper 25 Prozent, Berliner Philharmoniker acht Euro im Kammermusiksaal.)Wer jetzt stur geradeaus läuft kommt direkt zum Pariser Platz und dem Brandenburger Tor. Es wurde in den Jahren von 1788 bis 1791 auf Anweisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. errichtet und ist die bekannteste Sehenswürdigkeit der Stadt. Der Bau ist dem frühklassizistischen Stil zuzuordnen.Jetzt Endspurt: Das Brandenburger Tor passieren, einen kurzen Blick auf den Reichstag erhaschen und dann durch den Tiergarten zur Siegessäule. Diese wurde von 1864 bis 1873 nach einem Entwurf von Heinrich Strack erbaut. Auch diese Berliner Sehenswürdigkeit kann bestiegen werden, kostet im Gegensatz zum Fernsehturm nur lächerliche 2,50 Euro und ermöglicht wegen der geringeren Höhe auch den nicht ganz Schwindelfreien einen Blick über Berlin. Natürlich hat Berlin nicht nur positive Seiten. In keiner anderen deutschen Großstadt wird die Schere zwischen arm und reich so deutlich wie in Berlin. Zum ersten Mal wurde ich dort von einem Kind um Geld gebeten und zum ersten Mal sah ich in der U-Bahn eine Person Koks nehmen, mitten am Tag, und keinen hat es wirklich interessiert. Diese Eindrücke stehen im starken

Kontrast zu den durchgestylten Leuten in Mitte oder Prenzlauer Berg. Ich kann nur empfehlen, sich einen eigenen Eindruck von der Ambivalenz der Stadt zu machen.

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Die moderne Welt funktioniert mit und durch das Internet: Social Media, wie Facebook und Twitter, bestimmen unseren Alltag, organisieren unsere

G e b u r t s t a g s p a r t y s und halten uns im Sekundentakt über alles auf dem Laufenden, was wir wissen sollten. Vor einem Jahr beeinflusste das Internet maßgeblich die Aufstände gegen die autoritären Regime in der arabischen Welt. Die Musik, die wir hören, haben wir eventuell von einem Freund kopiert, der sie von seinem Cousin bekommen hat und Serien und Filme können wir als Stream im Internet anschauen.Und nun soll also ein Abkommen in Kraft treten, das uns irgendwie im Internet beschränken soll und auch noch im

Geheimen ausgehandelt wurde, ohne dass die

Öffentlichkeit davon informiert worden

wäre. ACTA (Anti Counterfeiting Trade

Agreement), oder zu deutsch: andelsübereinkommen zur

Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie, ist ein Abkommen

zwischen der EU, den USA, Japan, Kanada, Südkorea, Mexiko,

Australien, Marokko und noch ein paar anderen Ländern. Neben der Verfolgung

von nachgeahmten Markenprodukten und mit welchen Massnahmen im Falle von

Produktpiraterie ACTA-Recht durchgesetzt werden soll, beschäftigt sich ein großer Teil des Abkommens mit der

Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums im digitalen Umfeld, also zum Beispiel illegalem Downloaden von Musik,

Filmen oder Raubkopien und wie man diese in internationaler Zusammenarbeit eindämmen kann. Die EU-Kommission wirbt für das Abkommen mit protektionistischen Argumenten: Gefälschte Produkte überfluten den Markt und gefährden somit die europäische Wirtschaft, die jährlich angeblich Schäden in Milliardenhöhe verzeichnet. Nach Angaben der Kommission haben sich Piraterieprodukte im Zeitraum von 2005 bis 2010 verdreifacht. So betrachtet wäre eine Verschärfung der Urheberrechte (auch im Internet) und eine weltweite Angleichung der Gesetze diesbezüglich im Sinne der EU-Gemeinschaft.Trotz alledem ist ACTA höchst umstritten und wird weltweit kritisiert. Seitdem eine nicht autorisierte Version des Vertrages im März 2010 ins Internet gestellt wurde, beäugt die Netzgemeinde argwöhnisch die ACTA-Verhandlungen, die zunächst hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem undemokratischen Verfahren stattfanden. So gab es bereits im Jahr 2006 Treffen zwischen den USA und Japan, bei denen das Konzept „ACTA“ entworfen wurde. Außerdem wird vermutet, dass an den Verhandlungen auch Vertreter der amerikanischen Unterhaltungsindustrie teilgenommen haben und somit Einfluss auf das Regelwerk nehmen konnten. Die größte Befürchtung, die von ACTA-Gegnern geäussert wurde, ist die Berechtigung der Provider auf Grundlage des Abkommens Netzinhalte zu löschen und Seiten sperren zu können, ergo zu zensieren. Darüber hinaus rief Amnesty International die Regierungen dazu auf, ACTA nicht zu unterschreiben, da es die Menschenrechte verletzen könnte, wie das Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Informations- und Meinungsfreiheit. Die Partei Die Linke befürchtet, dass durch das Abkommen generische Medikamente (Kopien von Markenmedikamenten) und Saatgut an Ländergrenzen konfisziert werden könnten, da die Verträge die teilnehmenden Länder dazu berechtigten, verdächtige Waren zu beschlagnahmen und zu zerstören. Entwicklungsländern, die auf diese Medikamente angewiesen sind, würde dadurch der Zugang zu solchen Medikamenten verwehrt. Auch die Sorge, dass ACTA Privatpersonen anstelle von Gerichten dazu berechtigen könnte, die Bestimmungen durchzusetzen, wurde geäußert. Dies gleicht einer Horrordarstellung, da dadurch zum Beispiel Internetanbieter, bei einem Missbrauchsverdacht von Seiten ihrer Nutzer, dazu berechtigt wären ohne gerichtliche Grundlage Seiten oder Nutzer zu sperren.Der Widerstand gegenüber ACTA ist enorm. In etlichen Städten Europas fanden am 11. Februar Demonstrationen gegen das umstrittene Abkommen statt. In Sofia, Warschau, Prag, Bukarest, Paris, Brüssel, Dublin sowie in mehreren Städten Deutschlands protestierten Gegner und Kritiker gegen die Verträge. Auch in Bremen versammelten sich (bei Minusgraden) nach Angaben des Weser Kuriers rund 2500 Menschen in der Innenstadt,

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Das Symptom ACTA

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Es verspricht geistiges Eigentum international zu schützen und die Märkte vor gefälschten Produkten zu bewahren, doch es wird befürchtet, dass es Zensur und Überwachung bedeutet: ACTA! Wofür steht dieses Abkommen und was ist das eigentliche Problem hinter den Protesten?

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Text: Sophie CzilwikFotos: Sophie Czilwik

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Wut der Bürger darüber, dass ihnen Gesetze vorgelegt werden, die nicht in einem demokratischen Verfahren entstanden sind. Es ist die Ungerechtigkeit über die Gegebenheiten der heutigen Welt, die von den Interessen der mächtigen Konzerne gelenkt wird, die auch in der Occupy-Bewegung ihren Ausdruck findet. Und es geht um das heutige Urheberrecht, das längst nicht mehr zeitgemäß ist und seit Beginn des Internetzeitalters in einer Legitimationskrise steckt. Mehrere Faktoren kommen

zusammen, die einen öffentlichen Diskurs benötigen, der von allen mitgetragen wird. Das europaweite Ausmaß der Protestaktionen ist beeindruckend und bestätigt die Unerlässlichkeit bürgerlicher Teilnahme am demokratischen Prozess.

Anfang diesen Jahres unterzeichnete die EU und 22 ihrer Mitgliedsstaaten den Vertragstext, Deutschland unter anderem setzte zunächst bei der Unterzeichnung aus, beziehungsweise verschob diese auf einen späteren Zeitpunkt. Die EU-Kommission hatte die Idee, ACTA an den Europäischen Gerichtshof weiterzureichen, diese Entscheidung wurde jedoch abgelehnt. ACTA-Gegner begrüßen dies, denn andernfalls hätte sich die Abstimmung zu ACTA im EU-Parlament um Monate verschoben. Solange, bis ACTA in öffentliche Vergessenheit geraten und still und leise in Kraft treten könnte. So jedoch werden die Parlamentarier

im Juni diesen Jahres über das Anti-Counterfeiting-Trade-Agreement abstimmen und angesichts der vielen Proteste scheinen die Chancen gut für diejenigen zu stehen, die hoffen, dass ACTA demokratisch abgelehnt wird.

um mit “Stop ACTA!”, “Netzzensur im ganzen Land – unsere Antwort Widerstand!” oder “Schlachtet den Datenkraken!” ihre Abneigung zu ACTA zu demonstrieren. Es sind vor allem junge Leute, die an den Aktionen teilgenommen haben, also die Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist und von einem limitierten Internet am stärksten betroffen wäre.

Aber was würde ACTA wirklich verändern, wenn es ratifiziert und umgesetzt würde? Wenn man sich den Vertragstext anschaut, steht dort nichts von Netzsperren oder ähnlichem. Viele Regelungen, die in ACTA genannt werden, sind durch das deutsche Recht schon abgedeckt. Das Urheberrecht zu verletzen, indem man illegal Musik oder Filme herunterlädt, ist strafbar. Viele Befürchtungen über das Ausmaß, das ACTA annehmen könnte, finden keine Stütze im Vertragstext. Dass Internetprovider z.B. dazu verpflichtet würden Inhalte im Netz zu kontrollieren oder dass im Falle einer Grenzüberschreitung (die Befürchtnug liegt vor allem auf generischen Medikamenten) verdächtige Waren beschlagnahmt werden können, sind im deutschen Recht schon verankert. Dennoch gibt es gute Gründe, sich gegen ACTA auszusprechen. So bezeichnet Thomas Stadler, Fachanwalt für IT- Recht und Gewerblichen Rechtsschutz, auf seiner Homepage das Abkommen als eine Entscheidung „die einseitig die Rechteinhaber begünstig und wenig Rücksicht auf das Gemeinwohl nimmt.” ACTA ebnet somit den Weg in eine falsche Richtung bezüglich des Urheberrechtes. In großem Maße werden die Interessen der Vermittler von kreativen Werken, z.B. Buchverlagen gestärkt, die von den Geschäften mit künstlerischen Produkten im Verhältnis zu den Urhebern sehr viel Profit schlagen. Die Leistungen der eigentlich Kreativen (zum Beispiel Autoren und Musikern) wird nicht angemessen honoriert, wie der Rechtswissenschaftler Karl-Nikolaus Peifer betont. Wie es scheint geht es bei den Demonstrationen und Diskussionen um viel mehr als nur um dieses Abkommen. Es ist einerseits die

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Text: Christina Freihorst

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als Zentrum des Erlebens

Musik in der urbanen Lebenswelt„New York, New York“ von Frank Sinatra, „London Calling“ von The Clash oder

aber „Dickes B“ von Seeed: Nach dem klassischen Liebeslied ist die Ode an eine Stadt

wohl eines der beliebtesten Songthemen der Musikgeschichte. Egal ob aus Sehnsucht

nach der Heimat, Fernweh nach der Traumstadt oder einfach als Liebeserklärung an den

eigenen Wohnort, Städte inspirieren, und das schon immer. Nirgendwo fühlt man sich so

dazugehörig und gleichzeitig so alleine, nirgendwo hat man so viele Möglichkeiten

und dennoch so viele Beschränkungen wie in einer Großstadt und nirgendwo kann

man an nur einem Tag in ganz unterschiedliche musikalische Welten eintauchen,

je nachdem in welchem Viertel man sich aufhält. David Bowie zog in den 70ern

für die Aufnahmen seiner Berlin-Triologie gleich für mehrere Jahre in die deutsche

Hauptstadt und auch die britische Band The Ting Tings folgte vor gar nicht allzu langer Zeit seinem Beispiel. In Berlin nahmen sie zunächst ein Album namens „Kunst“ auf, dass dann aber wieder komplett verworfen wurde. Das aktuelle Album produzierten The Ting Tings schließlich in einem kleinen Ort in

Südspanien und betitelten es passenderweise „Sounds from Nowheresville“. Die Stadt als Gefängnis der Kreativität, auch das ist also möglich.

Die Macht der Entscheidungen

In einer fernen Zukunft ist der 118 Jahre alte Nemo

Nobody der letzte sterbliche Mensch auf der Welt, nachdem

die Menschheit es geschafft hat, die Unsterblichkeit zu

erlangen. Von einem Reporter und einem Psychologen befragt,

soll er sich an sein Leben zurückerinnern. Er weiß nicht, wie

er an den Ort, an dem er sich gerade befindet– ein steril weißes

Krankenzimmer – gekommen ist, doch wie das oft bei älteren

Menschen ist, sind länger zurück liegende Erinnerungen noch

präsent. Zwischen Träumen und Wachen versinkt Mr. Nobody in

seinen Gedanken, wobei er verschiedenen Handlungssträngen folgt

– Ausgangspunkt ist die Trennung seiner Eltern, als der neunjährige

Nemo eine unmögliche Entscheidung treffen soll: Will er bei seiner

Mutter oder seinem Vater leben? Daraus ergeben sich zunächst zwei

Möglichkeiten, die sich in weitere Möglichkeiten aufgabeln. Doch

welcher Handlungsstrang ist der reale? Was ist wirkliche Erinnerung

und was ist Traum? Die Erzählung ist weniger die einer einzigen wahren

Lebensgeschichte, als vielmehr die Geschichte von allem, was möglich

gewesen wäre: Ehe mit der reichen Jeanne oder mit der depressiven Elise

oder Wiedersehen mit seiner Jugendliebe Anna. Wir tauchen mit Nemo

in seine widersprüchlichen Erinnerungen ein, was zunächst verwirrend

ist. Lässt man sich jedoch darauf ein, wird es im Verlauf des Films immer weniger

wichtig, welche der Geschichten wirklich passiert ist. Klar wird: Abhängig von seinen

Entscheidungen könnte Nemo unendlich viele verschiedene Leben geführt haben,

doch womöglich hat er sich nie entschieden? Darüber hinaus verdeutlicht der Film,

dass unsere Erinnerungen ein wichtiger Bestandteil unserer Persönlichkeit sind – ohne

eine klare Geschichte sind wir am Ende niemand.

Mr. Nobody (2009); R: Jaco Van Dormael; mit Jared Leto, Diane Kruger. Auf DVD

erhältlich (Director’s Cut + Kinofassung).

Die

Betrachtete ich eine Stadt tonlos, so käme ich mir inmitten der Menschenströme zur Rush- Hour verloren und

einsam vor. Das richtige Lied in meinem Ohr beschert mir selbst am grauesten Tag gute Laune. In den großen

Städten dieser Zeit sind Menschen, bekannt oder völlig fremd, die Verbindung, die Erinnerung an sie meine

Geschichte. Doch ist meine Realität, mein grenzenloses Leben an einem Ort meiner Wahl, nicht der Traum eines

anderen, die Schranken seiner Welt? Lebe ich für mich oder für die Menschen, die ich in Wahrheit nicht

kenne? Drei Ansätze der Wahrnehmung und Interpretation des Stadt-Gefühls.

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als Zentrum des Erlebens

Musik in der urbanen Lebenswelt„New York, New York“ von Frank Sinatra, „London Calling“ von The Clash oder

aber „Dickes B“ von Seeed: Nach dem klassischen Liebeslied ist die Ode an eine Stadt

wohl eines der beliebtesten Songthemen der Musikgeschichte. Egal ob aus Sehnsucht

nach der Heimat, Fernweh nach der Traumstadt oder einfach als Liebeserklärung an den

eigenen Wohnort, Städte inspirieren, und das schon immer. Nirgendwo fühlt man sich so

dazugehörig und gleichzeitig so alleine, nirgendwo hat man so viele Möglichkeiten

und dennoch so viele Beschränkungen wie in einer Großstadt und nirgendwo kann

man an nur einem Tag in ganz unterschiedliche musikalische Welten eintauchen,

je nachdem in welchem Viertel man sich aufhält. David Bowie zog in den 70ern

für die Aufnahmen seiner Berlin-Triologie gleich für mehrere Jahre in die deutsche

Hauptstadt und auch die britische Band The Ting Tings folgte vor gar nicht allzu langer Zeit seinem Beispiel. In Berlin nahmen sie zunächst ein Album namens „Kunst“ auf, dass dann aber wieder komplett verworfen wurde. Das aktuelle Album produzierten The Ting Tings schließlich in einem kleinen Ort in

Südspanien und betitelten es passenderweise „Sounds from Nowheresville“. Die Stadt als Gefängnis der Kreativität, auch das ist also möglich.

Laufen und sehen

Wo ist die Stadt nur zuende? Ihr Rand ist endlos, endloses Ausfransen; also bleibt August nichts anderes übrig, als immer weiterzugehen. Er verpasst

ja nichts mehr, er ist ja immer wach, aber auch immer müde, benommen, nie richtig wach, immer wach, aber falsch, immer falsch wach. August Kreuzer, der Protagonist in Albrecht Selges Debütroman ’Wach’, wird von andauernder Schlaflosigkeit durch Berlin getrieben. Und er sieht und beschreibt alles: Eckkneipen, Friedhöfe, Einkaufscenter und fremde Passanten. Der Roman weist kaum Interaktionen zwischen August und seinen Mitmenschen auf und erzählt weniger eine zusammenhängende Geschichte als vielmehr eine Aneinanderreihung von detaillierten Beobachtungen, von Reflexionen über diese, von endlosen Straßenzügen, Hausfassaden und Kilometern. Der Autor reaktiviert die Figur des Flaneurs und Herumschweifers. Der originellen Erzählform sind zwar gewisse Textlängen geschuldet, die aber durch die oft lyrisch und philosophisch anmutenden Gedankenstränge wieder ausgeglichen werden.Das perfekte Buch für Freunde von Berlin und ausgiebigen Spaziergängen durch diese ambivalente und vielschichtige Stadt. Albrecht Selge: „Wach“. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 256 S., geb., 19,95 Euro.

Feuilleton

Betrachtete ich eine Stadt tonlos, so käme ich mir inmitten der Menschenströme zur Rush- Hour verloren und

einsam vor. Das richtige Lied in meinem Ohr beschert mir selbst am grauesten Tag gute Laune. In den großen

Städten dieser Zeit sind Menschen, bekannt oder völlig fremd, die Verbindung, die Erinnerung an sie meine

Geschichte. Doch ist meine Realität, mein grenzenloses Leben an einem Ort meiner Wahl, nicht der Traum eines

anderen, die Schranken seiner Welt? Lebe ich für mich oder für die Menschen, die ich in Wahrheit nicht

kenne? Drei Ansätze der Wahrnehmung und Interpretation des Stadt-Gefühls.

Text: Anna TappeFotos: Katrin Pleus

Text: Kira Kettner

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Lektorat: Tabea Herrera

Druck: Druckerei Peter von Kölln, Scipiostraße 5a, 28279 BremenAuflage: 3000

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