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MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

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Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund für die Saison 2015/16 gibt Ihnen einen Überblick über alle Inszenierungen, die im Schauspielhaus und ab dem 11. Dezember 2015 auch in der Ausweichspielstääte - dem MEGASTORE in Dortmund-Hörde - stattfinden werden. Alle weiteren Infos unter: www.theaterdo.de

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es war während der Pause unseres Spielzeit-Abschluss-

Festes, am 25. Juni 2015 – Paul Wallfisch wurde

gerade vom Dortmunder Publikum mit Standing Ovations

verabschiedet, da erreichte mich folgende SMS:

„Der Rat der Stadt unterstützt die Übergangsspielstätte

MEGASTORE für den Zeitraum des Umbaus!“

Der Umbau? Aufgrund von Brand- und Arbeitsschutz-

verordnungen muss der komplette Abschnitt zwischen

Schauspielmagazin und Theaterpforte teilweise

abgerissen, teilweise modernisiert werden.

Der große Saal des Schauspielhauses wird dadurch nicht

mehr bespielt werden können.

Am 31. Januar 2016 öffnen wir daher zum letzten Mal

in dieser Spielzeit unsere Türen zum großen Saal.

Das kleinere Studio wird jedoch weiter, wie gewohnt,

mit ungewöhnlichen Produktionen für unser Publikum

offen bleiben.

Ab dem 11. Dezember 2015 wird das Schauspiel dann

zum MEGATHEATER – mit der ersten Premiere in der

neuen Spielstätte, dem ehemaligen MEGASTORE des BVB

(Felicitasstraße 2, Phoenix West / Dortmund-Hörde).

Heute bin ich überglücklich,

Ihnen nun endlich

einen kompletten Spielplan für die Theatersaison 15/16

präsentieren zu können. Was wir alles für Sie

entwickeln werden, davon berichten wir auf den 96 Seiten

unseres MEGAZINES – und ich kann Ihnen sagen:

Es wird MEGASPANNEND.

Ich freue mich auf Sie und wünsche Ihnen

eine außergewöhnlich aufregende Spielzeit

an Ihrem MEGATHEATER.

IhrKay VogesIntendant des Schauspiels

Liebe Freunde des (MEGA)-Schauspiels,

EDITORIAL

NEUER SPIELORT

PS: Übrigens, das Theatermagazin „Theater heute“ hat das Schauspiel Dortmund

in der aktuellen Jahresumfrage zum zweitbesten Theater im deutschsprachigen

Raum gekürt (neben drei Bühnen aus Berlin). Diesen Erfolg haben wir auch

Ihnen, unserem Publikum, zu verdanken. Sie haben uns durch die letzten

Jahre mit Ihrer Offenheit und Neugierde getragen.

Danke, MEGAPUBLIKUM!

megastore Felicitasstraße 2 44263 Dortmund U47 (Richtung Hacheney) bis „Rombergpark“, dann Bus 440 (Richtung Aplerbeck) bis „Pferdebachtal“ oder U41 (Richtung Hörde) bis „Hörde Bahnhof“, dann Bus 440 (Richtung Germania) bis „Pferdebachtal“

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S. 33-35

Das schweigende Mädchenvon Elfriede JelinekRegie: Michael Simon

ab 11. Dezember 2015

S.47

Geächtet (Disgraced)von Ayad AkhtarRegie: Kay Voges

ab 6. Februar 2016

S. 44/45

Uraufführung

Die Liebe in Zeiten der GlasfaserEin Stück Skype von Ed Hauswirth

Regie: Ed Hauswirth

ab 12. Februar 2016

S. 49-51

Uraufführung

Die Borderline ProzessionEin Loop um das, was uns trennt

von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander KerlinRegie: Kay Voges

ab 8. April 2016

S. 68/69

Das Bildnis des Dorian Graymit dem Dortmunder Sprechchor

nach Oscar WildeRegie: Thorsten Bihegue, Alexander Kerlin

ab 18. Juni 2016

S.19

DIE POPULISTENEine PR-Agentur für die Zivilgesellschaft

von Peng! Collective

Gründungsparty am 6. November 2015 im Schauspielhaus

S.89

Heiner Müller Factoryvon und mit Uwe Schmieder

ab 4. September 2015 im Institut

S.82

The Mundorgel ProjectLive-Musiktrips durch unverwüstliches

Liedgut mit Tommy Finke

ab 25. September 2015 im Institut

S. 17/18

MOBILIZE!

Theater trifft AktionNeue Bühnen der Subversion

6.-8. November 2015 im ganzen Schauspielhaus

S. 37/38

BlackboxDiskussionsreihe zu Flucht,

Einwanderung und rechtem Terror

ab 6. November 2015 im Institut

S.89

Szene IstanbulGastspiele aus Istanbul

ab Februar 2016 im Studio

S.46

Konferenz des medienwerk.nrw

>Every Step You Take<Kunst und Gesellschaft im Datenzeitalter

14./15. November 2015 im Institut

S.46

next level conference

>TOTAL VIEW BETA<Eine crossmediale Installation zum panoptischen Sehen

von Kay Voges und Alexander Kerlin

3./4. Dezember 2015 im Dortmunder U

S.88

Die Reise nach Petuschkinach Wenedikt JerofejewRegie: Katrin Lindner

ab 16. Januar 2016

S. 12/13

Glückliche Tage / Das letzte Band

von Samuel Beckett Regie: Marcus Lobbes

ab 5. September 2015 ★

S. 28/29

Uraufführung

Besessen von Jörg Buttgereit und Anne-Kathrin Schulz (Mitarbeit)

inspiriert von „Der Exorzist“ Regie: Jörg Buttgereit

ab 23. Oktober 2015★

S. 26/27

Uraufführung

Das Maschinengewehr Gottes Eine Kriminal-Burleske aus dem Messdiener-Milieu

von Wenzel StorchRegie: Wenzel Storch

ab 10. Dezember 2015

S. 42/43

Rambo plusminus Zement Ein Live-Film von Klaus Gehre

nach Heiner Müller, Sylvester Stallone und David MorrellRegie: Klaus Gehre

ab 7. Februar 2016 ★

S.71

Uraufführung

Der goldene Schnitt Ein Fest rund um die Vorhaut

von Tuğsal MoğulRegie: Tuğsal Moğul

ab 16. April 2016

S.91

Worauf warten wir? (AT)von den Theaterpartisanen

Regie: Sarah Jasinszczak, Thorsten Bihegue

ab 12. März 2016

�★�

Studio

S. 6-10

Uraufführung

DIE SHOWEin Millionenspiel um Leben und Tod

von Kay Voges, Anne-Kathrin Schulz und Alexander Kerlin

Regie: Kay Voges

ab 23. August 2015

S. 20/21

Uraufführung

2099Koproduktion des

Schauspiel Dortmund mit dem Zentrum für Politische Schönheit

Regie: Zentrum für Politische Schönheit

ab 19. September 2015

S. 14/15

Eine Familie

(August:Osage County)von Tracy Letts

Regie: Sascha Hawemann

ab 24. Oktober 2015

�★�Schauspielhaus

�★�

Megastore

--------~ Specials ~---------

------------------- Premieren ------------------

S.22

Uraufführung

Das Glitzern der Weltvon kainkollektiv

Regie: kainkollektiv

ab 27. November 2015 im Institut und im öffentlichen Raum

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Regie: Kay Voges, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Bühne und Set-Design: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostümbild: Mona Ulrich, Komposition und Musikalische Leitung: Tommy Finke, Schnitt: Mario Simon, Medien-CI & Motion Graphics: sputnic (Nicolai Skopalik), Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz, Alexander Kerlin. Mit: Andreas Beck, Björn Gabriel, Frank Genser, Sebastian Graf, Christoph Jöde, Ekkehard Freye, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Peer Oscar Musinowski, Uwe Rohbeck, Wiebke Rüter, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth und dem Dortmunder Sprechchor. Band: T.D. Finck von Finckenstein, Stefan „Pele“ Götzer, Daniel Brandl, Sven Petri, Stephan Schott, Jan-Sebastian Weichsel.

Das Programmheft 3.0 zu DIE SHOW finden Sie unter → blog.schauspieldortmund.de

Diskutieren Sie mit uns in den sozialen Netzwerken unter #DieShowDo

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DIE SHOW steht noch bis Ende Januar 2016 auf dem Spielplan – einschließlich zweier Vorstellungen an Silvester!

„Wetten dass..? war gestern – jetzt geht es um Alles! Das deutsche Volk hat schon viel zu lange die schönste Saalwette gekürt, den Dschungelmonarchen gekrönt, das Topmodel gecastet, den Superstar gesucht oder den Raab geschlagen. Jetzt flüchtet ein Mensch um sein Leben und muss über alle Grenzen. Für eine Million Euro. Und Sie sind live dabei! Die spektakulärste Show der Gegenwart! Mit zahlreichen internationalen Showacts wie Baeby Bengg aus Japan – moderiert wie immer von Ihrem geliebten Bodo Aschenbach und seiner reizenden Assistentin Ulla!“ So wirbt der Fernsehsender DIE-TV für die heftig umstrittene DIE SHOW. Wer riskiert für 1.000.000,- Euro sein Leben und tritt an gegen das gerissene Killer-Kommando? In der zehnten Staffel heißt dieser Mann Bernhard Lotz: ein freundlicher Bäckergeselle aus Dortmund, durchtrainiert bis in die letzte Mus-kelfaser, wagemutig und vielseitig ausgebildet wie ein antiker Zehnkämpfer. Aber wird Lotz es schaf-fen, die fünf überharten Spiele durchzustehen, die sich Bruno Hübner, Natascha Linovskaja und Howie Bozinsky vom Kommando für ihn ausgedacht haben? Und wird er den sechsten Tag überleben und es bis ans Ziel seiner Träume schaffen, wenn das Kommando ihn quer durch Dortmund treibt und nichts im Sinn hat, als ihn zu töten? Wer bekommt am Ende den Geldkof-fer, der im Schauspielhaus Dortmund deponiert ist – Flüchtling oder Jäger?

Die Regeln des Spiels (entwickelt in enger Abstimmung mit §22 des Gesetzes zur selbstbestimmten Freizeit-gestaltung vom 1. März 2014) sind wie folgt: Spielare-na ist das gesamte Dortmunder Stadtgebiet. Der Kan-didat ist unbewaffnet. Seine Jäger haben am sechsten Tag die Lizenz zum Töten. Je später sie ihn töten, desto höher ihr Preisgeld. Der Kandidat gewinnt das Spiel nur, wenn er während der Live-Show auf der Büh-ne eigenständig den roten Buzzer drückt. Noch einmal aus dem Werbetext von DIE-TV: „Lassen Sie sich also prächtig unterhalten, wenn eine Kreatur um ihr Leben ringt. Das ist Ihr gutes Recht als Fern-sehzuschauer. Und urteilen Sie selbst: Hat Bernhard Lotz ein besseres Leben verdient – oder den Tod?“

DIE SHOW ist ein Stück von Kay Voges, Alexander Kerlin und Anne-Kathrin Schulz, für das die drei Theater-macher u. a. die Mediensatire „Das Millionenspiel“ von Wolfgang Menge (1970) weiterentwickelt und um zahlreiche Gegenwartsbezüge erweitert haben: Flucht, Grenzen, die Zukunft Europas und des National-staats Deutschland sowie die medialen Diskurse und Vorurteile um diese Themen herum – eingefasst in ein Show-Format, das so scheinbar harmlos und sexy daherkommt wie „Wetten dass..?“ oder „Tutti Frutti“. Ist die DIE SHOW also Fernsehen at its best? Unterhal-tung, Politik, Nationalgefühl, ungebremste Schaulust, populistische Vorurteile und Meinungsmache bauen sich in der DIE SHOW aneinander auf – und zwar wie so oft in der Betrachtung und Bewertung des Elends eines Einzelnen.

Bernhard Lotz steht exemplarisch für das menschli-che Drängen hin zu einem besseren Leben – was vom Publikum bekanntlich so lange goutiert wird, bis es sich selbst davon bedroht fühlt. Denn der Spaß hört immer genau dort auf, wo sich das Gefühl aus-breitet, die eigenen Honigtöpfe seien in Gefahr. Wer um seinen Besitz bangt, wer in Sorge um die Sippe ist, macht bekanntlich die Schotten dicht, lässt die Rollläden herab, zieht kilometerlange Stacheldraht-Zäune und Mauern hoch und schaut dann nachdenklich dabei zu, wie sich die Elenden die Stirn an den selbst gezogenen Grenzen blutig schlagen. Ein Spiel? Auch für die DIE SHOW gilt die alte Weisheit: Nichts ist ohne Ambivalenz.

Uraufführung/ Premiere

DIE SHOW

Ein Millionenspiel um Leben und Todvon Kay Voges,

Anne-Kathrin Schulz und Alexander Kerlin nach Wolfgang Menge und Tom Toelle

ab 23. August 2015 im Schauspielhaus.

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„Drei Stunden sagt die Uhr, anderthalb sagt das Zeitgefühl. Eigentlich ist es mit der finanziellen und technischen

Ausstattung des Schauspiels nicht möglich, so eine kolossale, sprühende Inszenierung hinzukriegen. Aber das war Kay Voges und

den vielen anderen Schauspiel-Mitarbeitern offenbar egal. (…) Das Stück fackelt ein Feuerwerk an Ideen ab. (Live-) Musik, Videos,

Ausstattung, tolle Kostüme – alles vergackeiert die abgefeimten Rituale, mit denen Sender um Zuschauer buhlen. Böse, treffend,

schallend komisch. (…) Sehenswert.“ Ruhr Nachrichten, 25. August 2015

„BILD meint: härter als Dschungelcamp und Big Brother!“ BILD, 22. August 2015

★„Immer stärker werden im Laufe der drei Stunden die Anspielungen auf die Lage von Flüchtlingen eingestreut, die sich vermutlich ohne Schlaf, Essen und Ausweis, wie Bernhard Lotz, genauso vogelfrei fühlen und ebenso ihr Leben aufs Spiel setzen – nur eben auf dem Mittelmeer und nicht in den Straßen von Dortmund. Das (…) bekommt geradezu metaphorische Bedeutung. Denn an der lustvollen Selbstbetäubung des saturierten Europas im Angesicht der Dramen vor den Grenzen haben sicher auch die degenerierten Fernsehshows von heute ihren Anteil. (…) Ein intelligenter und beklemmender Abend.“ Deutschlandfunk, 24. August 2015★

„Kaum vorstellbar, dass das Schauspiel das in dieser Saison noch steigern kann.

Ein grandioses Theaterspektakel: in fast jeder Hinsicht sehr, sehr gut gemacht und kolossal aufwendig.“

WAZ, 25. August 2015★

„Drei Stunden ohne Pause, fast wie bei Gottschalk. Die Mediensatire ist deutlich unterhaltsamer als die Vorlagen. Und sie legt dabei auch noch das unausgesprochene Programm der Shows frei, unaufdringlich, ohne in den Zeigegestus zu verfallen: Kommerz, Egoismus, Menschenverachtung, Nationalgefühl. Ist das wirklich beruhigend, wenn der Chefkiller versichert: ‚Solange das Kommando unterwegs ist, muss sich Deutschland keine Sorgen vor Flüchtlingen machen!’?“ Westfälischer Anzeiger, 24. August 2015 „Man weiß kaum, was man an dieser Fülle, an

der mehr oder weniger das gesamte Schauspiel-Team beteiligt ist, zuerst loben soll.“

Dortmunder Kulturblog, 24. August 2015 ★

„DIE SHOW von Kay Voges ist üppig, reich an Details und an scharfzüngigem Humor,

sie wird ausgezeichnet gespielt und ist gespickt mit den markanten Filmclips von Voxi Bärenklau.

Vor allem aber ist sie äußerst unterhaltsam, wenn nur nicht alles so zum Heulen wäre. Und sie verlangt nach dem ultimativen Selbsttest:

ob man zukünftig noch irgendeine Show, sei es von privater oder öffentlicher Hand, im Fernsehen ertragen wird, deren bedenkenloser

Konsum selbst eine gefährliche Flucht vor der Wirklichkeit bedeutet. Nicht zuletzt wie hier eine Flucht

vor der realen Flüchtlings-Wirklichkeit. Wo Zuschauer sich der Show verweigern,

liegt die Wurzel der Veränderung.“ nachtkritik.de, 24. August 2015

★★ „So perfekt das alles gemacht ist, bleibt die Frage, warum das auf eine Theaterbühne gehört. Die zahlreichen eingestreuten Anspielungen auf das hochaktuelle Thema Flucht rechtfertigen den Abend nicht allein. Es ist etwas anderes, was nur im Theater möglich ist. Der Zuschauer befindet sich von Anfang an in einer merkwürdigen Zwischenwelt. Als applaudierendes Publikum sind wir ja selbst Teil der DIE SHOW (…). Wir sind aber gleichzeitig einfach Theaterzuschauer, die sich damit gewissermaßen selbst beim braven Mitklatschen und mit Knicklichtern- Wedeln zusehen. Und diese Doppelrolle ist es, die den Abend als genuinen Theaterabend auszeichnet. Wo das Fernsehen den Zuschauer durch eine Glasscheibe in sicherem Abstand hält, wo das Studio, in dem die Liveshow stattfindet, den Zuschauer eindeutig zum Teil der Kulisse macht, weist das Theater ihm eine unsichere Rolle zu, in der er sich ständig entscheiden muss, was er tut.“ Ruhrbarone, 27. August 2015

„’Diese Chance, in einer Woche eine Million zu verdienen- das ist soziale Gerechtigkeit’,

wird die tödliche Spielidee des TV-Formats gepriesen. Und äußerst kurzweilig und ideenreich bekommen alle ihr Fett ab:

die Politiker und Kritiker, die Raabs und Lanz‘. (…) Eine grandiose, glänzend gespielte und herrlich

von Mona Ulrich kostümierte Inszenierung.“ Stadt-Anzeiger, 25. August 2015

„Das Dortmunder Ensemble spielt mit riesiger Energie, parodiert lustvoll Klischees des Trashkinos, die Shownummern gelingen zum Teil sensationell. Vor allem Eva Verena Müller begeistert als völlig durch-geknallte japanische Popsängerin Baeby Bengg. (…) Die Show bricht niemals auseinander, das System ist so flexibel und die Moderatoren agieren so souverän, dass sie niemals wirklich in Gefahr geraten. Das könnte man als Schwäche der Inszenierung verstehen, aber auch als Teil ihrer Aussage. Das Leben ist eine Show, wir können ihr nicht entkommen.“ Deutschlandradio Kultur, 23. August 15★

„Bis ins kleinste Detail führen Voges und sein Team uns den täglichen TV-Wahnsinn vor: die ausgeweideten Emotionen,

den auf Quote schielenden Menschenzirkus, das Gehechel des Echtzeit-Journalismus,

sabbernd vor Gier nach jedem neuen Nachrichten-Schnipsel - fein beobachtet und virtuos persifliert.“

Revierpassagen, 26. August 2015★„Eine Monumentalproduktion, eine opulente Satire auf die Überwältigungs- ästhetik großer Unterhaltungsshows.“ SWR 2 Kultur, 24. August 2015★

„Es gibt da immer sehr viele Querverweise, und was ich besonders interessant finde,

auch die Medienkritiker sind eingebunden, die kommen zu Wort. Sie dürfen sagen, dass sie das alles ganz abscheulich finden

und dass diese Gewaltdarstellung überhaupt nichts ist, und damit sind sie Teil des Systems geworden.

Man macht sie mundtot, indem man sie zu Wort kommen lässt. (…) Dieses System ‚Show’ ist unangreifbar, die Moderatoren sind so

souverän, dass sie alles wegbügeln können. Aber ich glaube, genau das ist die Aussage:

Wir kommen heute nicht mehr raus aus der Dominanz der Show. (…) An der Oberfläche ist der Abend extrem unterhaltsam,

aber ich glaube, je mehr man hineinschaut, umso mehr findet man da auch

irgendwelche Haken und Anhaltspunkte.“ Stefan Keim in WDR Mosaik, 24. August 2015

„Es gibt kein unschuldiges Sehen. Von Anfang an ist da diese Komplizenschaft. (…) Carlos Lobo als Anheizer verführt und bedrängt die Zuschauer, formt aus ihnen eine Einheit, die die Signale hört und auf Kommando klatscht. (...) Das giftige Glück der Gemeinschaft, oder wie das Moderatoren-Duo ausruft: ‚Ein Volk – eine Sendung’. (…) Natürlich ist die DIE SHOW Trash, aber auch nur einen Alptraum von den Sendungen entfernt, die heute produziert werden. Wer Menschen zwingt, Kakerlaken und Maden zu essen, warum sollte der nicht auch auf sie schießen lassen?“ Kulturkenner, 1. September 2015★

„Aus der Dystopie ‚Das Millionenspiel‘ von einst wird in Dortmund ein schrill-buntes Höllengemälde der Gegenwart. Jeff Koons trifft Hieronymus Bosch. Wir amüsieren uns vielleicht

nicht zu Tode, aber damit wir uns amüsieren, dürfen auch Menschen zu Tode kommen.“

K.WEST 09/15

★„Um alle kleinen Feinheiten zu erkennen, sollte man öfter in die DIE SHOW gehen. Ein unterhaltsamer, aber auch nachdenklicher Abend.“ Ars Tremonia, 25. August 2015

DIE SHOW - Das schreibt die Presse -

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Sebastian Kuschmann

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Zwei berühmte Stücke des irischen Literatur-Nobelpreis-trägers Samuel Beckett als besonderes Beckett-Doppel: drei Menschen zwischen Leben und Tod, die dem Glück auf der Spur sind. In „Glückliche Tage (Happy Days)“ eine Frau und ein Mann, die feststecken – Winnie und Willie –, an einem Ort im Nirgendwo. Kriechende Stille. Hilfe von außen ist nicht in Sicht, völlig ungewiss auch, ob es überhaupt noch irgendwen anderswo gibt. Ob es überhaupt ein Anderswo gibt! Doch eine Stimme er-füllt leuchtend Ungewissheit und Leere: Es ist Winnie, die jeglicher apokalyptischer Endzeitstimmung trotzt und lebhaft Selbstgespräche führt – mit ihrem Mann? Ist das Leben, ist das Tod? Ist das – Sterben? „Spät abends in der Zukunft“: Auch der alternde Schrift-steller Krapp aus Becketts Einakter „Das letzte Band (Krapp’s Last Tape)“ blickt durch die Zeit.

Auf der Suche nach der eigenen Identität gerät er ins biographische Archiv und wird mit seinen Aufnahmen aus vergangenen Lebensjahren konfron-tiert: Beobachtungen, Hoffnungen, Träume, der eigenen Vergangenheit – vor der Vergänglichkeit… Momente menschlichen Glücks im Abgrund, im Angesicht des eigenen Verfalls – ein Paradoxon? Nicht für Samuel Beckett. Der Welt-Dramatiker ist berühmt für seine tragikomischen Nahaufnahmen direkt aus den Tiefen menschlichen Scheins und Seins. Seine Protagonis-ten sind lebendig und tot zugleich: Ob bei „Warten auf Godot“, „Endspiel“, ob im 1961 uraufgeführten „Glück-liche Tage“ oder in „Das letzte Band“ von 1958 – die Katastrophe ist schon passiert und hat die Men-schen aus ihrer Zeit fortgerissen…

„Großer Beckett-Abend im kleinen Dortmunder Studio“ (WAZ)

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Premiere

GLückLIcHE TAGE /

DAS LETzTE BaND

von Samuel Beckett ab 5. September 2015

im Studio

Regie: Marcus Lobbes, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Videoart: Michael Deeg, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz.

Mit: Ekkehard Freye, Merle Wasmuth

#TageDo

Wieder ab 21. November 2015 im Studio:

ENdSPIEL von Samuel Beckett

Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Sounddesign: Mario Simon , Dramaturgie: Dirk Baumann, Thorsten Bihegue. Mit: Frank Genser, Uwe Schmieder

#EndspielDo

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„Glückliche Tage/Das letzte Band“: Wie klingt das Dasein am Ende der Zeit?

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Premiere

EINE FAmILIE

(AUGUST: OSAGE cOUNTy)

von Tracy Lettsab 24. Oktober 2015 im Schauspielhaus

Regie: Sascha Hawemann, Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüme: Hildegard Altmeyer, Musik: Xell, Dramaturgie: Dirk Baumann, Video: Mario Simon.

Mit: Andreas Beck, AlexanderXell Dafov, Frank Genser, Marlena Keil, Janine Kreß, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Peer Oscar Musinowski,

Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth

#FamilieDo

-15-

D i e Fami-

lie – das ist noch

immer der feste Kern der

Gesellschaft, das pol i t ische

Ideal unseres Zu-sammenlebens. Wir

werden in sie hinein- geboren und unser

Leben lang nicht mehr los. Doch das, was früher als

Großfamilie ein Bündnis fürs Leben war, in dem alle Genera-

tionen unter einem Dach lebten, und das nicht selten gemeinsam eine

„Wirtschaft“ betrieb, hat inzwischen der Zahn der Zeit gewandelt. Familie

meint heute viel öfter Kleinfamilie, beste-hend aus einer Kernfamilie und an anderen

Orten lebenden weiteren Verwandten. Und die Gegenwart pluralisiert sich weiter und ent-

wickelt immer neue Konstellationen: Patchwork-, Regenbogen-, Wahlfamilie etc.

E m -pirisch

betrachtet gibt es so

viele individuelle K o ns t e l l a t i o nen ,

Geschichten, Verwicklun-gen, Verstrickungen, dass

keine Familie ist wie die an-dere – genau wie der individuelle

Umgang mit ihr: Fühlen sich die einen erst dann wohl, wenn um sie herum die

Großfamilie tobt, halten die anderen es kaum aus, wenn eine Familienfeier ansteht.

Die Familie im soziologischen Sinn betrachtet, die gibt es nicht mehr. Der Soziologe Claude Lévi-Strauss kennzeichnete Familie einmal als willkürliches System von subjektiven Beziehungsvorstellungen im Bewusstsein der Familienmitglieder: Wer zur Fami-lie zählt, bestimmt heute nicht mehr unbedingt ein gemeinsamer Gen-Pool, sondern ein soziales System, das auf selbst gewählten, willkürlichen Bündnis-sen beruht. Verwandtschaft kann auch geistige Ver-wandtschaft heißen. Und trotzdem bleibt das Haupt-charakteristikum, was das System Familie definiert eben dies: Verwandtschaft.

Der Mensch der Gegenwart fühlt sich nicht selten da-mit konfrontiert, Familie und eigenes Vorankommen nicht oder kaum noch miteinander vereinbaren zu kön-nen. Auf der einen Seite sieht er sich dem Druck aus-gesetzt, individuellen Erfolg zu erreichen und dafür ein hohes Maß an Mobilität vorweisen zu müssen, auf der anderen Seite geht dabei die enge Bindung in die Herkunftsfamilie verloren – und der Aufbau neuer fa-miliärer Beziehungen wird erschwert, da Konstanten immer seltener werden. Dieser Individualismus ist nicht erst ein Kind der Gegenwart, schon früher in der Geschichte rückte die eigene Person und das Stre-ben nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund. Be-reits in der Aufklärung wurde die selbstständige Per-sönlichkeit gefordert. Seither gewann das Individuum mehr und mehr an Aufmerksamkeit, in vielen westlich geprägten Verfassungen steht das selbstbestimmte, in seiner Würde unantastbare Subjekt an der Spitze der Artikel. Doch wird das System Familie von Individualismus und Egoismus bedroht?

Nein, d e n n g e r a d e die Eman-z i p a t i o n der Frau ist eine Errungen-schaft dieser Entwicklung und hat nicht zugleich familiäre Strukturen aufgelöst. Individuali-sierung muss nicht zum Zerfall von Familie führen, sie sorgt aber für deren Mo-dernisierung und Flexibilisie-rung: Die erfordert eine offene Familienkommunikation, die einen Ausgleich zwischen Individualitäts-streben und der Übernahme von Ver-antwortung für die Gemeinschaft der Familie schafft.

Und so finden wir uns als Individuum wieder im Spannungsfeld zwischen unserer eigenen Identität und Individualität, die wir mühsam im Prozess des Heranwachsens herausgebildet haben, und der Gemeinschaft der Herkunftsfamilie –

in der wir nicht selten immer die Tochter oder der Sohn bleiben, auch wenn wir schon lange das Erwach-senenalter erreicht haben. Erwartungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, all das lastet ein Leben lang auf un-seren Schultern. Das Kinderzimmer mag noch immer so aussehen, wie wir es vor Jahren verlassen haben, als sei nichts geschehen – und doch ist das ganze Leben passiert! Das hat jeden von uns mal rauf, mal runter gespült, in fernere oder nähere Gefilde, auf jeden Fall haben wir uns etwas Eigenes aufgebaut, vielleicht eine eigene Familie gegründet. Das mag die Herkunftsfamilie „nur“ noch als Fundament unseres neuen Lebens erscheinen lassen, an dem wir unab-lässig weiterbauen. Doch: Seit einiger Zeit ist eine Rückbesinnung auf die Familie als Konstante in einem sich stetig wandelnden Leben zu beobachten. Ob die nun mit unsicheren wirtschaftlichen Zeiten zu tun hat oder woanders begründet liegt, ist umstritten.Tracy Letts hat genau dieses Spannungsfeld in seinem Pulitzer-Preis und Tony-Award gekrönten Stück einge-

fangen: Drei erwachsene Schwestern kehren in ihr El-ternhaus zurück, um die Mutter in einer Krisensituation zu unterstützen – der Vater ist verschwunden. Die drei finden sich konfrontiert mit der Tatsache, dass ihre Mutter nicht mehr alleine bleiben kann. Doch wer von ihnen soll wieder zurückkehren, das eigene Leben aufgeben? Jede hat ihre eigenen Vorstellungen von den kommenden Jahren, und da war kein Platz für die Rückkehr ins Elternhaus und die Pflege der Mutter – gleichbedeutend mit Aufgabe des eigenen Lebens – und dem subjektiven Gefühl des Scheiterns. Letts erschafft in seinem Stück starke Charaktere – allen voran die Mutter Violet, deren cholerischer Charak-ter durch die Einnahme der verschiedensten Tabletten noch unberechenbarer geworden ist, und natürlich die drei Schwestern, die alle stark mit sich selbst und der Behauptung ihres eigenen Charakters zu kämpfen haben – und lässt sie in einem abgeschlossenen Set-ting aufeinandertreffen. Im wahrsten Sinne des Wor-tes eine gärende Mischung, die allerhand Ausbrüche

bereithält, uns als Zuschauer unterhält, abschreckt, belustigt, aber auch berührt – gerade dann, wenn wir uns in der einen oder anderen Situation selbst zu er-kennen glauben. Wo beginnt meine Verantwortung für diese Schicksals-gemeinschaft, in die ich hineingeboren wurde? Was be-deutet Familie für mich? Wie viel Raum für Individua-lität kann ich verlangen, wie viel Kompromisse muss ich eingehen, um (m)einer Verantwortung gerecht zu werden? Was bin ich meiner Elterngeneration schul-dig? Tracy Letts hat ein tragikomisches Meisterwerk geschaffen, das unter die Haut geht.

→ Unter dem Titel „August: Osage County“ wurde das Stück 2013 in der Regie von John Wells mit einer Starbesetzung verfilmt – mit dabei waren unter anderem Meryl Streep als Mutter, Julia Roberts, Juliette Lewis, Ewan McGregor und Benedict Cumberbatch.

von Dirk Baumann

Page 9: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

→ https://vimeo.com/117836518

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Jedes Unternehmen hat seine eigene Abteilung für Public Relations. Ebenso jede politische Partei. Und jede religiöse Gemeinschaft. Und jeder x-beliebige Promi. Und wir? Die Zivilgesellschaft? Wer kommuniziert unsere Moral? Wer managt unsere Wut über die Schweinereien in der Welt? Wer kämpft mit scharfer Kralle für unsere gute Sache? Für unsere berechtigten Interessen? Wer erklärt dem Unrecht den PR-Krieg?

Wer erklärt dem Unrecht den PR-Krieg?

MOBILIZE!

THEATER TRIFFT AKTION Neue Bühnen der SubversionSchauspiel Dortmund und Heinrich-Böll-StiftungSchauspiel Dortmund, 6.-8. November

DIE POPULISTEN! Das sind Experten für mediale Schlammschlachten, Blitzlichtgewitter und unorthodoxe Meinungsbildung. DIE POPULISTEN kreieren maßgeschneiderte Top-Events mit Stars aus Film, Fernsehen und dem Social Net, um unsere gute Sache zu vermarkten. DIE POPULISTEN spielen multimediale Theaterstücke mit Helden aus Wirtschaft und Politik, die nie darum gebeten haben. DIE POPULISTEN bewaffnen die Zivilgesellschaft und bringen das Gute zurück auf die Überholspur. DIE POPULISTEN: Das ist multimedialer Mehrwert für unseren Protest – ganzheitlich, lösungsorientiert und effizient!Mehr Infos schon bald unter http://populisten.com/

Peng! Collective ist ein Verbund von AktionskünstlerInnen aus Leipzig und Berlin, die für ihre Aktionen mit InvestigativjournalistInnen, ProgrammiererInnen, SchauspielerInnen, VideokünstlerInnen und großen NGOs zusammenarbeiten. Gefördert durch die Bundeskulturstiftung im Fonds Doppelpass, wird das Peng! Collective zwei Spielzeiten lang mit den TheatermacherInnen am Schauspiel Dortmund an einem theatralen Aktivismus / aktivistischen Theater der Zukunft arbeiten. Zu einer ersten Zusammenarbeit kam es bereits während der letzten Aktion des Kollektivs: „INTELEXIT“ (www.intelexit.org). Internationale Bekanntheit erlangte das Peng! Collective u.a. durch ihre Aktion „FluchthelferIn“ (2015): Auf der Website www.fluchthelfer.in und auf zahlreichen Plakaten in großen deutschen Städte wurden europäische Urlauber dazu aufgerufen, auf ihrem Heimweg aus dem Süden Geflüchtete in ihrem PKW mitzunehmen. Die Website versammelt auch zahlreiche rechtliche Hinweise und ruft dazu auf, für einen Rechtshilfefonds für FluchthelferInnen zu spenden.Ganz viel mehr Aktionen, auch zahlreiche bewegte Bilder, finden Sie unter → www.pen.gg

DIE POPULISTENEine PR-Agentur für die Zivilgesellschaft

von Peng! Collective

Gründungspartyam 6. November 2015 im Schauspielhaus

Die Gründungsparty zur zweijährigen Kooperation zwischen Schauspiel Dortmund und den

AktionskünstlerInnen von Peng! Collective – inklusive Manifesto, Polikaoke (Politik+Karaoke),

Bühnen-Show, Foto-Box und DJ: DIE POPULISTEN stellen sich dem Publikum vor, sie

wollen Themen anreißen und erzählen, was gewesen ist und was kommen mag; sie möchten mit

den Zuschauern feiern und sich auf zwei heiße Jahre in Dortmund freuen.

#PopulistenDo

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Einwanderung und Digitalisierung – das sind die beiden Themen der Stunde. Das eine hängt nicht unbedingt und nicht unmittelbar mit dem anderen zusam-men. Und doch lässt sich vermuten: Die derzeitige Einwanderung von Hundert-tausenden, die sich auf der Flucht vor Tod, Terror und Armut befinden, und die Folgen der weiter fortschreitenden Di-gitalisierung aller Lebensbereiche sind die beiden entscheidenden Themen, die unsere (die europäische, die deutsche, die Dortmunder) Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten beschäftigen werden. Es gibt, das wird niemand leugnen, viel zu verstehen, viel auszuprobieren, viel zu tun. Aber was?

THEATER IST KRISE (Heiner Müller). Vielleicht hat das Theater selten so sehr gespürt wie in diesen Tagen, dass die gesellschaftlichen Erschütterungen ihm sei-ne eigene Begrenztheit aufzeigen – die Begrenztheit seiner etablierten Formen und seines Kanons, die Begrenztheit seines Wissens, seines Könnens, seiner gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten. Nur ein Beispiel aus dem Leben: Das Deutsche Schauspiel-haus in Hamburg und seine Intendantin Karin Beier beherbergten im September kurzfristig in ihren Räum-lichkeiten zwischen Kantine und Malsaal Dutzende ankommende Geflüchtete, um die sich zuspitzende Notsituation am Bahnhof gegenüber zu entschärfen. NDR2 berichtete über die Technikmannschaft, die nach Schichtende noch Matratzen organisierte, und darüber, wie Mitarbeiter des Theaters Geflüchtete nachts durch die Katakomben führten, um ihnen zu zeigen, wo sie duschen und auf’s WC gehen können.

Da stellt sich nicht nur die naheliegende Frage, wie man zeitgleich noch die nächste Premiere auf die Bühne bringen soll, sondern ganz grundlegend und von Neuem: WOZU ist das Theater in der Stadt da? Hat es jetzt neue Aufgaben, Verpflichtungen, Pflichten? Wie re-agiert es auf die Katastrophen der Gegenwart? Hat es Vorbildfunktion in Sachen Zivilcourage, Widerstand, Subversion?

„Gute Sozialarbeit ist mir lieber als schlechte Kunst!“ hat Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele, kürzlich gesagt. Die Volksbühne Berlin hält in einem programmatischen Text dagegen: „Wenn Kunst als Teil des Funktionssystems Zwecke, und seien sie noch so gut gemeint und kritisch, realisieren muss, ist es vorbei mit ihr. Sie unterwirft sich wie alles andere der Logik erfolgreicher Praxis.“

Aber vielleicht gibt es einen „dritten Weg“: Theater-arbeiten, die konkrete gesellschaftliche Wirksamkeit, bedingungslose kreative Autonomie und künstlerisches Können (auch und gerade die Schauspielkunst), über alle Formatgrenzen hinweg, miteinander vereinen? Heute ist es für das Theater ebenso wie für den po-litischen Aktivismus ungleich schwerer geworden, mit einer Botschaft, einer Provokation oder einem Widerspruch nachhaltig durch das mediale Rauschen zu dringen. Die „Kontrollgesellschaft“ (Gilles Deleuze) der (westlichen) Gegenwart ist in ihrem Wesen liberal und hedonistisch: Es existieren kaum Verbote mehr, deren Überschreitung überhaupt noch Aufsehen erregen würde. Was als subversiv gilt, hat sich dementspre-chend verändert.

Kunst-Aktivisten wie das Peng! Collective (Leipzig, Berlin), Zentrum für Politische Schönheit (Berlin), Zhothoven (Tschechien) oder Paolo Cirio (Italien) bauen insbesondere im Netz, aber auch in der Zei-tung, im Fernsehen oder im Radio fiktive Welten auf, die sie glaubwürdig als Realität ausgeben. Menschen treten z.B. mit fiktionalen Identitäten auf. Sie spie-len mit ihrem Publikum Theater auf multiplen medialen Plattformen, ohne es einzuweihen. Die Folge ist ein Verwirrspiel, bei dem die einbezogenen Protagonisten aus der Realität häufig erst spät gewahr werden, dass sie als Teil eines „Theaterstücks“ agiert haben. Das ist eine der entscheidenden subversiven Gesten von Aktion heute, die das Interesse von Theatermachern nachhaltig geweckt hat. Das Aufweichen der Grenze zwischen Realität und Fiktion ist ein gemeinsames, subversives Arbeitsfeld von Theater und Aktion.

→ Vom 6.– 8. November sind dreißig ausgewählte Theatermacher mit Hang zur Aktion und Aktionskünstler mit Hang zum Theater in Dortmund zu Gast – plus Journalisten und Kuratoren, die sich auf diesem Feld bewegen. Sie werden gemeinsam in verschiedenen Workshops tagen und am Samstag, 7. November ab 18.00 Uhr im Studio ihre Thesen und Ideen im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit der Öffentlichkeit teilen. Der Eintritt ist frei. Eine gemeinsame Veranstaltung von Schauspiel Dortmund und Heinrich-Böll-Stif-tung, kuratiert von Alexander Kerlin (Dortmund) und Christian Römer (Berlin).

→ www.theatertrifftaktion.de

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Politisches Schwarzfahrenvon Philipp Ruch, Zentrum für Politische SchönheitDie Grenzlinien, die in der Geschichtsschreibung zwischen religiöser und wissenschaftlicher Welt-auslegung verlaufen, lassen sich aktualisieren als Grenzverlauf zwischen denen, die von unserer Wert-haftigkeit überzeugt sind, und jenen, die sich für bedeutungslos halten. Entzauberung überführt uns in den Zustand des kulturellen Nihilismus, durch den wir von innen auskohlen. Es besteht ein enger Zusammen-hang zwischen der Auffassung, der menschliche Geist sei irrelevant, und dem Lebensgefühl unserer Epoche, sinnlos zu sein. Die Spuren des Wertes, die Griechen und Römer im Sand der Geschichte hinterließen, führ-ten zwar zur Blüte der Renaissance und in die Epoche der Aufklärung. Inzwischen aber sind sie aus unserem Verstand geweht. Kultureller Nihilismus ist in seinem Glutkern kulturelle Ohnmacht, der Glaube, wir könnten nichts ausrichten. Dank unserer technischen Mächtig-keit sind wir allerdings von der eigenen Ewigkeit fest überzeugt: Unsere technischen Möglichkeiten werden unser Ende schon abwenden. Erderwärmung, drohende Eiszeit und Ozonloch – all das wird „irgendwie“ gut ausgehen. Diese technologische Zuversicht erkaufen wir uns mit kultureller Agonie.Wir verstehen nicht, welche historische Chance frü-here Epochen in ihrer Zeit sahen, welche Einma-ligkeit sie selbst erreichen wollten, die sich in dem ausdrückte, was Archäologen heute ausgraben. Wir sind ein von allen „Illusionen“, vor allem von je-ner der eigenen Bedeutsamkeit, geläutertes Zeitalter.

★Glauben wir ernsthaft, dass es den Menschen in Athen, Rom oder Konstantinopel leichter gefallen ist, ein Bild von sich in der Geschichte zu schaffen? Der Grund dafür, dass wir uns keine Bedeutung geben wollen, ist vielleicht genau der, dass wir schlicht keine Vorstel-lung von uns haben. Seine eigene Bedeutung und Rol-le in der Geschichte zu finden ist ein gesamtgesell-schaftlicher Auftrag. Zu behaupten, diese Bedeutung gebe es „nicht mehr“, ist eine Position der Bequem-lichkeit, nicht der Überlegenheit. Wir sind ein Land politischer Schwarzfahrer. Das, was wir für Illusionen und verpasste Gelegenheiten ver-gangener Zeitalter halten, gäbe es auch in unserer Zeit. An der Zivilisationsbruchstelle der deutschen Geschichte beispielsweise. Wir wollen es nur nicht wahrhaben. Wir sind das Land der Organisatoren und Vollstrecker des Holocaust. Unsere Vorväter haben Millionen Menschen vernichtet. Sie haben Millionen unschuldiger Zivilisten um die Ecke gebracht. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Deutschland hat der Humanität die größte Wunde in der Geschichte der Menschheit geschlagen.Den moralischen Glutkern der Bundesrepublik Deutsch-land bildet das Versprechen, Völkermord für alle Zeiten zu verhindern. Das Recht, mit den deutschen Privilegien zu leben, erlegt uns allen einen einzi-gen moralischen Imperativ auf: Nie wieder Auschwitz! Alle, die nicht im Bewusstsein dieses Imperativs leben, fahren politisch schwarz und sonnen sich in einer Legitimation, die uns nur im Lichte dieses einen Schwurs zusteht. Der geleistete Schwur „Nie wieder Auschwitz!“ ver-dient es, sehr viel ernster genommen zu werden, als das heute der Fall ist. Er muss von jeder Genera-tion neu geleistet werden. Und er muss etwas kos-ten. Die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, meinte am Rande einer Kundgebung zum Darfur-Genozid (vor dem Holocaust-Mahnmal in Berlin): „Wir haben nicht nur eine Vergangenheit zu bewältigen, sondern auch eine Gegenwart.“ Das erinnert an den Satz von Alexander Kluge, dass es unpraktisch sei, „wenn die Erschüt-terung deutscher Familien, die im Jahr 1942 etwas Wichtiges für die Opfer in Auschwitz bedeutet hätte, im Jahre 1979 nachgeholt wird; denn heute ist es eine im Wesentlichen unbrauchbare, nämlich zeitlose Form von Erschütterung“. Diese Eigenart, immer von den falschen Dingen erschüttert zu sein und in den rich-tigen Momenten die Erschütterung nicht zu empfinden, sah Kluge als fatale deutsche Eigenart an.

★Unsere Gesellschaft hat sich in einen Zug verwandelt, in dem eigentlich in jeder Reihe Schwarzfahrer sit-zen, die mit Champagner auf ihr Ende anstoßen und sich gänzlich von allen Pflichten frei fühlen, insbe-sondere dann, wenn sie mal wieder eines der schreck-lichen Nachrichtenbilder aus den Krisengebieten der

Welt sehen. Wir leben in Saus und Braus, aber keiner ist bereit, den Preis dafür zu zahlen. Die Menschheit lässt sich nicht mit Mahnwachen oder Onlinepetitio-nen verteidigen. Das Internet kann Auschwitz nicht verhindern. Die Verteidigung von Menschlichkeit hat ihren Preis.

Weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit fehlt jedes Bewusstsein für die Schwere von Menschen-rechtsverbrechen. Wir müssen die deutschen Interes-sen in Sachen Völkermord klar definieren; es geht um die Ächtung und Verhinderung von Genoziden. Jemand muss diese Interessen verkörpern, wenn es der demo-kratisch geformte politische Wille nicht tut. Jemand muss seinen Willen gegen die Politik stemmen und diese Interessen durchsetzen.

Wir bräuchten einen politischen Pisa-Test für alle Bürger: „Aufgaben zum Textverständnis. Lies den folgenden Satz und kreuze an, wie der Verfasser (das Internationale Auschwitz Komitee) ihn meinte: Nie wieder Auschwitz!“ Möglichkeit 1: „Auschwitz ist singulär. Auschwitz kommt nie wieder.“ Möglich-keit 2: „Auschwitz darf nie wieder in Betrieb gehen.“ Möglichkeit 3: „Deutschland darf nie wieder einen Krieg führen.“ Möglichkeit 4: „Völkermord muss mit-tels Onlinepetitionen, Lichterketten oder Briefen verhindert werden.“ Möglichkeit 5: „Die Vernichtung ausschließlich von Juden muss verhindert werden.“ Möglichkeit 6: „Völkermord, der ‚fortschrittlich‘ industriell mittels Gas betrieben wird, muss ver-hindert werden.“ Möglichkeit 7: „Völkermord muss für alle Zeiten mit allen Mitteln verhindert werden.“

Gegen das geschichtlich viel zu häufige Verbrechen des Völkermords ist unsere Politik, anders als viele meinen, immer noch so schlecht gerüstet wie die Welt vor 1933. Alexander Kluge berichtet in einem seiner Bücher von einer Frau, die mit ihren Kindern im Jahr 1944 in einem Bombenkeller kauerte und vor Todes-angst schlotterte: „Sie hätte vielleicht Mittel ge-habt im Jahr 1928, wenn sie sich da noch, vor einer Entwicklung, die dann auf Papen, Schleicher und Hit-ler zuläuft, mit andern organisiert hätte. Also die Organisationsfrage liegt 1928 und das dazu gehörige Bewusstsein liegt 1944.“ Das ist unser größtes Pro-blem: die verlorene Zeit zwischen Organisation und Bewusstsein.

Was haben wir seit 1945 gelernt? Wir besitzen mehr Papier, etwa die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. „Don’t dream dreams“, sagte unser Unter-händler in Sarajevo zu den Bosniern, als die gerade im Begriff standen, durch einen Völkermord ausra-diert zu werden. Sie sollten sich bloß nichts einbil-den, der Westen könne nicht eingreifen und ihr Leben schützen. Drei Jahre später tat er es dann doch, und es dauerte nicht, wie von den Schlächtern beschwo-ren, 30 Jahre, um Frieden zu stiften, sondern einen Monat. Als man sich politisch durchgerungen hatte, den abscheulichen Völkermord in Bosnien-Herzegowi-na zu stoppen, als man den politischen Willen end-lich hatte, dauerte es genau einen Monat, den Frieden gegen die Völkermörder durchzusetzen. Aber es scheint, als hätten wir nichts aus der Geschichte gelernt. Eine Behauptung, die unter Politikern vorzu-tragen Elie Wiesel nie müde geworden ist. Wiesel stellt sich regelmäßig an ein Rednerpult und fragt seine Zuhörer, wie sie Bosnien zulassen konnten, wie sie Ruanda, Tschetschenien, Darfur, Kongo zulassen konn-ten – Schweigen. Keiner vernimmt die Provokation, die hinter diesem Schweigen liegt. Ich habe das Zentrum für Politische Schönheit gegründet, um ein Instrument zu schaffen, das sich dieser Provokation annimmt.

★In unserem ersten Jahr befragten wir ganz normale Menschen auf der Straße, was das Größte gewesen sei, dass sie jemals hatten tun wollen. Die Ratlosigkeit in den Gesichtern hat mich wochenlang fertiggemacht. Ich habe es nicht glauben können. Man denkt, diese gesellschaftliche Aporie müsste gestellt sein. Nur ganz selten trafen wir einen Menschen, der Größeres erreichen wollte. Das Wollen der meisten Menschen zielte auf den privaten Bereich. Alle wollten sie eine

Weltreise machen, Kinder bekommen und ihr „Glück“ finden. Wenn wir nachhakten und wissen wollten, was sie damit meinten, ernteten wir noch größere Rat- losigkeit. Dieses Land weiß überhaupt nicht, was es will und wo es hinwill. Und am wenigsten ist es sich seiner Macht und historischen Verantwortung bewusst. Die Bevölkerung, in einer geografischen Schlüssellage, verkriecht sich, als ob das Land gar nicht existierte. Aber es existiert. Jeden Tag wird weitergestorben. Ich muss es wiederholen: Zwi-schen 50000 und 100000 Menschen gehen jeden Tag an Hunger, Durst, Kälte und Diktatur zugrunde.Damals wurde mir klar, dass die menschliche Selbst-bezogenheit die größte Rebellion verdient. Die Selbst-bezogenheit unserer Epoche ist einmalig. Nicht, dass Sokrates oder Goethe nicht auch von sich geschwärmt hätten. Aber sie besaßen wenigstens keine stümper-haften Einsichten in die Seele des Menschen und in die Natur des Politischen.

Wir sind eine Zivilisation aus Streichholzinteres-sen. Was, wenn Wind kommt? Beim geringsten Windstoß bricht die Verteidigung der Menschheit zusammen. Die gepanzerten Wagen der Vereinten Nationen wur-den in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder in Kriegsgebiete geschickt, sollten aber ja nieman-den provozieren. Wir mögen nicht glauben, dass wir politische Streichholzmenschen sind. Aber beim ge-ringsten Widerstand, beim ersten Toten der Bundes-wehr stürzen diese hehren Streichholzabsichten. Um Frieden muss gekämpft werden. Es gibt keine diploma-tischen Schlichtermissionen, auf die sich Schlächter einlassen. Schlächter schlachten. Kaum kommen sie dahinter, dass wir bei brutalen Verbrechen wegsehen – es gibt ja angeblich eine technische Datenflut von Bildern und Informationen –, fallen sie noch brutaler in die Dörfer ein. Nicht selten mit der Wahrheit auf den Lippen, die für ihre Opfer tödlicher wirkt als die Exekution selbst: „Keiner wird Euch helfen!“

Was meinte Charlie Chaplin mit „nieder“ in „Der gro-ße Diktator“: „Nieder mit der Unterdrückung, dem Haß und der Intoleranz.“ Wie meinte Churchill seinen Satz: „Sieg – Sieg um jeden Preis, Sieg trotz allem Schrecken, Sieg, wie lang und beschwerlich der Weg dahin auch sein mag“? Wie meinten die Mitglieder der „Weißen Rose“ die „einzige und höchste Pflicht, ja heiligste Pflicht eines jeden Deutschen“, den Natio-nalsozialismus zu „vertilgen“? Wohin ist der heilige und nützliche Hass auf Diktaturen verschwunden?

Das sind die Bremsspuren eines – zeithistorisch unabdingbaren – aggressiven Humanismus. Politi-sche Schwarzfahrer werden nicht in der Lage sein, die Menschheit mit der gebotenen Unerbittlichkeit zu verteidigen. Was uns von früheren hochkultivierten Zivilisationen unterscheidet, ist der Grad an Agonie. Wir inszenieren uns als Opfer der Weltgeschichte, als diejenigen, die zu spät gekommen sind – nach den Rö-mern, Kreuzzügen, Weltkriegen oder 68er-Bewegungen. Wir spielen die Menschen, denen nichts zu tun übrig bleibt. Welch ein Irrtum. Der durchschnittliche westliche Streichholzbürger versinkt allabendlich in seinem neuen Sofa und schaut der Bombardierung ganzer Wohnviertel zu. Was soll er denken, wenn er die hungernden Kinder, die Vertriebenen, die Vergewaltig-ten im Fernsehen sieht (wenn er sie denn vorgesetzt bekommt)? Er empfindet sich ja ohnehin als wirkungs- und einflusslos. Was soll er fühlen? Was soll er tun? Er schaltet weiter zu den weniger lästigen Bildern. Dass er sich dabei von seiner Aufgabe, seiner Bestim-mung, weggezappt haben könnte, entgeht ihm. Es war ja „nur“ am anderen Ende der Welt. Diese Szene ent-hält den ganzen Unsinn, die Irritationen und Abwege unserer Existenz. Wir driften ab in gewollte Neben-sächlichkeiten, wie die Geburt von Prinzessin Kates neuestem Kind. Warum? ------------------------------------------------ Der Text ist dem neuen Buch von Philipp Ruch entnommen („Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest“), das im November 2015 im Ludwig Verlag erscheint.

Ein Zeitreise-Team aus dem Jahr 2099 macht sich auf in die Gegenwart.

Im Gepäck – das Wissen um die Geschichte des 21. Jahrhunderts:

Victor Adschembas „Große Katastrophen“ in Ostafrika (2029-2034),

die Verbrechen des chinesischen Ultra-Nationalisten Hao Kim Helian

(ab 2082) oder das Attentat auf den „aggressiven Humanisten“

und Bundeskanzler Franz-Kevin Wegener…

Vier Philosophen reisen ins Jahr 2015, ausgerechnet ins Schauspiel Dortmund:

Nur hier kann das Vorhersehbare noch abgewendet werden. Voller Wut,

Leidenschaft und einem Funken Hoffnung wollen sie das Publikum davon

überzeugen, das Rad der Geschichte zu drehen, bevor es zu spät ist.

Bevor die Geschichte der Zukunft geschrieben wird

– sie liegt in unseren Händen.

→ Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) gehört zu den innovativsten Inkubatoren politischer Aktionskunst. Es versteht sich als eine Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit. Von Bosnien-Herzegowina („Die Säulen der Schande“) über Aleppo („Kindertransporthilfe des Bundes“), die Waldberge vor Melilla („Erster Europäischer Mauerfall“) bis hin zum Massengrab des Mittelmeers („Die Toten kommen“) künden die Aktionen des ZPS von der Kunst als fünfter Gewalt im Staat.

Mehr unter → www.politicalbeauty.de.

Uraufführung/Premiere

2099Koproduktion des Schauspiel Dortmund mit dem Zentrum für Politische Schönheitab 19. September 2015 im Schauspielhaus

Regie: Zentrum für Politische Schönheit, Bühne und Kostüme: Christoph Ernst, Videoart: Jan Voges, Komposition: cosmic berlin, Dramaturgie: Michael Eickhoff. Mit: Björn Gabriel, Christoph Jöde, Sebastian Kuschmann, Uwe Schmieder

#2099Do

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★Bilder von Schlepperbooten oder verzweifelten Men-schen auf Landrouten, in Zügen, LKWs oder zu Fuß, Nachrichten aus überfüllten Unterkünften bis hin zu Katastrophenmeldungen oder fremdenfeindlichen Über-griffen. Der Themenkomplex Flucht ist mittlerweile das alle Nachrichten beherrschende Thema. In Politik und Gesellschaft wird um Umgang, Hilfe und Anerken-nung gestritten und debattiert, ohne eine Einigung zu erzielen – sowohl auf lokaler als auch auf multi-nationaler, europäischer Ebene. Im Wirtschaftsbereich sieht das ganz anders aus: Dank CETA, TTIP und anderen Handelsabkommen können Waren anscheinend immer leichter rund um die Welt zirku-lieren. Doch während der internationale Warenverkehr grenzenlos zu funktionieren scheint und Produkte spielend leicht nach Deutschland, in unsere Kaufhäu-ser und in unser Leben gelangen, bleiben die Maschen der Grenzzäune für Menschen ungleich dichter. Was also im Wirtschaftsbereich gelang – ein multinatio-naler Dialog, der die Bewegungsfreiheit von Waren auf dem globalisierten Marktplatz ‚Welt‘ sichert – will bei einem das unmittelbare (Über-)Leben von Menschen betreffenden Komplex nicht gelingen. Ist die Wirt-schaft also das eine, Flüchtlingspolitik das andere? Wo bestehen Zusammenhänge zwischen beiden globalen Phänomenen – sichtbar oder unsichtbar? Wo sogar ur-sächliche Beziehungen? Was haben die Zirkulation von Waren und Menschen miteinander gemein?

Wir tragen die Globalisierung täglich auf unserer Haut, richten uns in ihr ein, bewohnen sie im buch-stäblichen Sinne. Unser Konsum produziert nicht nur den Look und Habitus unserer Komfortzonen, sondern auch permanent Märkte, Verwertungsketten, Zonen, in denen das Lokale und das Globale sich auf subli-me Weise kreuzen. Womit wir uns einhüllen, was wir auf der Haut tragen, worin wir ausgehen, worin wir wohnen, schlafen, lieben, schwitzen, unsere Zeit verbringen, die Produkte und Güter, die uns beständig umgeben, sind ein (oft unsichtbarer) Kampfplatz um Ressourcen, Marken, Arbeit, zuweilen gar ums (nack-te) Überleben. Zwischen den von uns bewohnten Kom-fortzonen und den Orten, an denen diese weltweit produziert werden, verlaufen zumeist namen- und ge-sichtslose Kämpfe, die die Bedingung für den Glanz der Logos und Marken abgeben, in denen wir uns gerne zeigen. Zeitgleich erhalten all diejenigen, nur un-zureichend als „Flüchtlinge” zu einem Kollektiv-Subjekt zusammengefassten Menschen, die aus den oft katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen und den Krisen ihrer jeweiligen Heimatorte hierher aufbrechen, eine zweifelhafte mediale Aufmerksam-keit. Ihre „Repräsentation” scheitert beständig an der strukturellen Problematik einer grundsätzliche-ren Namenlosigkeit, die ihre Existenz in den Kons-tellationen globaler Ökonomie und Politik definiert. Wir leben nicht in einer Welt des Postkolonialismus.

Der Kolonialismus ist noch immer in vollem Gang. Er produziert weiterhin zwei Seiten, die heute mehr denn je aneinander genäht sind: die helle Vordersei-te unserer Komfortzonen und eine dunkle Rückseite der/des Namenlosen, die/der „unsere” Welt aller-dings auch dann noch mitbewohnt, in sie eindringt, ihr zugehört, wenn wir mit allen Mitteln und Grenz-ziehungen versuchen, sie/ihn aus „unseren” Zonen auszuschließen. Doch die Verbindung ist längst da, sie ist unausweichlich.

Ist diese Verbindung eine Bedrohung oder ein Versprechen?Welche Karten zeichnet das T-Shirt, das ich trage, wenn ich die Geschichte und Herkunft seiner Herstellung berücksichtige? Wie hängen wir heute permanent zusammen mit dem, was wir nicht kennen und nie ausgewählt haben im Sinne einer freien Ent-scheidung, mit dessen Wahl wir aber dennoch täg-lich eine unbestreitbare Beziehung unterhalten, für die wir Verantwortung tragen: Wer ist der/die/das Namenlose, der/die/das unsichtbar und ungehört sich an mich schmiegt, an mir klebt, auf/unter meine Haut dringt? Welches Rauschen erzeugt die Welt des Namenlosen hinter den Waren-Namen? Was für eine Klanglandschaft ergeben die Alltagsgeräusche unse-rer Wohlfühlwelten und der ungehörte Lärm aus den Zonen, die sie ausschließen?

→ Kainkollektiv ist ein fester Bestandteil der freien Theaterszene NRWs und seit 2012 vom NRW-Ministerium wiederholt spitzengefördertes Ensemble. Die Gruppe realisierte zahlreiche Projekte an den Grenzen von Theater, Tanz und Installation. Zuletzt zeigten sie „Fin de machine/Exit Hamlet“, einen Abend mit deutschen und kamerunischen Theatermachern, der in Kamerun und Deutschland zu sehen war – die Inszenierung war zum Festival FAVORITEN 2014 eingeladen. Am Schauspiel Dortmund realisierte kainkollektiv bereits „Lessings Gespenster“ und – zusammen mit sputnic – die Reihe „Stadt ohne Geld“ (Dortmunder Kritikerpreis 2010/11). Kainkollektiv wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem „George Tabori Nachwuchs-Förderpreis“ des Fonds Darstellende Künste.

Dirk Baumann, Fabian Lettow

Kainkollektiv nimmt Sie mit ins Herz des Konsums und der Globalisierung – blicken Sie hinter Mauern und Zäune, seien Sie dabei auf einer Reise, die die ganze Welt bedeutet!

Uraufführung/Premiere

DAS GLITzERN DER WELTvon kainkollektiv ab 27. November 2015 im Institut und im öffentlichen Raum

Regie/Recherche/Text: kainkollektiv (Fabian Lettow, Mirjam Schmuck), Musik/Hörspiel: Tommy Finke, Video: Nils Voges, Dramaturgie: Dirk Baumann.

#GlitzernDo

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Christoph Jöde (Gast)

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Uraufführung/Premiere

DAS MASCHINENGEWEHR GOTTES

Eine Kriminal-Burleske aus dem Messdienermilieu von Wenzel Storch

ab 10. Dezember 2015 im Studio

Regie: Wenzel Storch, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Dramaturgie: Alexander Kerlin. Mit: Andreas Beck, Thorsten Bihegue, Heinrich Fischer, Ekkehard Freye, Maximilian Kurth,

Finnja Loddenkemper, Leon Müller, Julia Schubert und dem Dortmunder Sprechchor

#GewehrDo

Jetzt ist es soweit, er ist zurück in Dortmund: „Deutschlands bester Theaterregisseur“(TITANIC)!

Nesselrode am Pluderbach. Ein verschlafenes Nest, in den späten sechziger Jahren. Lutz und Erika leben mit Egon, ihrem Obermi-nistranten, mutterseelenallein in einem alten Pfarrhaus. Der Pfarrgarten ist verwildert und die Kirche nur noch ein trau-riger Trümmerhaufen. Auf den Altarstufen wächst Moos, und wo früher die Orgel stand, sprießen heute wilde Erbsen.Wie konnte es so weit kommen? Eine eiskalte Winternacht vor nicht allzu langer Zeit. Der Spielteufel verführt den leichtfertigen Kap-lan Buffo – und dieser verliert all seine Schäfchen an einen Bauern. Am nächsten Sonntag knattert der Bauer mit seinem Trecker in die Kirche. Da können die Messdiener noch so jammern: Das Gotteshaus wird untergepflügt! Seitdem ist Kaplan Buffo spurlos verschwunden. Obwohl ihm die halbe Kurie und – so wird zumindest getuschelt – eine apostolische Todesschwadron auf den Fersen ist.Damit wieder Leben in die Bude kommt, bestellen Lutz, Erika und Egon beim Christlichen Versandhandel einen neuen Priester. Es wird Frühling und man will so schnell wie möglich einen Gottesdienst steigen lassen. Die drei entscheiden sich für einen schmucken Pater im schlichten Gewand. Sein geheimnisvoller Name: Das Maschinengewehr Gottes. Der bestellte Seelsorger ent-puppt sich als wild um sich schießender Automat, der nach einem Amoklauf im Pfarrgarten lautstark explodiert. Im Inneren des zerplatzten Roboters entdecken die Messdiener eine zerkratzte Schall-platte: Hinter der ganzen Sache steckt augenschein-lich eine mysteriöse Ordensgemeinschaft aus Oberschlesien. Um der ominösen Angelegenheit auf den Grund zu gehen, beschließen die drei Hobby-Detektive, sich auf den Weg gen Osten zu machen. Brevier und Rosenkranz im Rucksack, begeben sie sich im frisch gestärkten Chorhemd hinein in die unbekannte Diaspora... Kann es sein, dass hinter allem der leibhaftige Kaplan Buffo steckt?

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Der zeitgeschichtliche Hintergrund und die Musik

von Wenzel Storch

„Was hier so freundlich gluckst, das ist der Pluderbach. Der Pluderbach fließt seit Jahrhunderten durch Nesselrode, direkt am uralten Pfarrhaus vorbei...“Mit diesen Worten beginnt ein Kriminalstück, das uns mitnimmt in die fröhliche Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1965). Im Zentrum des Geschehens steht Nesselrode – ein ver-schlafenes Nest, das durch einen militanten Priester-Mutanten aus dem Gleichgewicht gerät. Drei herrenlose Messdiener bege-ben sich auf eine abenteuerliche Reise, um dem Geheimnis ihres Seelsorgers auf die Spur zu kommen.Schon immer hat es brave Jugendliche gegeben, die bereit waren, sich für ihren Glauben auf den Weg zu machen, sei dieser auch steil und beschwerlich. Man denke nur an die tollen Tage, als die katholische Jugend aus allen Himmelsrichtungen zum Weltju-gendtag in Köln zusammenströmte: Über 1.000.000 Teens und Twens versanken im Sommer 2005 im Papsttaumel, und sogar die „Bravo“ war mit einem Poster dabei.

DAS MASCHINENGEWEHR GOTTES entführt die Zuschauer in die ver-sunkene Welt der römisch-katholischen Abenteuerliteratur, wie sie in den Werken von Gerd Holm („Ministranten, Wald und bunte Zelte“) oder Hermann Skolaster („Der Detektiv im Kloster“) noch bis in die späten siebziger Jahre lebendig war. Die Sprache der drei Messdiener orientiert sich dabei am Duktus sakral-trashiger Jugendbuchklassiker wie „Mord auf dem Pfarrfest“ oder „Der geheime Bund“. Dabei ist das titelgebende „Maschinengewehr“ angelehnt an eine Figur der jüngeren Kirchengeschichte: an den legendären Jesuitenpater Johannes Leppich (* 16. April 1915 in Ratibor/Oberschlesien; † 7. Dezember 1992 in Münster), der sich selbst das „Maschinengewehr Gottes“ nannte.Als römisch-katholischer Wanderprediger soll Pater Leppich, der schon früh die Titelseiten der bunten Blätter schmückte, vor über 25 Millionen Menschen live gepredigt haben. Seine Kanzel stellte er am liebsten in Zirkuszelten und Fußballarenen auf, wo er „mit nasalem, fast Goebbels-ähnlichem Pathos“ die frohe

Botschaft „im Jargon eines Bierkutschers“ verkündete, so das Nachrichtenmagazin

„Der Spiegel“ im Januar 1954. Mal wetterte er gegen „das Gully-loch des Sexualismus“, mal gegen „die Mischehe“, mal forderte er, „Schönheitsköniginnen“ in Arbeits- häuser zu stecken, und mal liebte er es, das eigene Publikum zu erschrecken. So rief er einem Zuhörer in Neustadt an der Wein-straße zu: „Komm her, du Schweine- hund, als Priester geniere ich mich nicht, dir an die Gurgel zu springen!“ Einige seiner Massenpredigten sind überliefert und bil-den die Grundlage für die Monologe des Priester- Mutanten. Was das „Maschinengewehr Gottes“ in der kurzen Spanne zwischen der Lieferung durch den Christlichen Versandhandel und der Explosion im Pfarrgarten von sich gibt, basiert auf echten Leppich-Bonmots

und ist wortgetreu den beiden Langspielplatten „Ist das Liebe?“ und „Money Motor Mädchen“ entnommen. Auf diesen Sprechplatten, 1968

erschienen, versucht Pater Leppich den modernen „Teenagern“ die Welt zu erklären, während um ihn herum die Jugendrevolte tobt und die Sexwelle durchs Land schwappt.In die Handlung eingewoben sind ausgesuchte Perlen des Sakro-pop-Genres. So die berückende „Morning Has Broken“-Version des singenden Pallottiner-Mönchs Pater Heinz Perne, der in der Szene als „Gitarrist Gottes“ bekannt war. Oder der Evergreen „Ich will an deiner Seite geh‘n“, mit dem Kaplan Alfred Flury, der in den sechzi-ger Jahren u. a. als „Leserberater“ der Zeitschrift „Pop“ wirkte, bis in die deutschen Charts vordrang.------------------------------------------------------------------------------

→Wenzel Storch (* 1961) wirkte in den siebziger Jahren als Meßdiener in Wolfsburg und Hildesheim. Nach dem Zivildienst entwarf er Muster für eine katholische Tapetenfabrik. Ende der Achtziger stellte er hinter dem Rücken der Kirche den römisch-katholischen Monumentalfilm „Der Glanz dieser Tage“ her, dem 1992 der Langhaarigen-Report „Sommer der Liebe“ und 2004 der Abenteuermärchenfilm „Die Rei-se ins Glück“ folgten. 2009 erschien sein heiteres und reich bebildertes Brevier „Der Bulldozer Gottes“, 2012 das Fake-Kinderbuch „Arno & Alice“ und 2013 das Kompendium „Das ist die Liebe der Präla-ten“. Zuletzt erschien das Bilderlesebuch „Wenzel Storch – Die Filme“. Wenzel Storch ist in das Gol-dene Buch des Bonifatiuswerkes eingetragen und immerwährendes Mitglied im Pallottiner Meßbund. Am Schauspiel Dortmund inszenierte er zum ersten Mal überhaupt im Theater, „Komm in meinen Wig-wam“ war eines der Kult-Stücke in der Spielzeit 2014/15.→ www.wenzelstorch.de

Der von Presse und Publikum gleichermaßen frenetisch gefeierte Erfinder der Pilgerreise in die wunderbare Welt der katholischen Anstandsliteratur „Komm in meinen Wigwam“(2014), der Macher der Kultkinofilme „Der Glanz dieser Tage“, „Sommer der Liebe“ sowie „Die Reise ins Glück“ und Autor des Buches „Der Bulldozer Gottes“: WENZEL STORCH.

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„Kannibale und Liebe“ Regie: Jörg Buttgereit, 2012

„Sexmonster“ Regie: Jörg Buttgereit, 2011

Jörg Buttgereit, „Besessen“ wird – nach „GREEN FRANKEN-STEIN UND SEXMONSTER!“, „Kannibale und Liebe“, „Der Elefantenmensch“ und „NOSFERATU LEBT!“ Ihre nunmehr fünf-te Theaterarbeit am Schauspiel Dortmund sein – eigentlich sind Sie Filmemacher und Filmjournalist, wie kam der Kontakt nach Dort-mund zustande? Und was fasziniert Sie an der Arbeit am Theater?

Ich hatte ja zuvor schon in Berlin Theaterstücke wie „Captain Berlin versus Hitler“ am HAU oder das weltweit erste Punk-Musical „GABBA GABBA HEY! – Das Ramones Musical“ inszeniert. Die Arbeit auf der Bühne war mir also nicht ganz neu. Doch ich glaube, Kay Voges hat mich aus-gesucht, weil er meine alten Arthouse-Horror-Filme wie „Nekromantik“ oder „Der Todesking“

mochte. Mit diesen Filmen hatte ich oft Scherereien mit übereifrigen Jugendschützern und der Zensur. Solche Probleme scheint es am Theater nicht zu geben. Hier ist wohl der „Kunstverdacht“ zu groß. Diese künstlerische Freiheit genieße ich sehr. Und natürlich die ungestörte Arbeit mit den Schauspielern. Beim Film insze-niert man ja immer nur häpp-chenweise einzelne Einstel-lungen und montiert diese dann nachher. Das gewährleistet zwar größtmögliche Kontrolle über das Produkt, den Film, kann aber auch ganz schön ermüdend sein. Auf der Bühne hingegen kann ich ein komplettes Geschehen am Stück inszenieren. Die Schauspieler durchleben live vor meinen Augen einen ganzen Film. Das hat, in all seiner ausgestellten Künstlichkeit, auch etwas sehr Wahrhaftiges. Und jede Vorstellung ist immer anders, unkalkulierbar. Das finde ich als „Filmfritze“ sehr erfrischend und spannend.

Worum geht es in „Besessen“?Das Stück greift meine ganz persönliche Faszination für einen schrecklichen Horrorfilm auf, den ich schon als 10-jähriger Junge unbedingt sehen wollte, aber natürlich nicht durfte: „Der Exorzist“ aus dem Jahr 1973. Ein weltberühmter amerikanischer Film, in dem ein kleines Mädchen vom Teufel besessen ist. Diesen Erwachsenenfilm nicht sehen zu dürfen, hat auch in mir eine Art Besessenheit hervorgerufen. Das zwanghafte Sammeln von Filmen. Erst Jahre später, nach der Erfindung von VHS (Video Home System), konnte ich den Film endlich auf Videokassette sehen. Wie erinnern Sie sich persönlich an die Zeit, als Anfang der 1980er Jahre die VHS-Technik die deutschen Wohnzimmer eroberte? Was wa-ren die ersten Videofilme, die Sie geguckt haben?Natürlich: Als Filmbesessener habe ich mir sofort einen der ersten Videorekorder gekauft. Doch die von mir lang ersehnten amerikanischen Horrorfilme wie „Der Exorzist“ kamen anfangs eben noch nicht auf Video raus. Es waren vor allem europäische B-Filme, billige italieni-sche Zombie-, deutsche Sex- oder gewalttätige Actionfilme, die in den ersten Videotheken zu entleihen waren. Herrlich zweifelhafter Schund mit Titeln wie „Ein Zombie hing am Glocken-seil“ oder „Nackt und zerfleischt“. Überforderte Jugendschützer und Pädagogen liefen damals Sturm gegen die Videotheken. Die Filme wurden gekürzt, indiziert und beschlagnahmt. Was wiederum in mir den Wunsch erzeugte, genau diese Filme sehen zu wollen, die mir vorenthalten wurden. Ein Teufelskreis... „Der Exorzist“ holte in den 1970er Jahren Millionen weltweit in die Kinos – was fasziniert Sie persönlich an diesem Film?Neben dem Reiz des Verbotenen ist der Film für mich ein Meilenstein im Horrorgenre. Der Regisseur William Friedkin, ein ehemaliger Dokumentarfilmer, ist ein Vertreter des „New Hollywood“. Er und seine Kollegen wie Francis Ford Coppola („Der Pate“), Steven Spielberg („Der weiße Hai“) oder auch Roman Polanski („Rose- marys Baby“) haben bis Ende der 1970er Jahre das traditionelle Hollywood-Kino aufgemischt. Ich glaube nicht, dass ein derart radikaler Film wie „Der Exorzist“ heute von einem großen Hollywood-Studio produziert werden würde. Da ich – wie viele Menschen meiner Generation – eher mit diesen Filmen und nicht mit Theater soziali- siert wurde, versuche ich jetzt, Film – oder genauer: den Genrefilm – auf die Theaterbühne zu bringen. Genre-Theater, gibt es so was über-haupt? Wenn nicht, hab ich’s erfunden!

Vier Fragen an Jörg Buttgereit, den Papst des deutschen Horrorfilms

→Jörg Buttgereit, geboren 1963 in Berlin. Sein neuester Episodenfilm „Final Girl“ ist Anfang 2015 in der Compilation „German Angst“ erschienen.

Uraufführung/Premiere

BESESSENvon Jörg Buttgereit und Anne-Kathrin Schulz (Mitarbeit)inspiriert von „Der Exorzist“Uraufführung am 23. Oktober 2015 im Studio

Regie: Jörg Buttgereit, Bühne und Kostüme: Susanne Priebs, Musik: T.D. Finck von Finckenstein,Special FX: Lucas Pleß, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz. Mit: Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Uwe Rohbeck, Sarah Sandeh AB 18 JAHREN

#BesessenDo

Als sich 1973 der Kopf der jungen Schauspielerin Lin-da Blair mit teuflischer Fratze auf den Rücken dreht, stockt der Welt der Atem: „Der Exorzist“ von Wil-liam Friedkin und William P. Blatty ist Hollywoods bis dato sensationellster Angriff auf die Herzen und Hirne seiner Zuschauer. Die Geschichte des ultimati-ven Kampfes Gut gegen Böse, ausgetragen im Körper einer 12-Jährigen, von der ein Dämon Besitz ergreift, verzückt und verstört Millionen weltweit: Ansturm auf die Kinos und Ohnmachts- und Herzanfälle während des Filmes. Danach glauben Hunderte von Zuschauern, ebenfalls besessen zu sein, und lassen Exorzismen an sich durchführen. Nicht nur Linda Blair erlangt

über Nacht weltweite Aufmerksamkeit, sondern auch das uralte religiöse Ritual der Austreibung des Bö-sen. Was ist diese Finsternis jenseits von Wissen-schaft und Logik, die die menschlichen Angstsynapsen zum Schwingen bringt? Inspiriert von „Der Exorzist“ blickt Jörg Buttgereit in seiner neuesten Dortmunder Arbeit durch die Zeiten – auf den Film, der zwei Os-cars gewann, auf die 80er, als per VHS-Kassette plötz-lich der Horror Einzug in die heimischen Wohnzimmer fand – und auf das Unbehagen vor dem, was da jenseits der eigenen Vernunft lauert...

zum letzten Mal

am 13. November im Studio

NOSFERATU

LEBT!von Jörg Buttgereit

nach Stoker, Murnau und Galeen

Regie: Jörg Buttgereit, Bühne und Kostüme: Susanne Priebs, Musik: Kornelius Heidebrecht, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz.

Mit: Andreas Beck, Ekkehard Freye, Annika Meier, Uwe Rohbeck, Maximilian Steffan

#NosferatuDo

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Page 17: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

Die Depression, das Burn-Out – eine Stoffwechselstörung? Oder vielmehr die logische Schlussfolgerung, wenn man mit offenen Augen und Herzen durch unsere Welt geht? Sarah Kane seziert in ihrem 1999 veröffentlichten Theater- stück Fleisch und Geist einer Erkrankung, die selbst Aufgeklärte zutiefst verunsichert, lauscht auf den Puls eines Leidens, das irgendwo zwischen Biochemie, Psychologie und Philosophie angesiedelt scheint. Für „4.48 Psychose“ hat das Team um Regisseur Kay Voges einen theatralen Mensch/Maschine-Knoten realisiert, der die Metamorphose von Poesie in Elektro-Impulse behandelt. Der Geist und die Materie – woraus besteht ein Ich? Ist die Seele messbar? Erzählen die Daten einen Menschen?

#PsychoseDo

Regie: Kay Voges, Bühne: Kay Voges, Jan P. Brandt, Kostüme: Mona Ulrich, Videoart: Mario Simon, Musik: T.D. Finck von Finckenstein,

Coding und Engineering: Stefan Kögl, Lucas Pleß, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz. Mit: Björn Gabriel, Uwe Rohbeck, Merle Wasmuth

4.48 PSyCHOSE

vON SARAH KANE

Wieder ab 4. Oktober 2015 im Studio

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Carlos Lobo

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Andreas Beck

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-------------------- Beate Zschäpe in einem Brief an Robin S. aus dem Gefängnis

In der Dortmunder Mallinckrodtstraße erschossen die Täter am 4. April 2006 den Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık. Entgegen anderslautender Zeugenaussagen vermuteten die ermittelnden Behörden die Täter lange im Drogenmilieu – das ist eine von zahlreichen Ungereimtheiten, nicht nur in Dortmund. Nach der Verhaftung von Beate Zschäpe am 8. November 2011 und den vorangegangenen Suiziden der NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt werden vier Unter- suchungsausschüsse eingesetzt. Denn allzu ungereimt erscheint heute die Rolle diverser Organe des Staats- und Verfassungsschutzes, die das NSU-Trio jahrelang überwachten – bis hin zur mutmaßlich absichtlichen Vernichtung von Beweismaterial: Zufall, Dummheit, Versehen oder Vorsatz?

Seit Mai 2013 steht Beate Zschäpe im Münchner NSU-Prozess vor Gericht – doch die Hauptangeklagte schweigt zu allen Tatvorwürfen. Um dieses verhärtete Nichts, das ausufernden Spekulationen Raum gibt, fließt Elfriede Jelineks mäandernder Gedankenstrom – ein unendliches Sprechen. Die Nobelpreisträgerin fächert wie unter einem Kaleidoskop das Thema der Schuld auf, sucht die Lücke zu füllen und das beharr-liche Schweigen zu vertreiben. ★„Das schweigende Mädchen“ ist die erste Premiere im neuen MEGATHEATER im MEGASTORE in Dortmund-Hörde. Michael Simon, 1994 mit seiner Dortmunder Inszenie-rung „The Black Rider“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen, setzt den assoziativen und fließenden Text mit sechs Schauspielern des Ensembles und dem Dortmunder Sprechchor in Szene: weniger Geschichte, vielmehr Erlebnis und sinnliche Erfahrung, die die Verantwortung des Einzelnen ins Geschehen zurück-holt.

Der rechtsextremistischen Gruppierung „Nationalsozialistischer Untergrund“ werden bis heute zehn Morde, zahlreiche Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle angelastet.

→ Michael Simon arbeitet seit den 1980er Jahren als Regisseur, Bühnenbildner, Lichtdesigner, Autor und Performancekünstler in Oper, Schauspiel und Ballett. Seine Arbeiten führten ihn an zahlreiche Bühnen im In- und Ausland – in Dortmund inszenierte er 1994 „The Black Rider“, eingeladen zum Berliner Theatertreffen.

→ Elfriede Jelinek, aufgewachsen in Wien, zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen GegenwartsautorInnen. Sie verfasste eine Vielzahl von Theaterstücken. Zu ihrem umfangreichen Werk zählen neben Lyrik und Prosa – u. a. „Die Klavierspielerin“, „Lust“ und „Gier“ – auch Essays, Hörspiele, Drehbücher, Libretti und Übersetzungen. Sie polarisiert mit ihren Positionen, die sich stets auf Politisches und Privates gleichermaßen beziehen. Jelinek erhielt neben zahlreichen Preisen den Nobelpreis für Literatur (2004).

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Premiere

Das schweigenDe MäDchenvon Elfriede Jelinekab 11. Dezember 2015 im MEGASTORE

Regie und Bühne: Michael Simon, Kostüme: Mona Ulrich, Musik: Tommy Finke, Dramaturgie: Michael Eickhoff

#MädchenDo

Mehmet Kubașıkermordet in Dortmund am 4. April 2006

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Ekkehard Freye

„Es wurde nur in eine Richtung ermittelt!“

~David Schraven: Frau von der Behrens, Sie sind während des Mün-chener Verfahrens sehr nah dran an der einzigen Person, die über den NSU detailliert Auskunft geben könnte – und diese Person schweigt. Wie ist das, wenn man Beate Zschäpe vor sich hat?Antonia von der Behrens: Schwierig. Vielleicht für uns Anwälte ein bisschen weniger als für die Angehörigen. Die Ehefrau und auch die äl-teste Tochter von Mehmet Kubaşık waren oft in München, und die belastet das extrem. Man sitzt sich im Gerichtssaal auf der Pelle. Und gerade am Anfang hatte Zschäpe noch eine sehr selbstbewusste Haltung und fixierte jeden Ein-zelnen im Gerichtsaal – insbesondere Zeugen, die davon durchaus eingeschüchtert wurden. Nach außen spricht überhaupt nichts dafür, dass sie Reue empfindet. Sie sieht mit ihrem Business-Kostüm aus wie eine ihrer Verteidi-gerinnen. Natürlich muss sie nicht vor Reue zusammenbrechen. Es ist ihr gutes Recht, dass sie sich so verhält. Aber als die Angehörigen von Kubaşık im Zeugenstand saßen und aussag-ten, was am Tag des Mordes geschah, saßen sie nur zwei, drei Meter von ihr entfernt. Es muss beklemmend sein, der Frau direkt gegenüber zu sein. Die weiß, warum er sterben musste, und von wem der Tipp kam, ob es Helfer gab. Und sie schweigt. ~ Wie geht denn so ein Richter damit um? Die Zeugen aus dem rechten Umfeld lügen doch mitunter so doof, dass das jeder merkt.Ja, das ist schwer zu ertragen. Seit 1992/93 waren die Mitglieder des späteren NSU rechtsra-dikal in einer festen Gruppierung organisiert. Sie hatten ja schon alle möglichen Propagan-dadelikte begangen, bevor sie 1998 unterge-taucht sind. Wir haben viele Zeugen aus die-sem ersten Szene-Umfeld in Jena. Andere Zeugen sind Nazis aus Sachsen, mit deren mutmaßlicher Hilfe sie damals untertauchen, im Untergrund leben und ihre Mordzüge unternehmen konnten. Wir haben bei diesen Zeugen stets das gleiche Bild: Sie setzen sich auf den Stuhl und haben Erinnerungslücken bis zum Gehtnichtmehr. Na-türlich liegt das alles lange zurück. Aber die NSU-Mitglieder werden immer noch als Kameraden angesehen, denen man verpflichtet ist. Vor Kurzem hatten wir einen ehemaligen Neona-zi aus Jena im Gerichtssaal, der gesagt hat, was er wusste – nach 202 Prozesstagen der Erste. Keiner im Saal konnte die Situation richtig fassen. Er erzählte, dass er mit den NSU-Mitgliedern, als die in Jena noch offen lebten, eine Puppe an der Autobahn aufgeknüpft hat. Mit Davidstern und „Jude“-Schriftzug, als Botschaft an Ignatz Bubis, der daran vorbei zu einer Veranstaltung in Weimar fahren soll-te. Der Mann hat Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei der Polizei und auch in zwei Instanzen vor Gericht ein Alibi gegeben: „Nein, nein, ich war auf einer Party mit denen.“ Das war auch ein Grund, weshalb Uwe Böhnhardt damals frei-gesprochen wurde. Und jetzt brach der Mann im Münchener Gericht psychisch zusammen: „Es ist mir egal, ich werde meinen Job verlieren und ich verliere meine Freunde, aber ich sag, was war.“ Alle anderen aber – die gehen da raus, sind stolz und lassen sich von den Nazis im Publikumsblock feiern.

~ Und der Angeklagte Carsten S., der die Szene inzwischen verlassen hat und sich zu seiner Homosexualität bekannt hat – hat der denn alles erzählt?Wir haben fünf Angeklagte: Neben der Zschäpe sind das Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, der auch noch aus der Jenaer Zeit kommt, und André Eminger aus Zwickau, der bis zum Schluss ganz eng mit Böhnhardt und Mundlos befreundet war. Und eben Carsten S., der mit Wohlleben zusammen die Mordwaffe besorgt haben soll. Beide waren in der Kameradschaft Jena, Teil des „Thüringer Heimatschutz“. Carsten S. hat für Wohlleben Handlangerdienste erledigt, unter anderem auch die Betreuung des Trios im Untergrund. Einmal rief Böhnhardt ihn an, sie bräuchten eine Waf-fe mit Schalldämpfer. Carsten S. hat sie or-ganisiert und nach Chemnitz gebracht. Er sagt heute natürlich, dass er annahm, die Waffe sei zur Selbstverteidigung. Als er den beiden Uwes dann die Waffe überreichte, öffneten sie ihren Rucksack und zeigten ihm all die Waffen, die sie schon hatten. Außerdem erzählten sie ihm, dass sie in Nürnberg einen Anschlag mit einer Taschenlampe verübt hätten und bezahlten ihn mit Geld, an dem noch Banderolen waren, also aus einem Banküberfall. Er realisierte plötz-lich: Die machen Raubüberfälle und Bombenat-tentate – und ich bringe denen noch eine Waf-fe. Das fiel ihm extrem schwer. Bis heute ist nicht geklärt, ob er wirklich einen Schall-dämpfer mitlieferte. Er und Holger Gerlach sind im Verfahren die Einzigen, die überhaupt reden. Das muss man würdigen. Man konnte durch seine Aussage z. B. rekonst-ruieren, dass es 1999 in Nürnberg diesen Bom-benanschlag auf ein türkisches Restaurant gab. Der Wirt erlitt schwere Verbrennungen, aber sie waren nicht lebensgefährlich. Der Anschlag wurde nicht als rechte Tat eingeordnet. Man dachte, der Wirt habe das selbst gemacht. ~ In NRW gibt es zwei ungeklärte Fälle: einen antisemitischen Bom-benanschlag in Düsseldorf-Wehrhahn auf die S-Bahn und einen Anschlag mit einer Sprengfalle in Duisburg, bei dem ein türkisch-stämmiger Mann schwer verletzt wurde. Ist es wahrscheinlich, dass der NSU da seine Finger mit drin hatte?Wir können das nicht ausschließen. Wir haben aber auch keine Hinweise gefunden, die dafür sprechen. Angeblich hat das BKA auch noch an-dere unaufgeklärte Mordfälle untersucht – al-lerdings hatten sie das auch in Nürnberg ge-tan, aber den Taschenlampen-Anschlag nicht dem NSU zugeschrieben oder überhaupt rechte Täter vermutet. ~ Konnte man bei dem Prozess zumindest etwas Licht ins Dunkel bringen, wie die Leute in die Szene geraten? Und wie sich die gesamte Szene radikalisierte? Es gab in den Neunzigern einen Rudolf-Heß-Gedenkmarsch im thüringischen Rudolstadt, der zwei- bis dreitausend Besucher anzog. Er wurde nicht verboten, es gab keine größere Gegende-mo, auch die Polizei griff kaum ein. Für die Nazi-Szene war das ein großer Erfolg, der die rechten Kreise in Thüringen enorm gepusht hat. Vorher waren das irgendwelche Nobodys, danach ernteten sie von Nazis bundesweit Lob. Auf unsere Bemühungen aber, das im Prozess alles

weiter zu thematisieren – auch im Kontext der fremdenfeindlichen Pogrome Anfang der 1990er – wird geantwortet, die Frage der Radikalisie-rung gehöre nicht zum Verfahrensstoff. Wir haben es aber geschafft, die Ideologien des NSU zum Thema zu machen: führerloser Wi-derstand, Anschläge ohne Bekenner-Schreiben, das Arbeiten in Zellen. Zu zeigen, aus wel-chen Texten und Strukturen diese Ideen kommen, gelingt uns zumindest partiell. Das Gericht war anfänglich nicht begeistert und konnte mit Begriffen wie „Blood and Honour“ oder „Turner-Tagebücher“ nichts anfangen. Inzwischen bemer-ken sie die Relevanz. Es hilft, die Vorsätze der Zeugen oder Angeklagten zu verstehen.Die hiesige Naziszene lernte über Jahre, dass sie sich in Dortmund ungestört ausbreiten kann. Es gab den Mord an Mehmet Kubaşık. Zeu-gen sprachen von zwei verdächtigen Männern am Tatort, die wie Nazis aussahen. Daraus wurden im Laufe der Ermittlungen relativ schnell Aus-länder, die mit Drogen handeln. ~ Bei Mehmet Kubaşık wurde wenig ermittelt. Die Akten sind im Verhältnis zu den anderen Akten sehr dünn. Das Einzige, was sie abarbeiteten, waren Fragen wie: Hat der was mit Drogen oder organi-sierter Kriminalität zu tun? Ist er in der PKK? Es gibt die Aussage einer Frau, sie habe ein verdächtiges Pärchen am Tatort gesehen. Es gibt Personenbeschreibungen, die treffen auf Zschäpe und die Uwes zu. Das wurde nicht wei-ter verfolgt, weil sie als deutschstämmig be-schrieben wurden. Und es gab eine Zeugin, die Böhnhardt und Mundlos gesehen und sogar die Straßenseite gewechselt hat, weil der eine von beiden so böse geschaut habe. Sie hat ausge-sagt: „Das waren entweder Nazis oder Junkies.“ Dann fahren zwei Beamte zu ihr, einer von de-nen ist vom Staatsschutz. Nachdem sie mit ihr gesprochen haben, fällt das Wort „Nazi“ nicht mehr. Stattdessen geht man immer wieder zu den Freun-den und Verwandten des Opfers: „Hatte er nicht doch eine Geliebte? Gab es nicht doch was mit Drogen?“ Die Ermittlungsfehler haben die Be-troffenen über Jahre nicht nur stark belastet, sondern auch stigmatisiert. ~ Auf einmal standen sie als eine Familie da, die mit Drogen und Mafia zu tun hat.Genau. Mehmets Witwe Elif Kubaşık hat hell-sichtig reagiert und der Presse gesagt: „Wir können es uns eigentlich nur mit Nazis erklä-ren.“ Sie hat sogar auf die Parallele zu dem Mord hingewiesen, der zwei Tage später statt-fand – am 6. April starb Halit Yozgat in Kas-sel: Beide Tatorte lagen an Ausfallstraßen zur Autobahn, um schnell die Stadt verlassen zu können. Daran hätten die Ermittler merken müssen, dass es Zufallsopfer waren. Die Mafia schaut ja nicht, ob ihr Opfer an einer Ausfallstraße wohnt. Die Opfer waren Linke, Rechte, Kurden, Nichtkurden, Gläubige, Atheisten. Unwahrschein- lich, dass diese Menschen in irgendeiner fik-tiven Organisation miteinander verbunden sein sollten. Auch der Satz „Hinterher ist man schlauer“ ist keine Ausrede. Es wurde ganz einfach nur in eine Richtung ermittelt.

Am 4. April 2016 jährt sich der NSU-Mord an dem Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık zum zehnten Mal. Die Anwältin der Opferfamilie Antonia von der Behrens berichtet aus dem Prozessalltag: zweifelhafte Zeugenaussagen, das Schweigen Beate Zschäpes, V-Männer und Versäumnisse der Polizei – auch der Dortmunder.

DaviD schraven iM gesPräch Mit antonia von Der Behrens

→ Antonia von der Behrens

ist Rechtsanwältin der Bürogemeinschaft Anwälte Kottbusser Damm, Berlin. Im NSU-Prozess vertritt sie die Interessen derAngehörigen

des Dortmunder Mordopfers Mehmet Kubaşık. → David Schraven

ist Journalist und Gründer des gemeinnützigen Recherche-Büros CORRECT!V. Zuletzt veröffentlichte er das Comic „WEISSE WÖLFE – Eine graphische Reportage

über rechten Terror“, das in Teilen noch bis November 2015 im Foyer des Schauspielhauses ausgestellt ist. → www.correctiv.org

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Eva Verena Müller

~ Gibt es Hinweise darauf, dass es in Dortmund ein ähnlich aktives Unterstützerfeld für den NSU gab wie in Jena? Wir wissen, dass die drei auf Konzerten von NRW-Bands in Sachsen und Thüringen waren. Aber richtig harte Indizien, dass es Kontakt nach Dortmund gab, danach suchen wir noch. Es gab hier im Jahr des Mordes aktive Strukturen, eine COMBAT 18-Zelle mit derselben Ideologie wie die des NSU. Dass sie voneinander wussten und COMBAT 18 den Mord verstanden hat, auch ohne Bekenner-Schreiben – davon ist auszuge-hen. Von der COMBAT 18-Zelle in Dortmund wis-sen wir übrigens nicht durch das BKA oder die Bundesanwaltschaft, sondern von Journalisten.

~In Baden-Württemberg gab es wohl eine Unterstützer-Gruppe, und in Hessen zumindest Verflechtungen mit dem Verfassungsschutz. Was ist mit dem Mord an Mehmet Turgut in Rostock? Der Tatort in Rostock war eine Imbissbude auf grüner Wiese zwischen Plattenbauten. Man war zwar nahe einer Ausfallstraße. Aber bevor man dort hinkam, war es recht klein und verwinkelt. Diesen Ort findest du nicht im Vorbeifahren. Und in der frühen Jenaer Zeit hatten sie enge Kontakte nach Rostock. Das spricht dafür, dass es vor dem Mord einen Hinweis gab. Wir können es aber wieder nicht beweisen, es wird alles abgestritten. Und ganz offensichtlich gibt es kein Interesse von der Bundesanwaltschaft, vom BKA, da wirklich was herauszufinden. Eine Aus-nahme davon gibt es im Prozessalltag nur, wenn wir Nebenklage-Vertreter einen Antrag stellen – z. B. um Sebastian Seemann anzuhören, dieser Dortmunder Neonazi und V-Mann. Ob er kommen wird, wissen wir noch nicht. ~In Duisburg gab es dieses rechte Fanzine namens „Förderturm“. Man weiß, sie erhielten Geld vom NSU. 2002 schaltete der NSU dort eine Anzeige. Sie schrieben: „Wir sind ein Netzwerk. Wir haben zwar keine Adresse, aber wir sind erreichbar.“ Das zeigt, dass der NSU nie eine kleine, iso-lierte Gruppe war – was die Bundesanwaltschaft behauptet. Sie haben offen in der Neonazi-Sze-ne für sich geworben und Geldgeschenke ver-teilt. Welche Strukturen es aber in Duisburg gab, und welchen Kontakt sie dort pflegten – das ist alles nicht ermittelt worden. Wenn wir nicht zufällig Infos dazu in die Hand kriegen, können wir nichts davon im Verfahren themati-sieren. Wir sind auf Journalisten angewiesen, viel auch auf die Antifa, die Sachen findet und ausgräbt. ~ Ich verstehe aber auch die Generalstaatsanwaltschaft, die ein klares Ziel definiert und sich fragt: „Wie setzen wir unsere Mittel effektiv ein, damit Zschäpe möglichst lange in den Knast wandert?“ Warum kann man den Prozess nicht in 14 Tagen durchziehen? Was genau muss Zschäpe bewiesen werden? Schon ein normales Mordverfahren kann ein, zwei Jahre dauern. Hier haben wir zehn Morde, zwei Anschläge und 15 Banküberfälle. Zschäpe ist als Mittäterin angeklagt. Wir werfen ihr vor, dass sie mit Böhnhardt und Mundlos die Menschen umgebracht hat. Das heißt nicht, dass sie selbst geschossen haben oder am Tatort ge-wesen sein muss. Es heißt, sie wusste Bescheid und wollte die Morde aus ideologischen Grün-den. Es gibt z. B. Fingerabdrücke von ihr auf Zeitungsartikeln über die Morde. Sie leistete ihren Anteil, dass die Uwes in der Anonymität bleiben konnten. Das reicht für eine Verurtei-lung. Wir schätzen, Ende des Jahres 2015 ist der Prozess durch. Darüber hinaus ist sie angeklagt, Mitglied ei-ner terroristischen Vereinigung zu sein. Man muss also auch noch nachweisen, dass es über-haupt eine Organisation gab und welche Ideo-logien und Ziele sie hatte. Wie groß sie war. Bei anderen terroristischen Organisationen weiß man das – bei der RAF oder der PKK. Zschäpe aber ist Angeklagte einer Organisati-on, von der bis 2011 angeblich keiner wusste. Das Gericht muss also erst feststellen: wer, wo, wie, wann, wie lange, was? Aber die Bundesanwaltschaft würde Zschäpe am liebsten 200 Jahre lang weg sperren und dann zur Tagesordnung übergehen. Es sollen keine weitergehenden Fragen aufkommen, z. B. welche V-Männer in der Szene waren oder ob manche von ihnen sogar Mitglied des NSU waren.

~ Bei dem Mord an Halit Yozgat in Kassel war der V-Mann-Führer Andreas T. direkt anwesend. Auf einer Rekonstruktion des Tatorts erkennt man, dass er beim Verlassen des Internetcafés sogar über den Ermordeten drüber gestiegen sein muss. Das macht uns immer noch fassungslos. Zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık fährt der NSU nach Kassel zu diesem Internetcafé. Dort sitzt Andreas T., ein Hobbyschütze, der sich auch mit Waffen und Schussgeräuschen aus-kennt. Yozgat wird mit einem doppelten Kopf-schuss getötet. Man hat diesen Mord zeitlich rekonstruiert, was aufgrund der Nutzungszeiten der Computer gut möglich war. Andreas T. hat den Laden unmittelbar nach dem Mord verlas-sen. Der Typ ist fast zwei Meter groß und das Opfer liegt erschossen hinter einem niedrigen Schreibtisch. Überall Blutspritzer. Angeb-lich hat er weder die Schussgeräusche noch das Fallen des Körpers gehört. Er sei rausgegangen und habe dabei fünfzig Cent auf den Schreib-tisch gelegt, sich in sein Auto gesetzt und weggefahren. Das ist die Story, die er seit 2006 durchgängig erzählt. Vieles spricht aber dafür, dass er nicht zufällig in dem Café war, sondern von der geplanten Tat wusste. Dass er trotzdem davongekommen ist, liegt vermutlich auch daran, dass er von seiner Behörde ge-schützt wurde und irgendwann versetzt. Da gibt es abgehörte Gespräche, die das nahelegen. Heute sitzt er mit vollen Boni im Regierungs-präsidium. Er ist nicht der einzige Beamte, der in diesem Verfahren gelogen hat.

~ Was weiß man über den Hintergrund des Mannes? Er stammt aus einem kleinen Dorf in Hessen und hat selbst eine rechte Einstellung. Bei Haus-durchsuchungen wurden entsprechende Materia-lien gefunden. Er hatte im Landesamt für Ver-fassungsschutz in Kassel fünf V-Männer unter sich, war also viel auf der Straße unterwegs, hat sich mit ihnen getroffen und sie – wie es im Jargon heißt – „abgeschöpft“. Vier dieser V-Männer kamen aus dem islamistischen und ei-ner aus dem rechten Bereich. Über diesen rech-ten V-Mann müssen Informationen über den NSU an Andreas T. geflossen sein, so dass er am Tag der Tat zum genauen Zeitpunkt im Internet- Café sein konnte. Er war zwar häufiger in die-sem Café, aber die exakte Uhrzeit ist auffäl-lig – ebenso, dass er vor dem Mord mit seinem V-Mann telefonierte, und zwar fünfzehn Minuten lang, was sie erst verschwiegen haben. Heute behaupten beide übereinstimmend, sie wüssten nicht, was sie damals beredet hätten. ~ Das ist das Traurige – man hat zu viele lose Enden. Eines der Auffälligsten ist die Schredderaktion beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Es gab zwei verschiedene Vernichtungswellen – einmal in der Zeit vor der Enttarnung des NSU am 4. 11. 2011. Die Akte von einem thüringischen V-Mann wurde bereits 2002 vernichtet . Es sind noch ganze drei Blätter davon erhalten. Er war hoch bei „Blood and Honour“ und kannte das Trio. Hat der damals mehr berichtet, als man wissen wollte? Die zweite Vernichtungswelle war nach der Enttarnung. Am 8.11.2011 wurde öffentlich, dass es so etwas wie den NSU gab, und am selben Abend wurden im Bundesamt meh-rere Akten über thüringische V-Männer vernich-tet. Die zeitliche Koinzidenz ist offensicht-lich. Die Beamtin, die das angeordnet hat, sollte eigentlich im Untersuchungsausschuss des Bundes vernommen werden. Aber sie war dann leider so krank, dass sie nicht nach Berlin konnte. Ausschussmitglieder haben sie an ih-rem Krankenbett befragt, in Anwesenheit ih-rer Vorgesetzten. Entschuldigung, aber das ist absurd. Da gibt es nur einen Schluss: in die-sen Akten standen Dinge, die nicht öffentlich werden sollten.

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Diskussion

BLacKBoX BrD – Der NSU und das Versagen der BehördenFreitag, 6. November ab 18 Uhr in der Jungen OperMit R. Andreasch und I. Mihalic (MdB),

Moderation: Bastian Pütter

Weit über 200 Prozesstage hat es im Münchner NSU-Prozess gegen Beate

Zschäpe und vier weitere Angeklagte bislang gegeben – und dennoch scheint

es so, als sei die Öffentlichkeit noch lange nicht aufgeklärt über die wahren

Ausmaße. Weder wissen wir genug über die Strukturen des NSU und die

vergleichbarerer Terror-Organisationen am rechten Rand, noch hat es

ausreichende Aufklärung über die Verstrickungen des Verfassungsschutzes

gegeben.

Aber was könnten Konsequenzen sein? Verfassungsschutz abschaffen, Polizei

reformieren? Das fragen sich unsere nächsten Gäste im Gespräch mit

Moderator Bastian Pütter (bodo e.V.) Irene Mihalic ist Mitglied des

Bundestages und Sprecherin für innere Sicherheit der Bundestagsfraktion

„Die Grünen“. Die ehemalige Polizistin in NRW fordert weitere Aufklärung

der Rolle des Verfassungsschutzes im NSU. Robert Andreasch ist Journalist,

Autor und Fotograf. Für die „antifaschistische Informations-, Dokumentations-

und Archivstelle München (a.i.d.a. e. V.)“ und die Initiative „NSU-Watch“

beobachtet er den laufenden ersten NSU-Prozess und hat noch keinen

Verhandlungstag verpasst.

→ Die Veranstaltungsreihe „Blackbox“ zu Themen der Migrationsgesellschaft und Terror vom rechten Rand wird kuratiert von Alexander Kerlin (Schauspiel) und Bastian Pütter (bodo e.V.). Sie unternimmt den Versuch, dem unüberschaubaren Komplex der Zuwanderung nach Deutschland Bilder, Geschichten und Haltungen abzuringen - auf der Suche nach diskursiven Waffen gegen jede Form der Radikalisierung.

Page 23: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

Ausstellung

weisse wÖLFe im Foyer des Schauspielhauses

Noch bis Ende des Jahres 2015 hängt im Foyer des

Schauspielhauses die Ausstellung WEISSE WÖLFE –

groß aufgezogene Bilder aus einer graphischen Reportage,

einem schockierenden Comic über rechten Terror in Dortmund

und die internationale Verflechtung der Szene.

Autoren des Buches sind Jan Feindt (Grafik) und David Schraven

(Recherche und Text) vom Berliner/Essener Recherchebüro CORRECT!V.

Zur Vernissage der Ausstellung am 15. April 2015 sprach der Dortmunder

Journalist, Autor und Fernsehproduzent Friedrich Küppersbusch.

Das MEGAZINE druckt vier Zitate aus seiner Rede noch einmal ab

(die komplette Rede finden Sie unter → blog.schauspieldortmund.de)

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„Journalisten können Leute ans Reden

bekommen, die mit der Polizei nicht sprechen“

Friedrich Küppersbusch zur Vernissage

Eine graphische Reportage über rechten Terror in Dortmund und die internationale Verflechtung der Szene.

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I „Gerade war Gedenkfeier in Buchenwald, 70 Jahre Befreiung. Angekündigt für Mai: Zehn Jahre ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas’. Es folgt der Kinostart von ‚Elser‘, der Hitler-Attentäter, lange als schrulliger Einzelgänger beiseite berich-tet. Nun doch als einsamer Held dargestellt. Dann geht das Licht wieder an, man wischt sich eben noch etwas Rührung aus den Augen, und der Sitznachbar tut das auch – und man guckt ihn sich an und denkt: Allerdings könnte der auch bei ‚Pegida’ sein. Denn drum herum ist Tröglitz, gestern zwei Brände mit bisher unbekannten Ursachen in Flüchtlings-heimen in Hamburg und Berlin. Geert Wilders pre-digte Montag islamfeindlich in Dresden. Dies Nebeneinander zeigt – wir sind ein Volk. Ein eher drolliges. Wir finden Nazis entschlossen und mutig abscheulich – wenn sie erstmal tot sind. Dummer- weise finden viele Nazis das auch doof, wenn Nazis tot sind. Das gemahnt an den NPD-Klassiker: ‚Es muss auch mal gut sein mit dem ganzen alten Scheiß. Wir haben schon tolle Ideen für neuen.’“

III „Ein prominenter Politiker fordert diese Woche: ‚Wenn ein Ereignis teureren Schutz verlangt, weil zum Beispiel besonders viele Hooligans erwartet werden, muss sich ein Verband finanziell beteiligen, statt den klammen öffentlichen Haushalt noch weiter zu belasten.’ (SZ vom 11.4.2015) (…) Also – für den Polizeieinsatz bei Hooligan-Demos einfach mal eine fette Rechnung schicken. Interessant. Leider habe ich diesen Vorschlag – Sie kennen das, Lügenpresse – um einen halben Satz gekürzt: Er stammt nämlich von Bremens Innensenator Ulrich Mäurer, SPD, und mit dem Verband, dem er ’ne Rechnung schicken will, meint er die ‚Deutsche Fußball-Liga‘. Und während wir auf die Gründung einer Selbsthilfegruppe aus ‚DFL‘ und ‚Die Rechte‘ warten, sind wir schon mitten in der tiefsten Hölle des Rechtsstaates. 2010 nämlich hieß es zu Vorschlägen aus der CDU, Demonstranten eine Rechnung zu schicken: ‚Das Vertrauen in die Vernunft der Regierenden schwindet. Mit Strafzahlungen lässt es sich mit Sicherheit nicht wiederherstellen. Wer meint, im 21. Jahrhundert mit wilhelminischen Metho-den gesellschaftliche Konflikte befrieden zu können, hat von moderner Demokratie nichts verstanden.’ Das stammt von der Homepage der Anti-Atom-Organisation ‚.ausgestrahlt‘, damals ging es um Blockaden bei Gorleben. Also – werden wir so vorgeführt? Bestreitet man, die Nazikohorten vor Augen, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Art. 8, Demonstrations- freiheit?“

IV „Vor fast genau 24 Jahren wurde ein bedeuten-der Dortmunder ermordet. Auch von Terroristen. Und doch ist es uns komplett unvorstellbar, dass zum Jahrestag des RAF-Mordes am Hoesch-Chef und späteren Treuhand- Vorsitzenden Detlev Karsten Rohwedder Sympathisanten der Mörder mit einer hasserfüllten Band und unverhoh-lenem Bezug auf den Jahrestag dieses Mordes – von der Polizei beschützt – durch unsere Stadt ziehen dürften. Doch eine solche Demo gab es. Am 28. März – die Geschichte von Thomas Schulz, genannt ‚Schmuddel’, wird in ‚Weisse Wölfe‘ auch gestreift.“

II „Hier kommt ein Buch, dessen Bilder sind schroff und kratzig, scharfkantig und beunruhigend, also, wenn es das gibt: grell schwarz-weiß. Und seine Geschichte, seine Story, ist noch ungemütlicher – sie ist nämlich gar keine Geschichte. Sondern Gegenwart und NON FICTION. (…) Die Recherche – so bestätigen auch die hiesigen Behörden – ist das Maximum des-sen, was zu dem Thema vorzulegen ist. ‚Journalisten können Leute ans Reden bekommen, die mit der Polizei nicht sprechen’, sagte mir ein beschlagener Dortmun-der Kripo-Beamter dazu.“

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Die graphische Reportage „Weisse Wölfe“ kann im Online-Shop von CORRECT!V erworben werden:

→ www.correctiv.org.

Entstanden ist die Ausstellung auf Vermittlung von Ruhrbarone.de, die zugleich als Medienpartner fungieren.

Page 24: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

#RamboDo

Regie: Klaus Gehre , Bühne: Klaus Gehre und Mai Gogishvili, Kostüme: Mai

Gogishvili, Musik/Sound: Michael Lohmann, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz

Eine DOGMA20_13 Produktion

Premiere

raMBo PLusMinus

ZeMentEin Live-Film von Klaus Gehre nach Heiner Müller,

David Morrell und Sylvester Stalloneab 7. Februar 2016 im Studio

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Ein Live-Film von Klaus Gehre nach Heiner Müller, David Morrell

und Sylvester Stallone Heiner Müllers „Zement“ (von 1972) und Stallones „Rambo“

von 1982 – Klaus Gehres zweite Dortmunder Theaterarbeit kombiniert die Geschichten zweier Kriegs-Heimkehrer:

USA, 1970er Jahre, kurz nach dem Vietnamkrieg. Als Ex-Elitesoldat John Rambo in die Kleinstadt Hope kommt, sieht der Sheriff in ihm nur einen verwahrlosten Landstreicher und misshandelt ihn; traumati-sche Erinnerungen aus Vietnam fluten Rambos Bewusstsein. Er befreit sich mit Gewalt, flieht in die nahen Wälder. Schnell stellt der Sheriff eine ganze Armee gegen ihn auf – Vertreter einer Weltmacht, die das Trauma des Krieges weiter verdrängen will.

Zeitsprung, Ortswechsel: Russland, 1920, am Ende des Bürgerkriegs, kurz nach der Russischen Revolution. Auch für Gleb Tschumalow ist der Krieg vorbei – aber nicht der Kampf. Denn bei seiner Rückkehr nach Hause muss der ehemalige Regimentskommissar feststellen, dass der Traum von einer besseren Welt, für den Millionen starben, krepiert: Keine Arbeit, das einstige Zementwerk liegt brach, und das, was die Genossen als neue Gesellschaft feiern, erlebt Tschumalew als blindwütiges Verwalten des Stillstandes, in den Trümmern aus Krieg und Revolution, jenseits jeder Utopie.

Drei Fragen an den Regisseur: Lieber Klaus Gehre, nach „MINORITY REPORT oder MÖRDER DER ZUKUNFT“ widmen Sie sich nun in Dortmund erneut einem großen Hollywood-Stoff – „Rambo“, dem Welterfolg mit Sylvester Stallone. Hollywood diesmal allerdings in Kombi- nation mit einem Theaterstück, „Zement“ vom großen Dramatiker Heiner Müller. Was fasziniert Sie an diesen beiden Geschichten, und wie entstand die Idee, sie für einen Theaterabend zu kombinieren? Für mich war Heiner Müller die Droge, über die ich ins The-ater gekommen bin. Das fing 1988 an. Da war ich noch bei der Nationalen Volksarmee. Offizier. Verpflichtet für 4 Jahre. Und da schob mir im Plattenladen eine Bekannte – es lief ja im-mer über Bekannte in Läden – eine Schallplatte in einer Tüte über die Theke. Und in meinem Kasernenzimmer habe ich die Tüte ausgepackt und vor mir lag: Heiner Müller liest Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“. Und da passierte was. Sei-ne Texte haben mir Wirklichkeit aufgeschlossen: „Ich stehe auf beiden Seiten der Front“ („Die Hamletmaschine“). Müller ist im besten Sinne Dramatiker. Er stellt unvereinbare Po-sitionen gegeneinander. Und er denkt über Utopie nach. Wie in „Zement“. Wenn du aus dem Osten kommst, ist das ein The-ma. Die ersten 20 Jahre in meinem Leben fanden in der großen Utopie-Blase „Sozialismus/Kommunismus“ statt. Dem Traum. Der plötzlich ins Trauma umschlägt. Und genau damit beschäftigt sich „Rambo“. Wie gehen wir mit dem Trauma um. Wie gehen wir mit denen um, die aus dem Krieg heimkehren.

★„Rambo“ und „Zement“ haben beide nicht nur einen Kriegsheimkehrer als Protago-nisten, sondern beleuchten beide auch ganze gesellschaftliche Epochen der beiden Welt-mächte, die sich im Kalten Krieg als Erzfeinde gegenüberstanden: „Rambo“ spielt in den USA, „Zement“ in Sowjetrussland. Ist „RAMBO plusminus ZEMENT“ auch eine Spurensuche in Kapitalismus und Sozialismus?

Auf jeden Fall. Der Sozialismus war ein großes Versprechen, das nicht eingelöst wurde. Und da stellt sich die Frage: Warum? Warum ist das Projekt gescheitert? Wo liegen Ur-sachen? Und vor dieser Fragestellung interessiert mich an Müllers „Zement“ ein Punkt: Wie gehen wir mit dem Anderen um, mit dem Feind, mit dem, was nicht reinpasst ins System? Das scheint für mich zentral zu sein, wenn man die Ur-sachen des Scheiterns der sozialistischen Utopie in den Blick kriegen will. Müllers vorsichtige Formulierung am Ende seines Stückes heißt: Wir müssen die Arbeitskraft der Feinde verwerten, sie für uns nutzbar machen. Ich würde das zuspitzen: Wir müssen die Feinde integrieren in das System. Ich weiß, das klingt heute nach zutiefst kapitalistischer Logik (und es ist auch interessant, dass der Kapitalismus die linksradikale Utopie von Müller aufgreift). Aber mich inter-essiert das Produktive an dieser Logik. Und das Menschliche. Und das meine ich nicht zynisch. Wenn ich mir die beiden

deutschen Staaten anschaue – jeweils als Brenngläser der beiden Systeme, die sich bis zum Mauerfall gegen-überstanden –, dann sehe ich ein eklatantes Ausein-anderdriften ab 1968. Nicht umsonst steht 68 auf der einen Seite für die Hippies, Peace, eine beginnende neue Ära mit Umweltschutz, etc. Und auf der anderen Seite ist 68 ein Symbol für die Panzer, die durch Prag rollen. Ab diesem Moment bewegen sich beide deut-

schen Staaten fundamental auseinander: Die Bundesrepublik schafft es – ungeachtet aller harten, auch repressiven Aus- einandersetzungen –, Bewegungen wie die RAF oder die Grünen zu integrieren. Im Osten gilt das pure Dogma der Repression und des Ausschaltens. Aber Dinge lassen sich nicht ausschal-ten. Und da kommt „Rambo“ ins Spiel: Der Film ist für mich eine ungemein kluge Reflexion über den Vietnam-Krieg und den Umgang mit diesem gesellschaftlichen Trauma. Wenn du das Trauma nicht zulässt, dann wird es dich irgendwann überrol-len. Ganz Freud-mäßig: Irgendwann geht irgendwo der Gulli-deckel auf – und meist an Stellen, wo du es nicht erwartest –, und die Scheiße kommt hoch. Da kannst du noch so viel Repression ausüben. Es wird passieren, früher oder später.

★ Ihre Dortmunder Inszenierung MINORITY REPORT wurde gerade vom Dortmunder Publikum zur besten Inszenierung in der Spielzeit 2014/2015 gekürt – Sie sind dafür bekannt, große epochale Filmstoffe auf wundersame Art auf der Theaterbühne zum Fliegen zu bringen – zusammen mit den Schauspielern und Ihrem Team entwickeln Sie Zauberwelten aus vielen handgefertigten kleinen Miniaturen, die, live im Spiel mit den Schauspielern und per Kamera vergrößert, sogar, wie in MINORITY REPORT, ganze Realzeit-Auto-Verfolgungsjagden im Theater möglich machen – können Sie uns schon verraten, welche spektakuläre Szene aus „Rambo“ wir vielleicht ab Februar 2016 im Studio sehen werden? Oder muss das noch geheim bleiben? Diese Sachen entstehen ja meist durch die Mischung aus explodierendem kindlichem Spaß an solchen archetypischen Szenen wie Verfolgungsfahrten, die durch Hollywood-Bilder getriggert sind, und einem gezielten Interesse an der Ausei-nandersetzung mit bestimmten inhaltlichen Themen. In Bezug auf „RAMBO plusminus ZEMENT“ gilt gerade: Mich interessie-ren drei Dinge: Wie kriegt man Krieg erzählt – als Grund-voraussetzung –, damit das, womit die Protagonisten danach konfrontiert sind, überhaupt verstehbar wird. Wie kriegt man das Trauma erzählt, in dem sie – wie in einer Zwangsjacke – gefangen sind. Und: Gibt es Visionen oder Lösungsansätze, die für uns interessant sein könnten. Auch in dem Bewusstsein, dass die eigentlichen Fallstricke in den Märchen liegen, die man sich schnell erzählt, um sich als guter Mensch zu fühlen

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Uraufführung/Premiere

Die LieBe in Zeiten Der gLasFaser

Ein Stück Skype von Ed Hauswirth ab 12. Februar 2016

im MEGASTORE

Regie und Text: Ed Hauswirth, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitch, Kostüme: Mona Ulrich, Dramaturgie: Alexander Kerlin

#GlasfaserDo

Das ist das Werbe-Motto des kostenlosen Chat-Dienst-leisters Skype, der es Google nachgetan hat und es bis hin zum Zeitwort im täglichen Sprachgebrauch gebracht hat: skypen. In nur 8 Jahren ist das Unternehmen vom Start-Up (2003) zu einem weltweit operierenden Unternehmen gewachsen, das dem Computer-Giganten Microsoft 2011 stolze 8,5 Milliarden Dollar wert war. Eine Revolution der Telefonie: kostenlos, mit zahlreichen Funktionen und vor allem der Möglichkeit, sich im Gespräch auch über Ozeane hinweg in die digitalen Augen zu schmachten – und mehr… !

Ein ideales Medium ist Skype also für uns Bewohner der Digitalen Moderne, für die Leistungsgesellschaft, denen Mobilität und Flexibilität längst zur zweiten Natur gewor-den sind. Nie waren Fernbeziehungen selbstverständlicher als heute, nie war es normaler, für einen Job um die halbe Welt zu fliegen (jedenfalls für die Wohlhabenden), nie gab es mehr Menschen, die ihren Wohnsitz und Arbeitsplatz an unterschiedlichen Orten hatten, nie gab es mehr Liebes- paare, die dauerhaft weit voneinander getrennt lebten. Nach Feierabend oder vor Arbeitsbeginn wird dann eben der Laptop aufgeklappt. Wir holen uns ran, was uns fehlt. Schon ist der geliebte Mensch auf dem Schirm. „Schön Dich zu sehen. Was machst Du? Kannst du mich FÜHLEN? Vermisst du mich so, wie ich Dich?“

Aber taugt Skype auch dazu, dass zwei Menschen miteinander erleben, was der Soziologe Helmut Rosa als „Resonanz-Beziehung“ bezeichnet? Resonanz entsteht dann zwischen einem Ich und der Welt außerhalb von ihm, wenn ein lebendiges Wechselspiel aus Input und Output ganz wie von selbst entsteht – wenn eben etwas „da draußen“ beginnt, mit mir für die Dauer eines gelin-genden Lebensmoments zu schwingen. Wenn etwas in mir fragt und tatsächlich Antwort erhält. Wenn dieses etwas auch tatsächlich antwortet, wenn von außen etwas fragt.

Das muss dann Liebe sein. Jauchzen, Lachen und Jubel der Seele. Aber Moment mal – hört da etwa jemand mit? Wer lauscht da unserer Intimität? Zweisamkeit ist doch für zwei gedacht – und nicht für zwei und noch wen. Oder? Kurt Sauer, Leiter der Sicherheitsabteilung von Skype, auf die Frage, ob Skype die Gespräche abhören könne, auswei-chend: „Wir stellen eine sichere Kommunikationsmöglich-keit zur Verfügung. Ich werde Ihnen nicht sagen, ob wir dabei zuhören können, oder nicht.“ (Quelle: Wikipedia)

*------

~*------Ich bin bei Dir, Du seist auch noch so ferne,

Du bist mir nah! Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.

Oh wärst Du da! (Goethe)~

Vier Menschen: zwei Frauen, zwei Männer. Hier und dort. Irgendwo. Liebende, aber weit voneinander entfernt, räumlich voneinander getrennt. Ach, seht hin, wie die Sehnsucht ihre Seelen verzehrt. Aber in Zeiten der Glasfaser wissen wir: In weiter Ferne, das ist doch so nah! Denn: „Mit Skype bleibt die Welt im Gespräch.“~

→ DIE LIEBE IN ZEITEN DER GLASFASER ist eine Stückentwicklung für den MEGASTORE von Ed Hauswirth und vier Schauspielern des Schauspiel Dortmund. Ed Hauswirth ist Regisseur, Schauspieler und Künstlerischer Leiter vom „Theater im Bahnhof“ in Graz, Österreich. Bekannt wurde er insbesondere für seine Stückentwicklungen, die meist auf umfangreichen Recherchen zu einem bestimmten Thema und auf Gesprächen mit den Schauspielern beruhen – zuletzt die Komödie „Rechts der Mitte“, für die er u. a. mit Österreichischen Rechtspopulisten Interviews führte. DIE LIEBE IN ZEITEN DER GLASFASER ist Ed Hauswirths erste Regiearbeit am Schauspiel Dortmund.

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Premiere

geächtet (DisgraceD)

von Ayad Akhtarab 6. Februar 2016

im MEGASTORE #DisgracedDo

Konferenz des medienwerk.nrw

›EVERY STEP YOU TAKE‹KUNST UND GESELLSCHAFT IM DATENZEITALTER

Die internationale Konferenz beschäftigt sich mit den Utopien und Dystopien, die sich mit BIG DATA verbinden

(d. h. mit den neuen Technologien der automatisierten Sammlung, Speicherung und Auswertung enormer Datenmengen). Die öffentlichen Debatten über Überwachung, Transparenz und Datenschutz, aber auch das individuelle Nutzer-

verhalten im sozialen Netz sind von einer tiefgreifenden Ambivalenz geprägt: Die Versprechen und Verlockungen des technologischen Fortschritts – Sicherheit, Berechenbarkeit, Optimierung, Komfort – gehen mit gesellschaftlichen

wie privaten Konsequenzen und Gefahren einher, die in ihrer Komplexität oft unüberschaubar und abstrakt bleiben. Das Konferenzprogramm umfasst neben Vorträgen, Panels und Künstlergesprächen ein Filmprogramm, eine

Aufführung des Live-Films „Minority Report oder Mörder der Zukunft“ (R: Klaus Gehre) am Schauspiel Dortmund, eine Lesung mit Leif Randt („Planet Magnon“) sowie eine Maker-Lounge

mit Workshops z.B. zu E-Mail-Verschlüsselung im Foyer des Dortmunder U.

↓12./13. November 2015: Dortmunder U (Kino im U & Foyer)

14. November 2015: Schauspiel Dortmund, Institut, 11.00 - 18.00 UHR 15. November 2015: Schauspiel Dortmund , Institut, 12.00 - 18.30 UHR

DER EINTRITT IST FREIwww.medienwerk-nrw.de

next level conference 2015 ›TOTAL VIEW BETA‹

EINE CROSSMEDIALE INSTALLATION ZUM PANOPTISCHEN SEHEN

Vater, Mutter, Sohn und Hase. Eine Familie. Vier Wesen beim Abendbrot selig vereint. Es gibt Leber mit Speck, Weißkohlmatsch und Salzkartoffeln. Lecker eigentlich. Aber was ist da plötzlich los?

Sohnemann mag keine Leber! Vater ist außer sich, Mutter greift mit harter Disziplin durch: „Du bleibst sitzen, bis Dein Teller leer ist.“ Und Hase macht nur Quatsch. Abgrundtiefer Leber-Ekel trifft auf verletztes Ego, rohe Wut

und animalische Anarchie: Ein sich über drei Stunden aufschaukelndes Untergangsszenario bei dem nichts weniger auf dem Spiel steht als die Zukunft der Kernfamilie selbst.

Und Sie, der Zuschauer, die Zuschauerin, sehen dabei zu – aus der Perspektive der Weißkohlschüssel. Vier rotierende Kameras übertragen den Familientwist aus der Mitte des Tischs in einen 360°-Überwachungsraum, in dem Sie sich befinden. Werden Sie es schaffen, durch bloßes Zusehen dem Sohnemann die nötige Disziplin zum

Aufessen der Leber einzutrichtern?>TOTAL VIEW BETA< ist eine mediale Versuchsanordnung für vier SchauspielerInnen als Entwurf für ein Theater

der totalen Überwachung – eine Vorstufe, eine Beta-Version zur kommenden Inszenierung „Geächtet (Disgraced)“ von Ayad Akhtar.

von Kay Voges und Alexander Kerlin Realisation: Lucas Pleß, Mario Simon, Sybille Stuck,

Mona Ulrich und Ensemble

↓ 3./4. Dezember 2015 im Dortmunder U

www.nextlevel-conference.org

Installation bei dernext level conference 2015 

 Das Schauspiel Dortmund beteiligt sich in diesem Jahr mit einer

multimedialen Theaterinstallation an der Dortmunder Festivalkonferenz „next level“ rund um Kunst und Kultur der digitalen Spiele.

An beiden Festivaltagen wird die Installation erlebbar sein, eine 360° Video-Performance mit dem Arbeitstitel „Dinner/Abendbrot“.

Wo treffen sich Game, Theater und Augmented Reality? Mehr unter www.nextlevel-conference.org. 

→3./4. Dezember im Dortmunder U

 

New York.

EIN APPARTMENT IN DER UPPER EAST SIDE. Emily und ihr Mann Amir haben seine Kollegin

Jory und deren Mann Isaac zum Dinner eingeladen. Alle vier sind gebildet, wortgewandt, geben sich

aufgeklärt und kultiviert; ausnahmslos Umstände, die – ihr überproportionales Einkommen eingerechnet –

einen Konflikt um Religion unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Doch der Firnis ist dünn: Hinter den vier schimmern-den Biographien stecken verschiedene Geschichten vom Ankommen in einer Einwanderungs-Gesellschaft, die den Aufstieg eines Jeden gegen Leistung verspricht. Da ist Amir, erfolgreicher Anwalt für Wirtschafts-recht, der sich als pakistanischstämmiger Muslim von seiner Religion losgesagt hat. Seine Frau Emily, weiß und protestantisch, ist eine von islamischer Kunst inspirierte Malerin und steht kurz vor dem Durchbruch – den sie Isaac, einem der wichtigsten Kuratoren der New Yorker Kunst-Szene, verdanken könnte. Isaac ist amerikanischer Jude und mit Jory, einer afro- amerikanischen Juristin und Kollegin von Amir verheiratet. Berufliches und Privates vermengen sich bei Salat und Brot und Wein – bis die Rede auf 9/11 kommt und von dort auf den Islam und Religion, spä-ter Iran und Israel, Ahmadinedschad und Netanjahu, Migration und Terrorismus. Themen, die den Figuren alle-samt Bekenntnisse abfordern und Streit über vergessen geglaubte oder versteckte Ressentiments entfachen. Am Ende, wie in jedem guten Boulevard-Stück, ist nichts mehr wie es war...Ayad Akhtar hat ein Stück geschrieben über die Macht von Religion und ethnischer Zugehörigkeit – und ihrer prägenden Kraft in uns. „Disgraced“, 2013 mit dem re-nommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet, stellt die Frage nach der Überwindbarkeit religiöser Gegensätze – ein bewegendes Stück Gegenwartsdramatik, komisch und tragisch zugleich, voll geschliffener Dialoge und einer feinen, bösen Ironie.

↓ Ayad Akhtar, geboren 1970 in New York, wuchs als Sohn pakistanischer

Einwanderer in Wisconsin auf und studierte Schauspiel und Regie in den USA und Italien. Akhtar schreibt für Theater, Film und Fernsehen. Sein erster Roman

erschien 2012 – in „Himmelsstürmer“ schildert er die Suche einer ganzen Generati-on junger gläubiger Muslime nach einem richtigen Leben in der westlichen Welt.

Mit seinem 2012 in Chicago uraufgeführten Theaterstück „Geächtet“ gewann er 2013 den Pulitzer-Preis.

★Regie: Kay Voges,

Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Videoart: Mario Simon, Musik: T.D. Finck von Finckenstein,

Dramaturgie: Michael Eickhoff

sPeciaLs

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Caroline Hanke

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Ein Kind wird geboren. Ein Schiff mit Geflüchteten versinkt im Mittelmeer, und du bist zum Abendessen eingeladen.

Über Twitter wird vermeldet: Enthauptung in Syrien, in Ungarn ist der Stacheldraht fertig, die Grenzpolizei setzt Wasserwerfer ein gegen den Ansturm der Verzweifelten. Die Steuererklärung ist fer-tig. Peter will heiraten, Urs zum IS, und aus dem Radio dröhnt das Versprechen von Sonne und Abenteuer: Kreuzfahrt in der Adria. Ein Thalys-Zug wird evakuiert. Terrorgefahr. Radiotalk zur Angst vor Flüchtlingen. Der erlösende Führungstreffer in der Nachspiel-zeit, ein Sonntagsschuss. Frau Dingsbums von nebenan hat Krebs, in der Ukraine wird geplündert, in Florida schneit es. Meine Freundin hat sich von ihrem Mann getrennt. Facebook präsentiert seine neue Selfie-App für unterwegs. Die Kanzlerin besucht ein Flüchtlings-heim. Der Nachbar erklärt, dass eigentlich alles ganz anders ist, als in den Medien dargestellt. Auf Dortmunds Hoher Straße stehen Hooligans mit Hitlergruß und provozieren die Ultras. Heidi Klum startet die neue Staffel von „Germany’s Next Topmodel“, und an Europas Grenzen biegen sich die Stahlzäune im Sturm.Bewegte Zeit. Es geschieht in diesen Tagen der Krisen mehr als früher – und hinzukommt, dass auch noch alles von sich reden machen möchte: Im Digitalzeitalter wird unser Jetzt und Hier von einer Flut von Informationen überschwemmt, die sich gegen-seitig unterbrechen und oft auch widersprechen. Nichts ist ohne Ambivalenz, was schwer zu ertragen ist. Besonders, wenn man in

~Eine Prozession von 25 Schauspielern und Schauspielerinnen. Eine Mauer. Und ein Kameraauge, das diese Mauer umkreist – das sind die Zutaten für „Die Borderline Prozession“, eine Performance, ein Spektakel, eine Meditation, eine Belagerung, eine große Liturgie über die Widersprüche und Ängste unserer Zeit. Mit „Die Borderline Prozession“ führen die Macher von „DAS GOLDENE ZEITALTER – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ (2014) und „DIE SHOW – Ein Millionenspiel um Leben und Tod“ (2015) ihre Suche nach neuen Erzählweisen für die Digitale Moderne fort: Eine Prozession um unsere Barrieren und Grenzen, durch unsere Feste und unsere Kriege, von hier nach da und wieder zurück, vorbei an Leben und Tod.

Jetzt.

einer ‚geordneteren‘ Epoche aufgewachsen ist. Der Medienwissenschaftler Douglas Rushkoff hat das als „Gegenwartsschock“ bezeichnet: wenn alles JETZT passiert. Zurück bleiben wir, rastlos und gierig nach Informationen und dabei unfähig, sie alle zu behal-ten – den Blick jederzeit und überall auf die Displays gerichtet: orientierungslos und hoffnungslos überfor-dert von all der GLEICHZEITIGKEIT!Wie gehen wir damit um? Verdrängung oder Radikali-sierung? Komplexität akzeptieren oder die Welt wie-der einteilen in Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, wir und die anderen? Das wäre noch das Bequemste. Oder Computer aus und Rückzug in die eigenen vier Wände? Oder bewaffnen, in den Nahen Osten gehen?

Uraufführung/Premiere

Die BorDerline ProzessionEin Loop um das, was uns trennt von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin ab 8. April 2016 im MEGASTORE

Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Director of Photography:

Voxi Bärenklau, Video: Mario Simon, Musik: Tommy Finke, Dramaturgie: Dirk Baumann, Alexander Kerlin.

In Kooperation mit dem Studiengang Schauspiel der Folkwang Universität der Künste

#ProzessionDo

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Frank Genser

Von Alexander KerlinWollen wir in den Theatern eine Stunde Null ausrufen? Matthias Weigels Vorschlag, das Image der Theater mit „Pools und Party“ zu neutralisieren, ist vermutlich augenzwinkernd gemeint – und doch legt er dem Theater nahe, sich von einem bestimmten Strang seiner Geschichte zu trennen, zumindest zu dis-tanzieren. Dieser Strang betrifft, wenn ich das richtig verstehe, in erster Linie die sogenannten Klassiker: die großen Erzählungen, die großen und kleineren Würfe seit dem 16. (England), 17. (Frankreich) und 18. Jahrhundert (Deutschland) sowie die Tragödien der griechischen Antike. Weigels Vorschlag kommt vermutlich nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, an dem unser Vorrat an Vergangenheit ohnehin merklich schwindet – eine der unzäh-ligen Folgen der Digitalen Revolution. Im Netz erreichen uns die Botschaf-ten unabhängig von ihrer objektiven Relevanz in Permanenz, Überfülle und Echtzeit. Daher meine erste These: Die „Klassiker“ sind unentbehrlich als Munitionslager, um sich gegen den von Apple, Google, Facebook, Twitter und Amazon orchestrierten Angriff des Jetzt auf unsere Leben zu wehren.

Andererseits hat Weigel recht, wenn er implizit in Zweifel zieht, dass uns die „Klassiker“ überhaupt noch ohne Umwege „etwas sagen“. Jeder sensible Be-wohner des 21. Jahrhunderts wird das im Theater schon gespürt haben, wenn er vor Langeweile in seinem roten Sessel eingenickt ist oder sich einfach nur gefragt hat, was das auf der Bühne alles mit seinem Leben zu tun haben soll. Das wäre die zweite These, die ebenfalls als eine Folge der Digitalisierung beschrieben werden kann und die schon vielfach artikuliert wurde: Das Inter-net hat die Macht des (bürgerlichen) Kanons längst gebrochen.

Um diesen Widerspruch soll es im Folgenden gehen: Wir können die Klassiker nicht mehr gebrauchen, aber wir brauchen sie. Was machen wir also mit ihnen?Die Idee des zu löschenden Images und die Sehnsucht nach „neutralen Gefühlen“ (Weigel), auch wenn sie sich im Dienst einer guten Sache wähnen („durch-mischtes Publikum“), sind problematisch. In der Forderung einer Stunde Null lässt sich so etwas wie die ideologische Rückseite des „Regimes der alten Texte“, wie Weigel das nennt, erahnen. Es gibt in diesem Modell, wenn man es zu Ende denkt, entweder die Herrschaft der alten Texte oder ihre Abschaffung. Weigels Essay ist in sich widersprüchlicher inszeniert, aber die Idee der endgültigen „Säuberung“ der Theater-Gegenwart von ihrer Geschichte ist doch nur einen Denkschritt entfernt – was umso mehr ins Auge fällt, da die unun-terbrochene Feier des Jetzt sich in den letzten Jahren zu einem regelrechten Signum der digitalen Epoche entwickelt hat. Es liegt nahe, aufzuräumen. Der Autor Douglas Rushkoff hat in diesem Zusammenhang den Begriff des „Present Shock“ geprägt, der die Menschen paralysiert und in ständiger Alarmbereit-schaft über ihren Displays hält. Wenn nämlich „alles jetzt passiert“ und ungefiltert in Echtzeit verfügbar ist: Weltpolitik, Urlaubsfotos der Nach-barn, Bundesliga, Enthauptungsvideos, Probeneinblicke auf Theaterblogs, die Ankunft von Flüchtlingen, die Nazi- und die Gegendemo, Freundschaftsanfragen und sexuelle Versprechen. Was dabei sukzessive verlorengeht, ist ein Vorrat an Vergangenheit (das Andere des Jetzt), aus dem heraus überhaupt erst jene Begriffe und Denkfiguren zu uns aufsteigen können, mit denen wir den Gegen-wartsschock bemerken und als Mechanismus der Kontrolle von Menschen und Sys-temen beschreiben könnten.

Ein Theater wie eine CloudDie Digitale Revolution kommt in Weigels Essay nur am Rande zur Sprache. Das ist auffällig, weil sich sein visionärer Entwurf des Theaters in erster Linie Denk- und Wahrnehmungsweisen verdankt, die sich (obwohl prinzipiell älter als das Internet) überhaupt erst im täglichen Umgang mit dem Netz voll entfalten. Inszenierungen, Spielzeiten, quasi die gesamte Bespielung der Architektur eines Stadttheaters sollen rhizomatisch, wie eine Cloud um Themen, Ideen, ja sogar um „eine Bewe-gung, ein Gefühl“ herum wuchern, wie bei einem Spaziergang durch das Netz – in der kollektiven Arbeit multitasking- und crossmedia-fähiger Subjekte. Um Miss-verständnissen vorzubeugen: Dieser Vision gilt prinzipiell meine Sympathie. Der Versuch ihrer Realisierung ist meine tägliche Arbeit als Dramaturg. Ich begegne

Was ist da eigentlich los? Kritiker und erfahrene Zuschauer scheinen gleichermaßen ver-wirrt. Was stellen viele Stadttheater seit ca. zwei Jahr-zehnten mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten an, mit ihrer Tradition – die doch 2500 Jahre zurückreicht bis in die alten griechischen Theater von Epidaurus und Athen? Ist die Identität Europas nicht auch die Summe seiner kultu-rellen Leistungen? Gehen die Theatermacher zu leichtfertig mit ihrem Erbe um, wie konservative Kritiker anmahnen? Grassiert zwischen Avantgarde-Performance, Digitalisierung und Popkultur eine nie da gewesene Geschichtslosigkeit? Setzt sich an den Stadttheatern eine neoliberale Event-Kultur durch? Auf der anderen Seite der Front: Entsetzen darüber, wie resistent sich die Stadttheater angeblich immer noch gegenüber jeder Neuerung zeigen. Die Dramaturgin Sabine Reich kürzlich auf dem Internetportal Nachtkritik: „Das Stadttheater muss entrümpeln und Ballast abwerfen.“ Damit schlägt sie in eine ähnliche Kerbe wie der Kritiker Matthias Weigel, der in seinem Essay „Reißt die Mauern der Tradition ein!“ (erschienen am 8. Oktober 2014 auf Nachtkritik) vorschlug, an den Theatern „eine Stunde Null auszurufen“, um endlich ein Gegenwartstheater zu erfinden, das den Namen auch verdient. Also was jetzt: Die Geschichte wie lästigen Ballast abwerfen? Oder mehr Traditions-bewusstsein?

Der Konflikt kann nicht verstanden werden, wenn man nicht die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung in das Urteil einbezieht. In seinem Plädoyer für ein differenzierteres Geschichtsbewusstsein findet unser Dramaturg Alexander Kerlin eine ausführliche Antwort auf den Kritiker Weigel:

„Der Bauschutt der Moderne“ (zuerst erschienen am 16. Oktober 2014 auf Nachtkritik).

essAY

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Friederike Tiefenbacher

dabei nicht nur Regisseuren, Schauspielern und Dramatikern, sondern mit der glei-chen Selbstverständlichkeit Programmierern, Street-Artists, Aktivisten, Freien Gruppen, Medienkünstlern, Tüftlern und Freaks; Wissenschaftlern, Performern, Filmemachern, Bloggern, Raumgestaltern, Musikern und sogenannte „Laien“ jeden Alters. Die Bretterbühne ist für mich nur eine der Bühnen, die Theatermacher in Zukunft bespielen werden. Das Netz, die klassischen Verbreitungsmedien und der öffentliche Raum sollten zu gleichberechtigten Bühnen werden für das Spiel mit Fiktion, Realität und all den Graustufen dazwischen. An solchen Ideen arbeiten wir in Dortmund, wenn wir z. B. mit Aktivisten wie dem „Peng! Collective“ kooperieren. Ein zeitgemäßes Theater braucht keine Polemik, die einfach nur die Säuberung des Theaters von seiner Geschichte zugunsten einer Überfülle von Gegenwart (Weigel: „Ukraine, Syrien und Gaza“) fordert. Wir sollten viel mehr Spaß daran entwickeln, die Episteme der Zeit zu denken und in unsere Analyse aufzunehmen. Wie hat sich mit der Digitalisierung unser Wahrnehmen verändert? Wie speichern und produzieren wir Wissen? Wie ordnen wir die Dinge? Das Medium ist noch immer die eigentliche Nachricht. Mindestens ebenso wichtig für das Theater wie die schiere Existenz der gegenwärtigen Kriege und Konflikte ist die Art, wie sie uns medial vermittelt werden, wie die journalistische Erzäh-lung selbst vom veränderten Medium her aufgesprengt wird und mit ihr die ganze innere Ausrichtung und Selbsterzählung der Subjekte. Der Soziologe Dirk Baecker hat 2008 in seinem Buch „Studien zur nächsten Gesellschaft“ den Epochenumbruch, den der Siegeszug von Computer und Netz ausgelöst hat, in eine Reihe gestellt mit den Umbrüchen, die einst durch die Erfindung von Sprache, Schrift und Buchdruck katalysiert wurden. Alles hat sich verändert in den letzten zwanzig Jahren. In dem Maße, wie Menschen und Institutionen im Zuge der Digitalisierung von ihrer modernen und postmodernen Geschichte abgeschnitten werden, abdriften, sich abheben, ent-wirft sich die „nächste Gesellschaft“ als im Fundament erschüttert, als im Denken, Fühlen, Arbeiten und Wahrnehmen nachhaltig verändert.

Hunger nach Denk- und LebensalternativenBei dem Umbruch zur nächsten Gesellschaft handelt es sich nicht einfach um eine Diskontinuität auf der Zeitachse, sondern um die Infragestellung der Achse selbst als plausible Versinnbildlichung von Zeit. Im Netz wird eher die Gleichzeitigkeit von Ereignissen vermittelt als ihre sukzessive Abfolge im Schema von Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft, eher ihre Ausbreitung in einer Horizontalen als ihr Versinken in der Tiefe des Brunnens der Geschichte. Das Netz ist kein Ort, an dem fünfaktige Dramen entstehen. Das heißt nicht, dass das Modell der Zeitachse ganz verschwinden wird. Heute stehen unterschiedliche Vorstellungen und Regime von Zeit miteinander in Konflikt.Der Blick „zurück“ ins alte Jahrhundert scheint u. a. dadurch zunehmend verstellt zu sein. Es wird schwieriger, unmittelbar zu verstehen, was die Menschen vor der Digitalisierung umgetrieben hat, was sie mit ihren Erzählungen und auch den Nicht-Erzählungen wollten, wie sie Sinn und Unsinn produzierten und konsumierten. Es scheint häufig so zu sein, dass der unmittelbare Zugang fehlt.

Unter den schweren Schritten der Schauspieler klingt das Ächzen der Bretterbühne mitunter wie das Echo einer untergegangenen Epoche und nicht wie ein möglicher Soundtrack für unsere heutigen Leben, der uns ernsthaft Orientierung in der Über-forderung verschaffen könnte. Die Bretterbühne mit dem Parkett davor reicht nicht mehr aus, angesichts der Katastrophen unserer Gegenwart den Hunger nach Denk- und Lebensalternativen, nach charakterbildenden Kunsterlebnissen und einer wirklichen Gegenöffentlichkeit zu stillen. Die „Gesellschaft“, jedenfalls der Teil von ihr, der ins Theater geht, ist tiefenliberalisiert, hedonistisch und übersättigt von Tabu-brüchen. Es ist fast unmöglich geworden, von der Bühne aus ein Publikum wirklich zu erschüttern, womit der Bühne ihre spitzesten Zähne gezogen wären. Das ist der Grund für die verbreitete Ansicht, die wahre Subversion heute sei die Stille, die Abgeschiedenheit oder sogar die Langeweile.

In einem entscheidenden Punkt trifft Weigel mit seiner Analyse den Nagel auf den Kopf. Immer eindeutiger wird die Vermutung, dass uns die so lange so gut über die Rampe gehenden Stücke von Shakespeare, Molière, Lessing und Schiller, Brecht, Beckett und Bernhard, nacherzählt und nachgespielt in einer der vielfältigen Variationen der Guckkastenbühne, nicht mehr viel über uns und die grundsätzli-chen Problemlagen der digitalen Epoche zu sagen vermögen – je „frecher“ oder „jugendlicher“ eine Inszenierung daherkommt, desto weniger. Das sagt nichts über die Qualität der Texte aus (sie sind ganz im Gegenteil großartig, und wir müssen sie immer wieder lesen), sondern über das spezifische Problem, das eben dann entsteht, wenn diese Texte aus Jahrhunderte alter Routine (irgendwas muss ja immer auf den Spielplan) in die Architektur der Guckkastenbühne geraten und sich dort als reine Gegenwart ausgeben. Das kaufen die Menschen dem Theater einfach nicht mehr ab. Sicher, diese Texte haben uns mit zu dem gemacht, was wir sind – was aber etwas gänzlich anderes heißen dürfte als: sie sind, was wir sind.

Das Ende des bürgerlichen KanonsWeigel schreibt richtig: „In jeder noch so alten Geschichte mag vielleicht ein Punkt stecken, den man zur Metapher für heutige Zustände erklären kann.“ Aber wer gibt sich heute noch mit Metaphern zufrieden? Es ist eine Denkfaulheit der Theater-macher, und zugleich eine Beleidigung des Verstandes ihres Publikums, zu meinen, man könnte die Machtfrage im 21. Jahrhundert mir nichts dir nichts mit Hilfe einer Königsgeschichte aus dem Barock ausleuchten, einfach in dem man sie nacherzählt. Das versteht kein Mensch. Die Probleme ähneln sich nicht einmal aus der Ferne. Königin Elisabeth ist nicht dasselbe wie Angela Merkel. Die Berufung auf „Arche- typen“, auf „zeitlose, menschliche Konflikttypen“ ist das ewige Mantra dieser Denkfaulheit. René Pollesch hat schon vor längerer Zeit die Frage aufgeworfen, warum man sich im Theater ständig Stücke ansehen müsse, um dann hinterher im Programmheft nachzulesen, was man eigentlich gesehen hat, um welche Probleme und Konflikte es eigentlich ging – anstatt dass man direkt die Programmhefttexte als Sprech- und Szenenmaterial auf die Bühne bringt.

Hier wird noch mal der entscheidende Widerspruch anschaulich, der die Theater- macher und ihre Kritiker ernsthaft beschäftigen sollte: Erstens können uns die Klassiker immer weniger sagen. Das Ende des bildungsbürgerlichen Kanons ist schon eingeleitet, das Internet hat seine Macht gebrochen. Da hilft kein Lamentieren. Zweitens ist das Signum des Digitalen Zeitalters ein Fetisch des Jetzt, der eine nie gekannte Verdrängung der Vergangenheit in Gang gesetzt hat. Wenn nicht die ganze Gülle und der Schlamm des letzten Jahrhunderts aus den Gullideckeln hochkommen und uns ernsthaft in Gefahr bringen sollen, müssen wir uns fragen, wie wir die Kultur-Vererbung über den Epochenbruch der Digitalen Revolution hinweg aktiver gestalten wollen. In Gustav Mahlers berühmtem Satz „Tradition ist nicht die An-betung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“ steckt immerhin das Wort „Weitergabe“. Tabula Rasa zu machen, die Geschichte des Theaters als Institution buchstäblich zu „neutralisieren“, eine Stunde Null auszurufen, weil einem der Schmonz nicht mehr lieb ist, weil man mit der eigenen Geschichte nichts mehr zu tun haben will und mit ihr angeblich alle Neuankömmlinge verschreckt, die kei-ne Geschichte mögen oder eine andere Geschichte haben oder eigentlich ohnehin lieber feiern gehen, ist vor diesem Hintergrund keine gute Idee. Nicht nur, weil das Verdrängte sowieso immer zurückkehrt, mit einem schauderhaften Grinsen, sondern auch, weil wir den Materialberg, den die Moderne (inklusive ihrer von Bewunde-rung getragenen Vermittlung der Antike) für uns aufgetürmt und hinterlassen hat, dringend benötigen: als gigantischen Steinbruch des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Handelns. Die neue Kunstfreiheit besteht darin, mit Hilfe dieses Bauschutts der Moderne und der Postmoderne auf Zeit bewohnbare Häuser in die Landschaften der „Nächsten Gesellschaft“ zu setzen, über denen sich gerade erst der Nebel zu verziehen beginnt.

Wir sollten die alten Texte festhalten, indem wir sie loslassen. Als Erstes wünsche ich sie mir runter von ihren Sockeln und aus den Händen der Tugendwächter (Bil-dungsbürger, zweitklassige Altphilologen und Germanisten, ganz allgemein Leute mit romantischen Erinnerungen an ihre erste „Faust“-Lektüre). Sie sollten emanzipiert werden von den Weihen der Geniekult-Priester (Erben und Verleger) und der Demut ihrer ängstlichen Ministranten (Dramaturgen). Tennessee Williams z. B. hat zwei-felsohne gute Stücke geschrieben, die zu ihrer Zeit bahnbrechend gewesen sind und für ihre Nachfolger in Theater und Kino wegweisend. Keines der Stücke jedoch kann es heute mit der erzählerischen Qualität von TV-Serien wie „The Wire“, „House of Cards“ oder „Breaking Bad“ aufnehmen. Wie kann es also sein, dass die deutschen Rechte-Vertreter der Erbengemeinschaft um seine Stücke ein Bohai veranstalten, als handele es sich bei ihnen um unmittelbare Botschaften von Gott? Wie kann es sein, dass sich erwachsene Menschen mit Universitätsabschlüssen eifersüchtig um die Deutungshoheit streiten wie Kinder um ein Plastik-Spielzeug? An den Schnitt-stellen von Netz, Fernsehen und Medienkunst entstehen derzeit so viele Kunstwerke von immenser Qualität, dass sich die Theater noch umschauen werden, wer hier die eigentliche Hochkultur produziert.Zweitens ist die Zeit der „Aktualisierung“ von Klassikern vorbei. Die Texte sind von nun an nicht mehr dazu da, in zeitgenössischen Kostümen runtergespielt und „neu und originell interpretiert“ zu werden. Ihre Inszenierungen werden nicht mehr mit projizierten Fotos von Politikern gespickt, die zufällig gerade am Ruder sind. Die Theatermacher werden in Zukunft zurückschrecken vor solchen zeichenhaften Mitteln der Vergegenwärtigung, die von nichts erzählen als ihrer eigenen Not, die nicht be-arbeitete Frage des „Wozu das Ganze eigentlich?“ vertuschen zu müssen.

Diskontinuitäten und BrücheDer größte Klotz am Bein in der praktischen Arbeit mit den Klassikern ist die Domi-nanz der Narration bzw. Geschlossenheit der Form, die den Gesamtbogen gegenüber dem Einzelgedanken unverhältnismäßig privilegiert. Die Probenarbeit und noch mehr die Aufführungspraxis gestalten sich unfrei, wenn der Augenblick ständig degra-diert wird, indem man ihn im Hinblick auf ein im Augenblick abwesendes „Ganzes“ transzendiert. Wir brauchen Theatermacher, die radikale Strichfassungen riskieren, die sich an mehr Fragestellungen ausrichten als nur an Figurenbögen – an Konstel-lationen des Sehens und Gesehenwerdens, der Perspektive, der Redundanz, der Tech-nik, an musikalischen, rhythmischen, philosophischen und soziologischen Fragen, an Motivkomplexen und Wortgruppen, mit Lust an der Ausbreitung der Texte in die Horizontale. Theatermacher sollten klug und kontrastreich „Fremdtexte“ in ihre Textlandschaften hineinstellen dürfen, sich an Techniken des Mash-Up, Looping und Remix aus Musik und Bildender Kunst bedienen. Sie dürfen genauso gut von hinten nach vorne erzählen können wie von vorne nach hinten, oder aus der Mitte heraus. Sie dürfen Längen riskieren und ausufernde Wiederholungen. Sie sollten den Einsatz von Technik mitdenken, als dem Text ebenbürtig – d. h. das „Wie?“ (Form) und das „Was?“ (Inhalt) der Darstellung als in einer Kippfigur vereint denken können. Sie dürfen mit digitaler Technik experimentieren und dabei immer das „Wozu?“ des Tech-nikeinsatzes im Hinblick auf den Inhalt diskutieren. Niemals Technik einsetzen, nur „weil man’s kann.“ Wir brauchen Theatermacher, die sich neben dem „runden Bogen“ auch für Diskontinuitäten und Brüche interessieren, für Unlogik und Ausschweifung, die ebenso viel Spaß entwickeln können am Exzess wie an der Reduktion, an der Ver-kettung narrativer Miniaturen wie dem Entwurf einer großen Erzählung. Die wissen, dass sich Zeit genauso auf Kreisen und Spiralen bewegen kann wie auf Geraden mit Anfang und Ende. Die das „authentische Spiel“ genauso beherrschen wie das Sprechen im Zitat.

Überhaupt: das Zitat. Der Zugriff auf die „Klassiker“, über den Epochenbruch hin-weg, wird tendenziell ein Vorgang des Zitierens werden und weniger des vollständi-gen Aneignens. Nehmen wir Samuel Beckett, ein Autor, dessen Vertreter der Urheber-rechtsinteressen sich in den letzten Jahrzehnten als besonders humorlos erwiesen haben. Wir brauchen aber Becketts „Warten auf Godot“ gar nicht mehr als fertig geschnürtes Gesamtpaket, für das man auf Knien rutschend beim Verlag vorsprechen muss. Wir werden Becketts brillante Gedanken zitieren, im Rahmen und unter den Vor-gaben des Zitatrechts, in unseren Collagen, als Miniaturen. Sie gehören uns allen. Sie sich zu nehmen und neu zu verorten ist Teil der kommenden Kunstfreiheit, die längst angebrochen ist. Und die kristalline Schönheit der Textfragmente, ihre po-litische Radikalität und Widerständigkeit werden wieder offen daliegen, als Waffen des Denkens und Fühlens. Sie werden, befreit vom Muff des Gesamtentwurfs, Balsam sein für unsere vom Jetzt belagerten Seelen.

→ Alexander Kerlin (*1980) ist seit 2010 Dramaturg und Autor am Schauspiel Dortmund.

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Nominiert für den deutschen Theaterpreis DER FAUST 2013

DAs FesT von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov wieder ab 3. Oktober 2015 im Schauspielhaus

Regie: Kay Voges, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Dramaturgie: Dirk Baumann, Alexander Kerlin, Kameraroboter: Mario Simon. Mit: Andreas Beck, Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Caroline Hanke, Christoph Jöde, Sebastian Kuschman, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher Eine DOGMA 20_13 Produktion

#FestDo

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5 Fragen an die Bühnen- und Kostümbildnerin Pia Maria MackertPia Maria Mackert – wie kamen Sie zur Bühne? Mackert: Mit 17 bin ich von zuhause abgehauen, und mein Geld hat nur bis Berchtesgaden gereicht. Von dort aus bin ich 14 Tage durch die Wälder bis Wien gelaufen. In Wien bin ich durch Zufall in der Bühnenbildklasse von Erich Wonder gelandet. Das hat mich fasziniert, und ich habe mich sofort für ein Bühnen- und Kostümbildnerstudium entschieden. Studiert habe ich dann letztendlich in Düsseldorf bei Karl Kneidl. Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Bühnen- und/oder Kostümbild entwerfen? Es gibt keinen einheitlichen Angang. Trotzdem steht am Anfang immer eine genaue Recherche des Stücks, der Zeit und der Bedeutung für uns heute. Was ist Ihnen für Ihre Bühnenräume besonders wichtig? Eine größtmögliche Reibung mit dem Stoff. Wenn möglich eine Welt erschaffen, die dem Regisseur und den Schauspielern eine neue Lesart des Stücks bietet.

→ Seit 1993 ist Pia Maria Mackert als Bühnen- und Kostümbildnerin in Schauspiel und Oper tätig, zumeist mit den Regisseuren Kay Voges und Marcus Lobbes. Ihre Arbeit führte sie u. a. nach Wuppertal, Dresden, Düsseldorf, Kassel, Darmstadt, Bonn, Berlin, Oberhausen und Dortmund – wo sie bei Kay Voges’ Intendanzauftakts-Inszenierung „Woyzeck“ 2010 die Bühne des Schauspielhauses mit fünf Tonnen Schnee bedeckte. Inzwischen hat Pia Maria Mackert bei über zehn Dortmunder Inszenierungen Bühne und/oder Kostüme entworfen – zuletzt für „Hamlet“, „Komm in meinen Wigwam“, „The return of DAS GOLDENE ZEITLALTER“ und „Glückliche Tage | Das letzte Band“.

„DAS GOLDENE ZEITALTER – 100 Wege, dem Schicksal die Show zu stehlen“, 2013

---------- Kostümskizze „Komm in meinen Wigwam“, 2014

„Komm in meinen Wigwam“, 2014

„Woyzeck“, 2010

2014 wurden Sie in der Kategorie „Bühne/Kostüm“ des berühmten deutschen Theaterpreises „Der Faust“ nominiert – für „Das Goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“, die Dortmunder Inszenierung von Kay Voges. Haben Sie selber eigentlich ein eigenes Lieblings-Bühnenbild? Oder mehrere? Alle. Und wieso? Weil ich sie nicht gemacht hätte, wenn ich sie nicht toll gefunden hätte.

Kostümskizzen „DAS GOLDENE ZEITALTER“, 2013

„Hamlet“, 2014

„Winkelmanns Reise ins U“, 2011

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Aber wieviel Shakespeare steckt überhaupt in der Inszenierung?

wieder ab 23. September 2015 im Schauspielhaus

HAMleTnach William Shakespeare

Regie: Kay Voges, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Kamerakonzept und Live-Schnitt: Daniel Hengst,

Videoart und Coding: Daniel Hengst, Lars Ullrich, Musik: Paul Wallfisch, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz. Mit: Frank Genser, Christoph Jöde, Sebastian Kuschmann,

Bettina Lieder, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Michael Witte

#HamletDo

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Sebastian Graf

(Gast)

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Detlev Baur Shakespeares „Hamlet“ hat die Saison am Schauspiel Dortmund eröffnet. Warum gerade dieses altbekannte Stück?

Kay Voges Wir kennen zuerst die Themen, die uns in einer Spielzeit interessieren, und dann schauen wir, welche Stücke dazu passen. Über vielen Stücken dieser Spielzeit steht die Frage: Was bedeutet Mensch-sein im digitalen Zeitalter? Hamlet als Archetypus des Hackers zu sehen erschien uns als spannende Ausgangsidee. Für Hamlet wie für uns in der digitalen Gesellschaft ist es ungeheuer schwierig, die uns umgebenden Geister zu scheiden. Hamlet läuft durch Helsingör und fragt: „Was ist die Wahrheit?“ Und wir werden mit Informationen so überschüttet, dass der Kern des Seins schwer zu finden ist. Aber die Bedrohung durch die Datenflut erfahren wir nicht am eigenen Körper. Hamlet dagegen wird durch einen vergifteten Degen umgebracht.Kay Voges Wir können die Massen an Informationen, die auf uns einpras-seln, nicht mehr verarbeiten und schreiben Programme, die sich selb-ständig hindurchwühlen – und auf einmal steht man in Heathrow am Flug-hafen und darf nicht einreisen. Keiner weiß, warum, aber ein Algorithmus hat errechnet, dass das gerade gefährlich sein könnte. Die Snowden-Veröffentlichungen haben für unser Menschenbild und unsere Theaterarbeit Konsequenzen gehabt, die wir im „Hamlet“ gut spiegeln können. Im Machtzentrum dort gibt es ein Geheimnis. Und dann wird ein Leak zugespielt: Der König ist ein Mörder. Wie geht man damit um, und wie gefährlich ist solch ein Leak für einen Staat? Anne-Kathrin Schulz Dass „Hamlet“ seit über 400 Jahren so erfolgreich ist – und das gilt in diesem Maße ja nicht für alle Shakespeare-Stücke –, hat vielleicht damit zu tun, dass die Figuren im Stück Krankheiten einer Zeit erleben – und die Theaterzuschauer zugleich die Krankheiten ihrer jeweils eigenen Epoche mitdenken können. Mit dem Königs- und Brudermord sowie der Hochzeit der Königswitwe setzt Shakespeare gleich zu Beginn Tabubrüche. Dann erzählt er die Erkrankung eines Landes. Wir haben die-sen Gedanken weiterverfolgt und aus der heutigen Zeit zum Umgang mit Informationen und Wissen als politischer Waffe widergespiegelt. Mit dem Text sind Sie durch Umstellungen und mediale Einschübe so frei umgegangen, als hätten Sie einen Roman für die Bühne adaptiert. Ist klassisches Drama mit seiner dramatischen Chronologie für Sie gänzlich uninteressant?Kay Voges Die linearen, narrativen Geschichten bei Shakespeare sind für die digitalen Welten von Hackern und modernen Geheimdiensten zu klein. Wir haben deshalb versucht, ein Netzwerk auszubreiten und diese Gleich-zeitigkeit einer Komplettüberwachung und zugleich der überbordenden Datennutzung auf die Bühne zu bringen. „Was ist der Mensch?“, fragt Hamlet. Wir haben versucht, dieses Gefühl in einem Netz aus Lügen, Wahrheit, wichtigen und unwichtigen Informationen darzustellen. Da ist die Dramaturgie der Chronologie für mich vergleichsweise unwichtig. Anne-Kathrin Schulz Es ist eine große Qualität Shakespeares, dass es ihm gelingt, die Synapsen so stark zum Schwingen zu bringen. In den Gesprächen vor und während der „Hamlet“-Proben sind wir beispielsweise schnell bei Michel Foucault, Zygmunt Bauman und dem Begriff des Panop-ticons gelandet. Die Beschäftigung mit „Hamlet“ hat uns also auf weite-re Autoren verwiesen. Einiges haben Sie schon umgestaltet. Wenn Hamlet und Laertes gegen Ende – vor der Filmleinwand – körperlich aufeinandertreffen, scheinen sie einander sehr nah zu sein. Wenig später bringen sie sich, näher am Handlungsfaden des Stücks, in einem Soapfilmchen brutal gegenseitig um. Auch die Verbindung der Figuren Rosencrantz und Guildenstern mit den Schauspielern ist Ihre Erfindung. Ist es Ihnen eigentlich wichtig, dass die Zuschauer den „Hamlet“-Text kennen, oder spielt das keine Rolle?Anne-Kathrin Schulz Idealerweise sollte man ins Theater gehen können, ohne einen Text vorher zu kennen. Wir wollen Theaterabende machen, die für sich sprechen. Es gibt dann natürlich, so auch bei diesem „Hamlet“, verschiedene Schichten der Wahrnehmung. Wir wollen sowohl die begeis-tern, die das Werk gut kennen, als auch die, die nur den Titel kennen.Kay Voges Ich denke, diesen Rollen mit psychologischem Theater beizu-kommen macht Shakespeare klein. Da gibt es so viel Archaik und zugleich Diskurs, so viel Widersprüchliches in dem Stoff, daher sind schnelle Schlussfolgerungen über die Charaktere viel zu kurz gegriffen. Vielmehr treffen in „Hamlet“ Zustände aufeinander. Man kann das Stück in acht Stunden spielen, wir haben es in anderthalb Stunden gespielt und dabei auf zahlreiche Schnörkel verzichtet. Mit unserer filmischen Erzählwei-se mit Schnitt und Überblendungen bekommen wir keine Figurenzeichnungen mehr, sondern eine Gesellschaftszeichnung. Wir blicken von oben auf Helsingör herab. Ich höre da aber doch durch, dass Sie mit vielen Shakespeare-Inszenierungen Probleme haben.Kay Voges Oft dauert es mir zu lang, oft ist der Blick bei Shakespeare-Inszenierungen nach hinten gewandt, und man sieht ein Historienspiel. Andererseits ist „Hamlet“ ein großartiger, reicher Stoff. Das war jetzt der Versuch von 2014 aus Dortmund, und es gibt dieses Jahr und nächstes Jahr andere. Das Theater ist kein Museum, sondern ein Ort des Diskur-ses über das Leben miteinander in der Gegenwart. Da können wir aus der Vergangenheit schöpfen und lernen, aber es geht um die Gegenwart. Der Versuch war, Shakespeare als Zeitgenossen zu untersuchen.

Sind die gesellschaftlichen Verhältnisse am Königshof von Helsingör mit der Berliner Republik wirklich vergleichbar?Anne-Kathrin Schulz Shakespeare stellt die Frage: Was geschieht mit einer Gesellschaft, in der große Tabubrüche stattfinden? Resignation oder Revolution? Er erzählt von einer „Zeit aus den Fugen“. Wir haben darüber nachgedacht, was die Krankheiten unserer Zeit sind. Da ist zum Beispiel der von Douglas Rushkoff beschriebene „Gegenwartsschock“, mit menschlichen Synapsen in ständiger medialer Überforderung. Oder die Snowden-Enthüllungen: Wo bleibt unsere politische und gesellschaft-liche Antwort darauf? Oder bleibt sie einfach aus? Sind wir schon im Foucault’schen Panopticon beziehungsweise Bauman’schen Post-Panopticon? Verhalten wir uns bereits permanent konform – sicherheitshalber, für den Fall, dass jemand zuschauen sollte? Kay Voges Es geht um die Frage: Wie können wir einen Shakespeare heute so erzählen, dass er uns noch wehtut? Ein Mann hinter einer Wand mit einem Dolch in der Hand, der zögert, das ist ein schönes Bild, das würde aber auch zu den Brüdern Grimm passen. Wenn daneben aber ein Nachrichtenbericht aus Palästina läuft, über Väter, die Rache schwören für ihre getöteten Kinder, und daneben sieht man einen Bericht aus Israel über einen toten Israeli, dann befinde ich mich als Zuschauer auf einmal in einem Dilemma und verstehe, dass es für Hamlet schmerz-haft ist, sich zu entscheiden, ob er Vergeltung üben soll oder nicht. Das wird in der Inszenierung auch recht deutlich. Aber die Lage für den Einzelnen wirkt in dieser Überwachungswelt auch ziemlich ausweglos.Kay Voges Wir geben keine Antwort, wir sind auch keine Kirche, sondern ein Forschungslabor. Wir wollen mit „Hamlet“ eine Debatte be-feuern, die dringend notwendig ist, weil sie gesellschaftlich von der Bundesregierung, aber auch von vielen Intellektuellen und Journalisten nicht geführt wird. Das Theater ist genau der Raum für diese Debatten. Im „Hamlet“ werden ja auch großartige Bilder auf die Leinwand geworfen, mit der vervielfachten, verlorenen Ophelia?…Anne-Kathrin Schulz Die Ambivalenz des Abends zeigt sich auch bei diesen Bildern von Ophelia, die da in Lichtspuren zerdehnt und vervielfacht gezeigt wird. Das ist wunderschön und zugleich tieftraurig.Kay Voges Das ist auch die Ambivalenz an der Inszenierung. Zum einen hinterfragt sie die Gegenwart voller Überwachung, und zum anderen stimuliert sie unseren Voyeurismus. Das ist ein Dilemma. Und wie gehen Sie als Theatermacher mit unserer Gegenwart um? Woher nehmen Sie die Zeit und Ruhe, sich auf Inszenierungen sorgfältig vorzubereiten? Gerade da Sie sich der digitalen Medienwelt ja nicht entziehen.Kay Voges Wir sind wirklich mit im System drin. Wie Heiner Müller sagt: Alles ist Material. Das Material liegt in Hülle und Fülle vor uns. Es hat mit meinen persönlichen Zeit- und Ordnungsproblemen zu tun. Das haben wir auch in die Inszenierung hineingebracht. Anne-Kathrin Schulz Wir arbeiten in einer Gruppe von Menschen, die sich mit den Ambivalenzen der Gegenwart persönlich intensiv auseinan-dersetzen. Aus diesen Ambivalenzen machen wir Theater. Die Frage zieht sich ja schon durch die Spielzeit und wird in der nächsten wohl nicht von einer ganz anderen Frage abgelöst werden?Anne-Kathrin Schulz Das hat etwas mit den Menschen zu tun, die hier arbeiten. Bei uns sind auch Programmierer oder Videokünstler längst Teil des Teams. Daniel Hengst zum Beispiel, der bei „Hamlet“ eine wesentliche Rolle spielt, ist ein Videokünstler, der sich intensiv mit politischen Aspekten der digitalen Gegenwart befasst. Wie ist denn die komplexe Spielfassung zur Inszenierung entstanden?Anne-Kathrin Schulz Es gab da verschiedene Arbeitsphasen. Wir hatten uns recht schnell auf die Übersetzung geeinigt. Kay Voges Ich habe eine narrative Strichfassung erstellt. Das haben wir dann geprobt, und ich habe gesagt, ich würde aus diesem Theater-abend rausgehen, wenn ich mir das ansehen müsste. Dann habe ich es noch einmal verdichtet und versucht, Linien weg von der Linearität hin zu Montage und Vernetzung einzuziehen. Worte, die nur als „Schmuck und Beiwerk“ dienen, haben wir weggelassen und nach dem Kern gesucht. Bei Laertes oder Rosencrantz und Guildenstern, Figuren, die zum Großteil schmuckes Beiwerk sind, bleibt dann nicht viel übrig, sodass wir sie anders aufgewertet haben. Dann kamen wir bei Rosencrantz und Guildenstern auf die irrwitzige Idee, sie mit den Schauspielern zu verbinden: Schauspieler leben absurderweise auch in unseren Zeiten der Überwachung davon, angeschaut zu werden. Damit haben wir dann gearbeitet. Und wie haben Sie bei den Proben die Arbeit mit den Schauspielern und mit den technischen Details bei den Videos koordiniert?Anne-Kathrin Schulz Das geht, weil eine mehrjährige Arbeitsbeziehung zwischen den Akteuren besteht. Natürlich ist das ein anderer Probenprozess, auch für die Schauspieler auf der Bühne. Kay Voges Wir haben wirklich tolle Schauspieler. Die traditionelle Trennung von Künstlern und technischen Abteilungen im Theater gilt bei uns nicht. Für uns ist der Tontechniker genauso essenziell für die Inszenierung wichtig wie der Beleuchter oder der Videokünstler. Wir arbeiten in einem großen Team mit großem Respekt vor der Arbeit des anderen. Das ist eine Weiterentwicklung des reinen Sprechtheaters. Und das ist der große Segen unseres Teams, das in den letzten fünf Jahren entstanden ist.

→ Beim NRW-Theaterjahresrückblick der WELT AM SONNTAG (5. Juni 2015) wurde der Dortmunder „Hamlet“ zweifach in der Rubrik „Beste Inszenierung“ nominiert.A

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Detlev Baur („DIE DEUTSCHE BÜHNE“) im Interview mit dem Regisseur Kay Voges und der Dramaturgin Anne-Kathrin Schulz.

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Julia Schubert

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wieder ab 30. August 2015 im Studio:

KAsPAr HAUser UnD Die sPrAcHlosen AUs Devil coUnTYvon Thorsten Bihegue und Alexander Kerlin mit dem Dortmunder Sprechchor und dem Kindersprechchor

Regie: Thorsten Bihegue, Alexander Kerlin, Bühne: Jan P. Brandt, Kostüme: Clara Hedwig, Komposition + Live-Musik: Tommy Finke.

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Die Regisseurin von „Szenen einer Ehe“, Claudia Bauer , über den Unterschied zwischen einem Theater und einer Spielstätte

→ Claudia Bauer inszeniert als freie Regisseurin u. a. in Hannover, München, Leipzig, Stuttgart. Am Schauspiel Dortmund steht nach ihren vorigen Inszenierungen „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder und dem musikalischen Märchenmassaker „Republik der Wölfe“ ihre Erfolgsinszenierung „Szenen einer Ehe“ nach Ingmar Bergman wieder auf dem Spielplan.

Ich bin in einer kleinen Stadt mit einem kleinen Stadttheater aufgewachsen und wollte unbedingt Schauspielerin werden, denn im Theater habe ich eben Schauspieler gesehen. Was Regisseure, Drama-turgen oder Intendanten sind, habe ich erst viel später erfahren. Das Gesicht des Theaters waren für mich immer die Schauspieler. So ist es bis heute. Was wäre mein Lieblingstheater ohne seine Spieler? Wie oft bin ich in Inszenierungen gegangen, ohne den Regisseur zu kennen, allein weil ich wusste, dass ein Großteil des hauseigenen Ensembles den Abend bestreitet. So viel zu mir als Zuschauerin.Als freie Regisseurin ist es ein großartiges Erlebnis, auf ein gut eingespieltes und facettenreiches Ensem-ble zu treffen – oder aber es ist die Hölle, wenn man auf ein frustriertes, verkrustetes, beamtenhaftes Ensemble trifft, das nur noch über das Kantinenessen und verkürzte Ruhezeiten diskutiert. Als ehemalige Theaterleiterin kann ich sagen, dass die Arbeit mit dem eigenen Ensemble mich am meisten vorangebracht hat.

Aber was ist denn jetzt ein funktionierendes Ensem-ble? Wie geht das? Bessere Frage: Was will ich für ein spezielles Ensemble? Was soll dieses Ensemble können? Sollen es Spezialisten sein, die vor allem auf meine Regiehandschrift eingeschworen sind? Dann kann ich nur Regisseure ans Haus holen, die mir in irgendeiner Weise ähnlich sind. Oder baue ich mir eine anpassungsfähige Einsatztruppe, die mit vielen Regiehandschriften klarkommt? Oder will ich lieber mit eigenständigen Querdenkern arbeiten? Oder lieber mit netten Kollegen, die auch mal zurückstecken können? Und natürlich will ich das ALLES haben!

★Ich will starke, unangepasste Persönlichkeiten, will aber auch vielseitige, (ver)wandelbare Spieler, ich will bitte eine gute Arbeitsatmosphäre, will aber auch Auseinandersetzung und Widerspruch. Es gibt zu-gegebenermaßen recht wenige Schauspieler (überhaupt

wenige Menschen!), die all diese Fähigkeiten in sich vereinen. Da kommt es dann wohl auf die Mischung an.Schnell entsteht die altbekannte Ensemblestruktur: einerseits einige wenige starke Protagonisten und andererseits viele Schauspieler, die größtenteils in der zweiten oder gar dritten Reihe spielen. Höchst-wahrscheinlich ist dieses Phänomen nicht ganz ver-meidbar, aber mein Ziel wäre es immer, dieses Gefälle im Ensemble so gering wie möglich zu halten. Der ide-alistische Versuch also, jeden einzelnen Schauspieler zu fördern!

★Ein weiterer Faktor, der für die Ensembleentwicklung maßgeblich ist: Zeit! Und die wird einer neuen Thea-terleitung, die ein neues Ensemble zusammenstellt, oft nicht zugestanden. Bis sich ein funktionierendes Ensemble zurecht gerüttelt hat, kann es unter Umstän-den dauern. Wer kann mit wem, wer findet welche Posi-tion im Gefüge, wer kann sich dort entfalten, weiter-entwickeln, wer nicht? Schauspieler müssen kommen und gehen können. Ein Ensemble wächst und wuchert, welkt auch manchmal. Es ist ein organisches Gebilde.Ein funktionierendes Ensemble könnte unter Umständen entstehen, wenn die Theaterleitung – inhaltlich wie formal – eine Vision hat, welchen Kurs ihr Theater die nächsten Jahre einschlagen soll. Und diese Vision auch ins Ensemble kommuniziert. Unter welcher gemeinsamen Flagge wird gekämpft? Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Ein funktionierendes Ensemble könnte entstehen, wenn der einzelne Schauspieler die Möglich-keit hat, sich weiterzuentwickeln, und nicht immer und immer wieder ähnliche Figuren spielen muss. Ein funk-tionierendes Ensemble könnte entstehen, wenn die The-aterleitung Gastregisseuren ermöglicht, Schauspieler mitzubringen, die für ihre Arbeit wichtig sind.Es geht also um einen harten Kern von Schauspielern, die dem Theater sein unverwechselbares Gesicht ge-ben, die die Sprache dieses einen speziellen Theaters sprechen können und wollen. Und es geht um einen weiteren Kreis von freien Schauspielern, die dieses Ensemble komplettieren, mit ihrer Andersartigkeit aufmischen können.

Für mich persönlich besteht ein ideales Ensemble nicht nur aus Schauspielern, sondern auch aus Puppen-spielern, Tänzern und anderen darstellenden Künst-lern. Her mit dem spartenübergreifenden Theater!Ich saß mal im Zug, und da rief plötzlich ein (bayeri-scher) Mitreisender, enttäuscht über das Flache, was er da draußen vor dem Fenster vorbeiziehen sah: „Das da, das ist keine Landschaft, das ist höchstens eine Gegend!“ Wenn ich ein Theater ohne Ensemble sehe, dann sage ich: „Das ist kein Theater, das ist höchs-tens eine Spielstätte!“

wieder ab 25. September 2015 im Schauspielhaus

Szenen einer ehenach Ingmar Bergman

Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Patricia Talacko, Videoart: Mario Simon, Musik: Smoking Joe, Dramaturgie: Michael Eickhoff. Mit: Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth

#SzenenDo

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Bettina Lieder

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Dorian Gray ist der attraktivste Jüngling, den Londons Clubs zu bieten haben. Eine reizende kleine Unschuld, die Männer wie Frauen betört, auch und gerade weil sie nichts von ihrer Attraktivität weiß. Als nun der Maler Basil ein hinreißendes Portrait von Dorian anfertigt, spricht dieser – bestärkt durch den Einfluss des diabolischen Intellektuellen Lord Henry

und plötzlich überwältigt von der eigenen Schönheit – einen folgenschweren Wunsch aus: Ach, wenn doch nur das Bild altern und ich selbst für immer jung bleiben könnte…

★Jedoch: Gib Acht Kind, wovon Du träumst. Dorians Wunsch geht in Erfüllung, entpuppt sich aber nur oberflächlich (im wahrsten Sinne des Wortes) als Segen. Sein Leben wird zu einem schrecklichen Ver-steckspiel. Reihenweise gehen

die Menschen an der Liebe zu ihm und seiner makellosen Schönheit zugrunde, eine Liebe, die er nicht erwidern kann, während er Ablenkung und Befriedigung mit Drogen, Prostituierten, Gelagen und dekadenten Sammelleidenschaften sucht, aber nicht findet. Jede Sünde lässt sein Portrait entstellter aussehen, er versteckt es auf dem Dachboden. Eines Tages, viele Jahre später, stellt ihn der Maler Basil zur Rede und fragt nach dem Portrait. Dorian nimmt ihn mit – hinauf auf den Speicher und greift zum Messer…

Oscar Wildes Klassiker ist ein meisterhafter Krimi, eine Farce, ein philosophischer Wurf – ein gnadenloser, grandios komponierter Angriff auf die doppelte Moral der englischen Salons im späten 19. Jahrhundert. Heute, 125 Jahre später, lesen sich viele Sätze des Buches, als würden sie unserer Zeit und unserer ganz eigenen Doppelmoral gelten: Die unvergessliche Figur des Intellektuellen Lord Henry z. B. würde auch heute in jeder Gesellschaft für echtes moralisches Entsetzen und geheime Faszination sorgen. Und Dorian Gray? Er verkörpert das überzeitliche Wünschen der Menschen nach Schönheit, Macht und ewigem Leben – und zugleich die dunkle, abgründige Rückseite dieses Wünschens.

★Der Dortmunder Sprechchor stellt sich den Fragen des Romans von Oscar Wilde. Er schlüpft in alle Rollen, gewohnt sprachgewandt, rhythmisch und musikalisch. Er zelebriert die Wilde‘schen Texte mit Emphase und Hingabe. Persönliche Interviews mit den Chor- mitgliedern werden in die Handlung des Romans gewoben: Wie begegnen wir dem Älterwerden und dem gesellschaftlichen Zwang zur fortwährenden Jugendlichkeit? Welche Sünden stehen uns ins Ge-sicht geschrieben, und welche haben wir auf unserem Speicher vor der Welt versteckt? Wen haben wir auf dem Gewissen? Wen mussten wir „töten“, um weiter leben zu können? Welche Moralvorstellungen halten uns vom Leben ab? Was würden wir mit einem unendlichen Vorrat an Schönheit tun?

„Das Bildnis des Dorian Gray“ als philosophisches Kriminal-Stück und berührende Annäherung an hundert Menschen, die da gemeinsam auf der Bühne stehen: Dortmunder Gesichter, Geschichten und Stimmen, in die sich das Leben, sein Glück, sein Leid, einschreibt. Tag für Tag. → Der Dortmunder Sprechchor – das sind rund hundert Bürgerinnen und Bürger der Stadt

zwischen 8 und 91 Jahren: ein unvorstellbarer Schatz an Geschichten und Erfahrungen. Er existiert seit dem Jahr 2010 und ist das 17. Ensemblemitglied am Schauspiel Dortmund. In über zwei Dutzend Inszenierungen stand der Chor auf einer der Dortmunder Bühnen, insgesamt mehr als 150 Mal. „Das Bildnis des Dorian Gray“ ist nach „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“ (2013), „Die Hamletmaschine“ (2014) und „Kaspar Hauser und Die Sprachlosen aus Devil County“ (2015) die vierte Inszenierung, bei der der Chor als Protagonist auftritt. Leiter des Chores ist der Dramaturg Alexander Kerlin.

→ Mitmachen? Einfach bis zum 1. November 2015 eine Mail an → [email protected]

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Noch nie hatte ein einzelner Mensch so viele Gesichter wie heute. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren gestern. Unsere Selbst-bilder surfen durch ein immerwährendes Update der virtualisierten Welt, und deren Branchenführer verspricht uns schon bald ewiges Leben. Dazwischen funkt der Gott der Neuropsychologie die neuesten Trends der Selbstoptimierung. Der Rest ist Schweigen, vielleicht Träumen.

~Aber noch werden wir jung geboren, treiben für einige Jahre durch die Blüte unseres Lebens, verstecken sodann unser erstes graues Haar und sorgen uns schließlich um unsere kleinen und großen Weh-wehchen. Wir trauern unseren besten Zeiten hinterher, als die Mög-lichkeiten noch weit gefächert schienen. Wir joggen uns die Lunge aus dem Leib, um nicht der Bequemlichkeit anheim zu fallen. Genüg-samkeit? Von wegen! Ist die Rente erst mal durch, dann wird die Welt bereist, ein Studienplatz gebucht und eine neue Sprache gelernt. Also geht alles von vorne los: die Suche nach dem Selbst und nach dem Sinn des Lebens; die Suche nach der echten, großen Liebe; kurz, die Suche nach Unendlichkeit. Die nimmt uns niemand weg! Dazwischen wird klammheimlich still gealtert. Es wird geliftet. Es wird verflucht. Es wird kalkuliert und weitergemacht. Der Blick in den Spiegel wird vermieden, der Blick in die Seele wird den Ärzten überlassen. Die Jugend wird gehätschelt oder betrogen. In den Dar-krooms des Internets wird ordentlich aneinander rumgegrabscht. Und das alles, bloß um eines nicht zu tun: sich selbst ins Gesicht zu sehen. „Ist Unaufrichtigkeit denn so schrecklich?“, fragt der ewige Jüngling Dorian Gray in Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. „Ich finde nicht. Sie ist lediglich eine Methode, mit der wir unsere Persönlichkeit vervielfältigen können.“

Dann schauen wir in die Zeitung, wir schauen aus dem Fenster, wir schauen in die Glotze, wir schauen auf die Börse, wir schauen auf die Grenzen unserer Län-der, wir schauen in den Himmel… und alles macht ein-fach immer weiter. Nur die Fratze, die wir im Spie-gel erblicken, entfernt sich Tag für Tag von unserem Idealbild.

~„Die Tragik des Alters ist nicht, dass man alt ist, sondern jung“, sagt der zynische Lord Henry zu sei-nem Freund Dorian. Und so steigert sich unser Neid auf alles, was Hand in Hand in den gesellschaftlichen Wellnessbrunnen springt. Es steigert sich die Wut auf die medialen Abziehbilder einer alterslosen Aristo-kratie. Denn der Mensch ist ein Wesen mit Myriaden von Leben und Myriaden von Empfindungen, ein komplexes, vielgestaltiges Geschöpf, das seltsame Vermächtnis-se des Denkens und der Leidenschaften in sich trägt und dessen Fleisch von den monströsen Gebrechen der Toten entstellt ist. → Thorsten Bihegue ist Autor, Regisseur und Performer. Zuletzt gelang ihm mit „Der große Marsch“ von Wolfram Lotz am Theater Aachen ein überregional beachteter Erfolg. In Dortmund inszenierte und schrieb er gemeinsam mit A. Kerlin und C. Jöde „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“ sowie „Kaspar Hauser und Die Sprachlosen aus Devil County“. Und er steht in den Wenzel Storch-Abenden „Komm in meinen Wigwam“ (als Wissenschaftler) und „Das Maschinengewehr Gottes“ (als Oberministrant Egon) auf der Studio-Bühne. 

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„Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“, 2014

~ Essay von Thorsten Bihegue

Premiere

DaS BilDniS DeS Dorian Graymit dem Dortmunder Sprechchor nach Oscar Wildeab 18. Juni 2016

Regie: Thorsten Bihegue und Alexander Kerlin, Musikalische Leitung: Tommy Finke, Kostüme: Clara Hedwig

#DorianDo

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Ein Vereinsheim wird geschmückt – übrig gebliebene

Dekorationen des Schützenvereins verschwinden hinter

den typischen Insignien türkischen Festtagschmucks:

Bald wirkt im Festsaal alles grell und bunt, die Musik

läuft – zu laut. Ein türkisch-deutsches Paar bereitet

die große Feier zur Beschneidung ihres achtjährigen Soh-

nes vor: Der Junge muss ein Mann werden – und deshalb

unters Messer. Doch je näher mit dem großen Fest die

Zirkumzision rückt, desto größer werden die Bedenken…

Ein Urteil des Kölner Landgerichts, das der Beschneidung

bei Jungen Rechtssicherheit gab, löste 2012 eine General-

Debatte um Beschneidungen aus – Körperverletzung oder

zu schützende religiöse Tradition? Unvereinbar standen

zwei Positionen gegeneinander: das Grundrecht auf körper-

liche Unversehrtheit von muslimischen und jüdischen

Jungen einerseits und das Grundrecht auf kulturelle

Selbstbestimmung von Menschen muslimischen und jüdi-

schen Glaubens andererseits. Die Debatte, in der sich

Betroffene, Juristen, Rechtsmediziner, Sexualwissen-

schaftler, Ethiker, Politiker, Religionswissenschaft-

ler u. a. äußerten, birgt nach wie vor gehörigen sozial-

kulturellen Sprengstoff.

→ Für das Schauspiel Dortmund erarbeitet der türkischstämmige Regisseur, Schauspieler und Facharzt für Anästhesie Tuğsal Moğul einen Theaterabend zu dem vielleicht wichtigsten Stückchen Haut. Moğul, dessen Stück „Die deutsche Ayşe“ in Dortmund während des NRW-Theatertreffens 2014 den Zuschauerpreis gewann, führt das erste Mal am Schauspiel Dortmund Regie.

Uraufführung/Premiere

Der GolDene Schnitt

Ein Fest rund um die Vorhaut von Tuğsal Moğul ab 16. April 2016

im Studio

Regie: Tuğsal Moğul, Dramaturgie: Michael Eickhoff

#SchnittDo

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Marlena Keil

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Sonderpreis der Dortmunder

Kritikerjury 2015

Die

MÖGlichKeit

einer inSelEin Live-Animationsfilm von sputnic

nach Michel Houellebecq

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Planet Erde, im fünften Jahrtausend. Das ewige Ringen um sexu-elle Attraktivität hat die Menschheit solange erschöpft, bis sie praktisch ausgestorben ist. Die nun dominierende Menschenform ist der genetisch veränderte sogenannte Neo-Mensch, der alleine lebt, sich durch Photosynthese ernährt und weder Liebe noch Hass kennt. Und auch nicht das Trauma des körperlichen Alterns, denn jeder Neo-Mensch wird regelmäßig neu geklont und als Achtzehnjähriger wiedergeboren. Gefühle sind längst wegoptimiert. Mit den emotionalen Achterbahnfahrten vergangener Zeiten beschäf-tigt sich folglich auch Neo-Mensch Daniel 24 nur in der Theorie: Gemäß einer zentralen Lebensaufgabe seiner Art studiert er die tagebuchähnlichen Lebensberichte seines genetischen Urahns, des berühmten Comediens Daniel 1, der im 20./21. Jahrhundert gelebt hat. Daniel 1 erweist sich als scharfer Beobachter einer Mensch-heitsepoche voll Liebe, Lust, Depression und radikalem Jugendwahn, in der jeder permanent verzweifelt auf der Suche nach dem Glück zu sein scheint. Aber ist die neo-menschliche Daseinsform all dem wirklich vorzuziehen? Bald beginnt auch für Daniel 24 und seinen Nachfolger Daniel 25 eine Suche… Gibt es die Möglichkeit, glücklich zu werden? Wenn ja – wo kann man das Glück finden? Und wie?

Michel Houellebecq, berühmtester französischer Schriftsteller der Gegenwart, wirft in seinem 2005 erschienenen Science-Fic-tion Bestseller einen Blick durch die Jahrtausende. Houellebecq schaut auf die Sehnsüchte unserer Jetztzeit und in eine mögliche Zukunft – und denkt weiter, wovon viele Menschen heute träumen.

→Mit „Die Möglichkeit einer Insel“ schreibt das Schauspiel Dortmund nach „Das Fest“ und „MINORITY REPORT oder MÖRDER DER ZUKUNFT“ erneut Theater- und Filmgeschichte – im Geiste des Dortmunder Manifests DOGMA 20_13: Eine große Reise durch Zeit und Raum, konzipiert von sputnic, live gespielt, animiert, geschnitten und vertont von vier Schauspielern, die direkt vor den Augen der Zuschauer mit über 200 handgemachten Zeichnungen auf teil- beweglichen Animation-Plates sowie mit zahlreichen liebevoll gestalteten Miniaturen, vier Tricktischen, zwei Dolly-Robotern und fünf Kameras Michel Houellebecqs Figuren zum Leben erwecken – der allererste Theaterabend, in dem ein Trickfilm live auf der The-aterbühne erschaffen wird.

wieder ab 27. September im Schauspielhaus:

Die MÖGlichKeit einer inSelEin Live-Animationsfilm von sputnic nach Michel Houellebecq

Buch und Regie: sputnic (Nils Voges), Bühne und Kostüme: sputnic (Malte Jehmlich), Dramaturgie: Anne -Kathrin Schulz, Animation Character Design: Julia Zejn , Miniaturen-Design und -Setbau: Artur Gerz , Animation Background Artist: Julia Praschma, Musik: Philipp Maike, Nicolai Skopalik (Provinztheater, sputnic) Video: Mario Simon, Coding & Engineering: Lucas Pleß. Mit: Andreas Beck, Frank Genser, Bettina Lieder, Merle Wasmuth

Eine DOGMA 20_13 Produktion

#InselDo

„Sehen, wie es gemacht wird.

Vor unseren Augen entsteht eine Trickfilm-Collage.

Kameras fahren Pappkulissen ab. Vier Sprecher bewegen Scherenschnitte.

Und wir sitzen davor und staunen, weil das Ergebnis einfach zauberhaft ist.

Intelligent und virtuos die Handhabung der Technik,

stark die Sprechleistung. Unbedingt sehenswert, bravo! “ (Ruhr Nachrichten )

LIVE ANIMIERT,GESPROCHEN, GESCHNITTEN UND VERTONT VON VIER SCHAUSPIELERN:

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HENGST: Den Film im Theater stattfinden zu lassen, ist für mich ein interessantes Abbild der Gegenwart, eine Parallele zur Gesellschaft, wie sie sich entwickelt – alles wird ge-rade durchtechnisiert, die ganze Struktur des Lebens. Und dies wird immer dominanter, immer wichtiger. Und deswegen, glaube ich, ist es auch eine logische Konsequenz, zu fra-gen: Wie schaffen wir es, diese Thematik auch ins Theater zu holen, und zwar, nicht immer nur hinterher zu rennen, son-dern wirklich Impulse zu setzen? Und: Wie kann man, bevor die technische Entwicklung noch weiter fortgeschritten ist, schon jetzt kritisch und genau darüber nachdenken? Und ge-rade bei dem Durchlauf eben... anderthalb Stunden schaue ich auf diesen Film, und dann kommen die Schauspieler auf die Bühne, und deren menschliche Präsenz ist auf einmal so enorm viel größer, als wenn sie von Anfang an da gewesen wären. Sie bekommen eine so unglaubliche Größe, allein weil sie körper-lich da sind und sprechen. Weil diese körperliche Präsenz so wertvoll wird. Weil sie vorher nicht da war. Und hier auch das Theater vielleicht erneut seinen Wert offenbart.VOGES: Durch den Verzicht des Menschen wird der Mensch kostbarer.

Die Eröffnungs-Produktion der Saison 2012/13 von Kay Voges wurde auf dem NRW Theatertreffen 2013 zur Besten Inszenierung gekürt. Der Film zur Inszenierung, der 2014 auf dem Sunset Filmfestival Los Angeles mit dem zweiten Preis in der Kategorie „Experimental Film“ sowie für „Beste Regie“ beim Artodocs International Filmfestival in St. Petersburg ausgezeichnet wurde, ist jetzt wieder in Deutschland zu sehen Ein Gespräch von Dramaturgin Anne-Kathrin Schulz mit Regisseur Kay Voges, Videoartist und Kameramann Daniel Hengst und Kostümbildnerin Mona Ulrich:

Zeitreise, zurück zum unmittelbaren Anfang.

Gleich zu Beginn ein Aufschrei in die Gegenwart:

„Wir befinden uns

in einer Explosion, ihr Ficker“ –

Katapult in eine auseinanderfallende Welt, in der

nichts weniger auf dem Spiel steht als der Sinn des Lebens –

mit Dialogen, die aus dem Auge eines zwischen Fiktion und

Realität wütenden Orkans zu stammen scheinen. Aber:

Wie einen Theatertext auf die Bühne bringen, in dem die

Wirklichkeit explodiert? Der mit seinem Setting und philo-

sophischen Volumen die physikalischen Grenzen der Kunstform,

für die er geschaffen wurde, permanent zu sprengen droht?

Musste das Theater sterben – in der Hoffnung, in seinen

Trümmern eine vierte, fünfte, sechste Dimension

von Wirklichkeit zu finden?

→Termine siehe nächste Seite

Der Film zur Inszenierung

einiGe nachrichten an DaS all von Wolfram Lotz Regie: Kay Voges

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Mario Simon

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Der Film zur Inszenierung ist wieder auf großer Leinwand zu sehen: → 31. Oktober 2015 , 16 Uhr, Dortmunder U im Rahmen von „FIKTIVA – TheaterFilmFest 2015“ www.theaterfilmfest.com → 7. November 2015 Filmclub 813/Kino 813 in der BRÜCKE in Köln www.filmclub-813.de

einiGe nachrichtenan DaS allvon Wolfram Lotz

1) https://vimeo.com/47357533

SCHULZ: Der Tod des Theaters ist ja eins der Themen des Stücks, wie auch der Tod an sich.VOGES: Wobei die Schauspieler außergewöhnlich lebendig vor ihrem ‚Sterben‘ sein durften. Die Freiheit, oder das Gefühl von Leben, war, so hatte ich den Eindruck, für die Spieler beim Dreh weitaus höher, als es vielleicht auf einer Bühne möglich ist. Das reale Wasser, die Dunkelheit, der Berg, die Motten, der Schlamm, der Wald... All das war natürlich wesentlich konkreter. Und diese Momente von „Super-Erleben“ brennt man dann zusammen auf eine Festplatte, sie werden zu einer Erinnerung an unglaublich lebendige Augenblicke, und gleichzeitig stirbt der Schauspieler in seiner körper-lichen Live-Präsenz damit, und man vermisst ihn.

→ Das Gespräch wurde kurz

vor der Dortmunder Theater-Premiere im September 2012

aufgezeichnet.

ULRICH: Alle waren bereit zu diesem großen Wahnsinn, nachdem die erste Bühnenbildidee nicht realisierbar war und wir in kürzester Zeit einen neuen Ansatz finden mussten. Und dann durften wir in diesen wenigen Wochen, die wir hatten, mit diesen vielen spontanen Leuten diesen Weg gehen.HENGST: Alle haben mitgezogen.ULRICH: Alle Beteiligte haben alles, was irgend möglich war, auch möglich gemacht, habe ich das Gefühl. Eines von vielen Beispielen dafür sind auch die Kostüme. Ich habe innerhalb von zwei Wochen ein komplettes Kostümbild herstellen lassen. Die Kollegen aus der Kostümabteilung haben, wie alle, unglaub- lich viel gearbeitet. Das, was wir in zwei Wochen realisiert haben, hat normalerweise eine Produktionszeit von sechs Wo-chen. Mit einem Monat Vorlauf. Und dennoch haben alle Ja gesagt. VOGES: Wir haben uns aufgemacht und gesagt: „Wir wollen das Unmögliche versuchen.“ Und damit mussten wir dann umgehen. Natürlich kann man, wenn man monatelang Zeit hat, z. B. einen Wald perfekt ausleuchten. Aber wenn man erst eine halbe Stunde vorher weiß, ob über-haupt Strom kommt, dann wird das ein existentieller Moment. „Wir haben gerade Strom, wer weiß, wie lange, lasst uns anfangen!“ Und diese Existentialität, wenn man Ja dazu sagt, machte wieder und wieder neue Räume auf. Permanent sind neue Türen aufgegangen, entstanden neue Möglichkeiten. Und natürlich auch immer wieder neue Probleme und neue Grenzen, gegen die man anrennen und die man überwinden musste. Um dann zur nächsten Grenze zu kommen.

SCHULZ: Als klar war, dass die ursprüngliche Bühnenbild-Idee technisch einfach nicht machbar ist, wie war dann der weitere Weg? Von: „Wir haben ein Bühnenbildproblem“ über „Wir müssen uns ein neues Bühnenbild ausdenken“ bis zu „Jetzt drehen wir einen Film“ – das ist ja kein kleiner Schritt.VOGES: Es war die Verzweiflung, die ein Ausstattungsteam hatte – Kostümbildnerin Mona Ulrich, Bühnenbildner Michael Siebe-rock-Serafimowitsch und ich. Wir saßen zusammen und dachten: „Was machen wir jetzt?“ Wir hatten zunächst die Vision eines Bühnenbilds, welches über neunzig Minuten explodieren soll-te. Und das jeden Abend neu.Das war das Unmögliche, was nicht zu leisten war. Und ich fing dann an, zu erzählen, wie diese Szenen eigentlich sein müss-ten. Und ich erzählte von Säuglingen, die geboren wer-den müssen, und von Häusern, die auf dem Wasser schwimmen wie Flämmlein auf dem Ozean, und von Autounfällen... Und irgendwann war diese Guckkastenbühne dann zu klein und wir entschlossen uns, die Szenen zu drehen.

SCHULZ: Vielleicht sind die praktischen Probleme, egal in welcher Umsetzung, bei diesem Stück ein inhaltliches Prinzip? Es gibt in EINIGE NACHRICHTEN AN DAS ALL viele Regieanweisungen und Settings von Wolfram Lotz, die ganz klar und deutlich jenseits vom im Theater praktisch Machbaren sind. Und man bekommt sehr schnell eine Ahnung, wie klug diese Settings gewählt sind. Die Grenzen, die das Medium Theater nun mal hat, lachen einem laut aus dem Text direkt ins Gesicht. Und letztendlich stacheln diese Grenzen einen dazu an, immer wieder aufs Neue den Versuch zu wagen, sie zu überwinden. Viel von dem, was ihr zu unserer Umsetzung gesagt habt, könnte eine reine Formdebatte sein. Ist es aber für mich nicht – weil alles immer wieder inhaltlich zum Stück zurückkehrt. Es ist, als ob das Stück uns wirklich gut im Griff hatte. VOGES: Lotz hat eine Phantasie geschrieben, die sowohl rechts- wie linksrum nicht machbar ist, weil sie eigentlich nur scheitern kann. Und die Herausforderung war, wie man mit dem Scheitern so umgeht, dass eine Grenze eingerissen wird, und dass etwas Neues entstehen kann. Ich habe überlegt, wie geht ein Theaterregisseur mit Theaterschauspielern an einen Theatertext? Was sind unsere Erfahrungen mit der Kamera? Und dann, wie gehen wir mit diesem Theatertext in diesem Setting um – in der Wirklichkeit, die ja immer zugegen war. Das lief also parallel, der Film und das Theater. Und es gibt ja auch zur Genüge Reminiszenzen ans Theater – dass Vorhänge auf und zu gehen, dass Aktwechsel stattfinden und man nicht weiß, auf welcher Ebene befinden wir uns gerade? Ist das jetzt Theater? Oder ist das jetzt Film? Oder: Ist es das Leben, ist es der Traum, ist es die Wirklichkeit oder die Fiktion? Es entsteht eine Unschärfe, und dieser Unschärfe liegt dann vielleicht auch eine Wahrheit zu Grunde. Vielleicht liegt des Pudels Kern in dieser Unschärfe? Was vielleicht diesen taumelnden Eindruck widerspiegelt, den auch die Figuren im Stück inne-haben – zwischen Himmel und Erde, Tod und Geburt festzuhängen und wie, so schreibt es ja Lotz, eine Kartoffel durchs Welt-all zu eiern.SCHULZ: Die unsichtbare Welt, die es in den Rissen zu ent-decken gilt.

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Stücktitel, ist ja der Adressat der Funksprüche, es ist also ein Subjekt des Stücks. Aber – die Unendlichkeit auf die Bühne bringen? Mir kommt es so vor, als wenn einen das Stück vielleicht sogar dazu zwingt, das Medium zu sprengen, für das es eigentlich geschrieben wurde – die Bühne. Und – unser Ergebnis? Theater, Film? VOGES: Zunächst einmal ein sehr theatraler Film. So viele Großaufnahmen, so viel Gesicht, so viel Schauspie-ler, so viel Fleisch, was da auf diese Leinwand projiziert wird, der Schauspieler, das Individuum, das soviel größer zu sehen ist, als es auf der reinen Bühne möglich wäre. Dann aber sieht man im Verhältnis dazu diesen Sternenhimmel und ist dagegen so winzig. Wir haben versucht, mit der Natur zu arbeiten, mussten aber gleichzeitig auch gegen sie anarbei-ten, wenn wir beispielsweise schneller sein wollten als die kurze Nacht. Wir mussten gegen den Sonnenaufgang anarbeiten, aber auch, bei anderen Szenen, gegen den Sonnenuntergang. Wir waren auf einmal diesem Universum ausgeliefert und muss-ten uns dazu verhalten.SCHULZ: Genau wie es auch den Figuren im Stück geht. VOGES: Das war hochinteressant, diese Ambivalenz. Wir gehen mit der Kamera sehr nah auf die Körper, und gleichzeitig sind wir so klein, der Welt ausgeliefert und den Elementen.HENGST: Im Film kommen sehr viele Mittel aus dem Theater vor, bestimmte Spielweisen oder der Aufbau von Szenen. Und es ist wichtig, zu sagen, das ist jetzt kein Film-Film. Es hat etwas total Eigenes. Es gibt beispielsweise ganz viele Einstellungen, in denen die Schauspieler in die Kamera schauen, versuchen, aus dem Film hinauszugucken, aus der Projektion herunterzugucken. Und es gibt ja auch dieses Bild von Lum am Anfang, wo Frank Genser genau vor der Kamera steht, es gibt einen Umschnitt, und seine Figur Lum steht genau vor einer Wand.VOGES: Die auf der Theater-Bühne unsichtbare, vierte Wand.HENGST: Der EINIGE NACHRICHTEN AN DAS ALL-Produktionsprozess unterlag nicht den Filmproduktionsmechanismen, die es nor-malerweise gibt. Wir mussten keinen Pitch gewinnen, wir mussten keine Treatments einreichen und dann gegen andere Leute bestehen, damit dieser Film produziert werden konnte. Es gab eine enorme künstlerische Freiheit, die wir nutzen konnten. Wir hatten die Freiheit, zu sagen, wir nehmen uns das Medium Film am Theater und machen damit unser eigenes Ding. Das ist total wichtig, zu sagen: Film ist mehr als das, was er häufig heute in Deutschland repräsentiert.VOGES: Eigentlich fast der Weg zurück zum Autorenfilm, wenn auch mit einer Spielweise, die eben doch noch anders ist als beim Autorenfilm.HENGST: Wir mussten immerzu Lösungen finden, um in diesem Rahmen Dreharbeiten stattfinden lassen zu können. Jede Pro-duktionsfirma würde uns bestimmt den Vogel zeigen und sagen: „Das geht niemals.“ Und wir haben es einfach gemacht.

Und was ja darüber hinaus das Aufregende ist: Zum einen geht es um den Tod und das Sterben der Dreidimensionalität, der Gegenwart auf der Bühne. Zum anderen ist es aber auch eine Stoffverwandlung. Auch auf die Gefahr hin, etwas küchenphilosophisch zu klingen: Der reale Körper musste sterben, damit etwas über den realen Körper hinaus wachsen kann. SCHULZ: Vielleicht eine vierte, fünfte, sechste Dimension. VOGES: Ja.SCHULZ: Die Themen des Theaterstücks spiegeln sich für mich auf viele Arten in dem, worüber wir immer wieder gesprochen haben: Endlichkeit und Unendlichkeit, Menschen und Auto- matisierung, diese in dieser Produktion entstandene große Intensität für jeweils viele kurze Augenblicke, die aber dafür technisch konservierbar sind... Da muss ich beispielsweise an Wolfram Lotz’ Figuren denken, die aufgefordert werden, ein einziges Wort zu erdenken, welches sich lohnt, als Botschaft ins Universum geschickt zu werden – letztendlich in die Ewigkeit. Diese Reduzierung auf Ein-Wort-Funksprüche – komprimierter und mechanisierter kann die große Suche des Ichs nach dem Sinn des Lebens kaum dargestellt werden. Und das alles in permanenter Präsenz des Weltalls. Denn das All, das hört man auch im

VOGES: Es geht auch um Material und Entmaterialisierung. Erde und Feuer und Haut und Fleisch, das in Lichtklumpen verwandelt wird. Und um das Theater, was dann ebenso konkret mit diesen Menschen, mit diesen Körpern im Augenblick umgeht. Diese Transzendenz liegt, glaube ich, nah an einem der Diskurse, die unsere Gegenwart durchziehen. Die Entkörperlichung heut-zutage. Dass man sagt: „Ich sitze am Computer und bin Teil eines Netzwerks. Ich brauche nicht mehr unbedingt physisch anwesend zu sein, um Dinge zu bewegen.“ SCHULZ: Das Ich ist überall?VOGES: Das Ich löst sich weg vom Körper, und das ist ein bisschen erschreckend und faszinierend zugleich. Und dann wird einem aber klar, dass beispielsweise auch in unserer Phantasie das Ich sich vom Körper loslöst.

HENGST: Diese Fragen nach Identitäten im Netz oder nach Virtualität – für viele Menschen ist das Internet längst kein abgetrennter Teil mehr, der woanders stattfindet, sondern der genau dort stattfindet, wo man ist. Und das, was dort stattfin-det, findet genau hier statt. Das Dort und das Hier verschwimmen völlig.VOGES: Das erleben die Schauspieler jetzt gerade auch. Die stehen hinter der Bühne, warten auf ihren Auftritt – während sie sprechen. „Wo finde ich eigentlich statt grade? Ist mein Ich jetzt grade hier oder ist es auf der Leinwand?“SCHULZ: Oder im Universum?VOGES: Als wir auf der Halde Hahniel gedreht haben, kam ja auf einmal ein unbekanntes Flugobjekt vorbeigeschossen. Das ist erst bei der Colour Correction aufgefallen. Da fliegt so ein Ding am Himmel entlang. Der Flug ist nur fünf Bilder lang. Wenn man das Filmmaterial ganz langsam laufen lässt, sieht man deutlich: Es ist eine fliegende Untertasse. Also, da waren wir von Aliens möglicherweise auch bei den Dreharbeiten heimgesucht1.HENGST: Das waren unsere Produzenten.

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Merle Wasmuth

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Tommy Finke a.k.a.

T.D. Finck von Finckenstein ist neuer

Musikalischer Leiter am Schauspiel Dortmund

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Ein „Junge mit Gitarre“, dessen perfekte Popsongs über Jahre im Ohr bleiben, und gleichzeitig ein studierter Komponist, der auf der Grenzenlosigkeit von Musik beharrt. Bastian Pütter, Chefredakteur von „bodo – das Straßenmagazin“, hat mit Tommy Finke über Stockhausen, Lady Gaga,

John Cale und Oasis gesprochen, über Bescheidenheit und Geltungssucht – und warum das alles überhaupt keine Gegensätze sind.

Wir treffen Tommy Finke an seiner zukünftigen Wirkungsstätte im Schauspiel Dortmund. Wirklich neu ist er hier nicht, hat er doch mit der Musik zu „Das Goldene Zeitalter“, einem mehr als dreistündigen Regiemonstrum, das die Grenzen des Stadttheaters sprengte, schon 2013 alle Register gezogen – sein Einstand.

→ Tommy Finke Geb. 1981 in Bochum, verheiratet. Aktuelles Album: „Unkämmbar“. Zu sehen und zu hören u.a. in: „DIE SHOW“ und „Kaspar Hauser und Die Sprachlosen aus Devil County “ sowie einmal monatlich in der neuen musikalischen Reihe „THE MUNDORGEL PROJEKT“, in der Finke und seine Gäste sich das Urgestein des deutschen Liedguts zur Brust nehmen – um es gemeinsam mit dem Publikum zu (zer-) schmettern.

Zurzeit laufen die Proben zur „Die Show“, Kay Voges‘ Adaption des beängstigend hellsichtigen Fernsehfilms „Das Millionenspiel“ von 1970. Hier steht Finke selbst auf der Bühne, mit Band – und lässt trotzdem wieder diejenigen verdutzt zu-rück, die den charismatischen Singer/Songwriter mit den geschliffenen Popminiaturen erwarten. Sein musikalischer Erstberuf, sozusagen. Melancho-lische Popsongs zwischen Rio Reiser und Hamburger Schule, hörbar beeinflusst von Beatles bis Oasis,

Eine deprimierende Einsicht? Oder eher die realistische Haltung des Kunst-schaffenden? Tommy Finke widerspricht energisch: „Das ist Freiheit. Vor 100 Jahren hätte ich mich für eine Strömung entscheiden müssen. Ich befinde mich jetzt in der sehr komfortablen Situation, dass die Strömung, die es gibt, eine ist, die aus allen gleichzeitig besteht. Hier ist nicht ein Fluss, hier ist der Ozean, in dem alles ankommt, und wir werfen die Netze aus.“

Dabei habe er jahrelang mit Theater gar nicht so viel am Hut gehabt, gesteht er – lieber stand er abends selbst auf der Bühne. Aber „Das Fest“ am Dortmunder Schauspiel sei durchaus eine Art Erweckungserlebnis gewesen. „Das hat mich berührt, ja, umgehauen. Ich hatte das Gefühl: Wenn Theater so ist, dann hat es auch eine Daseinsberechtigung über den musealen Charak-ter hinaus. Wie können wir über das Konservieren von Inhalten hinaus – das wichtig ist – etwas erreichen? Das sehe ich hier.“ Natürlich seien Abläufe im Stadttheater ungewöhnlich,

haben ihn zu einem Aushängeschild der Bochumer Musikszene gemacht. Dass ihn die wiederkehrenden Wellen deutschsprachigen Pop-Hypes bislang nicht auf die allergrößten Bühnen und auf den Chart-Olymp gespült haben, konterte er mit Beharrlichkeit. Finke tourt, produziert Platten und entdeckt junge Kolle-gInnen für sein Label „Retter des Rock“.„Mein Vater ist früh gestorben, wir haben ihn zu Hause gepflegt, das war sehr prägend für mich. Das Letzte, was ich von ihm bekommen habe, war eine Gitarre. Die Entscheidung, dass ich in irgendeiner Form Musik mache, stand dann irgendwie fest.“ An der Bochumer Ruhruni schrieb er sich nur ein, weil der Studentenstatus Bedingung war, um im Kul-turcafé aufzutreten. Der Wissensdurst trieb ihn je-doch weiter zur Folkwang-Universität der Künste, wo der Autodidakt elektronische Komposition studierte.

Bei Kay Voges in Dortmund und seinem Genregrenzen auf-brechenden, multimedialen Theater fühlt sich Finke mit diesem Spektrum genau richtig: Die an Lynch-Filme er-innernden Synthies im „Goldenen Zeitalter“, fast in-fantile Einfachheit in der Kaspar-Hauser-Inszenie-rung, der verstörende Soundtrack zu „4.48 Psychose“. „Was hier ganz toll ist: So individuell und aufregend die Stücke sind, genauso kann ich auch mit der Musik umgehen. Hier wird sich erstmal alles angehört. Es gibt großen Respekt vor der Arbeit des anderen, und selten hab’ ich so nette Leute in einem Arbeitsumfeld kennenge-lernt.“ Außerdem: „Ich komme hier in ein eingespieltes Kollektiv, in dem sich alle, wirklich alle auszehren für ein künstlerisches Ergebnis, das weit über dem Budget liegt.“

„IchbefindemichjetztindersehrkomfortablenSituation,dassdie

Strömung,dieesgibt,eineist,dieausallengleichzeitigbesteht.Hieristnichtein

Fluss,hieristderOzean,indemallesankommt,undwirwerfendieNetzeaus.“

lächelt Finke, aber sich auf das neue Umfeld ein-zustellen, sei ihm leichtgefallen. „Ich tue mich nur etwas schwer mit dem Fokus, in den ich hier rutsche, was paradox ist. Obwohl ich großer Oasis-Fan bin, liegt mir das Großkotzige gar nicht, ich bin ein sehr bescheidener Mensch. Gleichzeitig sind Künstler total geltungssüchtig: Ich will, dass man mich beachtet. Auch das gehört zusammen.“Und weil Tommy Finke Dinge gerne gleichzeitig tut und Gegensätze nicht als solche wahrnimmt, fischt er gerade aus dem einen großen Ozean nicht nur komplexe Theatermusik für die neue Spielzeit, sondern auch berückend gradlinigen Pop für ein neu-es Album.

„Ich bin großer Beatles-Fan. Man kann deren Spätpha-se überhaupt nicht verstehen, ohne sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Über den Sprung und ,Revolu-tion No 9‘ kommt man weiter. In erster Linie hab ich im Studium mein Gehirn und mein Gehör gebil-det, im Hinblick auf das strukturelle Hören von Mu-sik. Wer sich ‚Gruppe für drei Orchester’ von Stock-hausen angehört und analysiert hat, weiß, was ich meine.“ Sagt der, dessen eigene Songs so schlicht und unprätentiös Pop sind. Wie passt das zusammen? „Für mich gibt es da gar keinen Konflikt. Mich in-teressiert das Ganze. Popmusik als Sprache hatte ich relativ schnell verstanden. Aber ich liebe auch Filmmusik von John Williams und Alan Sylvestri oder auch die Musik von John Cale. Ich dachte: So was will ich auch schreiben können!“Und im Plaudern über den schwindenden Generatio-nenkonflikt in der Musik, Lady Gaga und das Tempo, in dem Pop das vermeintlich Neue und Abseitige in-tegriert, skizziert Finke mit wenigen Federstrichen sein künstlerisches Programm: „Alles ist ein Zitat. Liebe, Politik, Nonsens – das sind die drei Themen, die es gibt. Die Möglichkeit, alles zu nehmen und alles zu zitieren und gleichzeitig daraus ein neu-es Werk zu schaffen, ist großartig. Aber man muss sich darüber im Klaren sein: Du kannst nichts schaf-fen, was nicht jemand anderes schon angefangen hat. Du kannst die Arbeitsmittel ändern, du kannst das Dilemma der Aussage nicht umgehen.“

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INTERVIEW

Tommy Finke ist neuer Musikalischer Leiter am Schauspiel Dortmund

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Tommy Finke

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YOU CAN RUN BUT YOU CAN’T HIDE. Was dich verfolgt, kommt aus der Zukunft auf dich zu. Du wirst dich für ein Produkt interessieren. Du wirst bestimmte Urlaubsziele aufsuchen. Du wirst einen Partner finden, mit folgenden Eigenschaften. Du wirst den Kredit nicht zurückzahlen können. Aller Wahr-scheinlichkeit nach, aller Berechnung nach. Deshalb verraten wir es dir schon mal, weil es ohnehin eintreten wird. Dann kannst du die Augen offen halten. Wir werden das natürlich auch tun. Du wirst einen Mord begehen.

Da sind sie wieder, die antiken Moiren, griechische Göttinnen des Schicksals, der Zirkellogik, der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, die schon alte Helden und Mör-der wie ÖDIPUS oder OREST der Zukunft preisgegeben haben – Vorgänger und Leidensgenossen des FBI-Agenten John Ander-ton aus MINORITY REPORT. Vor den Sprüchen der antiken Orakel standen die Menschen machtlos. „Ödipus wird eines Tages seinen Vater töten, den König Laios.“ Und dann: Ausgerechnet indem Laios sich vor diesem grauenhaften Schicksal schützen will, setzt sich eine Ereignis-Kette in Gang, die unweiger-lich zum Tod des Königs führt. Mord am Vater durch den Sohn. Hat das Orakel also Zukunft vorhergesagt oder produziert? Ist Orakeln ein passives oder ein aktives Geschäft? Und Orest, der antike Anti-Held und Bruder der Rächerin Elektra? Der versucht gar nicht erst, sich gegen den Spruch zu wehren. Gegen die eigene Zukunft. Apollon sagt ihm den Mord an seiner Mutter voraus. Orest geht, obwohl er von Zweifeln geplagt wird, nach Argos, sucht die Mutter und tötet sie. Vorhersage und Auftrag werden eins. Diese Ergebenheit ins Schicksal war in Orests Orakelspruch genauso einkalkuliert wie Laios’ Auf-begehren. Freier Wille? Nix da. Wie du dich auch verhältst, der Weg zum prophezeiten Ziel ist schon eingeschlagen. Die Moiren haben deinen Lebensfaden längst gesponnen und gespannt. Dein Schicksal in ihn eingearbeitet.

Derzeit wird nicht nur immer nachvollziehbarer, gläserner, was einer getan hat und tut, sondern auch immer kalkulierbarer, was einer vorhat, vor sich hat und tun wird. Über 79,1% der Deutschen sind 2014 online, 50% von ihnen immer und überall via Smartphone (ARD/ZDF-Onlinestudie 2014). Tendenz steigend. Das Internet der Dinge kommt, der gewöhnliche Alltag wird in Zukunft noch einmal deutlich mehr Daten über alles Mögliche abwerfen: Zähne putzen, Musik hören, Energieverbrauch, Einkaufsverhalten, Autofahren, Kranken- geschichte, Sexleben usw. Schätzungen zufolge verdop-pelt sich derzeit alle zwei Jahre die Menge des weltweiten Datenvolumens. Die 14- bis 29-Jährigen verbringen inzwi-schen mehr Zeit im Netz als vor dem Fernseher. Glenn Green-wald, Autor von „Die globale Überwachung – der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“, schreibt

dazu: „Das Internet ist nicht nur unser Postamt und unser Telefon, sondern das Epizentrum unserer Welt – der Ort, wo sich praktisch das ganze Leben abspielt.“ Die Goldminen von heute sind die Datenberge. Kein Fahnder darf sie meiden. Es ist noch nicht lange her, dass in letzter Sekunde eine Zusammenarbeit von FACEBOOK und SCHUFA verhindert wurde. Mehr Daten bedeuten potentiell mehr Möglichkeiten, mit Hilfe von Algorithmen Wissen über das zu produzieren, was war, ist und sein wird: Marktforschung, Marketing, Polizei, Wissenschaft, Energieversorgung, Tele-kommunikation, Geheimdienste, Industrie, Medizin schlagen Salti vor Freude, denn Wissen lässt sich besser Bewirtschaf-ten als Nicht-Wissen.

„Augen auf statt Finger drauf: Augen-Scanner fürs Galaxy S5 – Samsung hat bereits beim Galaxy S3 sowie beim S4 die Steuerung einiger Funktionen mittels Augenbewegung integriert. So erkennen die Geräte beispielsweise, wann der Nutzer auf das Display blickt und verhindern dann das Abschalten des Bildschirms. Mit dem Galaxy S4 kann so-gar mittels Augenbewegung automatisch im Text gescrollt werden. Wie die Indiatimes berichtet, hat Samsung die Augen-steuerung ausgebaut und bietet Nutzern mit dem AugenScan beim Galaxy S5 die Möglichkeit, das Gerät mit einem Blick auf das Display zu entsperren. Der Scan der Augen soll im Vergleich zum Finger abdruck-Scan deutlich sicherer sein, da die Retina schwerer gefälscht werden kann.“ (Quelle: www.teltarif.de)

Ist es gut, die Zukunft zu kennen? In Michael Endes Roman „Momo“ kann die Schildkröte Kassiopeia eine halbe Stunde in die Zukunft sehen, sie ist eine Art Schwester der PRECOGS (diese Orakelwesen aus „MINORITY REPORT“). Als Momo auf der Suche nach dem Hauptquartier der Grauen Herren ist, dieser Zeit-Diebe, erscheint auf Kassiopeias Panzer die Schrift „Du wirst sie finden!“ Von diesem Augenblick an geht Momo willkürlich durch die Stadt, links, rechts, wie auch im-mer, schlüpft wahllos durch irgendeinen Zaun und ist am Ziel. Die Vorhersage hat ihr die ungeheure Freiheit verliehen, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Jedes Verhalten hätte zum Ziel geführt. Ob eine Vorhersage also gut ist („Du wirst sie finden“) oder schlecht („Du wirst deinen Vater töten“) hat anscheinend Folgen für die Frage, ob die daraus entstehende Vorbestimmung als Freiheit (Momo) oder als schrecklicher Zwang (Ödipus, Orest, Anderton) bewertet wird. Ja – aber! Es gibt in dieser Frage auch Unschärfen: Wolfgang Herrndorf, der Berliner Autor von „Arbeit und Struktur“, hat die Jahre nach seiner Krebsdiagnose, die ihm den sicheren Tod in einem Zeit-raum von 6 Monaten bis maximal 3 Jahren voraussagte, kurz vor seinem Ableben als „geilste Zeit“ bezeichnet; die pro-duktivste war es ohnehin, als habe der medizinische Orakel- spruch eine Art intensiviertes Lebensgefühl bewirkt, in alle emotionalen Richtungen. Nichts ist ohne Ambivalenz. →

Notizen zu MINORITY REPORTSiebzehn ausverkaufte Vorstellungen + Dortmunder Publikumspreis

für die beste Inszenierung der letzten Spielzeit. Im Oktober endlich kommt der Live-Film von Klaus Gehre zurück ins Studio. Als Vorgeschmack drucken wir hier noch mal das Essay zum

Stück. IST ES GUT, DIE ZUKUNFT ZU KENNEN? Von Alexander Kerlin

wieder ab 11. Oktober 2015 im Studio

MINORITY REPORT OdER

MÖRdER dER ZUKUNFTein Live-Film von Klaus Gehre

nach Steven Spielberg und Philip K. Dick

Dortmunder Publikumspreisfürdie besteInszenierung 2014/15

Regie und Textfassung: Klaus Gehre, Bühne: Klaus Gehre, Mai Gogishvili,

Kostüme: Mai Gogishvili, Musik: Michael Lohmann,

Dramaturgie: Alexander Kerlin. Mit: Ekkehard Freye, Björn Gabriel,

Julia Schubert, Merle Wasmuth, Live-Schnitt: Mario Simon

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Peer Oscar

Musinowski

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John Anderton, Polizist im Washington D.C. des Jahres 2041, unterscheidet sich von Ödipus und Orest, indem er sich das Wissen um sein unabwendba-res Schicksal (ein Mörder zu werden) nutzbar machen will: ausgerechnet, um es abzuwenden. Er ist ein Be-wohner des 21. Jahrhunderts, er interessiert sich für Nutzen. „Ich habe die Wahl!“ sagt er wiederholt. Die-se Hoffnung auf eine freie, innere Entscheidung des Individuums, gegen die geifernden Moiren, gegen alle äußere Determination, ist modern. Laios, Orest hätten so noch nicht denken können. Fast noch nicht. Steven Spielberg beginnt seinen Film mit einer amerikani-schen Kleinfamilie beim Frühstück. Das Kind büffelt für einen Test in der Schule, eine Rede des amerika-nischen Präsidenten Abraham Lincoln, die sich u. a. auf die Amerikanische Revolution bezieht und die DECLARATION OF INDEPENDANCE von 1776: „Vor 87 Jah-ren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.“ Der Freiheitsbegriff, der hier aufgerufen wird, nennt sich in der Ideengeschichte NEGATIVE FREIHEIT, das heißt die Freiheit VON etwas – in diesem Fall u. a. von der Bevormundung und Überwachung der Amerika-ner durch den britischen Kolonialherrn. (Einer der Auslöser für die Amerikanische Revolution war ein Gesetz, das britischen Beamten willkürliche Haus-durchsuchungen und Überwachung auch von Unver-dächtigen ermöglichte, woran Glenn Greenwald in DIE GLOBALE ÜBERWACHUNG erinnert.) Auf den Begriff der negativen Freiheit stößt man häufig im Umfeld von Situationen, die unter dem Gesichtspunkt des Handelns (im doppelten Wortsinne: tun und wirt-schaften) betrachtet werden, die also von „außen“ analysiert werden. Man fragt: Stehen den betrachteten Menschen alle Optionen zum Handeln zur Verfügung? Sind sie insofern frei? Oder gibt es objektive Zwänge, Restriktionen, die sie daran hindern, zwischen allen gegebenen Optionen auswählen zu können? Ungefähr dieses „frei“ ist gemeint, wenn man heute von der freien Marktwirtschaft spricht.

PRECRIME (die FBI-Einheit aus „MINORITY RE-PORT“, die Mörder einbuchtet, noch bevor sie ihre Tat begehen können) ist grundsätzlich dem Primat des Handelns verpflichtet. Die Vorhersagen sehen von in-neren Faktoren, Triebfedern und Wünschen sowie der Persönlichkeit des Mörders ab, „weil wir nicht so tun, als wüssten wir irgendetwas über menschliche Gefüh-le, Gedanken oder Motive,“ erklärt John Anderton der skeptischen Danny Witwer vom US-Justizministerium, und fügt hinzu: „Es wäre absurd zu denken, man könn-te diese entschlüsseln und DESHALB etwas voraussa-gen. Wer weiß schon, warum Menschen so handeln, wie sie gerade handeln? Der entscheidende Punkt ist, DASS sie es tun! Wir vermessen lediglich die Summe ihrer Handlungen und können dadurch, mit einer nie gekann-ten Genauigkeit, die nächsten Schritte vorhersagen. Denn hat man erstmal ausreichend Informationen, dann braucht es nur noch Algorithmen, die sich durch diese Daten wühlen. Und an dieser Stelle kommen die Pre-cogs ins Spiel. Die Precogs haben die spezielle Fähig-keit, diese Algorithmen zu entwerfen, mit denen sich die belastbaren Fakten herausfiltern lassen – mit der Unerbittlichkeit der Maschinen.“

Du wirst einen Mord begehen. Selbst von einem Orakelspruch getroffen, verschiebt sich für John An-derton der Fokus. Wenn die eigenen vier Buchstaben auf dem Spiel stehen, lassen sich „menschliche Ge-fühle, Gedanken und Motive“ nicht mehr so leicht aus der Bilanz halten. Anderton kann sich nicht vorstel-len, unter welchen Umständen er sich beim Showdown NICHT dagegen entscheiden können sollte, den Abzug zu drücken und Leo Crow (ein Opfer, das er nicht mal kennt) zu töten. Gerade, weil er weiß, er wird es tun, müsste er doch ohne Probleme nein sagen können. Im Verlauf der Handlung trifft er jede Entscheidung so, dass er Crow Stück für Stück näher kommt. Er will wissen, was da los ist, wer dieser Mann sein soll, den er umbringen wird: Aufklärungsdurst eines Polizisten, den der Precog Agatha bereits in ihre Vorhersage ein-kalkulierte, lange bevor Anderton den ersten Schritt tat. Anderton ermittelt nun gegen und für sich selbst, erwartet den Moment der Entscheidung (schieße ich oder schieße ich nicht) nicht mehr von „außen“, son-dern lädt ihn von „innen“ mit Befürchtung, Hoffnung und Neugier auf. Kann er Kraft seiner Willensstär-ke die fest geschmiedete, dicht gefügte Kausalkette aufsprengen, die für Crow den Tod und für ihn ewige Sicherheitsverwahrung vorsieht? Lassen sich Ursache und Wirkung in ihrem engmaschigen Wechselspiel noch in die Parade fahren? Auch ohne Rückendeckung eines MINORITY REPORTS? Eine ziemlich amerikanische Fra-gestellung, die dem freien und eisernen Willen fast

alles zutraut (z. B. dem Individuum den unwahrschein-lichen Weg vom Tellerwäscher zum Millionär zu ebnen) – und für die sinnbildlich der gestählte Körper von Tom Cruise steht, der mit schierer Muskelkraft noch die letzte Fessel sprengt.

„Objektiv betrachtet gibt es für Anderton kein unlösbares Problem. Die Vernunft möchte ihm in der ihr eigenen Überheblichkeit zurufen: Wirf die Waffe aus dem Fenster. Geh doch ein Eis essen stattdessen. Der objektiven Handlungsfreiheit entspricht auf der Seite des Subjekts die Willensfreiheit. Nichts lässt allerdings vermuten (und das ist ein unamerikani-scher Gedanke), dass das Subjekt von innen her grund-sätzlich einfach nur völlig frei wäre. Zwänge exis-tieren innen wie außen. Die moderne Moralphilosophie, ausgehend von Immanuel Kant, vermutet schon lange, was Neurowissenschaftler in jüngeren Jahren empi-risch belegt haben oder zu haben glauben: Der Wille, genauer, das alltägliche Wollen und Wünschen, all die kleinen Entscheidungen an einem Tag, sind entgegen aller realen Wahrnehmung des Einzelnen gerade NICHT FREI, sondern vollständig DETERMINIERT. Sie sind manipuliert und manipulierbar. Und zwar immer, über-all. Kant nutzte dafür den Begriff der „Triebfeder“, die noch jede Alltagshandlung einem Zweck unter- ordnet: der Befriedigung dieses oder jenes Triebs. Keine Entscheidung kann frei sein, die in einem derartigen um-zu-Verhältnis zu ihren Folgen steht und angezogen wird von einem Begehren, das auf Befrie-digung aus ist – ein Begehren, das zwar irgendwie dem Ich angehörig erscheint, aber dennoch wie ein Fremdes, Bedrohliches agiert.

Rache begehren. Anderton betritt das Hotel-zimmer, das zum Tatort werden soll. Er begreift, wer Leo Crow ist: Entführer und Mörder seines Sohnes Sam-my. Die innere Kausalkette beginnt zu wirken. „Ich hab während der letzten sechs Jahre über zwei Dinge nachgedacht: Erstens, wie Sammy wohl aussehen wür-de, wenn er noch am Leben wäre. Und zweitens, was ich mit seinem Entführer machen würde.“ Wer experimen-tell etwas darüber erfahren möchte, wie frappierend unzuverlässig Wahrnehmung, Erinnerung und – noch gesteigert – die Erinnerung an eine Wahrnehmung und die Wahrnehmung einer Erinnerung sind, schaue mit einer Gruppe von Freunden Steven Spielbergs „MINO-RITY REPORT“. Am Ende des Films stelle man der Run-de die Frage: Was genau ist zwischen John Anderton und Leo Crow während des Showdowns geschehen? Zu Beginn der Probenzeit verwendeten wir eine volle Stun-de darauf, die entscheidende Szene wiederholt und in Zeitlupe anzuschauen, annähernd Frame für Frame, um die unterschiedlichen Ansichten darüber zu synchro-nisieren. HERE IS WHAT REALLY HAPPENS. Sekunden vor dem vorausgesagten Mord beißt Anderton/Cruise noch einmal fest die Zähne zusammen. Agatha flüstert: YOU CAN CHOOSE. Und tatsächlich sprengt der kleine FBI-Agent mit den dicken Armen die fest geschmiedeten Glieder der Kausalkette und ringt seinen inneren Drang nach Rache nieder wie einen übermächtigen Gegner – was ohne die Voraussage des Mordes tatsächlich kaum denkbar erscheint. Die Voraussage hat es der Vernunft gewissermaßen erlaubt, mit langem Anlauf die Affekte im entscheidenden Moment zu kontrollieren, das Fin-gerzucken am Abzug zu unterbinden. Er schießt nicht, sondern schlägt den Weg einer Verhaftung Crows inner-halb des Rahmens der Legalität ein, klärt Crow über seine unveräußerlichen Rechte auf usw. Ein Etappen-sieg für die Vernunft, die Freiheit des Willens.

Crow ist entsetzt darüber, dass Anderton ihn nicht tötet, denn er ist von morbider Todessehnsucht. Er klärt Anderton über die Vorgeschichte auf: Er ist nicht der Entführer oder Mörder von Sammy, sondern ein verurteilter Verbrecher, der von einem Unbekann-ten dazu genötigt wurde, den Entführer zu spielen. Anderton ist abermals fassungslos. Beinahe hätte er den Falschen exekutiert, was er darüber hinaus nach getaner Tat niemals hätte erfahren können. Er senkt die Waffe, aber Crow greift entschlossen nach seiner Hand, Andertons Zeigefinger ist noch immer am Ab-zug, und hält sie sich direkt vor den Bauch. KILL ME. Anderton kann Crow kurzfristig beruhigen, abermals senkt er die Waffe. LEB WOHL LEO CROW. Als Ander-ton sich abwenden will, reißt Crow die Waffe hoch, Agatha schreit, Close-Up der Waffe, Crows Hände am Lauf, aber eindeutig nicht in der Nähe des Abzugs. Crow und Anderton stehen 20 cm voneinander entfernt, wenn der Schuss fällt. Andertons Arm mit der Waffe sehen wir nicht, er müsste jedoch in einem Winkel von ca. 90° gebeugt sein. Schnitt auf ein frisches Einschussloch in der Glasfassade. Durchschuss durch Körper und Fenster. Und dann der Schnitt, durch den „MINORITY REPORT“ von einem sehr guten Film zu ei-nem großartigen Kunstwerk aufsteigt. Anderton steht da, mit Entschlossenheit im Blick und ausgestreck-tem Arm, die Waffe auf Crow gerichtet, im Abstand

von vielleicht zwei Metern. Leo Crow fliegt rückwärts durch die Scheibe, von der Wucht des tödlichen Tref-fers zurückgeschleudert. Der Zuschauer sieht – nur für zwei eindringliche Einstellungen, Bruchteile einer Sekunde – die Bilder der Hinrichtung aus Affekt, die der Zuschauer aus der Vorhersage kennt. Die Logik bringt Bild 1 (Anderton und Crow im Abstand von 20 cm, Arm gebeugt, Anderton im Abwenden begriffen) und Bild 2 (Abstand 2m, der entschlossene Anderton mit ausgestrecktem Arm) nicht zusammen. Der Rück-stoß des Schusses, wie er sich aus Bild 1 ergeben hätte, geht mit dem gestreckten Arm aus Bild 2 nicht zusammen. Schnittfehler? Nachlässigkeit? Nur der aufmerksamste Zuschauer wird nach dem ersten Sehen all das rekapitulieren können. Ob es sich jetzt um ei-nen Schnittfehler handelt oder, was wahrscheinlicher ist, clevere Berechnung von Spielberg, man könnte zu-nächst argumentieren, dass die Schnittfolge unnötig komplex ist – schließlich ist bereits Andertons frei-er Entschluss, Crow nicht zu töten, und der unmit-telbar anschließende „Einspruch der Moiren“ Paradox genug: Crow reißt die Waffe rum, der Schuss fällt, und das ERGEBNIS des Showdowns wird ununterscheidbar von dem der Vorhersage. Crow tot, Anderton (steht da wie) ein Mörder, freier Wille hin oder her. Man könn-te schon an dieser Stelle schöne Sätze aufschreiben wie: Man kann die Zukunft verändern, aber man kann sie nicht verändern. Es gibt den freien Willen, aber es gibt ihn nicht. Es hilft, die Zukunft zu kennen, aber es hilft nichts. In Abwandlung von Heiner Müllers „Wie soll ich ihn nennen: Mörder seiner Schwester oder Sieger über Alba?“ (aus: „Der Horatier“, ein Stück über das moralische Dilemma im Zuge einer Kriegs-list, die den Horatier zugleich schuldig und zum Hel-den macht) könnte man sagen: „Wie soll ich Ander-ton nennen: Mörder von Crow oder Beweisführer der Freiheit?“ Die Wahrheiten stehen nebeneinander, ver-knüpft durch ein sich ausschließendes ODER. Das gibt schon genug zu denken auf. Warum aber dieser rätsel-hafte Schnitt auf den BLOSSEN, KALTBLÜTIGEN KILLER, der nahelegt, die Vorhersage habe sich doch 1 zu 1 erfüllt? Vielleicht ist dieser Schnitt dazu da, Unsi-cherheit zu verbreiten über die generelle Lesbarkeit der Szene? So dass man drüber sprechen muss? Viel-leicht ist sie als Vergrößerung des Umstands gedacht, dass Crows Finger nicht auf dem Andertons liegt, wenn der Schuss fällt (was zahlreichen Zusammen-fassungen des Plots entgeht)? Wofür der Dreischritt? 1) Anderton begehrt auf und setzt seinen Freien Willen durch, 2) Dafür interessiert sich aber das Ergebnis der Situation nicht, und Andertons „Wer weiß schon, wa-rum Menschen so handeln, wie sie gerade handeln? Der entscheidende Punkt ist, DASS sie es tun!“ er-weist sich als unterkomplex und juristisch unhaltbar. Motive gehören bei der Bewertung einer Tat dazu. 3) Alle Komplexität relativiert nicht die Tatsache, dass Anderton geworden ist, was er immer schon sein sollte, wie Orest, wie Ödipus: ein Mörder.

Bei Heiner Müller in „Der Horatier“ geht es ums Gedenken und Bestrafen, um eine Politik der Erinnerung und der Schuld. Soll der listige Horatier als Held verehrt oder als Mörder getötet werden? Wikipedia über den Kerngedanken des Stücks: „Es werde entschieden, stets Verdienst und Schuld zugleich zu benennen, nicht fürchtend die unreine Wahrheit […], nicht verbergend den Rest. Hiermit beschreibt Müller eine andere Lösung, nämlich eine, die kenntlich ma-chend die Dinge die Widersprüchlichkeit menschlichen Handelns beschreibt.“ (kursiv: Original Heiner Müller) NICHT VERBERGEND DEN REST.

Lamar Burgess, Gründer von PRECRIME, befindet sich kurz vor Schluss des Films in einer ähnlichen Situation wie gerade noch Anderton: Mit gezogener Waf-fe steht er Anderton gegenüber, ein REDBALL von den Precogs sagt einen Mord aus Affekt voraus. Das Dilemma des PRECRIME-Vaters: Wenn er Anderton umbringt, muss er in die Sicherheitsverwahrung, aber der Glaube an die Unbestechlichkeit/Unfehlbarkeit von PRECRIME bleibt erhalten. Tut er es nicht, steht PRECRIME vor dem Ende, Burgess bleibt jedoch ein freier, wenn auch gescheiterter Mann. Der Film läuft hier Gefahr, die philosophische Dichte zu verlieren, und Partei zu ergreifen für a) den freien Willen (die „amerika-nisch-moderne Variante“: er schießt nicht) oder b) die Unhintergehbarkeit des vorausgesagten Schick-sals (die „griechisch-antike Variante“: er schießt). Beides würde die Botschaft des Films durch Ein-Eindeutigkeit verwässern. Spielberg löst das brillant, auf die einzig mögliche Weise: Suizid von Lamar Burgess. Am Ende des Plots steht die monströse Frage, ob die einzig freie Entscheidung, die diesen Namen tatsächlich verdient, in Zusammenhang stehen könnte mit der Verfügung über den eigenen Tod. Check. 2014

wieder ab 29. November im Schauspielhaus:

TOd EINEs HaNdlUNgs- REIsENdEN

von Arthur Miller

Regie: Liesbeth Coltof , Bühne: Guus van Geffen Kostüme: Carly Everaert, Dramaturgie: Dirk Baumann.

Mit: Andreas Beck, Sebastian Graf, Peer Oscar Musinowski, Uwe Rohbeck, Carolin Wirth

#ReisenderDo

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Page 50: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

Mankannjaschließlich aufdieMeinungeinesMenschen

nichtsgeben,dernochnichtdazugekommenist,sichden

Kopfklarzutrinken!“

Wenitschka, Alter Ego des Autors Wenedikt Jerofejew, ist auf dem Weg zum Moskauer Kursker Bahnhof, auf Gleis 4 fährt gleich der Zug nach Petuschki ab. Dort, in Petuschki, ist die Welt noch in Ordnung: hier wohnt seine Geliebte mit dem gemeinsamen Sohn, und es „verblüht nie der Jasmin und verstummt nie der Vogelgesang.“ Doch schon vor der Fahrt nimmt Wenitschka den ersten Schluck aus der Wodkaflasche – und wird den Rest der Fahrt auch nicht mehr mit dem Trinken aufhören. Flasche um Flasche wird geleert. Jerofejew nimmt uns mit auf eine feuchtfröhliche Zugreise, die ins Unter-bewusste des Alkohols führt. Wenitschkas Erlebnisse werden immer diffuser und phantastischer, es ist die Vermessung des Deliriums: Ein zum Sprung aus dem Waggon lockender Satan, eine verstümmelte Sphinx, deren Rätsel unlösbar sind, eine Horde Erinnyen, das alles begegnet Wenitschka auf seiner Reise. Und am Ende? Steht er plötzlich wieder in Moskau, vor dem Kreml, wo er auf vier merkwürdige Gestalten trifft.

Sind es apokalyptische Reiter? Und wie ist er über-haupt hierher gekommen? Keine Ahnung... Jerofejews Erzählung ist voll mit burlesken, satirischen Zügen, er erschafft ein groteskes Bild der metaphysischen Atmosphäre des russischen Alkoholismus. Nicht nur in Russland hat das Buch Kultstatus, auch im Rest der Welt erfreut sich „Die Reise nach Petuschki“ großer Beliebtheit.

Uwe Rohbeck

Tatyananach Anton Tschechow und Alexej Suworin Gastspiel von Biriken (Istanbul)

Die neue Inszenierung des Istanbuler Kollektivs Biriken nimmt als Grundlage Alexej Suworins „Tatjana Repina“ – ein Stück über die Schauspielerin und Sängerin Kadmina, die sich 1881 auf der Bühne während einer Aufführung umbrachte. Anton Tschechow schrieb einen ironi-schen Einakter als Ergänzung zu diesem Text. Für Biriken ist dieser Selbstmord ein Ereignis zwischen Wirklichkeit und Fiktion – oder auch ein Akt der Selbst-behauptung in einer Zeit, in der es geradezu unmöglich erscheint, sich an die beständig wandelnde Gesellschaftsordnung anzupassen ohne zu zerbrechen... Das Regie- und Performance-Kollektiv Biriken ist eines der internationalen Aushängeschilder der Istanbuler Szene und wurde mehrfach zu internationalen Festivals eingeladen, u. a. zu dem renommierten New Yorker Performance-Festival „Under The Radar“. Am 28. Februar 2016 im Studio des Schauspiel Dortmund (und am 27. Februar in Mülheim, Theater an der Ruhr)

Ac kopekler / Hungernde Hundevon Mirza Metin Gastspiel von Kumbaracı 50, Altıdan Sonra Tiyatro Mirza Metin erzählt in „Hungernde Hunde“ die berührende Geschichte der bei-den gegensätzlichen kurdischen Zwillingsbrüder Beser und Besir und ihren ganz alltäglichen, unspektakulären Überlebenskampf. Während Besir einen besonderen Hang zum sentimentalen Jammern hat, obwohl er immerhin Wohnung und Freundin hat, versucht sich der kleinkriminelle Beser daran, einen erbeuteten Tresor zu überreden, sich von selbst zu öffnen. Doch irgendetwas anderes hängt noch in der Luft, eine unausgesprochene Bedrohung, eine Angst entdeckt zu werden, ohne dass der Zuschauer weiß, woher die Gefahr droht... Der großartige Sermet Yesil spielt gleich beide Brüder in diesem Ein-Personen-Stück; zuletzt gastierte er in Dortmund in der vergangenen Saison als Vater in Serdar Bilis‘ eindrucksvoller Produktion von Lars Norens „Savaș – Krieg“. → Am 10. April 2016 im Studio des Schauspiel Dortmund (und am 9. April in Mülheim, Theater an der Ruhr)

Hate PoetryBriefe voller Beschimpfungen und Beleidigungen

Hassmails, obszöne Beleidigungen oder einfach nur hingerotzter Hass gegen alles, was fremd erscheint, haben Hochkonjunktur. Bekannte Journalist*innen werden als „Kanacken“ beschimpft und als „Islamspeichellecker“: Mely Kiyak, Özlem Topçu, Mohamed Amjahid, Ebru Tasdemir u. a. leeren ihre Mailfächer und lesen aus den derbsten, vulgärsten und dümmsten Leserbriefen.Eine große und unterhaltsame Show, in der die Zuschauer am Ende abstimmen dür-fen, wer den besten Hassbrief bekommen und vorgetragen hat.→ Am 14. November 2015, Schauspielhaus, 20 Uhr In Kooperation mit dem Türkischen Filmfest Ruhr

dIE REIsE NacH PETUscHKInach Wenedikt Jerofejewab 16. Januar 2016 im Studio

Regie: Katrin Lindner, Dramaturgie: Dirk Baumann. Mit: Uwe Rohbeck

#PetuschkiDo

Gastspiele aus Istanbul

sZENE IsTaNbUl/ IsTaNbUl saHNEsI

ab Februar 2016 im Studio

HEINER MüllER FacTORYvon und mit Uwe Schmieder

ab 4. September 2015 im Institut

gasTsPIElam 14. November 2015

im Schauspielhaus

Frontalangriffe auf unser Denken und Fühlen. Heiner Müller, der Dramatiker mit Hornbrille und Zigarre, ist vielleicht das Bes-te, was die deutschsprachige Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat – auf jeden Fall aber das Rätselhafteste, Faszinierendste, Abgründigste. Die Theaterstücke, Prosa und Lyrik sind Frontalangriffe auf unser Denken und Fühlen. Bis heute. Heute erst recht. Heute wie nie.Der Dortmunder Schauspieler, Regisseur und Theater-Malocher Uwe Schmieder kämpft sich seit Jahrzehnten durch Müllers uferloses Werk. In der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 2015, mit dem 86. Geburtstag des Dramatikers, öffneten sich mit Kawumm die Fabriktore zu Schmieders HEINER MÜLLER FACTORY. Bis zum 30. Dezember, Müllers 20. Todestag, kommen nun die letzten drei Folgen, die niemand verpassen sollte, der irgendetwas von sich hält! FACTORY #8 Heiner Müllers „Mommsens Block“ mit Uwe Schmieder (16. Oktober, 22 Uhr im Institut)FACTORY #9 „Brief an Heiner M.“ von Goran Ferčec mit Uwe Schmieder und Live-Video-Art von Daniel Hengst (7. November, 22.30 Uhr im Institut)FACTORY #10 „MÜLLER FLUTEN“ - zum 20. Todestag von Heiner Müller. Was war, was bleibt? (30. Dezember, 22 Uhr im Studio)

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Page 51: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

Durch theatrale Sabotageakte und Spionage auf Missstände in Deiner Stadt aufmerksam machen und sie verändern?Dann werde THEATERPARTISANE! Der Jugendclub am Schauspiel Dortmund braucht Dich! Die THEATERPARTISANEN sind der jugendliche Nachwuchs im Schauspiel Dort-mund und extrem unternehmungslustig. Sie improvisieren Gemüserevolutionen im Probebühnenkühlschrank, surfen im Weltall oder schlüpfen in andere Wesensarten, wie z.B. Zombies oder Versuchskaninchen.Bei gutem Wetter entdeckt man sie in der Dortmunder City bei Free Hugs und Walk Acts.Dafür treffen sich alle interessierten Jugendlichen von 14-18 Jahren jeden Mittwoch von 17-19.00 Uhr vor dem Schauspielhaus und gehen auf die Probebüh-ne 3. Willst Du mitmachen? Geprobt werden verschiedene Impro-Formate, und am 15. Dezember gibt es dann die legendäre ImproShow im Studio des Schauspiel Dort-mund!

PARTYSAHNEN 16+ WORAUF WARTEN WIR??? PARTYSAHNEN 16+ erschaffen auch in dieser Spielzeit ihr eigenes Stück: Schreiben, diskutieren, spielen – gemeinsam entwickeln und schreiben wir szenische Experi-mente, die dann von Euch selbst auf der Bühne ausprobiert werden. Wie entwickelt man eine Theaterszene? Wie entwickelt man Figuren? Wie wird man Partner auf der Probe und wie Freund im realen Leben? Was verbindet uns? Ist Angst ein Motor? Es stehen Fragen im Mittelpunkt wie: Wann ist jetzt? Bin ich frei? Hast Du einen Clown gefrühstückt? Worauf warten wir? Ist das Paradies bestechlich? Sind wir auf der Flucht? Ist Freiheit an allem schuld? Ist Politik verwerflich? Was soll der ganze Zirkus? Sind wir morgen schon anders? Aus den geschriebenen Texten entwickelt ihr zusammen mit der Theaterpädagogin Sarah Jasinszczak und dem Dramaturgen Thorsten Bihegue ein neues Stück, das dann im Studio des Schauspiels mehrmals aufgeführt wird: „Worauf warten wir?“ (Premiere: 12. März 2016) Anmeldung unter: [email protected]

THEaTERPaRTIsaNENDer Jugendclub am Schauspiel Dortmund

HERbsTaKadEMIEvom 5. - 9. Oktober im ganzem Schauspielhaus

Jedes Jahr öffnet das Schauspiel seine Bühnen in den Herbstferien und lädt Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren während der Herbstakademie dazu ein, ihre eigenen Visionen und Sichtweisen ins Theater zu bringen! Ihr könnt Eure Ideen in die Tat umsetzen und Euren eigenen Zugang zur Kunst finden. Dabei stehen verschiedene künstlerische Institute zur Wahl, neben klassischem Theater auch andere Künste: Tanz, Performance, Film, Bildende Kunst, Musik, Hörspiel, Street Art. Unter professioneller Anleitung von Künstlern macht Ihr Euch spielerisch und forschend daran, kreative Umsetzungen zu entwickeln und Eure Visionen lebendig werden zu lassen. Am Ende der Workshop-Woche geben die Institute einen Einblick in Ihre Arbeit während einer öffentlichen Abschlusspräsentation.

Jedes Jahr hat die Herbstakademie dabei ein anderes übergeordnetes Thema. In dieser Spielzeit stand die Herbstakademie unter dem Titel „Meins, Deins, Unsers: Haben oder Teilen?“ und befasste sich mit dem „Trend“-Phänomen des Teilens – so-wohl in sozialen Netzwerken wie im echten Leben, von Sharing Economy bis zu Open Source. 2014 lautete das Motto „rausch sucht sehnsucht“, unter dem die Jugend-lichen das Rauschpotential von Tanz, Farben, Musik und Geräuschen untersuchten. Während der ersten Herbstakademie 2013 „Wir werden reich sein“ untersuchten 80 junge Menschen die Phänomene von Armut und Reichtum und fanden viele kreative Möglichkeiten der Umsetzung – von Theater bis zu Street Art.Leitung: Dirk Baumann, Sarah Jasinszczak

Foto: Clara Hedwig

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Das Schauspiel Dortmund versucht derzeit, die Grenzen zwischen Marketing und Kunst durchlässiger werden zu lassen. Das heißt für uns natürlich nicht: mehr Marketing in der Kunst - sondern umgekehrt: mehr Kunst im Marketing. Wir schließen uns dabei dem Konzept des „Multiplattform Storytelling“ aus der Aktionskunst an, d. h. dem Geschichtenerzählen auf diversen medialen Bühnen. So hat z. B. die Geschichte der „DIE SHOW“ schon Tage vor der Premiere im August begonnen: auf Facebook, bei Twitter und Youtube sowie auf unserem Blog. Da gibt es Interviews mit den Figuren, ein Musikvideo des japanischen Popstars Baeby Bengg, und Twitter-Statisten aus der Region haben sich beteiligt und Bernhard Lotz während der Spiele im Stadtraum fotografiert und die Fotos mit dem Hashtag der Show versehen. Es gibt dadurch kein von der Vermarktung abgeschottetes Kunstwerk mehr, sondern die (digitale) Vermarktung und interaktive Rezeption (etwa durch Twitterer) wird selbst Teil des Gesamtkunstwerks.

Kommuniziert und diskutiert mit uns in den Sozialen Netzwerken, jede Inszenierung erhält einen eigenen Twitter-Hashtag, z. B. #DIESHOWDO.

Unsere Social Media - Geschichten könnt ihr nachlesen unter:→ Storify.com/schauspieldo

Das Schauspiel Dortmund im Netz:

Twitter: @schauspieldo

Facebook: schauspieldortmund

Youtube: schauspieldortmund

Instagram: schauspieldortmund

Vine: schauspieldortmund

Programmhefte 3.0 auf unserem Blog: blog.schauspieldortmund.de

„Das Schauspiel Dortmund ist eine der führenden Ideenschmieden der deutschsprachigen Theaterlandschaft.“ Süddeutsche Zeitung

„Dortmund ist Theatermeister. Das Ensemble ist zum führenden deutsch-sprachigen Theaterlabor aufgestiegen.“ Die Welt

„Seitdem Kay Voges die Leitung des Schauspiels Dortmund übernommen hat, wird dort das Stadttheater so dermaßen permanent neu erfunden, dass man es schon mit der Angst zu tun bekommen kann. Kaum hat man mal 10 Minuten nicht nach Dortmund geschaut, hat man den nächsten Knaller verpasst.“ Nachtkritik

„Das Schauspiel Dortmund ist in der ästhetischen Reflexion digitaler Welten führend.“ Die deutsche Bühne

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sOcIal MEdIaLeitung: Laura Sander

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Björn Gabriel

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Impressum:

Spielzeit 2015/2016

Herausgeber: Theater Dortmund

Geschäftsführende Direktorin: Bettina Pesch Intendant des Schauspiels: Kay Voges

Redaktion: Kay Voges (Leitung), Dirk Baumann, Michael Eickhoff, Alexander Kerlin,

Anne-Kathrin Schulz, Sarah Jasinszczak, Laura Sander, Mirjam Beck, Annika Maria Maier, Djamak Homayoun

Inszenierungsfotos: Birgit Hupfeld, Edi Szekely

Portraitfotos: Marcel Schaar (www.marcelschaar.de), Birgit Hupfeld (www.hupfeld.org)

Videostills: Daniel Hengst, sputnic, Mario Simon

Produktkoordination: Stefan Kriegl

Konzept und Gestaltung: sputnic (www.sputnic.tv)

Druck: Rheinisch-Bergische Druckerei GmbH, Düsseldorf

Redaktionsschluss: 2. Oktober 2015

~ Irrtümer und Änderungen vorbehalten ~

→→→→→→→ MEGASTOREFelicitasstraße 2

44263 Dortmund

→ U47 (Richtung Hacheney) bis „Rombergpark“ → dann Bus 440 (Richtung Aplerbeck) bis „Pferdebachtal“

oder → U41 (Richtung Hörde) bis „Hörde Bahnhof“

→ dann Bus 440 (Richtung Germania) bis „Pferdebachtal“

EintrittspreisePremieren: 25,- / 13,- Euro

Regelpreise: 19,- / 10,- Euro

Schauspiel-Abonnenten bekommen 30% Rabatt für Vorstellungen im Megastore.

1) „Das Fest“, „Hamlet“, „Eine Familie“ 2) „DIE SHOW“, „Herbstakademie“ 3) „Das Glitzern der Welt“, „>TOTAL VIEW BETA<“, „Kaspar Hauser“, „Der goldene Schnitt“, „Szene Istanbul“, „>Every Step You Take<“ 4) „Blackbox BRD“, „WEISSE WÖLFE“ 5) „Blackbox BRD“, Interview Tommy Finke 6) „WEISSE WÖLFE“ 7) „DIE POPULISTEN“ 8) „DIE POPULISTEN“ 9) „Theater trifft Aktion“ 10) „2099“ 11) „4.48 Psychose“ 12) „>Every Step You Take<“ 13) “next level conference” 14) „next level conference” 15) „Die Borderline Prozession“ 16) „Einige Nachrichten an das All“ 17) „Einige Nachrichten an das All“ 18) „Einige Nachrichten an das All“ 19) „Einige Nachrichten an das All“ 20) „Szene Istanbul“,„>Every Step You Take<“ 21) „Szene Istanbul“ 22) „Der goldene Schnitt“ 23) „Hate Poetry“ 24) „Herbstakademie“ 25) „Herbstakademie“

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Vorverkaufskasse im Opernhaus (Platz der Alten Synagoge)

Di – Fr 11-18.30 Uhr, Sa 10-15 Uhr

Tickethotline 0231/50 -27222Mo - Sa 10-18.30 Uhr

[email protected]

┈┈┈┉┊┈┈┈┈┈┈┈ Onlinetickets www.theaterdo.de

Abo- und Gruppenbestellungen 0231/50 -22442Di - Fr 11-17 Uhr

[email protected]

AbendkasseDie Abendkasse öffnet am jeweiligen Veranstaltungsort ab eine Stunde vor Vorstellungsbeginn. Reservierungen sind bis eine halbe Stunde vor Vorstellung abzuholen.

Einlass für zu spät kommende Besucher kann erst nach Bild- oder Aktschluss nach Anweisung des Abenddienstes erfolgen. Es besteht kein Anrecht auf Nacheinlass und auf die gebuchten Plätze.Im Studio kann generell kein Nacheinlass erfolgen.

TheaterflatrateStudierende der TU-Dortmund und FH-Dortmund erhalten kostenlose Eintrittskarten. Weitere Infos und Konditionen unter: www.tdo.li/theaterflatrate

↓ Zentraler Kartenvorverkauf

für alle Spielstätten

STUDIO/SCHAUSPIELHAUS ←←Hiltropwall 44137 Dortmund → Haltestelle: „Stadtgarten“ Eintrittspreise Schauspielhaus:Premieren und musikalische Produktionen: 12,- bis 33,- EuroRegelpreise: 9,- bis 23,- EuroStudio:Premieren: 19,- / 12,50 EuroRegelpreise: 15,- / 10,- Euro Sondervorstellungen: Preise werden zum Vorverkaufsstart bekanntgegeben

Uwe Schmieder

Page 54: MEGAZINE - Das Spielzeitheft des Schauspiel Dortmund 2015/16

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