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Landtag von Baden-Württemberg 12. Wahlperiode Drucksache 12 / 5055 22. 03. 2000 1 Eingegangen: 22. 03. 2000 / Ausgegeben: 20. 04. 2000 Schreiben des Innenministeriums vom 21. März 2000 Nr. 2-1056/10: Unter Bezugnahme auf das Schreiben des Innenministeriums vom 3. März 2000 darf ich Sie nach § 27 Abs. 2 des Volksabstimmungsgesetzes davon unterrichten, dass das Innenministerium das oben genannte Volksbegehren nicht zugelassen hat. Das Nähere entnehmen Sie bitte der beiliegenden Mehrfertigung des heutigen Bescheids. Dr. Schäuble Innenminister Mitteilung des Innenministeriums Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens zum Gesetzentwurf „Mehr Demokratie in Baden-Württemberg – Bürgerentscheide in Gemeinden und Landkreisen“

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Landtag von Baden-Württemberg12. Wahlperiode

Drucksache 12 / 505522. 03. 2000

1Eingegangen: 22. 03. 2000 / Ausgegeben: 20. 04. 2000

Schreiben des Innenministeriums vom 21. März 2000 Nr. 2-1056/10:

Unter Bezugnahme auf das Schreiben des Innenministeriums vom 3. März 2000darf ich Sie nach §27 Abs. 2 des Volksabstimmungsgesetzes davon unterrichten,dass das Innenministerium das oben genannte Volksbegehren nicht zugelassenhat. Das Nähere entnehmen Sie bitte der beiliegenden Mehrfertigung des heutigenBescheids.

Dr. Schäuble

Innenminister

Mitteilungdes Innenministeriums

Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens zum Gesetzentwurf„Mehr Demokratie in Baden-Württemberg – Bürgerentscheidein Gemeinden und Landkreisen“

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Landtag von Baden-Württemberg – 12. Wahlperiode Drucksache 12 / 5055

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Innenministerium Stuttgart, 21. März 2000Baden-Württemberg

FrauBritta KurzOppelner Str. 8

70372 Stuttgart

HerrnMoritz Klingmann-PangritzReuderner Str. 103

72622 Nürtingen-Reudern

Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens zum Gesetzentwurf „Mehr Demokra-tie in Baden-Württemberg – Bürgerentscheide in Gemeinden und Landkreisen“

Sehr geehrte Frau Kurz,sehr geehrter Herr Klingmann-Pangritz,

in dem Zulassungsverfahren ergeht folgende Entscheidung:

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung des Volksbegehrens sindnicht gegeben, weil die Gesetzesvorlage dem Grundgesetz und der Landesverfas-sung in wesentlichen Punkten widerspricht. Der Antrag wird daher abgelehnt.

Gründe:

A.

Am 3. März 2000 haben Frau Britta Kurz aus Stuttgart und Herr Moritz Kling-mann-Pangritz aus Nürtingen als Vertrauenspersonen die Zulassung des Volksbe-gehrens beim Innenministerium schriftlich beantragt. Der Antrag wurde von denVertrauensleuten im Innenministerium persönlich übergeben; ihm waren nachZählung der Initiatoren 18 023 Unterschriften und der den Unterschriften zuGrunde liegende Gesetzentwurf beigefügt. Von den Unterschriften konnten nachÜberprüfung mindestens 17037 anerkannt werden.

Der Antrag enthält die Mitteilung, dass Eintragungslisten für das Volksbegehrenin allen Gemeinden Baden-Württembergs aufgelegt werden sollen. Frau AngelikaSeegers und Herr Martin Brenner, beide aus Stuttgart, sind als Ersatz-Vertrauens-leute benannt.

Der dem Antrag beigefügte Gesetzentwurf ist mit einem Vorblatt (Anlass undZielsetzung, wesentlicher Inhalt, finanzielle Auswirkungen) versehen und sieht inForm eines kommunalrechtlichen Artikelgesetzes vor, dass in der Gemeindeord-nung der §21 (Bürgerentscheid, Bürgerbegehren) eine umfangreiche Neufassungerhält und in der Landkreisordnung ein weitgehend wortgleicher neuer § 17 a ein-gefügt wird. Synoptisch werden die Neuregelungen in weiteren Spalten jeweilsbegründet und einer „bisherigen Fassung des §21 GemO“ gegenüber gestellt.

Von einer Wiedergabe des den Verfahrensbeteiligten bekannten achtseitigen Ge-setzentwurfs wird hier wegen des Umfangs abgesehen. Er wird nachfolgend alsGesE bezeichnet, Absätze ohne weitere Angabe sind solche der im GesE vorge-schlagenen §§ 21 GemO bzw. 17 a LKrO.

B.

Das Innenministerium ist nach Art. 59 der Landesverfassung (LV) in Verbindungmit §§25 bis 28 des Volksabstimmungsgesetzes (VAbstG) in der Fassung vom27. Februar 1984 (GBl. S. 178) verpflichtet, das Volksbegehren binnen drei Wo-chen nach Eingang des Antrags zuzulassen, wenn der Antrag vorschriftsmäßiggestellt ist und wenn die Gesetzesvorlage dem Grundgesetz und der Landesver-

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fassung nicht widerspricht. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so mussdas Innenministerium den Antrag ablehnen. Die Entscheidung über die Zulassungsteht demnach nicht im Ermessen des Innenministeriums.

C.

Der Zulassungsantrag ist zwar vorschriftsmäßig gestellt. Das beantragte Volksbe-gehren kann jedoch nicht zugelassen werden, da die Gesetzesvorlage dem Grund-gesetz und der Landesverfassung widerspricht (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VAbstG).

I. Die im GesE vorgesehene Sperrwirkung mit Vollzugshemmung (Abs. 5 GesE)

1. Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung für diese wie auch für weitereunten behandelte Regelungen des GesE sind vor allem das verfassungsrecht-lich gewährleistete Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden und Landkreise(Art. 71 Abs.1 LV und Art. 28 Abs.2 GG) sowie die Verfassungsregelungenhinsichtlich der demokratisch legitimierten kommunalen Repräsentativorgane(Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG sowie Art. 72 Abs.1 Satz 1 LV).

Danach müssen die verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Volksvertretun-gen, also die Gemeinderäte und Kreistage als Hauptorgane, funktionsfähigund in der Lage bleiben, eigenständig und selbstverantwortlich über die Ange-legenheiten der Kommune zu entscheiden. Der Gesetzgeber hat zwar, auch imRahmen eines zur Volksgesetzgebung vorgelegten Gesetzentwurfs, bei derEinzelausgestaltung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts, das „im Rah-men der Gesetze“ gewährleistet ist, wie auch bei der Einzelausgestaltung der„inneren“ Kommunalverfassung einen weiten normativen Entscheidungs-spielraum. Doch darf dabei der Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts inseinem Wesensgehalt nicht ausgehöhlt werden (BVerfGE 79, 127, 146, 155;91, 228, 238, stRspr). Dem gewählten Hauptorgan als Volksvertretung mussdie Funktionsfähigkeit im Kern erhalten bleiben (vgl. BVerfGE 51, 222, 236;82, 322, 338; aus der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung insbe-sondere BayVerfGH v. 29.8.97, BayVBl. 1997, 622).

Kommunalverfassungsrechtliche Regelungen dürfen nicht so ausgestaltetwerden, dass die ernste Gefahr einer Lähmung der gemeindlichen Tätigkeitenund Organe besteht (BayVerfGH v. 29. August 1997 a. a. O.). Denn derSchutz des Kerns der kommunalen Selbstverwaltung und Funktionsfähigkeitwirkt nicht nur gegenüber der staatlichen Verwaltung und gegenüber staatli-chem Aufgabenentzug, sondern auch gegenüber der Gesetzgebung und auchdann, wenn die gesetzgebende Gewalt unmittelbar vom Volk ausgeübt werdensoll. Der Gesetzgeber hat zu beachten, dass die Elemente der repräsentativenDemokratie auch die Kommunalverfassung prägen müssen. Wenn er direktde-mokratische Elemente einführt oder verstärkt, muss er sie mit den prägendenRegelungen der repräsentativen Demokratie in einer Weise verbinden, die si-cherstellt, dass die Gemeinden und Landkreise handlungsfähig bleiben (vgl.BayVerfGH a. a. O.). Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben nicht dieStellung eines Gemeindeorgans, können die gewählten Gemeindeorgane nichtersetzen, insbesondere auch nicht deren demokratische Verantwortlichkeitübernehmen und sind wegen der nur punktuellen Ausrichtung nicht geeignet,an die Stelle der kontinuierlich arbeitenden Repräsentativorgane der Gemein-den und Landkreise zu treten und somit die zum Kern des Selbstverwaltungs-rechts gehörende jederzeitige Handlungsfähigkeit zu Gewähr leisten. DerKernbereichsschutz der kommunalen Selbstverwaltung und Funktionsfähig-keit im dargelegten Sinne ist unverzichtbar.

2. Die Sperrwirkung mit Vollzugshemmung in der besonderen Ausprägung die-ses Gesetzentwurfs widerspricht den angeführten Verfassungsmaßstäben.

2.1 Die im GesE vorgesehene Sperrwirkung umfasst auch eine grundsätzlicheVollzugshemmung dergestalt, dass sofort ab ihrem Eintritt die Gemeindeorga-ne – das ist auch der Bürgermeister als Leiter der Gemeindeverwaltung (§44GemO) – „keine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung treffen odervollziehen“ dürfen. Damit dürfen auch laufende Maßnahmen und früher ge-

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troffene Entscheidungen, wie sie dem gesamten Handeln der Gemeinde in dervom Begehren betroffenen Angelegenheit zu Grunde liegen, grundsätzlich absofort nicht mehr vollzogen werden. Es kann auf diese Weise zu einem Still-stand nicht nur der Beschlussfassungsmöglichkeit des Gemeinderats, sondernder vollziehenden Gemeindetätigkeit im betroffenen Bereich insgesamt kom-men, je nachdem wie weit der Gegenstand des Bürgerbegehrens gefasst ist.

Die im GesE vorgesehene Sperrwirkung tritt sofort und automatisch mit Ab-gabe bestimmter Unterschriftenzahlen und dann erneut mit der Einreichungdes Bürgerbegehrens ein, ohne dass irgendeine Abwägung mit den Interessender Gemeinde oder sonstigen übergeordneten Belangen möglich wäre. Diesgeht deutlich über die in zahlreichen Ländern nach der Verwaltungsrechtspre-chung bestehende Möglichkeit hinaus, durch gerichtlichen einstweiligenRechtsschutz sicherzustellen, dass ein Bürgerentscheid nicht durch die Schaf-fung vollendeter Tatsachen leer läuft; hier wird gerichtlich jeweils im Einzel-fall geprüft, ob unter Abwägung mit den Durchführungsinteressen der Ge-meinde und mit übergeordneten Belangen dem Interesse der Initiatoren einesBürgerbegehrens Vorrang einzuräumen ist.

In Baden-Württemberg bestehen schon seit langem bewährte Empfehlungen,vom Vollzug eines Beschlusses, gegen den sich ein zulässiges Bürgerbegeh-ren richtet, sowie eines Beschlusses, gegen den mit einem Bürgerbegehren zurechnen ist, abzusehen (VwV zur GemO, GABl. 1985 S. 1113, § 21 Nr. 4).Nur in Einzelfällen ist es hierüber zu einem Konflikt gekommen und ist vonder bisherigen Rechtsprechung des VGH Mannheim (NVwZ 1994, 397) dasBestehen eines sicherungsfähigen Anordnungsanspruchs verneint worden.

Eine automatisch und ohne jede Abwägung eintretende frühzeitige Sperrwir-kung mit Vollzugshemmung trifft die Selbstverwaltung und Funktionsfähig-keit der Gemeinde jedenfalls in ihrem Kern.

2.2 Die Einschränkung des GesE „es sei denn, zum Zeitpunkt der Abgabe (derUnterschriften) haben rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu be-standen“, kann bei weitem nicht in allen Fällen diese automatisch eintretendeVollzugshemmung und Entscheidungssperre beseitigen. Viele gemeindlicheBeschlussfassungen und Vollzugstätigkeiten, insbesondere außerhalb derPflichtaufgaben, finden ohne rechtliche Verpflichtung statt und müssten sofortbei Eintritt der Sperrwirkung gestoppt werden.

2.3 Praktisch besonders gravierend ist die ab „Einreichung“ jedes Bürgerbegeh-rens eintretende Sperrwirkung und damit verbundene Vollzugshemmung, dieunbefristet „bis zur Durchführung des Bürgerentscheides“ gilt (Absatz 5 Satz2 GesE). Ohne eine Entscheidung des Gemeinderats über die vielfältigen Fra-gen, die mit der Zulassung eines Bürgerbegehrens verbunden sein können,tritt diese Wirkung automatisch mit der Einreichung ein und damit auch fürsolche Bürgerbegehren, die später gar nicht zur Durchführung kommen.Wenn eine Sperrwirkung an eine „positive“ Zulässigkeitsentscheidung desGemeinderats anknüpft, so lässt sich dafür insoweit die Überlegung anführen,dass die rasche Durchführung des Bürgerentscheids und damit die Beendi-gung der Sperrwirkung in diesem Fall in der Hand des Gemeinderats liegen.Aber die im GesE vorgesehene automatische Anknüpfung an die „Einrei-chung“ jedes Bürgerbegehrens „bis zur Durchführung des Bürgerentscheides“ist wesentlich schwerwiegender. Etwa bei Streitigkeiten über die Zulässigkeiteiner Unterschriftensammlung für mehrere sachlich zusammenhängende Bür-gerbegehren auf einer Unterschriftenliste (Absatz 3 Satz 4 GesE) würde dieeinschneidende Sperrwirkung mit Vollzugshemmung während der gesamtenStreitdauer greifen. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat insbesonderewegen des gerade hieraus zu erwartenden lang andauernden „Stillstands derVerwaltungstätigkeit in der betreffenden Angelegenheit“ die Verfassungs-widrigkeit der schon ab Einreichung eintretenden Sperrwirkung festgestellt(BayVBl. 1997, 622, 626 unter B1 c bb). Im GesE entspricht Absatz 5 Satz 2wörtlich der für nichtig erklärten Regelung.

2.4 Die in der Gerichtsklausel (Absatz 5 Satz 3 GesE) vorgesehene Möglichkeiteiner verwaltungsgerichtlichen Aufhebung der Sperrwirkung ist schon des-halb nicht geeignet, die dargelegten schwerwiegenden Auswirkungen zu mil-

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dern, weil die Klausel gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes ver-stößt. Der Bund hat beim Ausschöpfen seiner konkurrierenden Gesetzge-bungszuständigkeit in der Verwaltungsgerichtsordnung (dazu BVerfGE 20,238, 248 f., 250 f.; 37, 191, 198) unter anderem den vorläufigen Rechtsschutzabschließend geregelt (§ 80 Abs. 5 und 6; §80 a. Abs. 3, §80 b Abs. 2, §§ 123und 47 Abs. 6 VwGO). Der Landesgesetzgeber ist nicht befugt, neue Klagear-ten oder Antragsverfahren einzuführen, die abweichend von den Regelungender VwGO ausgestaltet sind. Einen Vorbehalt zu Gunsten der Landesgesetz-gebung, der eine Regelung wie die genannte Gerichtsklausel decken würde,enthält die VwGO nicht.

2.5 Einschneidend an der Sperrwirkung mit Vollzugshemmung ist auch die in Ab-satz 5 Satz 1 GesE vorgesehene Vorwirkung; danach dürfen die Gemeindenschon nach Abgabe der Hälfte der erforderlichen Unterschriften für die Dauereines Monats keine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung treffen odervollziehen. Dass diese Vorwirkung gegenüber der vom Bayerischen Verfas-sungsgerichtshof für nichtig erklärten Sperrwirkungsregelung nicht schon nachAbgabe eines Drittels, sondern der Hälfte der erforderlichen Unterschriften ein-tritt und nicht drei Monate, sondern nur einen Monat dauern soll, mindert die inder Praxis eintretende gravierende Auswirkung nur wenig. Ist die Sperrwirkungmit Vollzugshemmung erst einmal eingetreten und mussten deshalb sogar lau-fende Maßnahmen und Vollzugstätigkeiten grundsätzlich sofort gestoppt wer-den, so werden diese in der Praxis regelmäßig kaum wieder vorübergehend auf-genommen werden können, selbst wenn nach Ablauf der Monatsfrist bis zurEinreichung theoretisch dazu noch vorübergehend Gelegenheit wäre.

Hierbei fällt auch ins Gewicht, dass der nach dem GesE maßgebliche Zeit-punkt der „Einreichung“ und damit die sofortige Wiederherbeiführung derSperrwirkung mit Vollzugshemmung ausschließlich in die Hand der Initiato-ren gelegt ist. Dies lähmt jede Überlegung zu einer zwischenzeitlichen Wie-deraufnahme des Vollzugs.

II. Die Streichung des Quorums beim Bürgerentscheid

1. Der GesE will in Absatz 9 Satz 1 beim Bürgerentscheid die bloße Mehrheitder abgegebenen gültigen Stimmen entscheiden lassen und das bisher erfor-derliche Abstimmungsquorum („sofern diese Mehrheit mindestens 30 vomHundert der Stimmberechtigten beträgt“, §21 Abs. 6 Satz 1 GemO) ersatzlosentfallen lassen. Dies ist verfassungsrechtlich zu beanstanden.

2. Die demokratische Legitimierung und Qualifizierung eines Bürgerentscheids istverfassungsrechtlich erforderlich, um zu Gewähr leisten, dass eine konkreteSachentscheidung von der Gesamtheit der Bürger als eine demokratisch gefassteMehrheitsentscheidung anerkannt wird und damit zugleich die notwendige Inte-grationskraft entfalten kann. Nach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs fürdas Land Baden-Württemberg gehört zum Demokratieprinzip im Sinne von Art.23 und 25 LV die Anerkennung der Legitimität demokratischer Entscheidungs-findung mit dem Mehrheitsprinzip und seiner Respektierung durch die Minder-heit als zentralem Gedanken (ESVGH 38, 81). Die jetzt anstehende Frage, aufwelchen Mehrheitsbegriff und welche Bezugsgröße sich das genannte Prinzipbezieht, hatte der Staatsgerichtshof damals noch nicht zu entscheiden. Es gehtum Mehrheitsentscheidungen, die Bindungswirkung für alle im Sinne der demo-kratischen Verallgemeinerungsfähigkeit (Allgemeinheit und Reziprozität) entfal-ten. Diese Anforderungen gelten auch für Entscheidungen auf kommunaler Ebe-ne, zumal auch die kommunale Rechtsetzung regelmäßig Gegenstand von direkt-wie von repräsentativdemokratischen Entscheidungen ist.

Die Frage der demokratischen Legitimierung und Qualifizierung stellt sichvor allem für die Entscheide auf Grund eines Begehrens, die auch in dem vor-liegenden GesE im Mittelpunkt stehen. Bei diesen ist das entscheidende Rechtder Fragestellung Initiatoren zugebilligt, die sich dafür zunächst nicht qualifi-ziert haben (BremStGH v. 14. Februar 2000, Az. St 1/98, Volksgesetzgebung,Umdruck S. 20).

Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines quorumlosen Entscheids aufGrund eines Begehrens ist nicht losgelöst von ihrem Zusammenhang mit den

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jeweils zugehörigen sonstigen Regelungen zu beurteilen. Bei Volksentschei-den wird von manchen eine ausreichende demokratische Qualifizierung undLegitimation schon dann als gegeben angesehen, wenn beim vorangehendenVolksbegehren ein hohes Unterstützungsquorum einzuhalten ist sowie dieUnterstützungsunterschriften nicht frei eingesammelt werden können, sondernbinnen relativ knapper Frist in amtlichen Eintragungslisten und -stellen zuleisten sind. Die Quorumlosigkeit des Entscheids würde nach dieser Überle-gung gleichsam ausgeglichen durch höhere Hürden im Einleitungsstadium.

Hier kann dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen bei welchenVolksentscheiden (Volksabstimmungen) ein Quorum verfassungsrechtlichverzichtbar sein könnte und wie tragfähig solche gleichsam kompensatori-schen Überlegungen sind. Jedenfalls bei den hier zu beurteilenden kommuna-len Bürgerentscheiden können solche Überlegungen nicht für die Quorumlo-sigkeit angeführt werden. Die ihnen vorausgehenden Bürgerbegehren erfolgenmit freiem Einsammeln der Unterstützungsunterschriften. Schon mit Blick aufdie dabei nicht auszuschließenden Gefahren des Überredens, Bedrängens oderNichtwissens der Bürger, aber auch auf das vergleichsweise niedrige Unter-stützungsquorum hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit Recht festge-stellt, dass sich aus dem Erfüllen dieser Voraussetzungen kein zuverlässigerSchluss auf eine entsprechende Unterstützung beim Bürgerentscheid ziehenlässt (BayVBl. 1997, 622, 627). In Baden-Württemberg ist das Unterstüt-zungsquorum beim Bürgerbegehren durch Gesetz vom 16. Juli 1998 (GBl.S. 418) stark abgesenkt worden und liegt jetzt z. B. in Stuttgart nur noch beirund 5,1% der Stimmberechtigten; nach dem GesE läge es nur noch bei rund3,8 % der Stuttgarter Stimmberechtigten. Solche Unterstützungsquoren sindextrem niedrig gemessen an der Mehrheit der Stimmberechtigten als eigentli-cher Ausgangsgröße und Grundtypus des demokratischen Mehrheitsprinzips,bezogen auf die Träger des Volkswillens als berechtigte Gesamtheit. Die ge-nannten Rahmenbedingungen schließen es beim Bürgerentscheid auf Grundeines Bürgerbegehrens von vornherein aus, die notwendige demokratische Le-gitimierung und Qualifizierung anderswo als im Quorum beim abschließen-den, mit Wirkung für alle stattfindenden Entscheid zu bejahen. Deshalb haltenauch alle Länder in ihren Kommunalverfassungen bei dem für die ganze Ge-bietskörperschaft geltenden Bürgerentscheid ein Quorum für geboten.

Zwar kann eine Verfassung es verbieten, Hürden für direktdemokratischeVerfahren und Entscheidungen aufzubauen, die praktisch nicht zu übersteigensind und deshalb prohibitiv wirken (vgl. BayVerfGH BayVBl. 1999, 719,724). Aber jedenfalls beim abschließenden Entscheid eines direktdemokrati-schen Verfahrens ist maßgeblich der dann strikt geltende Grundsatz der Allge-meinheit und Gleichheit der Abstimmung. Beim abschließenden Entscheidsind alle Stimmbürger (Befürworter und Gegner) zu den Urnen gerufen, nichtnur die bei den vorangegangenen Listeneintragungen angesprochenen Befür-worter. Es besteht keine Teilnahmepflicht bei Wahlen und Abstimmungen;Art. 26 Abs. 3 LV ist nicht als gesetzliche Verpflichtung, sondern als allge-meine Bürgerpflicht aus der Verantwortung für das Gemeinschaftsleben desVolkes zu verstehen (StGH ESVGH 1, II 25, 28) und gilt ohnehin nicht für diehier in Rede stehenden kommunalen Abstimmungen (Art. 26 Abs. 8 LV). Jespezieller beim Bürgerentscheid auf Grund eines Bürgerbegehrens die The-men und Fragestellungen sind (– der GesE macht durch die Streichungen in§ 21 Abs. 1 GemO auch unwichtige Gemeindeangelegenheiten bürgerbegeh-rens- und -entscheidsfähig –) und je größer die Abstimmungsmüdigkeit derBürger insgesamt wird, umso mehr führt das Fehlen eines Quorums beim Ent-scheid dazu, dass faktisch aktive, relativ kleine Minderheiten InteressierterEntscheidungen für alle treffen oder gar als Betroffene in eigener Sache ent-scheiden. Somit sprechen die genannten Gesichtspunkte für die verfassungs-rechtliche Notwendigkeit eines Quorums beim Bürgerentscheid auf Grund ei-nes Bürgerbegehrens zur Gewährleistung der demokratischen Verallgemeine-rungsfähigkeit und eines Mindestmaßes an demokratischer Legitimation dermit Bindungswirkung für alle zu treffenden Entscheidung.

3. Zum vorliegenden GesE fällt entscheidend auch das Landesverfassungsrechtins Gewicht. In der Verfassung des Landes Baden-Württemberg ist die unmit-telbare Mitwirkung des Volkes auf kommunaler Ebene durch Bürgerbegehren

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und -entscheid anders als z. B. in Bayern, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nicht gewährleistet. Zwar haben sich in langjähriger baden-württembergischer Kommunalrechtstradition die Regelungen über Bürgerbe-gehren und -entscheide wie auch die über die Direktwahl des Bürgermeistersbewährt und werden durch die Landesverfassung jedenfalls nicht ausgeschlos-sen; aber sie haben keinen Verfassungsrang (StGH ESVGH 24, 155, 160 zurBürgermeisterwahl).

4. Im Gegensatz zu diesem völligen Fehlen verfassungsrechtlicher Gewährleis-tung direkter Volksmitwirkung auf kommunaler Ebene legt die Landesverfas-sung dem repräsentativdemokratischen Organ Gemeinderat eine hohe Bedeu-tung und Verantwortung bei. Art. 72 Abs. 1 LV bekräftigt nicht nur ausdrück-lich das für Bund, Länder und Gemeinden nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gel-tende Erfordernis einer Volksvertretung und die dafür geltenden allgemeinenfünf Wahlrechtsgrundsätze. Indem die Landesverfassung dem Gemeinderateinen eigenen Artikel widmet, aber dem Bürgermeister und der direkten Bür-germitwirkung keinen Verfassungsrang einräumt, erfordert sie vielmehr zu-gleich, dass der Gemeinderat unzweideutig das Hauptorgan sein und bleibenmuss, das für die grundlegenden Entscheidungen der kommunalen Körper-schaft zuständig ist. Damit ist es nicht vereinbar, in Baden-Württemberg einendem Gemeinderatsbeschluss gleichstehenden, durch Bürgerbegehren initiier-ten Bürgerentscheid ohne ein Quorum einzuführen und damit den Minderhei-ten, die in der betreffenden Frage aktiv sind, eine Entscheidung zu ermögli-chen, die für die gesamte Gemeinde bindend gilt.

III. Bürgerentscheidsfähigkeit der Haushaltssatzung, Gemeindeabgaben und Ta-rife in Verbindung mit der Sperrwirkung und Vollzugshemmung

1. Der GesE will im Negativkatalog nach Absatz 2 die bisherige Nummer 4 er-satzlos streichen. Damit würden bürgerentscheidsfähig: die Haushaltssatzungeinschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe sowie die Kommunal-abgaben, Tarife und Entgelte. Insbesondere die Bürgerentscheidsfähigkeit derHaushaltssatzung, die mit ihren Bestandteilen für die Handlungsfähigkeit derKommunen grundlegend ist, ist in Verbindung mit der automatischen und ggf.lange andauernden Sperrwirkung und Vollzugshemmung nicht mit dem Ver-fassungsrecht zu vereinbaren.

2. Ob man davon ausgehen muss, dass künftig mit Bürgerbegehren gegen dieHaushaltssatzung insgesamt zu rechnen ist, mag dahinstehen; der Wortlautschließt es jedenfalls nicht aus, und auf diesen ist bei der Prüfung eines implebiszitären Gesetzgebungsverfahren zu verabschiedenden Gesetzentwurfsabzustellen. In keiner Kommunalverfassung in der Bundesrepublik gibt es dieMöglichkeit von Bürgerentscheiden über die Haushaltssatzung.

Jedenfalls ist es das klare Ziel des GesE (auch nach den Erläuterungen in derBegründung), Bürgerentscheide zumindest über Teile des Haushaltsplans zuermöglichen. Schon damit kann in Verbindung mit der Sperrwirkung undVollzugshemmung und der Tatsache, dass künftig der Kostendeckungsvor-schlag nicht mehr „nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbar“ seinmuss (bisher §21 Abs. 3 Satz 4 GemO), eine gravierende Beeinträchtigungder kommunalen Funktionsfähigkeit in dem gesamten Bereich verbundensein, der vom Bürgerbegehren betroffen ist. Hier hätte die vorgesehene Sperr-wirkung mit Vollzugshemmung weit reichende Auswirkungen: „Dem Begeh-ren entgegenstehend“ im Sinne von Absatz 5 Satz 1 GesE und damit von auto-matischer grundsätzlicher Sperre mit Vollzugshemmung betroffen wäre beihaushaltsbezogenen Bürgerbegehren wegen des Zusammenhangs der Haus-haltsansätze im Zweifel jeweils mindestens der ganze Haushaltstitel. Wennein Bürgerbegehren auf der Ausgabenseite z. B. für oder gegen eine Hoch-oder Straßenbaumaßnahme eingeleitet wird, wären zumindest die anderenHoch- oder Straßenbaumaßnahmen betroffen; darüber hinausgehende Auswir-kungen wären wegen des vorgeschriebenen Haushaltsausgleichs (§ 80 Abs. 2Satz 2 GemO) nicht auszuschließen. Wenn ein Bürgerbegehren die Einnah-menseite des Haushalts- oder Wirtschaftsplans betrifft, z. B. Gewerbe- oderGrundsteuerregelungen, sich gegen die Erhebung einer Gemeindeabgabe (Ab-

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gabensatzung) oder gegen eine Tariferhöhung oder eine Kreditermächtigungals Teil der Haushaltssatzung (§ 79 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b GemO) richtet, sindüber die unmittelbare Sperrwirkung mit Vollzugshemmung hinaus lähmendeAuswirkungen auf den sonstigen Haushaltsvollzug, auch auf der Ausgaben-seite, unausweichlich (Grundsatz der Gesamtdeckung des Haushalts). Allen-falls gegenüber einem Bürgerbegehren, das während der Aufstellung desHaushaltsplans betrieben wird, könnte durch die Vorschriften zur vorläufigenHaushaltsführung (§ 83 GemO) die Erfüllung der Grundfunktionen der Ge-meinden auch ohne Haushaltsplan für begrenzte Zeit ermöglicht werden. Aberjedenfalls bei einem gegen eine beschlossene Haushaltssatzung oder Teile da-von sich richtenden Bürgerbegehren trifft die sofort eintretende und ggf. langeandauernde Sperrwirkung mit Vollzugshemmung die kommunale Selbstver-waltung und Funktionsfähigkeit im Kern.

3. Die im GesE vorgesehenen einschränkenden Klauseln sind nicht geeignet,daran Entscheidendes abzumildern. Denn die Beweislast, ob rechtliche Ver-pflichtungen der Gemeinde zu einer dem Begehren entgegenstehenden Ent-scheidung oder Vollzugsfortsetzung bestehen oder ob überwiegende Gründefür die Rechtswidrigkeit des Bürgerbegehrens sprechen (Sätze 1 und 3 in Ab-satz 5 GesE), liegt allein bei der Gemeinde und wird rechtlich selten ex anteso eindeutig zu bejahen sein, dass die Handlungsfähigkeit noch rechtzeitigwieder hergestellt werden kann. Die Verantwortung für die Haushaltsaufstel-lung und -vollziehung, die zu den zentralen Funktionen der Gemeinde gehört,könnte unter einer solchen Gesetzesregelung nicht mehr wahrgenommen wer-den. Im Übrigen ist die Gerichtsklausel (Absatz 5 Satz 3 GesE) bereits selbstals verfassungswidrig anzusehen (s. oben I. 2.4).

In dieser verfassungswidrigen Wirkungsweise (Ausdehnung der Bürgerent-scheidsfähigkeit auf Haushaltssatzung, Gemeindeabgaben usw. i.V.m. der au-tomatischen, ggf. lange andauernden Sperrwirkung mit Vollzugshemmung)geht der GesE weit über die bloßen Zweckmäßigkeitseinwendungen hinaus,die der Bayerische Verfassungsgerichtshof (BayVBl. 1997, 622, 628) zur dor-tigen, auch in diesem Punkt weniger weitgehenden Regelung gesehen hatte.

IV. Partikulares Initiativrecht „besonders betroffener“ Ortschaften, Gemeinde-oder Wohnbezirke gegen Gemeindemaßnahmen und besonders betroffenerGemeinden gegen Kreismaßnahmen in Verbindung mit der Streichung jedesQuorums beim Entscheid, mit der Sperrwirkung und Vollzugshemmung undder jederzeitigen Wiederholbarkeit von Bürgerbegehren (Absatz 10 i. V. m.Abs. 9, 5 und 3 GesE)

1. Bei „besonderer Betroffenheit“ von einer Maßnahme der übergeordneten Ge-bietskörperschaft will der GesE in Absatz 10 das Initiativrecht (Unterstüt-zungsquorum für ein Bürgerbegehren) wesentlich erleichtern: Statt 10% dergesamten Bürgerschaft der Gemeinde (bzw. im Landkreis statt des sonst nöti-gen normalen Unterstützungsquorums nach Absatz 4 GesE-LkrO) soll in die-sen Fällen ein weit geringeres Unterstützungsquorum ausreichen (nämlich nurvon den „betroffenen“ Bürgern ein Drittel), um einen gemeindeweiten bzw.kreisweiten Bürgerentscheid zu erzwingen. In den zum Teil sehr kleinen Ort-schaften bzw. Wohnbezirken usw. genügte dann schon ein Unterstützungs-quorum im Promillebereich, bezogen auf die dann abstimmungsberechtigteGesamtbürgerschaft. Schon die Abgabe der Hälfte dieser u.U. sehr geringenUnterschriftszahl löst die vorwirkende Sperre, die Einreichung dann die ggf.lange andauernde Sperrwirkung mit Vollzugshemmung für die Maßnahme derGemeinde bzw. des Kreises aus. Dies führt zu einer verfassungsrechtlich nichthinnehmbaren Einschränkung der Handlungsfähigkeit von Landkreisen undbetroffenen Gemeinden, wenn es notwendig ist, auch unangenehme Entschei-dungen gegen örtliche Partikularinteressen durchzusetzen.

2. Bei dem darauf in der gesamten Gemeinde oder Kreis stattfindenden Bürger-entscheid würde die bloße Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen ent-scheiden, nachdem der GesE in Absatz 9 jegliches Quorum (auch für diese be-sonders problematischen Konfliktfälle) streicht. In der „besonders betroffe-nen“ Ortschaft oder Kreisgemeinde usw. ist mit starker Teilnahme der Stimm-

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berechtigten, insbesondere der Gegner der Maßnahme, am Bürgerentscheid zurechnen. Hingegen wäre die weit überwiegende Zahl der von der Maßnahmenicht betroffenen Gesamtbürgerschaft kaum zur Teilnahme zu bewegen, ge-schweige denn zu einer die Maßnahme befürwortenden Stimmabgabe. DieDurchsetzbarkeit des Gesamtinteresses gegenüber dem örtlich betroffenenPartikularinteresse wäre entscheidend beeinträchtigt. Dies würde nicht nur inden zahlreichen Gemeinden gelten, wo partikulare Interessen von Ortschaften(z. B. gegen eine der Gesamtgemeinde dienende, örtlich aber lästige Gewerbe-ansiedlung) auch lange nach der Gemeindereform noch immer leicht mobili-siert werden können, wenn „besondere Betroffenheit“ geltend gemacht wer-den kann. Auch in jedem Landkreis wären Maßnahmen, z. B. Standortent-scheidungen (Abfallbeseitigung, Straßenbaumaßnahmen, Übergangswohnhei-me für Spätaussiedler, Sammelunterkünfte für Asylbewerber und andereFlüchtlinge u. v. a.), die in Kreisgemeinden von Bürgern als belastend angese-hen werden, kaum mehr durchzusetzen.

3. Auch die ersatzlose Streichung der bisherigen Regelung (§ 21 Abs. 3 Satz 2GemO), wonach über eine innerhalb der letzten drei Jahre durch Bürgerent-scheid auf Grund eines Bürgerbegehrens entschiedene Angelegenheit nicht er-neut ein Bürgerbegehren und -entscheid durchgeführt werden darf, fällt in die-ser Konfliktsituation besonders ins Gewicht: Diese jederzeitige Wiederholbar-keit von Bürgerbegehren und -entscheid auch über eine bereits entschiedeneAngelegenheit würde dazu beitragen, die genannte Konfliktsituation zwischenGesamtinteresse und örtlich betroffenem Partikularinteresse auf Dauer unlös-bar zu machen. Selbst wenn Befürworter der streitigen Angelegenheit ihrer-seits versuchen wollten, diese durch einen Bürgerentscheid in der vorgesehe-nen oder modifizierten Weise durchzusetzen, könnten die örtlich betroffenenGegner darauf wieder mit einem neuen Begehren (mit automatischer Sperr-wirkung und Vollzugshemmung) antworten usw. Praktisch wäre für die de-mokratisch legitimierten und verantwortlichen Organe der übergeordnetenGebietskörperschaft eine Durchsetzung von Maßnahmen gegenüber örtlichenPartikularinteressen, die sich als besonders betroffen ansähen, nicht mehrmöglich. Die Integrationsfunktion der übergeordneten Gemeinwesen wäre indiesen nicht seltenen Konfliktsituationen nicht mehr wahrzunehmen (zu dieserauch im Interesse von Land und Bund notwendigen verfassungsrechtlichenIntegrationsfunktion auch unten V und VIII). Damit widerspricht auch dieseszentrale Anliegen des GesE der Landesverfassung und dem Grundgesetz.

V. Teilweise Bürgerentscheidsfähigkeit von Weisungsaufgaben in Verbindungmit der Sperrwirkung und Vollzugshemmung

Durch Streichung im Negativkatalog (§ 21 Abs.2 Nr. 1 GemO) sollen dieWeisungsaufgaben insoweit bürgerentscheidsfähig werden, als ausnahmswei-se der Gemeinderat bzw. Kreistag hierfür zuständig ist, insbesondere für„Grundsätze für die Verwaltung“ und Maßnahmen gegen „Missstände“ (Be-gründung des GesE). Mit Blick auf die in Gemeinden und Landkreisen auchbei Weisungsaufgaben bestehende Organisations- und Personalhoheit sowiedie Kontrollaufgabe ist es zutreffend, dass die Hauptorgane auch insoweitVerwaltungsgrundsätze und Maßnahmen gegen Missstände beschließen kön-nen, und damit nach dem GesE künftig auch die Bürger.

Dadurch berührt der GesE die verfassungrechtlich geschützten Rechte undVerantwortlichkeiten des Landes. Die Staatsaufsicht und die Weisungsaufga-ben sind in der Landesverfassung in Art. 75 geregelt und werden grundsätz-lich auch in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG vorausgesetzt (Braun, Komm. zur LV,Art. 75 Rdn. 1). Auch bei der Auftragsverwaltung, die zu den Weisungsaufga-ben gehört und auf der unteren allgemeinen Verwaltungsebene weitgehenddurch die Landratsämter und die dafür zuständigen Stadt- und Gemeindever-waltungen wahrzunehmen ist, ist nach Art. 85 Abs. 3 Satz 3 GG der Vollzugvon Bundesweisungen durch das Land sicherzustellen. Die Weisungsaufga-ben umfassen viele Angelegenheiten, die auch Bürgerinitiativen zum Gegen-stand von kritischen Angriffen machen können. Schon in jeder auch kleinerenGemeinde gilt dies z. B. für Wehrerfassungs-, Wahl- und andere Angelegen-heiten, erst recht in größeren Gemeinden mit Baurechtszuständigkeit. Ab

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Größenordnung der Großen Kreisstädte kommen zahlreiche weitere Wei-sungsaufgaben hinzu (z.B. Ausländerangelegenheiten), ab Größenordnung derStadtkreise auch sämtliche weiteren Weisungsaufgaben (vgl. § 16 Abs. 1LVG, z. B. Staatsangehörigkeitswesen, Flüchtlingsaufnahme und Leistungenan Asylbewerber, Immissionsschutz, Naturschutz, Lebensmittelüberwachungund viele andere die Bürger unmittelbar interessierende Aufgaben).

In allen diesen Verwaltungsbereichen (bei den Landratsämtern für den gesam-ten weiten Aufgabenbereich der staatlichen unteren Verwaltungsbehörde, §1Abs. 3 LKrO) könnten nach dem GesE ebenfalls Bürgerbegehren eingeleitetwerden gegen alles, was Bürgerinitiativen als „Missstände“ oder als Gegen-stand von Grundsätzen für die Verwaltung ansehen würden, sowie zu Fragender inneren Organisation (auch Personalausstattung, z. B. von Ausländer-behörden, Einbürgerungsstellen u.v. a.)

Auch solche Bürgerbegehren hätten die dargestellte sofortige, ggf. lange an-dauernde Sperrwirkung mit Vollzugshemmung. Ob gegenüber der automati-schen Sperrwirkung mit Vollzugshemmung das Bestehen einer rechtlichenVerpflichtung (Satz 1 in Absatz 5 GesE) geltend gemacht werden kann, würdegerade in solchen Fällen besonders umstritten sein; denn ein solches Bürger-begehren könnte für sich in Anspruch nehmen, gerade nicht gegen die Wei-sungsaufgabe als solche vorzugehen, sondern nur gegen „Missstände“ anzu-gehen bzw. nur „Grundsätze für die Verwaltung“ aufzustellen oder die innereOrganisation zu regeln, was als Ausübung der Organisations- und Personalho-heit und -kontrolle nicht rechtswidrig sei. Die praktischen Hemmungswirkun-gen für den betroffenen Verwaltungsbereich würden jedenfalls sogleich auto-matisch eintreten, während die der Verwaltung und der Fachaufsicht ggf. ver-bleibenden Handlungsmöglichkeiten erst rechtlich durchgesetzt werden müss-ten.

Somit steht die teilweise Bürgerentscheidsfähigkeit der Weisungsaufgaben inVerbindung mit der automatischen Sperrwirkung und Vollzugshemmung inerheblichem Widerspruch zu den verfassungsmäßigen Rechten und der Ver-antwortung des Landes bei Staatsaufsicht und Weisungsaufgaben (Art. 75 LVsowie die genannten GG-Regelungen).

VI. Bürgerentscheidsfähigkeit von Fragen der inneren Organisation der Gemein-deverwaltung in Verbindung mit der Sperrwirkung und Vollzugshemmung

Diese Streichung im Negativkatalog (§ 21 Abs.2 Nr. 2 GemO) würde die ge-nannten Organisationsfragen insoweit bürgerentscheidsfähig machen, als dasHauptorgan (Gemeinderat bzw. Kreistag) Fragen der inneren Organisation derVerwaltung an sich ziehen kann bzw. hierfür zuständig ist, insbesondere wie-derum als „Grundsätze für die Verwaltung“ und Maßnahmen gegen „Miss-stände“. Wenn über eine solche Frage eine Konfliktsituation zwischen dem –an sich hierfür gesetzlich zuständigen – Bürgermeister und dem Gemeinderatauftreten sollte und die Frage durch Bürgerinitiativen oder auf andere Weisezum Gegenstand eines Bürgerbegehrens gemacht wird, könnte die automati-sche und ggf. lange andauernde Sperrwirkung mit Vollzugshemmung zu einergravierenden Lähmung des betroffenen Verwaltungsbereiches führen. Kon-flikte dieser Art sind zwar selten und dann auch nicht immer für die Bürgervon Interesse. Wenn es jedoch zum Unterschriftensammeln für ein Bürgerbe-gehren kommt und damit der Konflikt nicht mehr von den beiden beteiligtenGemeindeorganen allein gelöst werden kann, erschwert dies die Lösbarkeitgravierend. Die innere Organisation der Verwaltung in der Gemeinde bzw. imLandratsamt wäre durch die Sperrwirkung mit Vollzugshemmung nachhaltigbetroffen. Strebt das Bürgerbegehren eine neue Organisationsform an, dannerlaubt die Sperrwirkung mit Vollzugshemmung in der weitgehenden Fassungdes GesE nicht einmal die Fortführung der bisherigen Organisationsentschei-dungen ( s t a t u s q u o ) , weil dies die Vollziehung einer „dem Begehren ent-gegenstehenden Entscheidung“ wäre. Die Handlungsfähigkeit der Gemeindeoder des Landkreises wäre im Kern gelähmt, die vorgesehene Regelung ist da-mit verfassungswidrig.

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VII. Unbefristete Angreifbarkeit von Gremiumsbeschlüssen in Verbindung mitder Sperrwirkung und Vollzugshemmung und der jederzeitigen Wiederhol-barkeit von Bürgerbegehren und -entscheiden

Mit den genannten Verfassungsmaßstäben nicht zu vereinbaren ist auch diejederzeitige unbefristete Angreifbarkeit von Gemeinde- und Kreistagsbe-schlüssen (Streichung der bisherigen Vier-Wochen-Frist nach § 21 Abs. 3Satz 3 Halbsatz 2 GemO) in Verbindung mit der Sperrwirkung mit Voll-zugshemmung (Absatz 5 GesE) und der jederzeitigen Wiederholbarkeit vonBürgerbegehren und -entscheiden (Streichung der bisherigen Wiederholungs-sperre in §21 Abs. 3 Satz 2 GemO). Durch diese Neuregelungen würden dieGegner eines Gremiumsbeschlusses unbefristet die Möglichkeit erhalten,gezielt in einem ihnen günstig erscheinenden beliebigen Zeitpunkt auch spä-ter noch den Vollzug oder die Fortsetzung des Vollzugs eines von ihnennicht akzeptierten Beschlusses mit sofortiger Wirkung zu verhindern, beiBedarf auch wiederholt. Dies betrifft nicht nur Gremiumsbeschlüsse, diesich in einmaligem Vollzug erledigen bzw. zu deren Vollzug rechtliche Ver-pflichtungen eingegangen werden (wie dies z.B. bei Baumaßnahmen u.ä.häufig ist), sondern auch alle Gremiumsentscheidungen mit Dauerwirkung,wie sie z. B. in finanziellen oder organisatorischen Angelegenheiten oder zuGrundsatzfragen ergehen.

VIII. Strikte Unabänderlichkeit eines Bürgerentscheids für die Organe währendBindungsfrist (Abs. 12 Satz 2 bzw. 11 Satz 2 GesE) in Verbindung mit ande-ren Regelungen des GesE

In Verbindung mit der starken Erleichterung des eigentlichen Bürgerent-scheids durch völlige Streichung des Quorums beim Bürgerentscheid (Ab-satz 9 Satz 1 GesE), der starken Ausdehnung der Bürgerentscheidsfähigkeit(Absätze 1 und 2 GesE) und den anderen Änderungen (insbesondere dempartikularen Initiativrecht Betroffener, Absatz 10 GesE) ist die kommunaleSelbstverwaltung und Funktionsfähigkeit im Kern auch durch die Regelungdes GesE betroffen, dass jeder Bürgerentscheid innerhalb des ersten Jahresnur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden kann (Abs. 12bzw. 11 GesE). Dies bedeutet einen strikten Ausschluss jeder Änderung fürdie Organe, ohne die Möglichkeit, zumindest eine wesentliche Änderungder dem Bürgerentscheid zugrunde liegenden Sach- oder Rechtslage zuberücksichtigen. Wenn es, wie nach dem GesE zu erwarten und ausdrück-lich angestrebt, in Zukunft zu häufigen Bürgerentscheiden kommt und diesez. B. auch Finanzfragen u. v. a. mit „endgültiger“ Wirkung festlegen, kannauch schon die einjährige Bindungswirkung, die für die Gemeinde- undKreisorgane nach dem klaren Wortlaut unüberwindbar ist, in Verbindungmit den sonstigen Regelungen des GesE den Kern der kommunalen Selbst-verwaltung und Funktionsfähigkeit verletzen.

Der GesE berührt in dieser Wirkungsweise nicht nur die kommunale Selbst-verwaltung und Handlungsfähigkeit, sondern auch übergeordnete Belangevon Land oder Bund, etwa bei Pflichtaufgaben. Das Verfassungsrecht hatden Gesetzesvollzug weitgehend der allgemeinen unteren Verwaltungsebe-ne und damit den Gemeinde- und Kreisverwaltungen überantwortet (vgl. inder Landesverfassung insbesondere Art. 71 Abs. 2 und die Subsidiaritätsre-gelung nach Art. 70 Abs. 1 Satz 2). Dies setzt voraus, dass die Gemeinde-und Kreisorgane jederzeit das Recht und seine Änderungen gesetzestreu undpünktlich vollziehen. Eine Kommunalrechtsregelung, die ihnen diese Mög-lichkeit in den dargelegten, nach dem GesE häufig zu erwartenden Situatio-nen faktisch aus der Hand nimmt, stellt auch die Integration der Gemeindenund Landkreise in den staatlichen Aufbau (BVerfGE 83, 37, 54) in Frage.Das geltende Recht wirft diese Bedenken nicht auf, da es durch das Zusam-menwirken seiner verschiedenen Regelungen (insbesondere Absätze 1, 2und 6 des §21 GemO) Bürgerentscheide im Wesentlichen nur für reine undfreiwillige Gemeindeangelegenheiten und dabei nur für solche erwartenlässt, bei denen es angesichts des Votums einer großen legitimierenden Zahlder Bürger hinnehmbar ist, auf einen neuen Bürgerentscheid oder auf dasEnde der Bindungsfrist warten zu müssen.

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Insgesamt sind deshalb die angeführten Regelungen des GesE in ihrem Zu-sammenwirken unvereinbar mit dem Verfassungsrecht.

IX. Geeignetheit des GesE

Dem GesE fehlt entgegen Art. 63 Abs. 4 Satz 1 LV ein genauer Zeitpunkt des In-krafttretens. Dies könnte zwar für sich allein mit Blick auf Art. 63 Abs. 4 Satz 2LV hingenommen werden. Jedoch fehlt dem GesE jede Vorlaufzeit, wie sie z. B.für die neuartige und tief greifende Einführung des Bürgerbegehrens und -ent-scheids in Landkreisen erforderlich ist. Es fehlen auch alle dafür erforderlichenBegleitänderungen im Kommunalwahlgesetz (zumindest §41 Abs. 1) und in derKommunalwahlordnung. In den Schlussbestimmungen (Art. 3 GesE) fehlt auchjegliche Überleitungsvorschrift für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens schon ein-geleiteten Verfahren, z.B. hinsichtlich der Geltung des neuen Unterstützungs-quorums, das im GesE gegenüber dem jetzt geltenden §21 Abs. 3 GemO merk-lich verändert wird. Auch hinsichtlich der sonstigen Rechtsänderungen bei Bür-gerbegehren und -entscheid bleibt bei eingeleiteten Verfahren unklar, ab wel-chem Verfahrensstadium die Neuregelungen des GesE gelten sollen. Ein zumVolksbegehren vorgelegter GesE muss zur Verabschiedung in der Volksabstim-mung, zur Verkündung im Gesetzblatt und zum Inkrafttreten geeignet sein, daweitere Überprüfungen im Volksgesetzgebungsverfahren nach der Zulassung desVolksbegehrens nicht mehr vorgesehen sind und eine „Nachbesserung“ oder ver-fassungskonforme Auslegung nicht möglich ist (BremStGH DÖV 1986, 792;StGH BW ESVGH 36, 161).

Diese Mängel stellen die Eignung des GesE auch im verfassungsrechtlichemSinne in Frage und sind zu beanstanden.

X. Nichtberücksichtigung einer wesentlichen zwischenzeitlichen Kommunal-rechtsänderung im GesE

1. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist auch eine Verletzung des Gebots derfreien Abstimmung (Art. 26 Abs. 4 LV). Nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 LV musseinem Volksbegehren ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetz-entwurf zu Grunde liegen, der ggf. auch Gegenstand der abschließenden Volks-abstimmung wird. Das Gebot der freien Abstimmung erfordert, dass der für dieVolksabstimmung vorgesehene Gesetzentwurf zusammen mit der BegründungInhalt und Tragweite der zur Abstimmung gestellten Regelungen jedenfalls inden wesentlichen Punkten zutreffend erkennen lassen muss. Sonst besteht dieGefahr, dass sich die Stimmberechtigten von unrichtigen Vorstellungen überden Inhalt des Gesetzentwurfs und seine Auswirkungen auf die Rechtslage lei-ten lassen und damit möglicherweise das Abstimmungsergebnis verfälscht wird.Auch das Bestimmtheitsgebot als Element des Demokratieprinzips fordert fürplebiszitäre Gesetzgebungsverfahren, dass die stimmberechtigten Bürger zuver-lässig erkennen können, über welchen Gesetzesinhalt sie entscheiden.

2. Diesen Anforderungen entspricht der GesE in einem seiner wichtigen Punktenicht. In der Synopse des geltenden Rechts und des GesE wird als „bisherigeFassung des §21 GemO“ die Rechtslage vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Än-derung des kommunalen Verfassungsrechts vom 16. Juli 1998 (GBl. S. 418) zuGrunde gelegt. Obwohl dieses Gesetz bereits am 1. August 1998 in Kraft getre-ten ist, bleibt die in ihm enthaltene wesentliche Änderung des § 21 GemO un-berücksichtigt.

Hinsichtlich der nach §21 Abs. 3 Satz 5 GemO geforderten Mindestzahl vonUnterstützungsunterschriften werden noch das früher geltende Unterstützungs-quorum von 15 % der Bürger und auch die früheren Höchstgrenzen für die Ge-meindegrößengruppen als geltendes Recht ausgegeben. Hiermit werden in derDarstellung des Volksbegehrens die erheblichen Absenkungen der Mindest-zahlen von Unterstützungsunterschriften nicht dargestellt, die durch das Gesetzvom 16. Juli 1998 vorgenommen wurden, nämlich die Verringerung des Unter-schriftenquorums auf 10 % der Bürger und die erheblichen Herabsetzungen al-ler Höchstgrenzen. Zwar ist in der Begründung des GesE von einer „von SPD-Fraktion und Landesregierung eingebrachten Regelung mit 10%“ die Rede, es

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wird aber nicht ausgeführt, was daraus durch die Beschlussfassung des Land-tags zu geltendem Recht geworden ist. Da in der Synopse die bisherige Rechts-lage dargestellt ist, muss, wer das Volksbegehren unbefangen auf sich wirkenlässt, davon ausgehen, dass die bis 1998 angegebene Rechtslage auch nochheute maßgeblich ist. In Wirklichkeit aber würde der GesE gegenüber derschon seit August 1998 geltenden Rechtslage zu einer erheblichen Erschwe-rung von Bürgerbegehren führen, da in einer Vielzahl von mittelgroßen Städ-ten (zwischen 25000 und 150 000 Bürgern) durch den GesE mehr Unterstüt-zungsunterschriften nötig würden, als das geltende Recht erfordert.

Da das Unterschriftenquorum die wichtigste Hürde ist, die ein Bürgerbegeh-ren zu überwinden hat, ist in besonderem Maße zu besorgen, dass sich dieStimmberechtigten von unrichtigen Vorstellungen über die Voraussetzungeneines Bürgerbegehrens und die Auswirkungen des GesE leiten lassen und dassdamit das Abstimmungsergebnis verfälscht wird. Schon für die zahlreichenseit August 1998 geleisteten Unterstützungsunterschriften zum Zulassungsan-trag gilt Entsprechendes. Sie wurden zu einem erheblichen Teil in solchenmittelgroßen Städten eingeholt, in denen der GesE zu einer wesentlichen Er-schwerung von Bürgerbegehren führen würde.

Im Übrigen bleibt in der synoptischen Darstellung des Volksbegehrens außer-dem die ebenfalls durch das Gesetz vom 16. Juli 1998 erfolgte Änderung dessog. Negativkatalogs in §21 Abs. 2 Nr. 4 GemO und damit insbesondere diefür die Bürger nicht unwichtige gesetzliche Klärung hinsichtlich der nebenden Tarifen erhobenen sonstigen privatrechtlichen Entgelte unerwähnt.

D.

Der Zulassungsantrag ist wegen der festgestellten Verfassungswidrigkeit zahlrei-cher Regelungen des GesE abzulehnen, ohne dass damit eine abschließende Be-jahung der Verfassungsmäßigkeit der hier nicht behandelten Regelungen des GesEverbunden wäre.

Eine teilweise Zulassung des GesE unter Beschränkung auf verbleibende Vor-schriften kommt nicht in Betracht, zumal sich aus dem Deckblatt zum GesE undaus der Begründung ergibt, dass gerade auch die zu beanstandenden Teile im Zu-sammenwirken mit den übrigen Teilen integrierender Inhalt der Gesetzesinitiativesein sollen. Die Teilzulassung eines Restgesetzentwurfs, wie er sich hier ergebenwürde, wäre sinnwidrig. Auch liegen die Voraussetzungen nicht vor, unter denenin der Verfassungsrechtsprechung anderer Länder ausnahmsweise eine Teilzulas-sung für möglich gehalten wurde. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hält dieteilweise Zulassung eines Volksbegehrens unter Beschränkung auf die nach Weg-lassung der verfassungswidrigen Regelungen verbleibenden Vorschriften aus-nahmsweise dann für zulässig, wenn die die Unzulässigkeit des Volksbegehrensbegründenden Vorschriften lediglich einen unwesentlichen Teil eines einheitli-chen Gesetzentwurfs darstellen und von diesem sachlich trennbar sind (BayVerfGHBayVBl. 1995, 46, 49 unter IV 4; zuvor BayVerfGH BayVBl. 1990, 367 zumVolksbegehren „Das bessere Müllkonzept“, das teilweise zugelassen wordenwar). Eine teilweise Zulassung des Volksbegehrens ist danach nicht möglich,wenn wie hier die verfassungsrechtlich zu beanstandenden Vorschriften wesentli-che Bestandteile des Gesetzentwurfs darstellen.

E.

Die Kosten des Zulassungsantrags sind nach §39 Abs. 1 Satz 1 VAbstG von denAntragstellern zu tragen. Die Entscheidung über den Zulassungsantrag ergehtnach § 39 Abs. 1 Satz 2 VAbstG kostenfrei.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diese Entscheidung können die Vertrauensleute binnen zwei Wochen nachZugang den Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Ulrichstr. 10,70182 Stuttgart anrufen.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Konrad Frhr. von Rotberg

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Innenministerium Stuttgart, 3. März 2000Baden-Württemberg

Herrn LandtagspräsidentPeter Straub MdLLandtag von Baden-WürttembergHaus des Landtags

70173 Stuttgart

Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,

in Vertretung des Herrn Innenministers darf ich Sie nach §26 des Volksabstim-mungsgesetzes davon in Kenntnis zu setzen, dass beim Innenministerium am3. März 2000 der Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens eingegangen ist.Der Antrag ist zusammen mit dem in Kopie beigefügten Gesetzentwurf „MehrDemokratie in Baden-Württemberg – Bürgerentscheide in Gemeinden und Land-kreisen“ von den Vertrauensleuten der Initiative „Mehr Demokratie e. V.“ überge-ben worden.

Das Innenministerium hat nach §27 Abs. 1 Satz 2 des Volksabstimmungsgesetzesüber den Antrag binnen drei Wochen nach seinem Eingang zu entscheiden.

Mit freundlichen Grüßen

Roland Eckert

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