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Joachim und Elsa Gabka, Zur patholog. Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 239

di luviale Mensehenkind genau dieselbe B e d e u t u n g gehabt wie fiir das rezente Mensehenkind heute der Durehbruch des 1. Molaren mit dem 6. Lebens jahr .

AbsehlieBend zu diesem Thema sei mir ges ta t t e t , die Wiedergabe einer Rekon- s t ruk t ion des kindl iehen Unterk iefers E I I yon Ehr ingsdo r f /We imar zu bringen (Abb. 13). So h/i t te der Unte rk ie fe r ausgesehen, wenn nieht post mor t em die reehte Seite und die Z/ihne im l inken Se i tenzahngebie t ver lorengegangen wfiren.

P~ M. M~ M~ #n Durchbruch, '{ ( L._J~

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Abb. 13. Unterkiefer Ehringsdc*rfII. bpie~zelbildlieh rek~mstruiert yon ],:Stzschke. l/ekon~truiel'te Teile sind leicht getSnt

$chrffttum 1. Virehow. H., Dis mensehliehen Skelettreste aus dem I~mpfesehen Brmh im Tra-

vertin yon Ehringsdorf bei Weimar. Jena 1920. - - 2. W e i n e r t . H., Der Seh/idel des eis- zeitliehen Mensehen yon Le Moustier. Berlin 1925. - - 3. G o r j a n o w i d - K r a m b e r g e r , Der diluviale Menseh yon Krapina. Wiesbaden 1909.

An~chrift des Verf. : I ludols tadt /Thi i r i l lg(m, August-]3ebel-Str. 15

Aus der Kieferehirurgiseh-orthoptidischen tteilstg~tte SchloB Whalhvitz bei Leipzig ((]hefarzt : Prof. Dr. Dr. Wol fgang g o s e n t h a l )

und aus der Universitt~tsklinik ftir Kiefer- und Gesichtsehirurgie der 0harit6 Berlin (Direktor: Prof. Dr. Dr. Wol fgang Rosen tha l )

Zur pathologischen Beelnf lussung des Oberkieferwaehstums -- speziell vom ehirurgisehen Standpunkt 1)

1. Teil

Yon Doz. Dr. Dr. reed. habil. Joachim Gabka und Dr. Dr. reed. Elsa Gabka, Berlin

Mit 86 Abbildungen

Jeder EinfluB, der zu einer H e m m u n g oder einer unphysiologischen FSrde rung des Oberkieferwachstums ffihrt, is t von ausschlaggebender B e d e u t u n g fiir die Gestal tung des Mittelgesichts . E ine Abweichung yon der normalen E n t w i c k l u n g

1/Preisar'oeit, eingereieht zum wissenschaftlichenWettbewerb der ,,Deutschen Gesellschaft fiir Kieferorthopgdie" (Abgabetermin 1. April 1956).

16"

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hat gerade hier weittragende Bedeutung. Wir wissen, dab ganz allgemein gesehen die k6rperliehe Verfassung eines Mensehen yon Kindheit an sein psyehisehes Verhalten bestimmt. Ob ein Menseh in irgendeinem Sinne sehSn oder hgl~heh ist aueh wenn es sieh um ein k6rperliehes Gebreehen handelt -- er wird unter stgndigem Kontakt fiir die Art des Gefiihls seines Iehs, naeh seiner kSrperliehen Erseheinung also, modelliert werden und wird mit seinem -4ugeren seeliseh ver- waehsen, so dab K6rpergestalt und Seele letztlieh zusammengeh6ren, ,,aueh wenn sie es in ursprtinglieher Bildung gar nieht w/iren" ( Jaspers ) . Es wird also dureh rein kSrperliehe Deformierungen die iiugere Gestalt eines Mensehen veriindert, die Physiognomie also sekundgr wesentlieh beeinflul3t, woraus oft eine erhebliehe Ver- i~nderung der individuellen Pers6nliehkeit des betroffenen Mensehen resultiert.

Da der Aufbau des Gesiehtssehi~dels und damit der formgewordene Ausdruek des Individuums sowohl von endogenen als aueh yon exogenen Einfliissen ab- hiingig ist, wird es immer eine der Hauptaufgaben der therapeutisehen Forsehung sein, die kausalen Zusammenhgnge des jeweiligen Leidens zu eruieren. Es ist daher versti~ndlieh, dab gerade im Hinbliek auf die therapeutisehe Beeinflussung die Forsehung der exogenen Krankheitsursaehen in den letzten Jahren in den Vordergrund geriiekt ist. Hier hat es sieh nun gezeigt, dab wir heute nieht mehr exakt endogene und exogene Faktoren voneinander abgrenzen k/Snnen, die gleieh den Begriffen Erbmasse und Umwelteinfliisse in ihrer Auswirkung oftmals kon- fluieren. Gerade unsere modernen genetisehen Arbeiten beriehten immer wieder yon den iiberrasehenden experimentellen Ergebnissen, die fast iibereinstimmend aussagen, dag Anlage und guBerer EinfluB die jeweilige Entwieklung zusammen beeinflussen, und es entspreehend der daraus resultierenden Konstitution in dem einen Fall zu einem {~'berwiegen der exogenen Umwelteinfliisse kommt, im an- deren jedoeh die vererbte endogene Disposition so stark ist, dab die Reizsehwelle fiir die Wirkung der yon augen kommenden Sehiiden nieht iibersehritten wird.

Unsere Arbeit unternimmt nun den Versueh, Formver/inderungen des Ober- kiefers zu bespreehen, die dureh versehiedene Krankheitsbilder endogenen und exogenen Charakters zustande gekommen sind. Wir konnten hierbei nur aus- wghlend vorgehen, da die Fiille des Themas dazu zwingt, bestimmte Grenzen zu ziehen. Wir haben uns einzelne Gruppen und Fiille herausgegriffen, die besonders zu morphologisehen Umwandlungen neigen und deren kausale Zusammenh/inge offensiehtlieh sind.

Vonde r kieferorthopgdisehen Therapie wissen wir, dab naeh MSgliehkeit ein funktioneller Reiz im Knoehengewebe gesetzt wird, der unter dem Einflug der muskultiren Beanspruehung die beteiligten Knoehenbglkehen mikrodimensional beeinflugt. Es kommt dadureh zu einer Ersehfitterung der angrenzenden Kno- ehenzellen die ihrerseits gezwungen sind, einen Umbauprozeg durehzumaehen. R o u x sieht darin das Wesen des funktionellen Reizes im Knoehensystem, und wir bezeiehnen es als ein {)bersehreiten der spezifiseh-physiologisehen Reiz- sehwelle. Zu einer morphologisehen Vergnderung des Knoehens - also aueh zu einer Deformierung - mug in jedem Fall ein bestimmter Sehwellwert erreieht werden. Wird jedoeh bei dieser Umgestaltung der Reiz dann untersehwellig, h6rt die Knoehenumbildung auf und es tritt ein Ruhestadium ein, d.h. also, dab die sog. funktionelle Anpassung vollzogen ist. Diese besonders yon der Hi*upl- sehen Sehule pathohistologiseh gesieherten Tatsaehen beweisen, dab zur thera- peutisehen Beeinflussung immer ein gewisser stiirkerer Reiz vorhanden sein muB, ebenso wie nur ein soleher in der Lage ist, eine morphologisehe Veriinderung des Mittelgesiehts hervorzurufen.

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Grunds~tzlieh kann dieses Thema jedoch nieht nur vom Blickpunkt der Orthodontie beleuehtet werden. Es liegt vie]mehr im ~Vesen der funktionellen Entwicklung, dab sieh die vielfaltigsten Einflfisse und pathologischen Geschehnisse auf den Gesiehtssch~tdel und besonders auf die Bil3verh~ltnisse auswirken k6nnen. Gerade hier mul~ beaehtet werden, dal3 auch im Kiefer-Gesiehtsbereieh mit Phanokopien, d. h. mit gestaltliehen Ver~nderungen durch eimrandfreie ~uBere Reize gerechnet werden mug, die man bislang nur endogenen Einfltissen zusehrieb. Durch die bisher in dieser Richtung getatigten Experimente, die sieh besonders am Gesichtsseh~tdel auswirkten, konnten beispielsweise pathologische Form- ver~tnderungen, wie eine Azephalie, Anenzephalie, eine Zyklopie, die verschie- densten Spaltbildungen, F~lle yon Dysostosis mandibu]ofaeialis nsw. hervor- gerufen werden. So gelang aueh den Verfassern, wie an anderer Stelle ausftihrlieh berichtet werden wird, die Erzeugung verschiedener Ph~nokopien durch die Toxo- p]asmose bei M~usen und Ratten. Insbesondere fiel dabei die H~ufung yon Chei]o- und Uranosehismen auf sowie interessanterweise verschiedene sehwerere Xiefer- anomalien. Hinsiehtlieh der Atio]ogie und Genese der pathologischen Bil3formen miissen wir heute also mit einer Summe vieler Faktoren reehnen und mit Fak- toren, die teilweise sehon intrauterin zur Entfaltung kommen.

~Venn wir in dieser Arbeit die Einfltisse der versehiedensten Krankheitsbilder auf den Oberkiefer bespreehen, so sol] dieses nur im Hinb]iek auf die Verquickung der somatischen Medizin und der Psyehopathologie mit besonderer Beriicksieh- tigung der Entwieklungsgesehichte geschehen. ~Vir m/issen uns darfiber klar sein, dal] die sog. Anomalien pathologisch-anatomische Ver~nderungen der nor- malen Morphologie des K6rpers sind, die im Hinblick zur Teratologie, zu der sie jg an sieh gerechnet werden miissen, fiber die physiologisehe Variationsbreite des Individuums hinausgehen und somit - wenn aueh die VaI'iabilit/i~ keil~e enger~ Grenzen setzt gewisse Funktionsst6rungen mit sieh bringen mfissen. Die bio- genetisehe Entwieklung dieser Abnormit/iten 1/tBt sieh nun jedoeh nicht dureh eine einmalige Inspektion oder Diagnoseste]lung abseh/itzen. Gerade die exakten Forsehungen yon B a u m e , K o r k h a u s . A. M. S c h w a r z , die zmn Studium der Entwieklungsvorg~mge der endogenen und exogenen Einflfisse auf die Kieferform als exakteste Methode Reihenuntersuehungen -- gewissermaBen .,Zeitlupen- aufnahmen der Entwieklung" - heranzogen, haben unser therapeutisches Riist- zeug erheblieh erweitert. Dieser Gesiehtspunkt erseheint uns yon gr6Bter Be- deutung; wir sind deshalb iihnlieh wie diese Autoren vorgegangen.

Vom chitin giseh en Standpunkt aus fielen uns bestimmte Kieferanomalien auf, die oft die Psyche des Patienten tangierten. Wir entsehlossen uns daher, im Rahmen dieser Arbeit insbesondere aueh die Einfliisse unserer thergpeutisehen MaBnahmen, n~mlieh die der ehirurgischen Eingriffe und Plastiken auf die Kiefer-Ge- sichtsschadel zu zeigen und dureh zwei Spezialreihenuntersuehungen zu erg/~nzen.

Wenn die Allgemeinprophylaxe auch das Ziel jeder Therapie sein wird, ist gerade die Problematik dieses Themas so aul3erordentlieh vielf/iltig und diffiziler Natur, dab wir - wie aus den sp/iter zu besehreibenden Ffillen ersiehtlieh wird -- leider nieht immer sagen k6nnen, dab man der prophylaktisehen Forderung ge- reeht wird. Bei manehem Fall h/itten termingereehte, d. h. entweder friihere oder spiitere Eingriffe weitgehende Besserungen gebraeht und eine Entstellung ver- mieden. Diese Fehlgriffe hier besonders kritiseh herauszustellen, ist ein Haupt- zweek unserer Arbeit. In der Folge wollen wir nun die einzelnen Krankheitsbilder, die wir jedoeh nur ganz kurz umreigen, bespreehen und dabei die teils f6rdernden, teils hemmenden Einflfisse auf das Oberkieferwaehstum besonders herausarbeiten.

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I. E n t w i e k l u n g s s t S r u n g e n des O b e r k i e f e r s d u r e h z e n t r a l e u n d ho r - m o n a l e S t 6 r u n g e n

13ei einer kfirzlieh yon H a y m und den Verfassern durehgeffihrten Reihen- untersuehung Sehwaehsinniger, zu deren Zweek wir mehrere Heft- und Pflege- anstalten aufsuehten, fiel uns die erhebliehe Anzahl yon Gebiftanomalien auf. Geistesgest6rte Kranke sind bekanntlieh, wenn nieht sehon eine Miftbildung des Seh~dels (Makro- oder Mikrozephalie usw.) vorliegt, an den typisehen rhyth- misehen Bewegungen und besonders an einem bl6den und leeren Gesiehtsausdruek erkennbar. Da es ganz allgemein als bekannte Tatsaehe gilt, dab die Physio- gnomie also aueh der Gesiehtsausdruek des GeistesgestSrten - weitgehend dureh die Mittelgesiehtsmal3e bestimmt wird und somit fast jede morphologisehe Vergnderung der beteiligten Knoehen statisehe Korrelationen aufweist, richteten wit unser spezielles Augenmerk auf diese Anomalien.

Sehon Ca rus hat in seiner ,,Symbolik der mensehliehen Gestalt" versueht, aus dem unbewugten physionogmisehen Sehauen des 5Iensehen ein Wissen zu maehen, ,,aus der Hfille den Kern, aus dem Symbol der Gestalt die Art der seelisehen Idee zu ersehauen". Er ging sehr sorgfgltig vor und war einer der ersten. der sowohl organoskopiseh, also messend untersuehte, als aueh die Vergnderung der Formen dutch die Lebensfiihrung (Pathognomik) besehrieb. Wir werden dutch ihn, der mit seinem Werk eine wissensehaftliehe Systematik physiognomi- sehen Erkennens sehuf, weitgehend an unsere moderne kieferorthopiidisehe Diagnostik erinnert. Wir k6nnen also feststellen, dal3 sehon vor 100 Jahren die Beziehungen des Gesiehtsausdrueks zu unserem zentralen Verhalten Gegenstand interessanter t]berlegungen waren. Es wundert uns daher nieht, wenn E e k e r t - M 6 b i u s naeh einem Jahrhundert exakter Forsehung der Naturwissensehaft sehon bet der normalerweise oft anzutreffenden Mundatmung yon einer Ver- kiimmerung des Gebig-Gesiehtssehgdels sprieht, die dureh eine funktionelle Minderbeanspruehung der Zunge, dureh das Ausbleiben der waehstumsf6rdernden I%eize auf den Oberkiefer zustandekommt.

Sehon die Mundatmung ist also imstande, dureh Veriinderung der Ober- kieferform meistens als transversale Kompression oft kombiniert mit oberer Protrusion die Physiognomie sekund~tr weitgehend zu beeinflussen. In einem wieviei stiirkeren Mage mug sieh nun eine geistige Abnormitgt mit der sehr h/iufig beobaehteten kombinierten Mundatnmng auf die Form des Gesiehtssehi~dels aus- wirken! Auf Gnmd unserer geihenuntersuehupgen konnten wir feststellen, dab dieser f/it Sehwaehsinnige typisehe Gesiehtsausdruek sehr oft. dureb dis relativ hgufigen Kieferanomalien hervorgerufen wird. Wir erfal3ten in den Anstalten "25'293 Sehwaehsinnige und fanden bet 6833 F~tllen das sind fiber 27 (}~ - st/irkere Bil3unregehn~tgigkeiten. Hierzu muff bemerkt werden, dal~ diese Reihenunter- suehung in erster Linie nieht kieferorthop~idisehen Problemen gait, sondern den Gesiehtsspaltbildungen, so daft bet der Gr613e des Materials die Anomalien nut als Nebenbefunde registriert werden konnten. Auffallend war die erhebliehe Anzahl yon Steilgaumentr~igern, wghrend geringffigige Abweiehungen im Rahmen dieser Untersuehung weniger interessierten.

Von den insgesamt fiber 25000 Sehwaehsinnigen konnten wir in beinahe 9500 ]~'gllen einen Steilgaumen diagnostizieren, h~teressanterweise wiesen gerade diese Probanden ein besonders ausdrueksloses Gesieht auf, was dureh die maneh- real erhebliehe Verl~ingerung des Mittelgesiehts zustande kam. ~Venn man be- denkt, daft diese 40~ Steilgaumentr~iger mit den 27~ ausgepriigter Kiefer- anomalien, die sieh zmn Tell jedoeh tibersehneiden, tiber die H~tlfte der Unter-

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suehten ausmaeht, so sprieht dies dafiir, dal3 dieser ffi," die geistigen Anormalen eharakteristisehe Gesiehtsausdruek dureh kephalometrisehe Abweiehungen zu- stande kommt. Erwghnenswert ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von W e b e r , der fiber Kariesanf/illigkeit und Kieferanomalien bei gesunden und geisteskranken Kindern beriehtete. Er fand bei 59% der Anstaltskinder gegen- fiber 12~o normaler Gleiehaltriger ein primgr gesundes Gebig und diagnostizierte bei den Debilen und Sehwaehsinnigen 23% Kieferanomalien gegenfiber 7,3% der normalen Kinder. Diese Zahlen st immen mit unseren Ergebnissen weitgehend fiberein; dagegen fanden wir erheblich mehr Steilgaumen als B o b e r , der yon 38000 Lehrlingen in 1993 F/~llen einen Steilgaumen eruierte. Diese gegenfiber unserer Untersuchung differierende Zahlenangabe ist nicht erstauntieh, bezeichnet doeh B o b e r gerade diese Steitgaumentrgger als eine besondere durch eine Dis- harmonie gekennzeichnete Personengruppe, die durch dienzephal-hypophysgr gesteuerte Regulationsst6rungen stigmatisiert sein soll. Wir mSchten auf Grund unserer Untersuchungen diese Theorie bestgtigen, besonders da B o b e r betont, dag die hylaophysgren St6rungen nicht nur die Gebil3entwicklnng beeinflussen. Auch R. S c h w a r z berichtete fiber hormonale StSrungen, die sich dutch hgufige Distalbisse auswirken und glaubt eine Disharmonie der Gesichtszfige mit einer Dishormonic erkl/iren zu kSnnen. Obwohl die letzte Feststellung nur hypothetisch zu werten ist, muB man zugeben, dab sie einer Wahrheit nieht entbehrt - denken wir doch nur an die experimentellen und manchmal leider gar nicht zu verhindern- den klinischen Nebenwirkungen gn'Sgerer Hormongaben.

Es ist jedoeh nieht so, da~ man sieh zur Erklgrung der -~tiologie der Kiefer- anomalien mit hormonalen St6rungen begnfigen kann. Hierzu hat kfirzlich K o r k h a u s ein Wort ausgesproehen, dab sich zu zitieren lohne: , ,Unter den verschiedenen Faktoren, die ffir die Ents tehung von Kieferanomalien verant- wortlich gemaeht werden, ist auch die Anfiihrung ,innersekretorischer St6rungen' sehr beliebt. Da das Spiel der endokrinen Driisen das normale Waehstum, damit aueh die Entwieklung der Kiefer regelt, so bedarf es naeh Ansieht maneher Autoren nut einer St6rung des innersekretorisehen Systems, um eine Kiefer- anomalie entstehen zu lassen. Diese Behauptung ist bequem, abet aueh sehr angreifbar, da sie den Sehwerpunkt der Frage lediglieh versehiebt und daher niehts erkl/irt. Sie ist aueh hSehst umvahrseheinlich, denn eine innersekretorische St6rung mul3 verstgndlieherweise das gesamte KSrperwaehstum in eharak- teristischer Art vergndern."

Unsere Reihemmtm'suehungsergebnisse bestgtigen weitgehend diese yon : K o r k h a u s aufgestellte These, waren doch die gefundenen GebiBanomalien ausgesprochen sekundgre StSrungen. Das beweist auch der prozentuale Anteil der mit anderen schweren k6rperliehen MiBbildungen Behafteten, der dem mit 0,83(}~) im Weltsehrifttum angegebenen Prozentsatz fiir allgemeine Migbildungen entspricht. DaB bei diesen geistig Anormalen sehr oft eine Disharmonie des innersekretorischen Systems vorherrscht, kann als bekannte Tatsaehe gelten. So hat schon S z o n di , der fast nut Hilfsschiiler untersueht hat - in dessenNaterial a]so die sehwersten Fglle von Idiotie gefehlt haben in 33~o seiner Fglle sehwere Vergnderungen des Blutdriisenapparates gefunden. Diese Vergnderungen, die gew6hnlieh in 90% mehrere endokrine Organe gleichzeitig betrafen, waren am hgufigsten an den Gesehleehtsdrfisen (78%), der Sehilddrfise (68o/o) und der H. ypophyse (60%). Dabei handelte es sieh zumeist um eine Minderleistung; eine Uberfunktion war seltener und da, wo sie sieh fand, regelm~tgig mit einer Insuf- fizienz anderer Drfisen verbunden. Imbezille, bei denen sgmtliehe untersuehten

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Drfisen eine gesteigerte Tiitigkeit aufgewiesen h~tten, hat S z o n d i nieht be- obachtet.

Seitdem L a n g d o n D o w n (1871) auf Grund umfangq'eieher, an psycho- pathischem Krankenmateria] angestellter Untersuehungen die Aufmerksamkeit auf die Korrelation zwischen Idiotie und Imbezillit~t mit Gaumen- und Kiefer- deformitS.ten gelenkt und daraus weitgehende Schlfisse gezogen hat, sind diese Verh~iltnisse wiederholt Gegenstand des Studiums gewesen. Eine Hi~ufung degenerativer Gebigmerkmale bei genuinen Epileptischen konnten P e s c h und H o f f m a n n im Vergleieh mit Normalpersonen nachweisen (Tabelle 1). Ebenso land F r e n z e l bei 85,3~ Sehwaehsinniger und nur bei 27,6~ normaler Kinder Gebiganomalien.

Tabelle I. I Igtufungdegenerat iver Gebiganomalien bei Ep i l ep t ike rn (nach Pesch und Hoffmann)

640 Epileptiker 640 Nichtepileptiker O' ,0 O0

Hoher spitzer Gaumen . . . . . . . . . . . Prognathie . . . . . . . . . . . . . . . . DeekbiB . . . . . . . . . . . . . . . . . . Progenie . . . . . . . . . . . . . . . . . Kopfbig . . . . . . . . . . . . . . . . . Oftener BiB . . . . . . . . . . . . . . . . . KreuzbiB . . . . . . . . . . . . . . . . . Frontzahnengstand . . . . . . . . . . . . Eckzahnhoehstand . . . . . . . . . . . . . Diastema . . . . . . . . . . . . . . . . .

60,7 8.9 9,78 6,1

10,0 6,25 2,0

25,9 2,25

2(1,7

26,2 4,53

12,8 0,9 6,3 1,6 1,4

10,2 1,9 5,35

Vielfaeh ist man geneigt., in abnormen Zusti~nden der Kieferformation Degene- rationszeiehen und Stigmata im Sinne der Lehre L o m b r o s o s zu sehen. D o h r n und Sehee le sind dieser Frage naehgegangen und haben die Gebisse von etwa 1000 Zuehth~iuslern eingehend untersueht. Zum Vergleieh dienten die Gebisse yon 600 Soldaten. Dabei ergaben s i e h , ~anz unwesentliehe Untersehiede zwisehen Verbreehern und den Kontrollpersonen beziig]ieh des prozentualen Vorkommens versehiedener Anomalien.

Um nun zu verdeutliehen, wie sehr die Kieferverhiiltnisse dutch Him- und Gesiehtssehi~delbildung beeinflugt werden, m6ehten wit bier einen unserer Unter- suehungsreihe ~ihnliehen Fall zeigen (Abb. 1), ein Kind, das an einer Arhin- enzephalie mit Hydrozephalus und Velumspalte leidet. Bei dem jet.zt fiinfj~ihrigen Mi~dehen handelt es sieh auf Grund der pathologiseh-anatomisehen Verbildungen um eine ausgesproehene zentrale St6rung. Es ist nieht, nur eine Migbildung des I-Iirn- und Gesiehtssehi~dels, die als eine einfaehe morphologisehe Ver~nderung aufzufassen wiire, es handelt sieh vielmehr, wie die Hypermotilitiit und Affekt- labilit~t deutlieh zeigen, um eine dienzephale Funktionsst6rung sowie um Ver- bildungen des Sehadel- und Augenskeletts mit kn6eherner Defektbildung im Bereieh des Stirnbeins (Abb. 2 und 3). Atiologiseh ergab die Kliirung dieses Falles eine typisehe Ph~tnokopie, die dutch Sauerstoffmangel im Beginn der Gravidit~tt zustande kaml).

1) Ausffihrlich wurde diesbez, in der Stoma 3/54 Stellung genommen.

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Joachim und_ Elsa Gabka, Zur patholog. :Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 245

Die uns hier besonders interessierende kiefer- orthop~dische Auswertung des Falles ergab nun, wie Abb. 4 und 5 zeigen, eine erhebliche Kiefer- kompression mit engstehender Front bei allge- meiner sagitta]-transversaler Verkfirzung. Die Photoaufnahme (Abb. 1) der Patientin verdeut- licht die Verkiimmerung des Mitre1- und Unter- gesichts auf Kosten des Zerebral- und OrbitaI- skeletts, die sowohl in dem progenen offenen Bift wie auch in dem transversalen Engstand und dem rechtsseitigen Mesialbi[t zum Ausdruck kom-. men. Die zentrale StSrung wirkt sich also mor- phologisch besonders am Zerebrum und seiner Knochenhfille aus, so daft daraus eine Fehlent- wicklung im Mittel- und Untergesicht resultiert.

Abb. 1. F( inf j i ihr iges M~idchen m i t e iner Arhinenzephal ie , Hydrozepha lus und

Vehlnlspal te

Abb. 2 Abb. 3 Abb. 2 uud 3. Die RSn tgenau fuahnmn desselben Falles zeigen die Defek tb i ldung im mittlereJ~ Bereich des St i rnbeins

Abb. 4 Abb. 5

Abb. 4 mid 5. Die kieferorthopfidischen Modelle e rgeben eine Kie fe rkompress ion mi t engs tehender F r o n t sowie sag i t ta le r und t r ansversa le r Verkf i rzung, die besonders i m Aufb igmode l l deut l ich wird, und progene Ve rzahnung

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I m Gegensatz zu diesem Fall k6nnen wir bei unserem Krankenmaterial . das viele /ihnliehe Migbildungen umfaftt, relativ oft die Beobaehtung maehen, dai~ humorMe St6rungen meistens nut in Form yon Sp/itmenarehen, Meno- mid Metrorrhagien, Hyperpigmentierungen usw. zmn Ausdruek kommen. Es sind also oftmals nut Begleiterseheinungen und keine direkten Funktionsst6rungen, so dab fiber das komplizierte System Dienzephalon-Hypophyse v611ig versehieden- artige Reaktionen mSglieh sind. Das wird besonders bei dem n/iehsten Fall Mar, der zum folgenden Kapitel fiberleiten soll. Hier liegt wieder eine zentrale St6rung vor, die jedoeh mit einer typisehen Spaltbildung kombiniert ist. I m Gegensatz also zu der Mehrzahl unserer Spaltpatienten, bei denen - wenn sehon humorale Auswirkungen vorhanden sind - diese relativ station/iren Charakter besitzen. weist dieser Fall deutlieh zentrale Funktionsst6rungen auf. Hier fragt es sieh nun, ob die Spaltbildung oder der zentrale Sehaden die prim/ire Krankheits- ursaehe ist.

~'ber diesen Fragenkomplex und das Zusammentreffen versehiedener Mill bildungen und Anomalien wurde sehon des 6fteren beriehtet, jedoeh vertreten die Autoren die versehiedensten Ansiehten. Unseres Eraehtens ist immer die beherrsehende Funktionsst6rung als primiire Ursaehe anzusehen, wie es beispiels- weise bei dem folgenden Fall der zentrale ProzeB ist, der im Vordergrund steht. w/ihrend die Spaltbildung sekund/irer Natur ist. Soleh ein Vorkommen ist an sieh selten. Wenn es aber auftritt , werden die zentralen St6rungen als Grund- leiden anzusehen sein, die wie bei diesem Kinde das gesamte Krankheitsbild beherrsehen. [st die Spaltbildung aber prim~re Krankheitsursaehe, mfissen folgeriehtig die hormonalen Auswirkungen retativ geringgradig sein, ja so minimal. dab sie letzten Endes nut wenig ver/indern oder nur unerhebliehe Funktions- stSrungen mit sieh bringen. Ausfiihr]iehe Untersuehungen zu diesem Fragen- komplex hat H a y m durehgefiihrt, der an Hand yon 413 Lippen-Kiefer-Gaunlen- spalttr~gern zur Frage der k6rperliehen und geistigen Entwicklung St.eilung genommen hat.

Der folgende Fall zeigt nun eine prim/ire zentrale StSrung und bietet hin- siehtlieh der Waehstumssteuerung des Oberkiefers ein sehr interessantes Bild. Bei dem jetzt fiinfj/ihrigen Jungen (Abb. 6 und 7) handelt es sieh um eine doppel- seitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte kombiniert mit einer Syndaktylie beider Hande, einem unilateralen Hydrozephalus links, querer Wangenspalte, Ektropium des reehten Oberliedes und Eindellung der reehten Infraorbitalgegend. Reehts oben und unten besteht ein ausgesproehenes Lidkolobom mit fehlendem Wimpern- boden in der Mitte des Ober- und Unterlides. Oben ist die SpalthShlung weiter als unten. Der rechte Bulbus folgt nicht bei Bewegungen des linken Bulbus nach unten und steht etwas h6her als der linke bei deutlichem H6henschielen. sicher paretischen Ursprungs.

Dureh diese eigenartige MiBbildungskombination ist eine Gesiehtsasymmetrie aufgetreten, die beinahe sehon skoliotisehen Charakter annimmt. Wie wir weiter unten sehen werden, ist das Mittelgesieht selbstverst/indlieh aueh weitgehend yon der medianen Spaltbildung abh/ingig. Entseheidend fiir die Gesiehts- anomalie ist jedoeh in diesem Falle die hoehgradige Gesiehtsskoliose, die dureh den einseitigen Hydrozephalus hervorgerufen wird. Die kieferorthop~idisehe Auswertung dieses Falles (Abb. 8 und 9) ergab eine hoehgradige Dysgnathie mit Aehsendrehung der Pr~tmaxilla, die nieht zwisehen die Alveolarfortsiitze einrfickte also die Funktionseinheit Kiefer-Gaumen nieht rekonstrnierte - und sehon dadureh als Waehstumshindernis angesproehen werden kann. Entspreehend

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Joachim und Elsa Gabk~, Zur patholog. Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 247

der Gesichtsskoliose war eine uni|aterale Transversalkompression mit pro- HI

gnathem offenem Bil~ nachweisbar, die jedoch im Bereich des I l I zu einem links-

Abb. 6 Abb. 7 Abb. 6 und 7. Fiinfjfihriger Junge mit doppelseitiger Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, linksseitigem Hydrozephalus,

querer Wangenspalte rechts, Deformierung des reehten Auges, Syndaktylie beider Hfinde

Abb. $

Abb. 8 und 9. Die kieferorthopfidischen 3[odelle des ffinfjiihrigen Jungen zeigen eine protrudierte Pr/imaxilla, eine rechts- seitige Transversalkompression und einen prognathen offenen BiD mit linksseitigem

KreuzbiL~

seitigem Kreuzbi[~ fiihrte. So ist be- sonders durch den einseitigen Kreuz- bi~ die Okklusion nur im Molarenbe- reich mSglich. Es handelt sich also um eine erhebliche Kieferdeformierung.

AbschlieBend mSchten wir noch auf Abb. 9

zwei Arbeiten aufmerksam machen, die das Li~ngenalter, KnochenMter und Zahnalter bei Kindern mit endokrinen StSrungen vergleichen. Interessanterweise berichten die Autoren P r a d e s und P e r a b o , daI3 die Zahnentwicklung yon der hormonalen StSrung viel unab- h~ngiger ist als die yon der endokrinen Dysfunktion am meisten betroffene Knochenentwicklung und die KSrperentwicklung. Auch P r a d e s und M a a s s e n

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248 Fortschritte der Kieferorthopiidie Bd. 18 H. 3 (1957)

fanden eine normale Zahnentwieklung unter Wirkung androgener Hormone, wiihrend das Knochensystem wieder eine deutliche wahrnehmbare Entwieklungs- st6rung erfuhr. Dieses Verhalten fanden wir aueh bei unserer Untersuehung in den Heil- und Pflegeanstalten, wo trotz mangelnder Zahnpflege oftma]s primiir gesunde Gebisse anzutreffen waren, w~hrend dagegen die Knochenentwicklung besonders des Oberkiefers dureh die endokrinen RegulationsstSrungen in Mit- leidenschaft gezogen war. Es nml3 daher zwangsli~ufig zu Kieferanomalien und zu KnochenverSmderungen kommen, die ihren Ausdruek einmal in Artikulations- und Okklusionsst6rungen, zum anderen jedoch in dem sog. Steilgaumen finden.

I I . E n t w i e k l u n g s s t 6 r u n g e n d e s O b e r k i e f e r s b e i L i p p e n - K i e f e r - G a u m e n s p a l t e n

Wie im vorigen Absehnitt schon angedeutet wurde, wird eine MiBbildung des Oberkiefers selbst einen erhebliehen Einflug auf die Entwieklung der Maxilla ausiiben. Als ausgepriigteste Form ist hier die Kiefer-Gaumenspalte zu nennen, die an sieh sehon einen deformierenden Charakter hat. Die Kontinuit~it des Kieferbogens wird dureh die Spalte unterbroehen und die Alveolarfortsi~tze je naeh der Spaltform versehiedenartig verdr~tngt. Die KieferbSgen haben also yon vornherein eine ganz andere Form als diejenigen des gesunden Gebisses. Wtthrend normalerweise der Oberkiefer einen ellipsen- bzw. parabelf6rmigen Ver- lauf aufweist, n immt beim Spalttriiger der gesamte Alveolarfortsatz einen, wenn aueh unsymmetr isehen Kreiseharakter an. Dadureh kommt es oft zu einer erhebliehen Protrusion des medianen Spaltfortsatzes, wiihrend der laterale Kiefer- bogen bei breiteren Spalten eine leiehte Introversion erfiihrt (Abb. 14).

Da es im Interesse der Eltern liegt, noeh im S~uglingsalter die Lippenspalte des Kindes versehliel~en zu lassen, finden wir unter Erwaehsenen sehr selten un- operierte Spalttriiger. An Hand dieser F/file laIlt sieh aber erst der EinfluB der Hemnnmgsbildung auf den Oberkiefer im vollen Umfang erkennen. Bei den yon uns beobaehteten erwaehsenen Spaltl0atienten miissen wir immer wieder fest- stellen, in welch formvollendeter Weise die Natur diese Fehlbildungen behandelt, paltt sich doch die im S~uglingsalter das Gesichtsskelett beherrschende und monstrSse Spaltbildung im Laufe von 15-16 Jahren der Entwicklung des Sch~idels so an, dal3 moi~hologisch yon einer weitgehenden Besserung gegeniiber dem Siiuglingszustand gesprochen werden kann. In den wenigen F~llen von un- operierten einseitigen totalen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hatte sieh die Kiefer- spalte fast versehlossen ohne dab eine stiirkere Kieferanomalie aufgetreten wiire. Es war nut im Bereich der Lippenspalte jedesmal zu einer Protrusion derjenigen oberen Frontzi~hne gekommen die im Spaltbereich lagen und des ausgleichenden Druckes der Oberlippe entbehrten. Die Gaumenspalte selbst hat te sich - wahr- seheinlich durch die von den beiden Dentit ionen ausgehenden Reize in den meisten F/illen transversal verengt und wie manehmal berichtet wurde, soil die SpMtbildung ,,beinahe zugewachsen" sein. Zusammenfassend kann man also der unoperierten Lippen-Kiefer-Gaumenspalte einen relativ starken waehstums- f6rdernden Reiz gegeniiber dem Oberkiefer zusprechen. Ganz das Gegenteil bewirken oft die Spaltplastiken, die zum grol3en Teil einen waehstumsher~lmenden EinfluB ausiiben. I m Vordergrund steht hier die Gaumenplastik, die je naeh der Schule in sehr versehiedenen Operationsaltern angegangen wird. Es ist das besondere Verdienst H e r f e r t s - a n g e r e g t durch R o s e n t h a l , B i t t e r und B r ii c k l -- auf Grund umfangreicher Untersuchungen den wachstumshemmenden Einflul3 der Uranoplast ik au fden Oberkiefer nachgewiesen zu haben. Insbesondere

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Joachim un4 Elsa Gabka, Zur patholog. Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 249

sind hier seine experimentellen Untersuchungen an Hunden hervorzuheben, die eindeutig best~tigen, dab Eingriffe am Gaumen eines jungen Tieres zu Wachs- tumshemmungen fiihren. Analog diesen Versuehen haben die Verfasser ~hnliehe Tierexperimente an Rat ten durchgefiihrt, die weitgehende Obereinstimmung mit den Untersuchungen von H e r f e r t ergaben.

Es Steht lest, da~ heute die Therapie der Gaumenspalten yon zwei vSllig ent- gegengesetzten Polen gesteuert wird. I-Iinsichtlich der :Form des Oberkiefers wird eine Operation jenseits der zweiten Dentition zu den besten Resul taten ffihren und sp~tere kieferorthopi~dische Mal~nahmen fast unnStig machen. Dureh die Anpassung an den Gesichtssch~del ist die Spaltbildung zu diesem Zeitpunkt ebenso wie infolge der Stabilisierung des ausmineralisierten Knochens mit den

Abb. 10 Abb. 11 Abb. 10 und 11. 27j~hrige Patientin mit einer doppelseitigen LKG-Spalte. Operation der Lippenspalte im Alter von3Monaten, Gaumenplast ikimAlter yon 3 Jahren. Negative Lippenstufe mit starker)iittelgesiehtsentstellung

bleibenden Zi~hnen zu einem Leiden geworden, das nicht mehr in der Lage ist, schwerere morphologische Ver~nderungen des Mittelgesichtsbereichs nach der Uranoplastik zu bewirken. Diese sp/s operative Versorgung hat jedoch den entscheidenden Nachteil, dab die Sprachfunktionen nicht genfigend berficksichtigt werden. Es ist also notwendig, zur optimalen Behandlung einer Gaumenspalte als vSllig entgegengesetzten Pol die Forderung nach einer normalen Umgangs- sprache zu erheben. Bewul3tsein im Sinne des Erwachsenen stellt sich beim Kinde erst etwa mit dem 30. Monat ein, dann, wenn auch das Wort , ,Ich" auf- zutauchen beginnt. Da viele Vorg/~nge beim Spaltkind verlangsamt abrollen, kann man also feststellen, dab auch das mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte behaftete Kind unbewul3t normal sprechen kSnnte, wenn etwa in der Zeit vom 26.-35. Monat eine anatomische Rekonstruktion des Gaumens erfolgen wiirde. Bekanntlich wurde friiher meistens zu diesem Zeitpunkt operiert und dadurch in fiberwiegender Zahl gute Sprachresultate erzielt. Aufschlul3reiche Nachunter- suchungen aus dieser Zeit fehlen jedoch. Erst R o s e n t h a l und R i t t e r machten auf die postoperativen Kieferdeformierungen aufmerksam, die Folgezust/~nde jener friihzeitigen Eingriffe waren, und denen man heute grol~e Beachtung schenkt (Abb. 10 und 11).

So konnten die Verfasser bei einer kiirzlich durchgeffihrten Kontrolle yon 570 erwachsenen Spalttr/~gern in beinahe 47~o die typische Pseudoprogenie

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250 Fortschritte der Kieferorthop~lie Bd. 18 H. 3 (1957)

finden. Dieses Ergebnis ermutigt keineswegs zu vor- und frfihzeitigen Urano- plastiken, so dab wir uns zu einer Kompromi615sung entschlossen haben, die in erster Linie die phonetische und psychische Seite beriicksichtigt, die aber auch den postoperat iven Formveri~nderungen Rechnung tr~gt. Jede anfangs un- bewuBt erlernte Normalsprache muB sich ja in dem MaBe verschlechtern, wie die Wachs tumshemmung des Oberkiefers im sp~teren Alter zunimmt. Bei solchen Zahnstellungsanomalien, wie sie Abb. 12 und 13 verdeutlichen, ist unseres Er- achtens keine normale Umgangssprache mSglich.

Bei der yon uns angestrebten Kompromi~lSsung jedoch -- wir verstehen darunter die Ausffihrung der Uranoplast ik nach individue!ler Begutachtung im Alter yon 3 - 5 Jahren - wird es manchmal wohl zu leichteren GebiBanomalien

Abb. 12 Abb. 13 Abb. 12 und 13. ZahnsteIlungsanomalien bei LKG-Spalt tr i igern mit progener Bi6einstellung nach u

Gaumenplastik

kommen, die sich meistens aber mit Hilfe der kieferorthopi~dischen Therapie beheben lassen. Es wird jedoch eine gut verst~ndliche Umgangssprache bei an- n~hernd normalen Mittelgesichtsmal~en erreicht werden, da die konsequente Durchfiihrung eines anschlieBenden Sprachunterrichts angestrebt wird. Unsere Nachuntersuchungen zeigten aber, dab mit der Erffillung dieser Forderungen allein eine Wachs tumshemmung des Oberkiefers nicht verhindert werden konnte. Bei fiinf- bis sechsj~hrigen Kindern, deren Lippenspalte mit etwa 3 Monaten operiert worden war, zeigten sich bereits vor der Gaumenplast ik Zeichen yon Wachs tumshemmungen in Form yon progenen Verzahnungen. Es konnte sich also hier nur um Folgen der durchgeffihrten Cheiloplastik handeln. Ers tmal ig hat U l l i k auf diese MSglichkeit hingewiesen und betont, dab die yon R o s e n t h a ] und R i t t e r vorgeschlagene Ab~nderung des Operationsalters der Uranoplast ik nur Erfolg haben wfirde, wenn die Cheiloplastik nicht schon einen verkehrten Schneidezahnfiberbi6 erzeugt h~tte.

Unser groBes Krankengut an Spalttr~gern gab uns Gelegenheit, die Auswir- kung verschiedener Operationstermine der Cheiloplastik auf den Oberkiefer zu untersuchen. An H a n d von 205 Lippenplastiken konnten wir feststellen, dab die Operation vor dem 8. Monat zu einer grSBeren Quote an Wachstumshem- mungen ffihrte als diejenigen Eingriffe, die sp~ter, d. h. vom 8 . - 15. Monat durch- gefiihrt wurden. Zu diesem Zweck fertigten wir yon den Probanden vor der Operation, nach der Operation und in zwei- bis dreimonatlichen mehrmaligen

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Joachim und Elsa Gabka, Zur patholog. Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 251

Abst/inden Kieferabgtisse an. Auf diese Weise konnten die morphologischen Ver~inderungen der Oberkieferentwieklung nlodellm/iftig festgehalten werden und in einzelnen F/illen dutch R6ntgenaufnahmen und Liehtbilder erg/tnzt werden. Wir untersuehten drei versehiedene Gruppen, yon denen die erste 146 einseitige Spalttr/iger umfaBte, w/ihrend die zweite sieh aus 51 doppelseitigen Spaltbil- dungen zusammensetzte, die zweizeitig naeh der Methode V e a u - R o s e n t h a I operiert worden waren. Diese Gruppen wurden dureh eine dritte yon acht doppel- seitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten erg/inzt, die naeh der einzeitigen Methode mit operativer Rfieklagerung des Zwisehenkiefers nach B r o w n e , teils modifiziert nach R o s e n t h a 1, operativ versorgt wurden.

Im Mittelpunkt dieser Untersuehungsreihe standen die einseitigen Spaltbil- dungen. Da im allgemeinen die Cheiloplastik mit 3 Monaten durehgeffihrt wird -- die franz6sischen Sehulen operieren, wenn es der KSrperzustand des Kindes er- laubt, teihveise schon in den ersten Lebenstagen - , hatte man besonders bei breiten Spalten des 6fteren festgestellt, dab sich die ursprfingliehe Kieferform in typischer \Veise naeh der Operation veri~ndert. In der Mehrzahl der Fg, lle wurden dureh den Druek der Muskel- und Narbenkr~ifte die Spaltfortsatze einander gen~hert, so daft sich grSfttentei]s die Kieferspalte schlog. Dadureh erst kam naeh Ansicht verschiedener Autoren eine pathologische Oberkieferform zustande, die sich in schweren F~llen zu den bekannten Dysgnathien entwickelte. Um diese post- operativen Verkrfippelungen zu vermeiden, wurden die versehiedensten Opera- tionsverfahren angegeben. So pflanzt S e h mid Knoehensp~ine in die Kieferspalte ein. w/ihrend S e h w e k e n d i k vorerst das Velum verseh]iegt, um dann als zweiten Eingriff die Lippenpiastik durehzuffihren. Uns ersehien die yon Ul l i k gestellte Forderung, erst nach Durehbrueh der oberen und unteren Inzisivi zu operieren, um Kieferdeformit~iten zu verhindern, der erfolgreichste Weg, und so gingen wit zwecks Naehprfifung folgendermaBen vor: Durch unsere Spalttriigerffirsorge war es mSglieh, die uns avisierten Spaltkinder in einem jeweils differierenden Operationsalter yon 3 15 Monaten einzuberufen. So konnten wir uns am besten einen i~'berbliek fiber die jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte Opera- tion versehaffen. Dabei ergab sieh dal~ bei den vom 3. 7. ~V[onat durehgeffihrten 75 einseitigen Cheiloplastiken in fiber 40,0, 8 eine progene Verzahnung auftrat. Demgegenfiber standen die 71 vom 8.5Ionat an operierten Probanden, bei denen nut 16~ eine Oberkieferwaehstumshemmung aufwiesen (Abb. 14 bis 21).

Dazu muft noeh bemerkt werden, daft bei den Kontrollen der jenseits des 8. Monats durehgeffihrten Cheiloplastiken nur jene Spalttr~tger eine Pseudo- progenie erkennen lieften, deren Kieferspalte fiber 10 mm breit war. Der Grund der besonderen Gef/ihrdung der vor Vollendung des 7. Lebensmonats operierten Kinder liegt auf der Hand. Die Elastizitiit der Gesiehtsseh/idelknoehen ist. im ersten Halbjahr erheblieh gr6fter als im zweiten, w/ihrend sieh die Biegungs- festigkeit wie die Ergebnisse dieser Untersuehungsreihe best~tigen - infolge der fortgesehrittenen Knoehenmineralisation vom 8.1Vionat an st~indig stabilisiert. Wir kSnnen also dureh Heraufsetzung des Operationstermins die Gefahr der Oberkieferwaehstumshemmung weitgehend eindi~mmen, v611ig vermeiden 1/igt sie sieh jedoch nicht.

Bei den doppelseitigen Spalten teilten wir die Probanden in vier Untergruppen ein, und zwar nach folgenden Operationsterminen: 3 . -6 . Monat, 6 . -9 . Monat, 9. 12.5fonat und 12. Monat und/~lter. Dabei zeigte sieh nun, dal~ die dureh die Spaltbildung mit dem isolierten Zwisehenkiefer gest6rte Funktionseinheit Kiefer-

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Gaumen nur dann wiederhergestellt werden konnte, wenn die zweizeitige Opera- tion der Lippenplastik im ersten Lebenshalbjahr erfolgte (Abb. 22 bis 26).

Ausschlaggebend fiir die normale anatomische Rekonstrukt ion ist das Ver- halten der Priimaxilla. Gelingt ihr das Einriicken in den Kieferbogen und damit der Anschlul~ an die Alveolarfortsi~tze, so ist die Funktionseinheit des Ober- kiefers wiederhergestellt, und die Wachstumsimpulse k6nnen sich im versti~rkten Ma6e durchsetzen. I s t das jedoch nicht der Fall, so finden wir im Erwaehsenen- al ter ein der Abb. 27 ~hnliehes Bild.

Abb. 14 Abb. 15

Abb. 16 Abb. 17

Abb. 14 bis 17. Linksseit ige LKG-Spa l te . Opera t ions termin mi t 5 Monaten. Abb. 15 zeigt die Verkiirzung der Zahnbogenl~nge post operat ionem, woraus eine progene Bi6einstel lung result iert

Hier liegt die Pr~maxilla isoliert wie eine Schranke vor den eingeschwenkten Alveolarfortsiitzen. Eine Oberkieferkompression ist die Folge, da sich der Wachs- tumsreiz auf Grund des hindernden Zwischenkiefers nicht durchsetzen kann.

Die Ergebnisse der zeitlich verschiedenen Cheiloplastiken waren sehr ein- drucksvoll. Von 15 Fi~llen der im ersten Lebensha]bjahr operierten S~uglinge zeigte keiner eine Wachstumshemmung, d. h. alle zu dieser Zeit operierten Kinder wiesen bei den Nachuntersuchungsterminen eine normale Oberkieferform auf (Abb. 24). Von den jenseits des ers tenHalbjahres operierten Fallen zeigten dem- gegenfiber beinahe 450/0 eine nicht eingerfickte Pr~tmaxilla und son]it eine Ober- kieferdeformierung.

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Joachim und Elsa Gabka, Zur patholog. Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 253

Auch hier sind die Grfinde fiir das beschriebene Verhalten durchaus einleuch- tend. I m ersten Lebenshalbjahr ist auf Grund der ungeniigenden Knochen- mineralisation eine Rekonstrukt ion der normalen Oberkieferform mSglich, w~h- rend im sp~teren Lebensalter durch die info]ge der nicht eingeriickten Pr~maxilla in falsche Bahn gelenkte Wachstumsentfal tung eine morphologische Ann~herung zur physiologischen Form bei st~rkerer Knochenfestigkeit verhindert wird.

Besonders interessant waren die Operationsergebnisse nach der B r o w n e schen

Abb. 18 Abb. 19

Abb. 20 Abb. 21

Abb. 18 bis 21. L K G - S p a l t e . Ope ra t ions t e rmin m i t 8 Monaten. Norma le V e r z a h m m g

Methode und modifiziert nach R o s e n t h a l . Bei diesem Eingriff wird der Zwi- schenkiefer operativ zuriickgelagert und dann erst die Lippenplastik ein- oder zweizeitig beendet. Von vornherein muB betont werden, dal~ der kosmetische Effekt dieser Operation sehr giinstig ist (Abb. 28 bis 30). Die wahrhaft verun- zierende MiBbildung mit dem weit herausragenden Zwischenkiefer scheint be- seitigt zu sein, die Form der Lippe ist meist befriedigend, so da~ dieses Vor- gehen als eines der besten plastisch-chirurgischen Eingriffe bezeichnet werden k6nnte. Jegliche KorrekturmSglichkeit ist durch die Ffille des Weichteilmate- rials gegeben, und die in manchen F~llen resultierenden Breitnasen lassen sich sp~ter verbessern.

For t schr i t t e der Kieferor thopi idie Bd. 18 l I . 3 17

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Im Schrift tum der plastischen Chirurgie kann man diese eben aufgef6hrten Tatsachen finden, die leider jedoch nicht dureh die Auswirkung der Operation auf die sp/itere Entwicklung des Oberkiefers ergi~nzt werden. Da wir bei jeder totalen Spaltbildung postoperative morphologische Ver~tnderungen kennen, haben wir unser spezielles Augenmerk gerade auf das Verhalten des Zwischen- kiefers zu den beiden Spaltforts~tzen gelenkt und verffigen jetzt fiber eine Be- obachtungszeit von etwa 2 Jahren. Die Ver~nderung des Oberkiefers nach der

Abb. 2"2 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 22. Abdruck vor der Cheiloplast ik

Abb. 23. Nach der reehten Lippenplas t ik mi t 3 Monaten. Abb. 24. Nach der l inken Lippenplas t ik mit 5 Monaten. Die Pr / imaxi l la ist in den Kieferbogen eingeriiekt

Abb. 22 bis 24. Oberkiefermodelle einer doppelseitigen LKG-Spa l t e

Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 25. Abdruck vor der Operation

Abb. 26. Naeh dem zweizeitigen E ingr i f f im Alter yon ]1 und 13 Monaten. Die Pr i imaxi l la l iegt als Schranke vor den Alveolarforts~itzen

Abb. 27. Isolierte Pr i imaxi l la und s tarke Oberkieferkompression. Zustand nach zwcizcitiger Lippenplas t ik Abb. 25 und 26. Oberkiefermodelle einer doppelseit igen LKG-Spa l t e

Operation erinnert an die B r o p h y s c h e Methode, die bekanntlich darin besteht, dal~ vor der Chefloplastik die Oberkieferfortss mit Hilfe yon Drahtschlingen nach vorhergehenden unblutigen oder blutigen Zusammenpressen einander ge- ni~hert werden. Schon 1932 sagte R o s e n t h a l zu diesem Eingriff: ,,Ich kenne keine Operation der Gaumenspalte, die auch nur ann~hernd derartige Ver- heerungen anrichtet, nachdem das prim~tre Resultat durchaus zufriedenste]lend erscheint."

Eine ~thnlich gefi~hrliche Operation kann auch die operative Zwischenkiefer- rficklagerung darstellen. In seltenen Fi~llen besitzt sie jedoch ihre Indikations-

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Joachim und Elsa Gabka, Zur patholog. Beeinflussung des Oberkieferwachstums usw. 255

berechtigung, man mul~ sich nur der postoperativen Ver~tnderungen bewul]t sein und entsprechende Nachuntersuchungen durchfiihren, die zur Beurteilung dienen, ob eine normale Entwicklung eingetreten ist oder FKO-Apparaturen zur Wachs- tumsentfaltung und Regulierung notwendig sind. Aus diesem Grunde sollte es jedem Spaltchirurgen Warnung und Mahnung sein, bei dieser Operationsart der

Abb. 28 Abb. 29

Oberkieferform besondere Aufmerk- samkeit zu schenken. Die Abb. 31 bis 35 zeigen die dringende Indikation die- ses Eingriffs, der im Gegensatz zu der normalen zweizeitigen Plastik ein Ein- riicken der Pr~maxilla in den Kiefer- bogen ermSglicht, verdeutlicht abet auch die erhebliche morphologische Veriinderung des Oberkieferreliefs post operationem. Durch diese operative Rficldagerung des Zwischenkiefers - im Gegensatz zu D e n i s B r o w n e lagern wir die Pr~maxilla durch eine Parallel- reposition zurfick -- wird vorerst ein ann~hernd physiologischer Effekt er- zielt, dessen sp~tere ~ e r w a c h u n g ge- rade durch die erhebliche Umformung unbedingt erforderlich ist. Wir mfissen also hier besonders darauf achten, dal~ sich der Wachstumsimpuls durchsetzt.

Abb. 30

Abb. 28 bis 30. Doppelseitige LKG-Spalte mit weit vorspringendem, nach rechts abweichendem Zwisehen- kiefer. Die operative Reposition des Zwischenkiefers erfolgte mit 7 Monaten, der zweizeitige Verschlult der

Lippenspalte mit 9 und 11 l~Ionaten

Wir wo]len daher demgegeniiber einen weiteren Fall demonstrieren, der original nach Den i s B r o w n e operiert wurde und der deutlich die postoperativen Aus- wirkungen erkennen l~I3t (Abb. 36 bis 40).

Wir k6nnen also abschlieBend feststellen, dal3 dieses Verfahren trotz seiner kosmetischen Vorziige viele Gefahren in sich birgt und nur angewandt werden daft, wenn eine strenge Indikation vorliegt und die MSglichkeit sieherer kiefer- orthop~discher Naehbehandlung besteht. Hinsichtlieh der Einflfisse auf das Ober-

17"

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kieferwachstum kann zusammenfassend gesagt werden, dab die Spaltbildung an sich durch ihre anatomischen Eigentfimlichkeiten imstande ist, einen das Ober- kieferwachstum fSrdernden Reiz auszufiben, wie es beispielsweise in der alveol~tren Protrusion und besonders der Protrusion einzelner Frontzahne zum Ausdruck kommt (Abb. 41).

Abb. 31. Doppelseit ige L K G - S p a l t e als Ind ika t ion zur opera t iven Ri icklagerung

der Pr$imaxilla

Abb. 82 Abb. 33

Abb. 32 und 33 zeigen den Zustand vor der Biirzelreposition

Abb. 34 Abb. 35

Abb. 34 und 35. Zus tand unmi t t e lba r nach dem Eingr i f f

Abb. 32 bis 35. 3 Monate a l ter S~iugling mi t doppelsei t iger LKG-Spa l t e

S~mtliche plastischen Verfahren, die zum VerschluB der Spalten angewendet werden, haben dagegen hemmende Wirkung. Wir finden in einem erheblichen Prozentsatz Wachstumsst5rungen, die durch zu friihe Eingriffe bei Lippen- Kiefer-Gaumenspalttr~gern zustande kommen. Diese Tatsache ist zu bedeutend und yon zu groBer Tragweite ffir die Spalttr~ger, als da~ sie fibersehen werden dfirfte. Wir wissen zwar, dab die heredit~ren Hemmungsbildungen an sich schon in einem minderwertigen Gewebe angelegt sind, sie disponieren also gewisser- maBen - wie die Familienforschung zeigt -- zu GebiBanomalien. Aufgabe des Arztes ist es nun, die plastischen Eingriffe zu einem optima]en Operationstermin durchzufiihren. Unseres Erachtens sollte daher die einseitige Lippenspalte nicht

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J o a c h i m u n d E l s a G a b k a , Z u r p a t h o l o g . B e e i n f l u s s u n g des O b e r k i e f e r w a c h s t u m s u s w . 257

Abb. 36 Abb. 37

Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40

Abb. 36 bis 40. Doppelseitige LKG-Spalte mit welt vorspringendem Zwischenkiefer. Die jeweils entsprechenden ko. Modelle zeigen die p. op. entstandene Introversion der oberen Frontz~ihne und die zwangsl~iufige progeue

Verzahnung. Sp~itere ko. Behandhmg ist unbedingt erforderlich

vor dem 8. Lebensmonat, die doppelseitige nicht nach dem ersten Lebenshalbjahr an- gegangen werden. Die Gaumenplastik sollte - - wie bereits betont - , da nicht nur die morphologischen Gesichtspunkte eine Rolle spielen wie bei der Cheiloplastik, zu einem Terrain durchgefiihrt werden, der unter Beachtung der Psyche, der Sprachfunk- tionen und der optimalen Kieferform ganz individuell festzulegen ist. Ein Eingriff vor dem 3. Lebensjahr sollte jedoeh nach MSg- lichkeit vermieden werden. (Fortsetzung folgt)

Abb. 41. Doppelseitige subtotale Lippen- spalte mit medianer Gaumenspalte. Ver- schlul~ der Gaumenspalte im Alter yon 30 Jahren mit anschlieBender e r s t m a l i g e r

L i p p e n p la s t ik. Alveoliire Protrusion


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