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Reproduktives Handeln im Postfordismus:Ent- und/oder Retraditionalisierung vonGeschlecht im konservativenWohlfahrtsregime?
Prof. Dr. Heike KahlertRuhr-Universität [email protected]
Wien, 27. November 2014
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 2
Frage Inwiefern gleichen sich angesichts der
Restrukturierungen von Erwerbsarbeit undWohlfahrtsstaatlichkeit geschlechtlicheIdentitäten im reproduktiven Handelnzwischen Frauen und Männern an?
Oder werden historisch-kulturell geprägteDifferenzen zwischen den Geschlechternaffirmiert?
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 3
Überblick Verwendete Konzepte
Reproduktives Handeln Postfordismus (Konservatives) Wohlfahrtsregime
Gegenwartsdiagnosen Unvollendete Geschlechterrevolution Krise der Reproduktion(sarbeit)
Stabilität und/oder Wandel geschlechtlicherIdentitäten?
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 4
Reproduktives Handeln Prämisse: Empfängnis und Zeugung,
Schwangerschaft und Geburt sowie das Aufziehenvon Kindern sind jeweils individuell gestaltete underfahrene Praktiken von Frauen und Männern, die imKontext ökonomischer, sozialer, politischer undhistorisch-kultureller Bedingungen vollzogen werden
als sinnhaftes und reflexives sowie Normen- undWerte geleitetes soziales Handeln vonvergeschlechtlichten Individuen verstehen, das sich inStrukturen vollzieht, also nicht im regellosen Raum,sondern in institutionalisierten Verhältnissen, dieIntentionen und Praktiken verhindern und ermöglichen
Quelle: Dackweiler 2006
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 5
Postfordismus Fordismus – vier Merkmale
Standardisierte Massenproduktion Steigerung der Massenkaufkraft Aufbau des Sozialstaats Steigende Ansprüche an die individuelle
Lebensführung
≈ seit Mitte der 1970er Jahre Niedergangdes Fordismus und Ausbildung desPostfordismus
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 6
Postfordismus Postfordismus – vier Merkmale
Veränderungen im Produktionsbereich Permanente Innovation von Gütern und
Dienstleistungen Abbau sozialstaatlicher Leistungen Individualisierung
Ausprägung noch nicht abgeschlossen
Quelle: Schimank 2013
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 7
Wohlfahrtsstaatstypologie Drei (idealtypische) Wohlfahrtsregime
Liberales Wohlfahrtsregime Ermunterung privater Wohlfahrt Limitierte Sozialleistungen für Niedriglohngruppen Strenge Anspruchsvoraussetzungen
Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime Universale Leistungen „Gleichheit höchsten Standards statt Gleichheit der Minimalbedürfnisse“ Identische Rechte für Arbeiter, Angestellte und Beamte
Konservatives Wohlfahrtsregime Erhaltung von Status- und Gruppenunterschieden Erhaltung traditioneller Familienstrukturen Untergeordnete Rolle von Betriebs- und Sozialleistungen
Quelle: Esping-Andersen 1990
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 8
Gegenwartsdiagnosen
Unvollendete Geschlechterrevolution(z.B. Esping-Andersen 2009; Goldscheider 2014; Goldscheider et al. 2014)
Krise der Reproduktion(sarbeit)(z.B. Rodenstein et al. 1996; Aulenbacher 2009; Jürgens 2010; König/Jäger2011; Winker 2011)
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 9
Stille Revolution auf Seiten vonFrauen
Wandel im Status von Frauen als Bausteinzu einer neuen gesellschaftlichen Ordnung
Maskulinisierung des weiblichenLebenslaufs
Quelle: Esping-Andersen 2009
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 10
UnvollendeteGeschlechterrevolution
“The first half of the gender revolution, thedramatic rise in labor force participationamong women (including the mothers ofsmall children), was seen, and to at leastsome extent was, a weakening of thefamily.” (Goldscheider 2014: 7, Herv. i.Original)
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 11
UnvollendeteGeschlechterrevolution
“Put simply, it [the second half of thegender revolution] requires most men andwomen to integrate their work and familylives, sharing the financial support of theirfamilies as well as in the tasks of making ahome and raising children. Suchfundamental change is unlikely to beinstantaneous.” (Goldscheider 2014: 12)
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 12
UnvollendeteGeschlechterrevolution
Vor allem auf Seiten der Männer nochVeränderungen hinsichtlich einesverstärkten Engagements in der Haus- undSorgearbeit notwendig
Veränderungen sukzessiv bei jüngerenMännern im Gang
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 13
Vollendung derGeschlechterrevolution? “If so, when the gender revolution
eventually completes, a new balance mightemerge, based on a new, more equalrelationship between men and women,together with increased commitment toeach other and men’s increasedcommitment to their children.”(Goldscheider et al. 2014: 6)
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 14
Schweden – Musterland derGleichstellungspolitik? Wohlfahrtsstaat mit einer langen Tradition in sozialer
Gleichheitspolitik Weitreichende Erfolge hinsichtlich der
Geschlechtergleichstellung Übertragbarkeit auf andere Wohlfahrtsstaaten? “The gender revolution requires massive shifts in
family roles; it is not clear that many countries areeither willing or able to embrace them.” (Goldscheideret al. 2014: 36)
EU-Geschlechter- und Familienpolitik lehnt sich annordeuropäischen Weg der Politik derGeschlechtergleichstellung an
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 15
Herausforderungen Feminisierung des männlichen Lebenslaufs
Sind Männer dafür bereit? Sind Frauen dafür bereit? Ermöglichung durch wohlfahrtsstaatliche
Rahmenbedingungen?
Mehr Gleichheit von Frauen v.a. in der Mittelschicht Zunahme sozialer Ungleichheit “Care chains”
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 16
Krise der Reproduktion(sarbeit)
Wandlungsprozesse der geschlechtlichenArbeitsteilung im Fokus
Nur vereinzelt auch Bezug zuWandlungsprozessen in den privatenLebensformen und der Bedeutung vonSexualität und Fortpflanzung
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 17
Krise der Reproduktion(sarbeit)
Beobachtete Lösungsversuche der Krise Aktualisierung bzw. Ausleben der Krise
(Versuche der Vereinbarung)
Vermeidung der Aktualisierung
Quelle: Rodenstein et al. 1996
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 18
Krise der Reproduktion(sarbeit)
Argumentation Trotz steigender Erwerbsbeteiligung von
Frauen und Müttern bleibt dieGeschlechterungleichheit bestehen – partiellauf dem Arbeitsmarkt, vor allem aber imPrivaten
Wurde auch mithilfe von Frauen- undGleichstellungspolitik bisher nicht überwunden
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 19
Krise der Reproduktion(sarbeit)
Zugleich nachhaltige Bewusstseinsveränderungen auf
Seiten der Frauen hin zu mehr Selbstbestimmungüber das eigene Leben, den eigenen Körper unddamit auch über die Sexualität und dieGenerativität
Auf Seiten der Männer vermeintlich kaumVeränderungen „Verhaltensstarre“ (Beck 1986) „rhetorische Modernisierung“ (Wetterer 2003)
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 20
Reproduktives Handeln imkonservativen Wohlfahrtsstaat Empirische Studien zeigen
„Traditionalisierungsfallen“ in partnerschaftlichenAushandlungsprozessen (Rüling 2007) Beruflicher Wiedereinstieg der Mutter als Armutsrisiko Koordination beruflicher Entwicklung beider Elternteile
als Überforderung Geschlechtsspezifische Deutungen bei
Kinderbetreuung und Hausarbeit
Hoch qualifizierte (Eltern-)Paare suchen nachegalitäreren Geschlechterarrangement und eineregalitäreren familialen Arbeitsteilung und sind darinerfolgreich (König/Jäger 2011)
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 21
Reproduktives Handeln imkonservativen Wohlfahrtsstaat Empirische Studien zeigen
Bildungsferne Frauen gründen früh Familien
Hohe Kinderlosigkeit bei bildungsfernen Männern undAkademiker_innen Probleme auf dem Partnerschafts„markt“
Dual-Career-Problematik
Kinderwünsche werden nur zum Teil realisiert
Verschiedene Präferenzen in den Lebensentwürfen vonFrauen, weniger in den Lebensentwürfen von Männern
Erosion des Ernährermodells als Leitbild, weniger in dersozialen Praxis
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 22
Reproduktives Handeln undgeschlechtliche Identitäten Leitbild: Adult-Worker- bzw. Dual-Earner-Modell
Aktivierung zur Erwerbsarbeit und Familiengründung für alle Gesellschaftliche Integration qua Erwerbsarbeit gelingt am
ehesten den besser und hoch Qualifizierten Ernährermodell hat nach wie vor hohe Wirksamkeit für die
Identitätsbildung Maskulinisierung des weiblichen Lebenslaufs geht nur partiell
mit Feminisierung des männlichen Lebenslaufs einher Egalisierung der Geschlechterbeziehungen in der
Mittelschicht auf Kosten wachsender sozialer Ungleichheit Re- und Ent-Traditionalisierung von Geschlecht zugleich –
sozial differenziert!
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 23
Literatur Aulenbacher, Brigitte (2009): Arbeit, Geschlecht und Ungleichheiten. Perspektiven auf die Krise der Reproduktion und den Wandel
von Herrschaft in der postfordistischen Arbeitsgesellschaft. In: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 2 (2), S. 61–78. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Dackweiler, Regina-Maria (2006): Reproduktives Handeln im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterregime. In: Berger, Peter
A./Kahlert, Heike (Hg.): Der demographische Wandel. Chancen für die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse. Frankfurt/Main,New York: Campus, S. 81–107.
Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton, New Jersey: Princeton University Press Esping-Andersen, Gøsta (2009): The Incomplete Revolution. Adapting Welfare States to Women’s New Roles. Cambridge,
Malden/MA: Polity Press. Goldscheider, Frances (2014): The Gender Revolution and the Second Demographic Transition: Understanding Recent Family
Trends in Industrialized Societies. University of Maryland Brown University: Maryland Population Research Center, PWP-MPRC-2014-001. http://papers.ccpr.ucla.edu/papers/PWP-MPRC-2014-001/PWP-MPRC-2014-001.pdf (24.04.2014).
Goldscheider, Frances/Bernhardt, Eva/Lappegård, Trude (20014): The Second Half of the Gender Revolution in Sweden: Will itStrengthen the Family? Stockholm: Working Paper Series EQUAL WP 07.http://www.suda.su.se/yaps/YAPS_WP/EQUAL_WP_7.pdf (24.04.2014).
Jürgens, Kerstin (2010): Deutschland in der Reproduktionskrise. In: Leviathan 38 (4), S. 559–587. König, Tomke/Jäger, Ulle (2011): Reproduktionsarbeit in der Krise und neue Momente der Geschlechterordnung. Alle nach ihren
Fähigkeiten, alle nach ihren Bedürfnissen! In: Demirovic, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hrsg.): VielfachKrise. Imfinanzdominierten Kapitalismus. Hamburg: VSA, S. 147–164.
Rodenstein, Marianne/Bock, Stephanie/Heeg, Susanne (1996): Reproduktionsarbeitskrise und Stadtstruktur. Zur Entwicklung vonAgglomerationsräumen aus feministischer Sicht. In: Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Agglomerationsräume inDeutschland. Ansichten, Einsichten, Aussichten. Hannover: ARS, S. 26–50.
Rüling, Anneli (2007): Jenseits der Traditionalisierungsfallen. Wie Eltern sich Familien- und Erwerbsarbeit teilen. Frankfurt/Main,New York: Campus.
Schimank, Uwe (2013): Sozialer Wandel. Wohin geht die Entwicklung? In: Hradil, Stefan (Hrsg.): Deutsche Verhältnisse. EineSozialkunde. Frankfurt/Main, New York, Campus, S. 17–40.
Wetterer, Angelika. 2003. Rhetorische Modernisierung: Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischenDifferenzwissen. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministischeKritik II. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 286–319.
Winker, Gabriele (2011): Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive. In: Das Argument 292, Heft 3, S.1–12.
27. November 2014 © Prof. Dr. Heike Kahlert 24
Vielen Dank! Fragen und Anmerkungen?
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