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Hempel/Kempowski 23.10.2007 14:35 Uhr Seite 1

BuchDer Lebensweg des Schriftstellers Walter Kempowski(1929–2007) ist exemplarisch für die wechselvolle Ge-schichte des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert. Mit dieser Monographie werden Leben und Werk des gro-ßen deutschen Chronisten Walter Kempowski erstmals im Zusammenhang dargestellt. Chronologisch behandelt DirkHempel, langjähriger Mitarbeiter Kempowskis, die vier exi-stentiellen Komplexe Kindheit und Jugend in Rostock, Inhaf-tierung in Bautzen, Tätigkeit als Pädagoge und schriftstelleri-sche Arbeit. Stimmen von Zeitgenossen, zahlreiche Fotosund ein ausführlicher Anhang vervollständigen den Band. Sobietet Dirk Hempels Biographie einen einzigartigen Einblickin das Leben eines herausragenden Autors und Zeitzeugen.

AutorDirk Hempel, geboren 1965 in Cuxhaven, Privatdozent am Institut für Germanistik der Universität Hamburg,1995–2005 Redakteur für Walter Kempowskis Projekt»Echolot«.

Walter Kempowski bei btbAlkor. Tagebuch 1989 (73093) Aus großer Zeit. Roman (72015) Der rote Hahn. Dresden im Januar 1945 (72842) Heile Welt. Roman (72650) Herzlich willkommen. Roman (72190) Hundstage. Roman (73311)Letzte Grüße. Roman (73330)Schöne Aussicht. Roman (72103) Sirius. Eine Art Tagebuch (73419)Tadellöser & Wolff. Roman (72033) Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst (72202)Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch (72076)Das Echolot. Fuga Furiosa (72788)Das Echolot. Unternehmen Barbarossa (73175)Das Echolot. Abgesang ’45 (73612)Culpa. Werknotizen zum Echolot (73662)

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Dirk Hempel

WalterKempowskiEine bürgerliche Biographie

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken Print liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

3. AuflageAktualisierte und ergänzte Ausgabe Oktober 2007,btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © 2004 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: Frauke Reinke-WöhlSatz: Uhl+Massopust, AalenKR · Herstellung: BBPrinted in GermanyISBN 978-3-442-73208-1www.btb-verlag.de

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Inhalt

1. Einzelhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72. Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113. Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244. Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465. Bautzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726. Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877. Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1088. Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279. Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

10. Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20811. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Literaturauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

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1. Einzelhaft

Die Einzelhaft, das war der Tiefpunkt.1

Schwerin, Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes MWD,Zelle 54. Am 20. März 1948 versucht der achtzehnjährigeUntersuchungshäftling Walter Kempowski, sich das Leben zunehmen. Tiefpunkt einer verpfuschten Existenz: langhaarigerSwingboy, der Schule verwiesen, Lehre abgebrochen, Schwarz-händler, Hilfsarbeiter beim Amerikaner in Wiesbaden. WenigeTage zuvor ist er in Rostock festgenommen worden, als er seineMutter besuchte. Er hatte Frachtpapiere bei sich, aus denenhervorgeht, daß die Sowjets ihre Zone systematisch ausplün-dern.

In Schwerin wird er verhört, stunden-, tagelang. Der Bruderist bereits als »Mittäter« verhaftet. Jetzt geht es um seine Mut-ter. Man schlägt ihn, man stellt ihn in den Wasserkarzer, dreiTage muß er aushalten, unbekleidet, wird vom russischen Wär-ter immer wieder mit kaltem Wasser übergossen. Dann sagt erirgendwann »ja« – ja, seine Mutter habe von seinem Vorhabengewußt.

Diese Schuld ist es, die er nicht aushält. Er hat die Familiezerstört und jetzt auch noch seine Mutter den Russen preisge-geben, die Folgen kann er sich ausmalen.

An diesem Vormittag – draußen fällt Schnee – bindet er sichein Taschentuch um den Hals. Noch für einen Moment überlegter, wie er es am besten anstellt, dann steckt er seinen Löffel indas Tuch und dreht ihn um, immer fester. Im letzten Augen-blick den Löffel ins Hemd stecken und so ansetzen, daß die

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Strangulierung nicht nachläßt, das funktioniert nicht auf An-hieb. Er verliert zwar das Bewußtsein, wacht aber nach kurzerZeit auf dem Terrazzofußboden wieder auf. Er wiederholt denVersuch sofort, er mißlingt erneut.

Nun gibt er auf und gleitet in den folgenden Tagen ab inTraumwelten. Goethe-Gedichte kommen ihm in den Sinn undMorgenstern, Zarah-Leander-Schlager summt er vor sich hin.Er löst Rechenaufgaben und memoriert sein Schulwissen:»Drei-drei-drei, bei Issos Keilerei.« Er denkt an den Freiherrnvon der Trenck, den Friedrich der Große in den Kerker werfenließ. Als Kind hatte er das Bild des Gefesselten ins Zigaretten-album geklebt, im warmen Wohnzimmer beim Schein einerLampe. Und er erfindet Geschichten, sieht sich in einem Klo-ster – die selbstbestimmte heilige Version des Gefängnisses:»Klosterquinten. Der Brunnen im Hof des Kreuzganges. Mitdem Klosterbruder auf und ab, Gebete murmeln. JahrelangeExerzitien. Ein Opferleben führen, stellvertretend leiden. Imkostbar geschnitzten Gestühl: knien!«2

Ablenkung ist das, Betäubung, auch Vergewisserung des Ge-päcks, das er mitgenommen hat. Für wie lange wird es reichen?Er plant ein »Handbuch der Witzkunde«, mit einer speziellenInterpunktion, die das pointierte Vorlesen auch für Humorloseerleichtern soll, beginnt, eine plattdeutsche Grammatik zu ent-werfen, und denkt an die zukünftige Promotionsfeier im Barock-saal der Rostocker Universität. Flucht in die Zukunft könnteman das nennen, Perspektiven ersinnen, Hoffnungen projizie-ren. Mecklenburg, Rostock, die Heimat – und die Familie…

Wie von selbst taucht er ab in die Erinnerung. »Ich habe aufmeiner Pritsche gelegen, mir Augen und Ohren zugeklemmtund mir zum Beispiel vorgestellt: Was hast du am 1. April 1938gemacht? Es ist natürlich ausgeschlossen, das völlig zu rekon-struieren, aber man kann einkreisen, sich Gebiete erschließen,an die man zuvor nicht dachte, wie lebten damals die Eltern,welche Freunde hatte man usw. Oder die Wohnungseinrich-tung bis auf den Tapeziernagel genau.«3

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Schwerin, Gefängnis am Demmlerplatz, Zelle 54

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Rekonstruktion der Vergangenheit als Überlebensstrategie.Szenen seiner Autobiographie sieht er sich an wie einen Farb-film. Er erzählt sie sich in drei Sprachen, Deutsch, Plattdeutschund Englisch: »My father was a shipsowner and my mother wasalways friendly…« Er läßt die Familie wieder auferstehen. Daist es, das große Thema, das ihn sein Leben lang beschäftigenwird. Hier, in der Schweriner Einzelzelle des MWD, am tiefstenPunkt seines Lebens, das einmal in behüteter Bürgerlichkeit be-gann, nimmt das große Erinnerungswerk, die Geschichte derKempowskis, die auch eine Geschichte des deutschen Bürger-tums ist, seinen Anfang.

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2. Herkunft

Zu bedenken, daß sich »das Polnische«mit »dem Französischen« in mir kreuzte.4

Die Wurzeln der Kempowskis verlieren sich in der Weite desOstens. Wahrscheinlich kamen sie aus Polen. »Kepa« bedeutetBüschel, Baumgruppe oder bewaldete Insel, ein häufiger Sied-lungsname. Die Nachsilbe »-owski« bezeichnet die Zugehörig-keit zu einem Platz. »Kepowski« wäre dann vielleicht der Be-wohner einer bewaldeten Flußinsel. Das polnische »e«, nasalausgesprochen, wurde unter deutschem Einfluß zu »am«, Kam-powski, oder zu »em«, Kempowski.5 Oder aber ein Vorfahrwurde, wie in der Familie überliefert, für besondere Tapferkeitmit der Adelsendung -ski ausgezeichnet.6 Damit gehörte er zumpolnischen Landadel, der Szlachta. Die polnische Herkunftwar jedenfalls in der Familie sprichwörtlich, vor allem, wenn esdarum ging, Verfehlungen, Ungenauigkeiten zu erklären.

Die Geschichte der Rostocker Kempowskis ist ein ständigerWechsel von Aufstieg und Niedergang, sie ist auch eine Ge-schichte von der Entstehung des Bürgertums aus eigener Kraft.Der erste nachgewiesene Vorfahr ist der Schneider Kempow-ski, der um 1768 in Rehberg auf der Elbinger Höhe geborenwurde.7 Rehberg war Rittergut und gehörte zur HerrschaftCadinen. Das dortige Schloß kaufte Kaiser Wilhelm II. im Jahr1898, ließ es zu einer Sommerresidenz ausbauen und eine Ma-jolikamanufaktur gründen.

Am 1. Juni 1801 wurde der Schneider Kempowski zum Leh-rer ernannt, ein in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlicherVorgang. Denn bis weit ins 19. Jahrhundert waren es auf dem

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Land oft Handwerker, selbst kaum des Lesens und Schreibenskundig, die den Kindern elementare Kenntnisse vermittelten.Kempowski erhielt von seiner Herrschaft ein jährliches Gehaltvon 42 Talern, außerdem für jedes Schulkind wöchentlicheinen Groschen – ein äußerst niedriges Einkommen. Ein Schul-meister in der Stadt verdiente damals etwa 200, ein hoher Be-amter etwa 700 Taler. Die dem Lehrer zugebilligten Natura-lien – fünf Scheffel Roggen, ein Scheffel Gerste, ein ScheffelErbsen sowie freie Wohnung und Feuerholz – mögen die Kon-tinuität seiner materiellen Existenz gewährleistet haben.

Warum er nicht in Rehberg blieb und 1812 Lehrer im nahenSuccase wurde, das auf dem Sumpfland zwischen Haff undHöhe lag und zur Elbinger Ratsherrschaft gehörte, ist ungewiß.Vielleicht war der Alkohol schuld, dem er immer wieder über-mäßig zugesprochen haben soll, ein Laster, das auf der Elbin-ger Höhe weit verbreitet gewesen zu sein scheint. Der Krug inSuccase jedenfalls schenkte im Jahr 1772 an die 6000 Liter Bieraus, bei 28 erwachsenen Einwohnern mehr als 200 Liter proKopf und Jahr, dazu rund 170 Liter Branntwein.8 Die Zahlenerhöhen, ja verdoppeln sich pro Kopf, wenn man annimmt, daßdie Frauen eher nicht den Krug aufsuchten. Aber schon denKindern verabreichte man Schnaps, wenn sie zu Weihnachtenvon Tür zu Tür zogen und Weihnachtslieder sangen.9 Und beiFesten, so heißt es, wurde auf den Dörfern »gefressen und ge-soffen und aus einem Hause in das andre geschwärmt«10.

Der Lehrer Kempowski lebte unter einem ungesitteten undungebildeten Menschenschlag, klein und gedrungen, oftschwarzhaarig – ein Erbteil der heidnischen Pruzzen? »FeineSitten wird man nicht gewahr, wohl aber Ausbrüche von Ro-heit«, urteilte ein zeitgenössischer Beobachter.11 Aberglaubeherrschte in dem entlegenen Landstrich. Faulheit, Liederlich-keit, Schlägereien, Unzucht, wilde Ehen waren an der Tages-ordnung. Mit Halseisen und Stockstrafe ging der Elbinger Ratdagegen vor.

Die Schule war erst 1804 gegründet worden. Der Lehrer

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Kempowski, der unter der Aufsicht des Pastors stand, unter-richtete die Kinder in seinem Vorlaubenhaus, im Sommer 15Stunden pro Woche, im Winter 30. Er bekam nur noch 18 TalerGehalt, kaum mehr als ein Knecht verdiente. Die Verschlechte-rung spricht für einen unrühmlichen Abgang von seiner erstenStelle.

Succase wurde in diesen Jahren von den großen Welthändelnberührt. Im Januar 1807 lagerten die Truppen des MarschallsBernadotte hier, sicher auch im Haus des Lehrers. Von derHöhe aus konnte man die preußischen und französischen Käh-ne beobachten, die sich auf dem Haff Gefechte lieferten, undim Mai 1807 drang die Kunde auf die Dörfer, daß der Usurpa-tor selbst in der Festung Elbing eingetroffen war. Kempowskimuß auch die Soldaten der Grande Armée gesehen haben, diedann im Sommer 1812 nach Rußland zogen, und ihre jämmer-lichen Reste, die im Winter als Flüchtlinge zurückkehrten. Mu-rat, der König von Neapel, war unter ihnen. Dutzende von Ver-

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Vorlaubenhaus auf der Elbinger Höhe

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wundeten, die mit Schlitten über das gefrorene Haff gebrachtwerden sollten, versanken hier im Eis.12 Die Franzosen brach-ten Seuchen mit, Typhus und Ruhr. Ihnen folgten die russi-schen Truppen auf dem Fuß.

Mit dem Lehrer Kempowski nahm es kein rühmliches Ende.Der tapfere Schneider, der den westpreußischen Kindern jah-relang das Lesen und Schreiben beigebracht hatte, wurde einOpfer der Humboldtschen Bildungsreformen, die in Preußennach 1812 die Lehrerausbildung professionalisierten und ge-setzlich regelten. Kempowski mußte sich nun einer Prüfungunterziehen, die er nicht bestand. Succase blieb bis 1829 ohneLehrer.

Sein Sohn Friedrich (Wilhelm) Kempowski (?–1881) lebteals »Eigengärtner« in Succase. Er besaß ein Haus und ein klei-nes Stück Gartenland, bevor er sich 1824 einen Haffkahn an-schaffte und »Schiffer« wurde. Er transportierte Obst, vorallem Kirschen und Pflaumen, auf die Frische Nehrung, nachElbing und Königsberg. Die Elbinger Höhe galt als eines dervorzüglichsten Obstanbaugebiete Preußens. In späteren Jahrenlebte er als »Schiffseigner« mehrerer Lastkähne in Elbing, ineinem der typischen Kaufmannshäuser der ehemaligen Hanse-stadt. Er war dreimal verheiratet. Einer seiner Söhne lernte dasHandwerk des Zigarrenmachers bei der Firma Loeser & Wolff,die in Elbing die größte Zigarrenfabrik des Kontinents errich-tet hatte, bevor er nach Amerika auswanderte. Der zu SuccaseErstgeborene aber, Friedrich Wilhelm (1824–1904), ging nachKönigsberg, in die Provinzialhauptstadt. Er war nun schon»Rheeder« und besaß bald sechs Segelschiffe.

Ein kleines Familienimperium entstand hier am Pregel. DieSchiffe befuhren das Haff und die Ostsee mit Obst und Ge-müse, und Nachkommen aus der dritten Ehe von FriedrichKempowski betrieben vor Ort einen Obst- und Kartoffelgroß-handel, der nach 1945 in Lübeck fortgesetzt wurde.

Es ging aufwärts. Friedrich Wilhelm und seine Frau AugusteWilhelmine geborene Benson (1825–1912) führten nun schon

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ein bürgerliches Leben. In ihrer geräumigen Wohnung mitBlick auf den alten Hafen sollen Porzellan und Kristall dieSchränke gefüllt haben. In einer Truhe wurden angeblich Säckemit Talern aufbewahrt. Auguste Wilhelmine, eine stattlicheBlondine, trug reichen Goldschmuck und ließ sich von Kindernund Enkeln die Hand küssen.13 Sie brachte mit dem »GüldnenSchatzkästlein« den ersten Zettelkasten in die Familie Kem-powski ein, ein frommes Orakel biblischer Sprüche aus demJahr 1726.14

Doch dann gingen alle sechs Segelschiffe unter, in einemJahr, und Friedrich Wilhelm Kempowski verlor sein Vermögen.Sein viertes Kind, Robert William Oskar Alfred (1865–1939),lebte da schon in Rostock. Er hatte als Befrachter in der Schiffs-maklerei Otto Wiggers15 begonnen, eine derbe Natur mit west-preußischem Vierkantschädel, der fluchte und Plattdeutschsprach, allerdings auch Dänisch und Englisch beherrschte. Er

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Auguste Wilhelmine und Friedrich Wilhelm Kempowski am Tagihrer Goldenen Hochzeit 1899

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vermittelte Kohle aus England und Schottland, norwegischesSüßwasserblockeis, Kalksteine aus Dänemark, exportierte Kar-toffeln und Mauersteine nach Schweden und Finnland. Er er-wies sich bald als rührig und tüchtig.16 So konnte er nicht nurdie Einnahmen der Firma erheblich steigern, sondern auchseine eigenen Einkünfte, wovon er ein recht flottes Leben führ-te. Aber er unterstützte auch seine Eltern in Königsberg durchregelmäßige Zahlungen.

Rostock war Ein- und Ausfuhrhafen Mecklenburgs, dieStadt eine Mischung aus Wissenschaft und Wirtschaft. Die Uni-versität existierte seit 1419, eine der ältesten Deutschlands.Der Humanist Ulrich von Hutten hatte hier bettelarm und sy-philiskrank Vorträge gehalten und der Astronom Tycho Braheim Duell einen Teil seiner Nase eingebüßt. Fritz Reuter gab sichAnfang der dreißiger Jahren dem studentischen Treiben hin,und Heinrich Schliemann wurde 1869 promoviert.

Der Schiffsmaklerei Wiggers gegenüber wohnte der Chemi-ker Dr. Carl Grosschopf17, ein ehrbarer Bürger, der lockereSteine im Trottoir notierte und sich als Ratsherr besonders umdas Stadttheater kümmerte. Er war durch Erfindungen zueinem ansehnlichen Vermögen gekommen. Seine Nichte, AnnaCaroline Lisette Wilhelmine Siebert (1871–1927), begann mitdem jungen Schiffsmakler zu poussieren und forderte ihn baldauf, ihr einen Antrag zu machen.

Die Hochzeit fand am 5. April 1892 statt. Die Mitgift betrug50 000 Goldmark, eine ungeheure Summe, durch die Dr. Gros-schopf das Wohlleben im Hause Kempowski ermöglichte. Erunterstützte auch den Kauf der Firma Otto Wiggers durchRobert William und einen Teilhaber.

Die Kempowskis zählten nun zu den ersten Familien derStadt, bewohnten eine Villa in der Stephanstraße 8 in der Stein-torvorstadt. Das Geschäft, nun auch Reederei, florierte. ImWeltkrieg nahm es durch den Import von schwedischem Erzeinen bedeutenden Aufschwung. Robert William, seit 1915 al-leiniger Besitzer, galt zeitweise als einer der reichsten Männer

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Rostocks. Er verlegte das Kontor in die Strandstraße, in eineehemalige Gastwirtschaft neben dem Mönchentor, und kauftedrei weitere Häuser.

Anna führte – mit bis zu elf Bediensteten – ein großes Haus,das bald zu einem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens derStadt wurde. Zum Jour fixe erschienen Professoren, Studenten,Schauspieler, Künstler, Kaufleute. Man spielte auf zwei Flü-

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»Güldnes Schatzkästlein« (1726) der Auguste WilhelmineKempowski

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geln. Gegessen und getrunken wurde, was Küche und Kellerhergaben, und das war nicht wenig. Robert William, unter denFolgen einer Syphilis leidend, saß unterdessen mit einer FlascheRotwein im Lehnstuhl am Ofen und sah dem Treiben zu. Nureinmal schritt er ein, als nämlich ein Medizinstudent bei Tischausgiebig von eitrigen Geschwüren erzählte.

Anna Kempowski war eine exaltierte, moderne Frau, Mit-glied in der »Deutschen Gesellschaft von Freunden der Photo-graphie«. Sie schrieb Aufsätze für Fotografie- und Frauenzeit-schriften. Das Geld, das ihr Mann verdiente, warf sie zumFenster hinaus. Als »Theatermutter« unterhielt sie eine Pros-zeniumsloge im Stadttheater, dem sie immer wieder größereGeldbeträge spendete, den Schauspielern schickte sie Blumenund gebratene Gänse auf die Bühne. Robert William war eben-so freigebig wie seine Frau, unterstützte Bedürftige, ohne je dasGeld zurückzufordern.

Die Inflation von 1923 brachte die Firma in einige Bedräng-nis. Immerhin konnten während des folgenden Aufschwungszwei Schiffe angeschafft werden, die Frachtdampfer »ClaraHintz«, 1930 in der Weltwirtschaftskrise zum Schrottpreis ver-kauft, und »Consul Hintz«, bei Beginn des Zweiten Weltkriegsvor Wilhelmshaven gesunken und durch den Dampfer »Frie-drich« ersetzt.

Anna starb 1927 während eine Kuraufenthalts in Bad Oeyn-hausen. Robert William verbrachte seine letzten Jahre einsamin seiner Villa, von einem faulen Dienstmädchen mehr schlechtals recht gepflegt. Nach seinem Tod 1939 fand man Berge vonungeöffneten Rechnungen. Hypotheken mußten aufgenommenwerden und die Villa vermietet. Von dem Erbe des Carl Gros-schopf war nicht viel geblieben.

Robert William und Anna Kempowski hatten zwei Kinder,Elisabeth (1893–1973), genannt Lising, und Karl Georg(1898–1945). Daß er »nur ein Versehen« war, wie seine Mut-ter ihm immer wieder gern erklärte, bestimmte seine Entwick-

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lung nachhaltig. Er hatte Probleme in der Schule und meldetesich im Weltkrieg freiwillig zu den Waffen. Er brachte es biszum Leutnant im Infanterie-Regiment Königin Viktoria vonSchweden und erhielt das Eiserne Kreuz erster Klasse.18

Im Sommer 1913 lernte er in der Sommerfrische in Graal-Mü-ritz an der Ostsee Anna Margarethe Collasius (1896–1969)kennen, auf der Landungsbrücke bei Sonnenuntergang. Mar-garethe war 17 Jahre alt, Karl Georg 15. Sie besuchten eine Le-sung des Dichters Cäsar Flaischlen, und im Strandkorb brach-te er ihr das Rauchen bei. Ende Dezember 1913 wurde sie aufdie Hochzeit von Elisabeth Kempowski nach Rostock eingela-den, wo sie sich jedoch in den Reederssohn August Cords ver-liebte. Während des Krieges schickte sie Karl Georg Strümpfeund Bonbons in Feld, August Cords aber Liebesbriefe. Erst als

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Anna, Karl Georg, Robert William und Elisabeth Kempowski, 5. April 1917

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der ihren Antrag ablehnte, weil er sich eine Existenz aufbauenmüsse, wendete sich Karl Georg das Glück wieder zu. Im April1917 verlobten sie sich unter einer Laterne an der Alster. Daleitete die höhere Tochter, am Fröbel-Seminar ausgebildet, ei-nen Kindergarten in einem Arbeiterviertel. August Cords hatsich und seine Angehörigen 1945 beim Einmarsch der Russenauf seinem Gut in Mecklenburg erschossen.

Als sie die Verlobung bekanntgaben, fiel ihre Mutter vorSchreck beinahe in die Waschtonne, und Robert William Kem-powski soll gesagt haben: »Dat watt ja doch nix.« Die Hochzeitfand drei Jahre später in Rostock statt, im Hotel Fürst Blücher.Anna Kempowski wünschte ihrer Schwiegertochter, daß sierecht unglücklich würde in ihrer Ehe, daß ihr Mann jeden Tagbetrunken nach Hause käme… Dann reiste das junge Ehepaarnach Lübeck, wo Karl Georg als Volontär in einer Schiffsmak-lerei angestellt war.

Margarethe kam aus einer gänzlich anderen Welt als KarlGeorg. Sie stammte aus einer wohlhabenden, vornehmen Ham-burger Kaufmannsfamilie, anständig, christlich, altdeutsch-bie-der. Ihre Vorfahren waren angesehene Bürger der Stadtrepublik,Ratsherren wie Caspar Moller (gest. 1610), dessen Epitaph sichnoch heute in der Katharinenkirche findet, Gelehrte wie derProfessor am Akademischen Gymnasium Johann Heinrich Vin-cent Nölting (1736–1806), dazu Pastoren an der Michaeliskir-che, Ärzte, Kaufleute. Eine gern erzählte Legende führt die Ur-sprünge der Collasius’ zwar ins 16. Jahrhundert zurück, nachFrankreich zur Zeit Heinrichs IV., dem ein Knappe namens Nico-las das Leben rettete und deshalb geadelt wurde als de Collas.Nach der Bartholomäusnacht sollen diese hugenottischen Vor-fahren nach Deutschland geflohen sein. Tatsächlich stammensie aber wohl aus Brandenburg, wo Emanuel Kohlhase/Colla-sius (1607–1666) in der Grafschaft Ruppin Pastor war. Auszwei Ehen hatte er neun Kinder, die er ins Kirchenbuch zuerstals Kohlhase und zuletzt – einer Mode der Zeit folgend latini-siert – als Collasius eintrug. Er hinterließ Aufzeichnungen über

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die Not des Dreißigjährigen Krieges, die Theodor Fontane inden »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« wiedergibt:»Dies 1638ste Jahr ist wohl ein recht elend und trübselig Jahr ge-wesen, wie dergleichen wohl kein trübseligeres in unserem ge-liebten Vaterlande erlebt worden ist… Zumal auch wegen derPest, darannen die Dörfer bald ausgestorben sind… So hat meinAntesessor zu Gottberg, Herr Joachimus Becker, in eben diesemJahr an der Pest erliegen müssen. Meine Pfarrkinder zu Protzensind meist weggestorben und nur acht Personen übriggeblie-ben…«19

Seine Nachkommen waren über Generationen ebenfalls Pa-storen, in der Mark, in Mecklenburg und in Vorpommern. Erstin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die Kauf-leute zu überwiegen. Friedrich Wilhelm Adolph Collasius

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Familie Collasius am Strand von Graal-Müritz, Sommer 1913:links Martha, im Strandkorb rechts Margarethe, im LiegestuhlAugust Wilhelm Collasius

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(1833–1910)20, der Großvater von Margarethe, gründete 1875in Hamburg eine Tuchhandlung. Er war bald als solider und ehr-barer Kaufmann weit geachtet, wie es heißt, spekulierte nie, ver-bot in seinem Geschäft die Annahme von Wechseln und billigtesich selbst nicht mehr als zehn Prozent Gewinn zu. Der aberreichte aus, um eine Villa in Hamburg-Eilbek zu kaufen, wo ereinmal in der Woche seine drei Söhne mit ihren Frauen um sichversammelte, Börsenfragen besprach und aus den RomanenFritz Reuters vorlas. Er war ein ernster, tiefreligiöser Mann vonalttestamentarischer Frömmigkeit, Mitglied im Kirchenvor-stand der Stiftskirche zu St. Georg21 und kümmerte sich um Be-dürftige, ein typischer Patriarch der wilhelminischen Ära.

August Wilhelm Collasius (1863–1947)22, sein ältester Sohnund Vater von Margarethe, führte die Firma an die Spitze derHamburger Textilexport-Agenturen. Er wird geschildert alsebenso frommer Christ wie sein Vater, als vornehmer, groß-mütiger Charakter, der die bildende Kunst liebte und die Ro-mane Gustav Freytags. Seine Frau Martha Adelheid Hälssen(1869–1939)23, die Tochter eines Amtsphysikus im hamburgi-schen Amt Ritzebüttel an der Elbmündung, hatte als Mädcheneinmal Johannes Brahms auf dem Klavier vorgespielt. IhreTochter Margarethe wuchs mit ihren drei Geschwistern in einerVilla im damals noch preußischen Wandsbek auf, vor den To-ren der Stadt. August Wilhelm Collasius verdiente gut, aber erwar ein äußerst strenger Vater, der auf Sparsamkeit hielt, dieKinder durften ihr Brötchen nur entweder mit Butter oder Ho-nig essen. Margarethe Kempowski beschrieb ihre Kindheit alsbehütet, aber entsagungsvoll. 1918 erlitt ihre Mutter einenschweren Schlaganfall, verlor die Sprache und war halbseitiggelähmt. August Wilhelm betreute sie bis zu ihrem Tod, 21 Jah-re lang. Nach der Zerstörung des Hauses im Juli 1943 verbrach-te er seine letzten Lebensjahre bei seiner Tochter in Rostock.

Die exaltierten und verschwenderischen Kempowskis, die ausden westpreußischen Sümpfen am Frischen Haff emporgestie-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Dirk Hempel

Walter KempowskiEine bürgerliche Biographie

Taschenbuch, Broschur, 320 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-73208-1

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Erscheinungstermin: April 2004

Der Lebensweg Walter Kempowskis ist exemplarisch für die wechselvolle Geschichte desdeutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert. Mit diesem Buch werden Leben und Werk desgroßen deutschen Chronisten erstmals im Zusammenhang dargestellt. Chronologisch werdendabei die vier existentiellen Komplexe Kindheit und Jugend in Rostock, Inhaftierung in Bautzen,Tätigkeit als Pädagoge und schriftstellerische Arbeit behandelt. Dirk Hempel ist langjährigerMitarbeiter Walter Kempowskis u.a. beim Echolot-Projekt und kennt den Autor seit vielenJahren. Seine Biographie bietet einen einzigartigen Einblick in das Leben eines herausragendenSchriftstellers und Zeitzeugen.