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Ethos, Pathos, PowerPoint – Zur Epistemologie und (Silicon-Valley-)Rhetorik digitaler Präsentationen Wolfgang Hagen »PowerPoint« (im folgenden: ›‹das› »PP«, als Neutrum dekliniert) wurde in den 1980er Jahren erdacht und entwickelt, in einem kleinen, stets am Rande des Ruins agierenden Start-up namens »Forethought« aus Sunnyvale, behei- matet im Herzen des Silicon Valley. PP‹s Autor ist Robert Gaskins (2012), der die Software mit den beiden Programmierern Dennis Austin (2009) und Tom Rudkin nach drei Jahren Entwicklung im April 1987 auf den ersten Apple-Macintosh Geräten (ohne Festplatte und Beamer) zum Laufen brach- te. Nach dem Prinzip »What-You-See-Is-What-You-Get« (WYSIWYG) soll- ten mit PP an den kleinen Neun-Zoll-Bildschirmen eines »Apple-Macin- tosh« Overhead-Folien (PP 1.0, 1987), Präsentations-Dias (PP 2.0, 1990) und Screenings aller Art (PP 3.0, 1992) so gestaltet werden, wie sie anschlie- ßend eins zu eins aus dem Drucker kamen. Im Folgenden möchte ich schil- dern und erläutern, wie PP aus dem Leitbild eines medial geschlossenen Computer-Interface hervorgeht, das als Maschinen-Paradigma (»PC«) in den späten 1970er Jahren entwickelt wird; wie in diesem opaken Interface ein in beschwörender Selbst-Präsentation gut geübte Unternehmungskultur mit PP ihren Ausdruck findet; wie die immanente Rhetorik einer unter dem Name »Presenter« entwi- ckelten Software, als PP in die Welt gelassen, den digitalen Glanz der Computer-Oberfläche, den sie affirmiert und präsentiert, immer wieder zerbricht; und wie die Offenlegung der faktischen Formularrhetorik von PP die Grenzen aufzeigt, in denen das Programm bedingt nützlich gemacht wer- den kann. Dabei gilt es auch zu erklären, warum ein Vierteljahrhundert und zehn Soft- ware-Versionen später (Stand 2014) PP so überwältigend populär geworden ist (verwendet auf mutmaßlich mehr als einer Milliarde Computern (Mac &

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Ethos, Pathos, PowerPoint – Zur Epistemologie und (Silicon-Valley-)Rhetorik digitaler PräsentationenWolfgang Hagen

»PowerPoint« (im folgenden: ›‹das› »PP«, als Neutrum dekliniert) wurde in den 1980er Jahren erdacht und entwickelt, in einem kleinen, stets am Rande des Ruins agierenden Start-up namens »Forethought« aus Sunnyvale, behei-matet im Herzen des Silicon Valley. PP‹s Autor ist Robert Gaskins (2012), der die Software mit den beiden Programmierern Dennis Austin (2009) und Tom Rudkin nach drei Jahren Entwicklung im April 1987 auf den ersten Apple-Macintosh Geräten (ohne Festplatte und Beamer) zum Laufen brach-te. Nach dem Prinzip »What-You-See-Is-What-You-Get« (WYSIWYG) soll-ten mit PP an den kleinen Neun-Zoll-Bildschirmen eines »Apple-Macin-tosh« Overhead-Folien (PP 1.0, 1987), Präsentations-Dias (PP 2.0, 1990) und Screenings aller Art (PP 3.0, 1992) so gestaltet werden, wie sie anschlie-ßend eins zu eins aus dem Drucker kamen. Im Folgenden möchte ich schil-dern und erläutern,

– wie PP aus dem Leitbild eines medial geschlossenen Computer-Interface hervorgeht, das als Maschinen-Paradigma (»PC«) in den späten 1970er Jahren entwickelt wird;

– wie in diesem opaken Interface ein in beschwörender Selbst-Präsentation gut geübte Unternehmungskultur mit PP ihren Ausdruck findet;

– wie die immanente Rhetorik einer unter dem Name »Presenter« entwi-ckelten Software, als PP in die Welt gelassen, den digitalen Glanz der Computer-Oberfläche, den sie affirmiert und präsentiert, immer wieder zerbricht;

– und wie die Offenlegung der faktischen Formularrhetorik von PP die Grenzen aufzeigt, in denen das Programm bedingt nützlich gemacht wer-den kann.

Dabei gilt es auch zu erklären, warum ein Vierteljahrhundert und zehn Soft-ware-Versionen später (Stand 2014) PP so überwältigend populär geworden ist (verwendet auf mutmaßlich mehr als einer Milliarde Computern (Mac &

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Windows)) und dabei zugleich zu einem der skandalösesten Schreckgespens-ter des Digitalen mutierte.

»Schafft Powerpoint ab!« forderte schon 2003 der Publizist Roger de Weck: »Der Feind des Erfolgs, der Erzfeind des gesunden Menschenver-stands und der Todfeind in jeder Sitzung ist: PowerPoint. Dieses Programm von Microsoft ist genau besehen kein Programm, sondern ein Virus, der die ganze Wirtschaft befallen und verdummt hat.« (de Weck 2003: 66)

»Death by Powerpoint« hieß die entsprechende Parole in den US-ameri-kanischen Wirtschaftsblättern kurz nach dem Platzen der »Dot-Com«-Blase 2002, so als habe die Ödnis schlechter Slides die Krise verursacht (Farkas 2009: 28).

Unter dem Titel »How Powerpoint Makes You Stupid – the faulty cau-sality, sloppy logic, decontextualized data and seductive showmanship that have taken over our thinking« erinnerte wenig später Franck Frommer dar-an, dass eine der folgenreichsten politischen Lügen im ersten Jahrhundert-jahrzehnt vom US-Aussenminister Colin Powell stammte, dessen PP-Folien vor dem Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 beweisen sollten, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze (Frommer 2012). Der USA-Krieg gegen den Irak war die Folge, der bisher einer halben Million Menschen das Leben kostete und den anhaltenden desolaten Zerfall einer ganzen Region bewirkt hat. Nicht zuletzt von daher ist PP wohl auch im US-Militär, nach jahr-zehntelangem intensiven Gebrauch in Meetings und Briefings vor allem im Kontext des Afghanistan-Krieges, inzwischen in Verruf geraten: »thus senior decision makers are making more decisions with less preparation and less time for thought« (Hammes 2009).

Mit diesen kurzen Schlaglichtern ist nur die Spitze der Anti-PP-Suaden angeführt. Die berühmteste und schärfste, weil auf den kognitiven Stil der Software zielend, stammt vom Ex-Princeton- und Yale-Professor Edward Tufte:

– »Foreshortening of evidence and thought, – low spatial resolution, – a deeply hierarchical singlepath structure as the model for organizing

every type of content, – breaking up narrative and data into slides and minimal fragments, – rapid temporal sequencing of thin information rather than focused spa-

tial analysis, conspicuous decoration and – Phluff, a preoccupation with format not content,

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– an attitude of commercialism, that turns everything into a sales pitch.« (Tufte 2004: 4)

Tufte lässt seine Verdammnis münden in dem Hinweis auf eine Chart der NASA vor dem Columbia-Flug, die unter ferner liefen im verstümmelten »Bullet«-Stil auf mögliche Probleme mit den Hitzeschildern verwies und in dieser Unterbetonung insofern mitverantwortlich gewesen sei für den Ab-sturz des Shuttles. Für den Zeitraum 1998 bis 2009 finden sich auf der Web-Seite sooper.org über 190 kritische Veröffentlichungen, wobei die deutschen, englischen und französischen gar nicht erwähnt sind. Die kann man zum Teil auf einer Seite der Universität Giessen nachlesen (Mertens 2005).

Es erhoben sich auch freundlichere Stimmen (u.a. Dan Brown und David Byrne), die jeweils auf ihre Weise gegen den inhärenten Technikde-terminismus der PP-Verächter zu Felde zogen. »All seiner Kunstfertigkeit und Erfahrung zum Trotz ist für Tufte also der Mensch eine willenlose Ma-schine, die sich in jede beliebige Richtung, vorzugsweise abwärts, schicken lässt. Wie immer, wenn es um neue Medien geht. Denn die Debatte um PowerPoint beherbergt alte Argumente der Medienkritik als untote Wieder-gänger« (Mertens/Leggewie 2004) meinte beispielsweise Claus Leggewie; Wiedergänger, die den Informatiker Jörg Pflüger »an ältere Auseinanderset-zungen über die Wertfreiheit von Wissenschaft und Technik« erinnern: »Ist Gebrauch und Missbrauch eines Werkzeugs oder technischen Mediums nur in die Verantwortung der Nutzer gestellt, oder vermittelt das Medium per se einen Brauch, der einen Missbrauch nahelegt?«. Pflüger schließt mit ei-ner Pointe, die einen dritten Weg der Interpretation zu eröffnen versucht: »Es geht also primär um eine Organisationskultur, die ein für viele Zwecke ungeeignetes Werkzeug allgegenwärtig macht. […] Dementsprechend sollte der ubiquitäre Einsatz von PowerPoint-Präsentationen weniger als Verursa-cher denn als Abbild der betroffenen Organisationen begriffen werden und als Symptom, dass mit ihnen etwas im Argen liegt.« (Pflüger 2009: 155) Jörg Pflügers Vermutung, nicht PP verderbe Firmenkulturen, sondern sei eher Ausdruck ihrer Verdorbenheit, erstirbt ein wenig schnell in polemischer Erstarrung, ohne zunächst das Bild zu konkretisieren, das diese Umkehrung der Perspektive eröffnet.

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1. Epistemologie

Die Entstehung von PP hat zwei Seiten, nämlich eine technisch-algorith-mische und eine gouvernemental-unternehmerische. Beide Seiten sind eng verflochten, auf dem Entwicklungsstrang des Personal Computers zwischen 1970 und 1990 aufsetzend (und ihn vorantreibend), der, weitere zwanzig Jahre später, unverändert die Achsen dessen ausmacht, was in aller Unschärfe heute unter das Schlagwort »Digitale Kultur« subsummiert wird. Das Re-lease von PP 1987 steht auf einem Sattelpunkt einer Entwicklung, den das Programm von da an massiv mit befördert hat.

1.1 Software Epistemologien

Was aber ist unter der Epistemologie einer Software überhaupt zu verstehen? »Software«, so John Tukeys Namensgebung von 1958, besagt: »Carefully pl-anned interpretive routines, compilers, and other aspects of automative pro-gramming« in Abhängigkeit von »Hardware« mit ihren »transistors, wires, tapes and the like« (Tukey 1958: 2). Software hat epistemologisch also mehr-fach verschachtelte Aspekte. Zunächst enthält sie als implizites signifikantes Element die historisch gegebenen Prozessoren und ihre jeweilige Steuerungs-sprache. Zudem trägt sie als diskursive Struktur selbst noch einmal (ob nun imperativ, funktional oder objektorientiert) die »Ideologie der ›Schreibbar-keit der Welt‹ in die Welt« (Pflüger 2004: 315). Eine Software verkörpert also maschinelle Machbarkeiten und zugleich auch eine rhetorische Maschine. Das gilt umso mehr für ein Präsentationsprogramm wie PP. Es ist für einen bestimmten Maschinentypus programmiert, nämlich einen Stand-Alone-Personal-Computer mit grafischer Bildschirm-Oberfläche, deren Elemente mit einer Maus manipuliert werden können.

1.2 Die Paradigmen in PowerPoints Software Design

Als eine Besonderheit, die nicht vielen Applikationen eigen ist, enthält PP zudem in rudimentärer Form das Konzept einer Software in der Software. Datenstrukturell sind in ihre »Slides« (in denen Grafiken, Bilder und Tex-telemente verschachtelt sind) als Elemente eines »Documents« definiert. Funktional unterscheidet die Software zwischen einem »development mode«

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der Slides und einem »presentation mode« des Dokuments. Im Präsenta-tionsmodus übernimmt PP die Regie über das Display und spult die ein-zelnen Slides in der vorgesehenen Reihenfolge linear automatisch oder auf Tastendruck ab, ohne dass dynamische Eingriffe oder Variationen möglich wären. Grafische Effekte im Ablauf der Präsentation sind programmierbar, allerdings nur linear und im Voraus.

Die PP-Epistemologie enthält insofern drei Aspekte. Der erste wird durch die technisch-algorithmische Architektur des Personal Computers beschrie-ben, als Paradigma etabliert seit den späten 1970er Jahren, wie genau, wird gleich zu zeigen sein. Hinzukommt die benannte Doppelmodus-Struktur des Programms. Ein dritter epistemologischer Aspekt bezieht indessen sich auf den großen Einfluss dessen, was ich vorläufig die Silicon-Valley-Struktu-ration nennen möchte, geprägt durch einen bestimmten Typus von Start-ups aus dem Sektor der Mikroelektronik, geprägt durch Venturekapitalismus, riskante Geschäftsmodelle, eine hohe Volatilität und spezifische Familiari-tät hoch spezialisierter Akteure, organisiert in flachen Hierarchien und Ent-scheidungswegen. Als PP in die Welt kam, war der Personal Computer als Inkarnation einer neuen, revolutionären »Man-Machine-Symbiosis« nur im Kontext dieser Unternehmenskultur spezifiziert. Dieses PC-Paradigma rea-lisierte industriell erstmals der »Apple Macintosh« (der eben durchaus nicht dem Genie eines Steve Jobs entsprungen ist) 1984, als Gaskins die erste Spe-zifikation der Software vorlegte (Gaskins 1984)

Historisch nachzutragen bleibt, dass nur drei Monate nach Auslieferung von PP im April 1987 Bill Gates’ Microsoft (damals Apples Software-Ent-wicklungsfirma) PP plus Firma für 14 Millionen Dollar (dazu einige Akti-enpakete für Gaskins) aufkaufte und damit sein erstes Standbein im Silicon Valley eröffnete. Powerpoint 2.0 kam parallel auf dem Mac und Windows 3.0 (1990) heraus. Mit Powerpoint 3.0 schließlich (1992) erhielt die Software (bis auf die »Templates« und »Wizards«) alle ihre bis heute gültigen Funkti-onen, für beide Betriebssysteme Mac und Windows.

1.3 Licklider & Engelbart, XEROX und McLuhan

Als Computer – zu Beginn der 1960er Jahre – noch saalfüllend monströ-se Großrechner waren, die im »Time Sharing«-Verfahren zeitbegrenzt Zu-gang eröffneten, hatte Joseph Licklider (mit Co-Autor Robert Taylor) auf die Möglichkeiten einer »Man-Computer-Symbiosis« verwiesen, »1) to let com-

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puters facilitate formulative thinking […], and 2) to enable men ad com-puters to cooperate in making decisions and controlling complex situations […].« (Licklider 1960: 4)Schon in Lickliders frühen Entwicklungsprojekten in Stanford, Berkeley oder Los Angeles liefen solche Steuerungen über ge-meinsame Bildschirme, was Douglas Engelbart in Stanford 1968 zu einem umfassenden Konzept einer »augmentation of human intellect« weiterentwi-ckelt hatte. Dazu kam Engelbarts Konzept des »Bootstrapping«: »Darunter verstand er eine adaptive und rekursive Lern- und Entwicklungsmethode, deren Ziel darin besteht, Werkzeuge und Methoden zu entwickeln, die dazu verwendet werden, bessere Werkzeuge und Methoden zur Problemlösung zu entwickeln.« (Friedewald: 2) Engelbart hatte in Stanford gleich mehrere Computer-Interfaces entwickelt, die allesamt die Zukunft bestimmen soll-ten: 1967 zum Beispieldas »XY Position Indicator For A Display System« (Computermaus-Patent), dazu ein System zur parallelen Kommunikation über und Bearbeitung von Dokumenten an Split-Videoscreens im Grafik-modus (wie heute z.B. in Google-Docs)und vieles mehr. PP hat ebenfalls, wenn auch in rudimentärer Form, »Bootstrapping«-Elemente, ist jedoch nicht auf dem Boden einer ideellen Projektierung von Computer-Interfaces im Sinne Engelbarts oder Lickliders entstanden, sondern im Rahmen eines Unternehmensmodells, das ihre Mitarbeiter in Angriff nahmen.

Was mögliche industrielle Perspektiven betraf, so bestand Douglas En-gelbart zu Beginn der 1970er Jahre sehr strikt auf Fortführung seiner Arbeit mit universitären Großrechnern, nicht nur weil ›state of the art‹ kein ande-res Computer-Modell existierte, auf das Engelbart seinen theoretischen For-schungen hätte beziehen können. Vielmehr kam es ihm auf die Entwicklung alternativer Rechneranlagen (wie es ein PC ist) oder anderer industrieller Ziele nicht an. Ihm, wie auch Licklider, lag an dem Ausbau von Konzepten eines entfalteten Timesharings in mächtigen Großsystemen. Mit dieser Ziel-stellung verlor Engelbart allerdings um die Jahreswende 1970 nahezu alle seine jüngeren Mitarbeiter. Sein Team verließ Stanford und wechselte (so-zusagen um die Ecke) ins kommerzielle »Palo Alto Research Center« des Kopiermaschinen-Weltmarktführers XEROX, eine der damals fünfzig größ-ten Firmen der USA.

Dort begannen Engelbarts junge Wissenschaftler fortan jenseits al-ler Großrechner-Welten und diesseits deutlich schwindender öffentlicher Pfründe (Budget-Cuts nach der Mondlandung 1969) mit der Entwicklung hochintegrierter Computersysteme. Ziel war die Herstellung kleiner, auto-nomer, vernetzte, aber auf individuelle Nutzung orientierte, ökonomisch er-

Hagen
Typewriter
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schwingliche Computer (Bardini 2000: 150). In einer schier endlosen Ent-scheidungskette hatte XEROX-CEO Peter McColough diese jungen Leute beauftragt, indem er seinem »Chief Scientist« Jacob Goldman und dieser seinem »Director« George Bake entsprechende Order gab, welcher endlich Robert Taylor holte, jenen oben zitierten Co-Autor Lickliders, und ihm die Auswahl der wichtigsten Teamgruppen übertrug; mit dem Ergebnis, dass neben den schon erwähnten jungen ›Engelbart Abtrünnigen‹, ein weiteres Team aus Berkeley mit ins Boot kam, das seinerseits jahrelang direkt an Lick-liders Time-Sharing Projekt »Genie« gearbeitet hatten (unter Ihnen Butler Lampson), sowie einen jungen Computerwissenschaftler names Alan Kay aus Utah, der als bekennender McLuhanianer eine Dissertation über ein fik-tive neue »Reacting Engine« vorgelegt hatte (Kay 1969). Alles überwiegend Männer von Ende zwanzig bis Mitte dreißig (Hiltzik 1999: Xff.), zusammen-geführt nicht weit entfernt von den Zentren der ›Hippie-Culture‹, nämlich in deren kapitalismus-affiner Silicon Valley Variante.

Dass XEROX überhaupt aufwändige Forschungsprojekte auflegte, war nicht überraschend. XEROX’ »Xerographie«-Verfahren (Kopier-Druck per Belichtung durch statische Elektrizität) beruhten von Anfang an auf inten-siver Technologieforschung in den Labors von Ontario, New York, Cam-bridge (England) und Grenoble (Chesbrough 2002: 810). Jetzt allerdings, 1970, waren die Konsequenzen aus den Prophetien von Licklider und ande-ren, dass die Zukunft dem papierlosen (und damit auch kopiererlosen) Büro gehören möge, der Grund dafür, in der Brutstätte des Transistors und der Integrierten Schaltkreise ein Labor zu eröffnen, das im übrigen noch heute existiert. Im gleichen Jahr erhielt Silicon Valley seinen Namen.

Diese Nach-Licklider und Nach-Engelbart-Generation suchten nach ei-ner neuen Form des Computers, jenseits der klobigen und unbezahlbaren ›Mainframes‹ und ihrer eher armseligen Time-Sharing-Displays, an denen sie alle gelernt hatten. Gleich zu Anfang, 1972, gab der Youngster im Team, der 29 jährige Butler W. Lampson, in der renommierten Informatiker-Zeit-schrift »Software ‒ Practice and Experience« preis, was das Ziel war: »New hardware technology […] making it possible to produce a system roughly comparable to a 360/65 [der raumfüllende IBM-Mainframe-Typ 360 war Mitte der 1960er Standard in mittleren und großen Firmen; W.H.] in com-puting power for a manufacturing cost of perhaps $500 (in quantities of 100,000) […] (1) A 16bit, 100 ns/instruction processor. (2) 32 kilobytes of main storage. (3) 1 megabyte of swap storage with 1 ms latency. (4) 24 tape cartridges with 2 megabyte capacity, 20 kilobyte/second transfer rate and 10

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second average latency. (5) A 2000 baud modem which transmits over the dialup telephone network. (6) An 875 line raster scan CRT which can dis-play a double-spaced typewriter page of text with nearly typewriter quality.« Und fügt hinzu: »I expect that most readers will find the picture I have been painting rather phantas magoric.« (Lampson 1972: 196)

Die wahrhafte Phantasmagorie des Projekts lag allerdings weniger im Business-Case als im Computermodell selbst. Das Team hatte sich nämlich vorgenommen, jenes ambitionierte Konzept umzusetzen, das Alan Kay mit stark mcluhanianischem Theorieeinsatz in einem internen Strategiepapier von 1972 beschrieben hatte, Überschrift: »A Personal Computer for Child-ren of All Ages«. In diesem Paper ist historisch vermutlich das erste Mal überhaupt vom Computer als einem »New Medium« die Rede (»What about computers? They are clearly more than a tool also« (Kay 1972: 3)). Auch der direkte Bezug auf eine »McLuhanesque fashion« der Sache fehlt nicht, derzufolge jedes neue Medium, wie jetzt der Computer, jeweils ältere als seinen Inhalt enthält (Schreibmaschine, Zeichenbrett etc.). Um diese phan-tasmagorische Parole im Team eingängig zu machen, hatte Kay, wie berich-tet wird, ständig McLuhans Spruch »Whoever invented the water it wasn’t a fish« (McLuhan 1968: 175) auf den Lippen: Das Medium, das Fische zu Fischen macht, können Fische selbst nicht erkennen. Dazu fehlt ihnen, wie McLuhan bemerkte, der »anti-enviromentale« Blick, der distinktive Blick von außen, aufs Wasser – im aristotelischen Unterschied zu Feuer, Luft, Erde und Äther, den Fische eben nicht machen können. Diese Konzeption einer undurchdringlichen Umwelt, von der Systemtheorie später »strickte Koppe-lung« oder »operative Geschlossenheit« genannt, wird nunmehr gleichsam in der Umkehrung erklärtes Ziel in der Konstruktion einer neuen Bildschirm-Oberfläche des geplanten Computers genannt »Graphical User Interface« (GUI). Das ist eben die Oberfläche, wie sie heute mit ihren multiplen Desk-tops, Icons, Windows, Menüs, Listboxen und Buttons digitaler Alltag ist.

Kennzeichen dieser Oberflächen ist: Wer sie nicht programmiert hat (oder im Terminal-Modus ›von außen‹ steuern kann), schwimmt unter Was-ser und weiß nicht, worin es ist. Ein graphischer Bildschirm-Desktop hat keine Kommandozeile zum Start von Programmen mehr, wie sie vordem al-len Groß- und Time-Sharing-Rechnern eigen war. Programme werden jetzt über grafische Icons als intuitive Symbole von Programmprozeduren gestar-tet, die man wie Bauklötzchen behandelt und auf denen man mit einem graphischen Zeigegerät (oder bei kapazititven Bildschirmen auch mit den Fingern oder dem Handrücken) ›en-aktiv‹ herumtippt und -fährt. So hatten

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es Kay und sein Team auf Basis der Experimentation mit einer Kindergruppe in der Tradition der »genetischen Epistemologie« von Jean Piaget entwickelt und mit einer eigenwilligen Lektüre McLuhans begründet.

»I read McLuhan›s Understanding Media (1964) and understood that the most im-portant thing about any communications medium is that message receipt is really message recovery; anyone who wishes to receive a message embedded in a medium must first have internalized the medium so it can be ‹subtracted› out to leave the message behind. When he said ‹the medium is the message‹ he meant that you have to become the medium if you used it.« (Kay 2002: 124)

Dass das Medium jene Botschaft ist, die, um ihren Inhalt zu rezipieren, sub-trahiert und im Piagetschen Sinne internalisiert werden muss, hieß für Alan Kay – in einer intelligenten Umkehrung der McLuhanschen Volte – dem neuen Medium namens Computer absichtsvoll opake Eigenschaften zu ge-ben, die es unsichtbar werden lassen wie Wasser für einen Fisch; und es da-mit erst wirklich zum Medium machen. Die GUI sollte dieses geschlossene System bilden und dessen internalisierte Verwendung sollte bewirken: »You have to become the medium [itself ]«. PP gehört zu den Marksteinen, die diese Entwicklung befestigt hat ‒ und, wie noch zu zeigen sein wird, sich zugleich an ihr bricht.

1978, am Ende des PARC-Projekts, stand tatsächlich der erste Standalo-ne-PC der Computergeschichte, fortan Maßstab für alle Entwickler (auch für Gaskin), die in Silicon Valley mit der Sache zu tun hatten. Der »Alto« (benannt nach seinem Entstehungsort) offerierte Tastatur, Kugel-Maus, Ethernet und Laser-Printer als integrierte Einheit, dazu ein Schreib- und ein Zeichenprogramm (»Bravo«, »Draw«) auf der Basis des nur mit der GUI möglichen »What You See Is What You Get«-Prinzips. WYSIWYG ist nichts anderes als Fortsetzung der intuitiven Opazität des Computers nach »McLuhanescer fashion« (Kay 1972: 3). Weil ja das Neue nur Hülle des Al-ten ist, muss nichts Neues gelernt werden, weil alles so aussieht wie bisher: eine Schreibmaschinenseite, wie mit dem Kugelkopf getippt (der Alto hatte einen senkrechten Bildschirm) und auf Knopfdruck genau so gedruckt; dazu jeder Alto mit jedem anderen vernetzbar. Das Gerät war seiner Zeit um min-destens zwei Jahrzehnte voraus. Eine Werkstatt in Los Angeles hatte 1600, vielleicht sogar 4000 Prototypen zum Stückpreis von weit über 10 Tausend Dollar zusammengeschraubt. Wie viele es tatsächlich waren, ließ sich schon ein Jahrzehnt später nicht mehr klären (McJones/Taylor 2008; 1988); alles einzelgefertigte Prototypen. Der Bedeutung der Sache entsprechend, waren für Jimmy Carter und das Weiße Haus einige Geräte reserviert, die aber

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postwendend vom Secret Service wegen unklarer Strahlengefährdung des Ethernet und des Laser-Printers wieder zurückgeschickt wurden (Laprise 2008: 28).

Und der Business Case, sprich die Serienfertigung? Nach abgeschlossener Prototypisierung wurde Robert Taylor zum Rapport auf eine XEROX Vor-standstagung nach Florida (»XEROX Future Days«, 1978) beordert. Dort verkündete die Geschäftsleitung, der Alto würde nicht in die Fertigung ge-geben. Taylor erinnert sich:

»Well, one would notice by looking over the whole room in the afternoon that all the men were kind of standing back against the wall out on the periphery, and all the wo-men were eagerly moving from one Alto to another engaging, sitting down, working the keyboard and so on and so forth. And someone observed that men grew up in a culture where it was degrading to know how to type because typing was a secretarial skill and the women knew how to type. Well, that should have been a foretelling of what was to come, the beginnings of understanding that Xerox was not going to un-derstand this technology.« (2008: 34)

Am Ende (einer Geschichte, die ansonsten gut erforscht ist)1 übernahm Xe-rox keines der in Palo Alto entwickelten Komponenten in die eigene Pro-duktion; ausgenommen, was nicht im Taylor-Team entwickelt worden war: den Laserdrucker2. Allein schon mit diesem Produkt holte der Konzern in den Folgejahren die Kosten des PARC hundertfach wieder herein und kom-pensierte zudem noch einen Teil des großen Umsatzverlustes, der aufgrund zwischenzeitlicher Anti-Trust-Entscheidungen ‒ Freigabe von Patenten an Canon, Kodak oder Ricoh ‒ angefallen war. Statt dem Alto brachte XEROX 1981 den »Star« heraus, ein PC-Gerät, das zwar den Alto-GUI-Bildschirm hatte, aber mehr als 16 Tausend Dollar Stückpreis kostete, nur im »bundle« mit fünf anderen »Stars« gekauft werden konnte und für das nur XEROX selbst exklusiv die Software lieferte. Es gab kein Marketing, weil die ange-stammten XEROX-Vertreter sich weigerten, den »Star« zu verkaufen, aus Furcht, wie sie bekundeten, ihren guten Ruf zu verlieren. Im gleichen Jahr,

1 Smith, Douglas K. / Alexander, Robert C.: Fumbling the Future 011: 366). iversität Flens-burg im Projekt t (2013). .e w an digitavon Macht gerecht werden kann. Üan digitavon Macht gerecht werden kann. Fumbling the Future 011: 366). Universität Flensburg im P (2001), The Dream Machine: J. C. R. Licklider and the Revolution that Made Computing Personal, New York; Cringely, Robert X. (1996), Accidental Empires: How the Boys of Silicon Valley Make their Millions, Battle Foreign Competition, and Still Can .rse aner, S, New York.

2 Der Laserprinter geht auf Gary Starkweathers Arbeiten zurner 2011: 366). iversität Flens-burg im Projekt t (2013). .e w an digitVgl. Gladwell, Malcolm (2011), Creation Myth ‒ Xerox Parc, Apple and the Truth about Innovation, The New Yorker er ple and the Truth 16.

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1981, brachte IBM bekanntlich seinen PC heraus, für Dreitausend Dollar, ohne GUI, sondern mit dem klobigen Microsoft-DOS Betriebssystem in-klusive Kommandozeile, über dessen auch für IBM völlig überraschenden Siegeszug hier weiter nichts zu sagen ist. Zweierlei bleibt festzuhalten: Nicht das, was sich am Weltmarkt zunächst und schneller durchsetzte (IBM/MS-DOS), ist immer auch das Paradigma einer Entwicklung. Und: XEROX, der Kopier-Gigant, verfügte wegen seiner großindustriell verfestigten Unterneh-mungskultur über keine Mittel, ›das‹ Avantgarde-Produkt der neueren Com-puterkultur, entwickelt im eigenen Research & Development Lab in Silicon Valley, auf den Markt zu bringen. »Xerox could have owned the entire com-puter industry today« sagte Steve Jobs später, »could have been Microsoft of the 1990s«3. Dies konnte Jobs schon deswegen sagen, weil er es war, der das Grundprinzip des Alto, nämlich die Geschlossenheit der opaken GUI-Ober-fläche perfektioniert hatte. In seiner Silicon Valley Prominenz hatte ihm Tay-lor 1978 ausführlich Gelegenheit gegeben, das PARC zu besuchen und den Alto auf Herz und Nieren zu testen. Gegen heftigen Protest aus Teilen des Teams (u.a. Kays) setzte Jobs seine Programmierer auf die Kopie an und bot die erste marktfähige GUI auf einem PC zunächst im Apple-Lisa (1983) und dann in den nachfolgenden Macintosh-Generationen (1984ff) an. Das Uto-piens einer opak geschlossenen »I«-Computerwelt (mit I-Mac, I-Pod, I-Pho-ne, I-Pad und I-Store), die ein Medium darstellt, das man nicht ›verstehen‹, sondern ›zu dem man‹, im Sinne einer genetischen Epistemologie, ›werden muss‹, hat Steve Jobs Apple-Company wie keine zweite Firma produktstrate-gisch im Laufe der letzten vier Jahrzehnte umgesetzt. Dieser Eigensinn eines »closed-circuit«-Denkens hätte das Unternehmen in den 1990er Jahren fast in den Ruin getrieben, den nur ein Millionen-Kredit Bill Gates für seinen Freund Steve verhindert hat. Für diese neue geschlossene Welt entwickelte Gaskin in den 1980ern PP.

1.4 Mikroelektronik und ökonomische Strukturation

PP steht in der Tradition des Alto-GUIs und ist nicht aus den Ideen Lickli-ders und Engelbarts entstanden. Es hat nämlich überhaupt keine Ursprünge, die man ›ideengeschichtlich‹ nennen könnte. PP ist eine frühe Software aus den Anfängen der grafischen Personalcomputer, und damit selbst Teil einer

3 Steve Jobs in: »Triumph of the Nerds«, 14.4.1996 (BBC, Channel 4).

Hagen
Strike-Out

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emergenten Routine, die darin besteht, modale mikroelektronische Elemen-te zu einer großen Varietät eigenständiger, kleiner Computer zu vereinen, deren Funktionalität in einer neuen intuitiv symbolischen Medialität ver-schwinden soll. Das Ostinato der GUI liegt in dieser, in Silicon Valley von Beginn an entwickelten unternehmerischen Routine. Diese Routine besteht darin, dass das Elektronische im Silizium operativ unsichtbar, und damit zu einer programmierbaren Funktion zu machen. Das ist ‒ wenngleich sich Kay bemüht, es mit McLuhan zu artikulieren ‒ in Wahrheit keinem Auto-ren oder Ideenproduzenten zuzurechnen. Die Voraussetzungen für die He-rausbildung dieser Routine sind vielmehr in einzigartiger Weise topomne-tisch an den Ort ihrer Entstehung und die dort herrschenden informellen Diskurse gebunden. Schlaglichtartig geschildert, hat dieser Ort seine Ge-schichte darin, dass zunächst (a) einzelne Silizium-Transistoren (»Shockley Semiconductor Laboratory«,1956‒60; Mountain View) sehr erfolgreich zu (b) integrierten Schaltkreisen (»Fairchild Semiconductor«, 1957‒; San Jose) zusammengesetzt wurden und diese wiederum, ebenso erfolgreich, zu (c) programmierbaren integrierten Schaltkreisen: Mikroprozessoren (»Intel«, 1968‒; Santa Clara), so genannten »Computern On Chip«. Alle drei fun-damentalen Entwicklungsschritte haben vor allem mit der Miniaturisierung von Hardware, nämlich mit Silizium und mit Transistoren zu tun und wur-den konsekutiv in örtlich verbundenen Firmen entwickelt, die eine aus der anderen entstanden sind.

1 .4 .1 Shockley, Fairchild und Moore

Die ›Firmenwurzel‹ des heutigen Silicon Valley liegt bei William Shock-ley, Nobelpreis gekrönter Miterbauer und theoretischer Kopf des Transis-tors (1950). Wenn es einen außerphilosophischen Begründungstext für die Postmoderne gäbe, dann wäre es Shockleys Abhandlung über das »Loch« in der Einleitung seines Transistor-Lehrbuches4 von 1950; und wenn es einen Hardware-Baustein der Postmoderne gäbe, dann wäre es sein Silizium-Tran-sistor selbst. Um dieses Bauteil industriell zu fertigen und zu vermarkten, gründet er 1956 sein »Semiconductor Lab« in Mountain View und heuert 12 junge promovierte Festkörperphysiker aus den ganzen USA an. Acht von ihnen verließen den herrschsüchtigen Potentaten bereits nach einem Jahr

4 »The hole, or deficit produced by removing an electron from the valence bond structure of a crystal, is the chief reason for existence of this book.T (Shockley 1950: IX)

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und gründeten »Fairchild Semiconductors« ›um die Ecke‹ in San Jose. Hier entstanden wesentliche Bauteile und Chips für die Appollo-Mond-Missio-nen und die ersten monolithisch integrierten Schaltkreise (ICs), in einem technologisch überaus komplexen Herstellungsverfahren, das wiederum zu zahlreichen Ausgründungen durch Fairchild-Mitarbeiter führte. Das heute berühmteste heißt »Intel« in Santa Clara, 1968 von Gordon Moore und Ro-bert Noyce gegründet, die beide schon Mitarbeiter Shockleys gewesen wa-ren. Noch in den »Fairchild Semiconductors« – Jahren formulierte Gordon Moore das nach ihm benannte »Mooresche« Gesetz, das besagt, dass alle zwei Jahre die Zahl der ICs auf einem Chip sich verdoppeln, zu gleichen Preisen, sprich: Dass alle zwei Jahre sich auf Mikroprozessorebene die Rechnerleistun-gen verdoppeln/verkleinern/verbilligen, ein Technologie-Ökonomie-Gesetz, das in keiner Branche und keinem Markt je vorher aufgestellt worden war ‒ und sich seither, also über ein halbes Jahrhundert lang, mehr oder minder bewahrheitet hat. »Moore’s law is really about economics« (Brock 2006: 67) ‒ wie Gordon Moore 2006 festhielt. Die Verhundertfachung der Größe der Chip-Industrie seit Gründung von INTEL ist kein technisches, sondern ein techno-sozio-ökonomisches Phänomen, wozu die besondere unternehmeri-sche Strukturation der Silicon Valley Firmen entscheidend beigetragen hat (und immer noch beiträgt).

1 .4 .2 Job Hopping und Informalität

1990 listet ein berühmtes Poster der »American Electronic Association« über hundert Firmen (die »Fairchildren«) auf, die ‒ wie Intel ‒ von Fairchild-Mitarbeitern gegründet worden waren, darunter Intels Prozessor-Produk-tions-Konkurrent AMD (1969‒, Sunnyvale), der noch vom Fairchild- und Intel-Gründer Robert Noyce, also von einem Konkurrenten, einen Teil des Investitionskapitals bekam. Das »Fairchild Family Tree« Poster soll in den 1990er Jahren in nahezu jedem Silicon Valley Start-up-Office gehangen ha-ben. Über Jahrzehnte fand sich in diesen Firmen die höchste »Job-Hopper«-Rate der USA mit weit über 60 Prozent: »Average annual employee turnover was close to 90 percent« (Axenian 1991: 43), gegebenenfalls inklusive eines fundamentalen Rollentauschs. Eugene Kleiner, einer der wichtigsten Geld-geber und zugleich Prototyp aller Venture-Kapitalisten Silicon Valleys, war zuvor ein herausragender Ingenieur bei Shockley und Fairchild. Seine Firma investierte bis 2003 in mehr als 300 Mikroelektronik- und Computer-Star-

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tups, darunter Amazon, AOL, Google, Lotus Development, Macromedia, Netscape, Quantum, Segway, Sun Microsystems und Tandem Computers.

Silicon Valley, das seit den 1940er Jahren fast ausschließlich Elektronik-Firmen beherbergt, zeigt spätestens ab den 1970er Jahren, als sein Name entstand, die Kontinuität eines immer dichteren unternehmerischen Netz-werks, in welchem Ingenieure sui generis zu Risiko-Kapitalisten werden (und umgekehrt); in welchem Produkte erzeugt werden, die ihre eigenen Märkte erst erschaffen; in denen, allgemein gesagt, Akteure agieren, die ihre eigene Umwelt erzeugen, von der sie leben. Schon in den 1970er Jahren entstanden dabei in kontingenter Fülle unvorhersagbare und auch kaum noch rekons-truierbare Netzeffekte. Um nur ein Beispiel anzuführen: Intel-Gründer Ro-bert Noyce konnte sehr leicht zum Mentor des jungen Steve Jobs werden, weil Noyce› Frau, Ann Bowers, 1980 als Personalchefin zu Apple wechselte, während aber Apple‹s Macintosh-PC weiterhin mit »Motorola« 68.000-Pro-zessoren und nicht mit Intel-Chips operierte. Dennoch wurden Intel-Chef Noyce und seine Frau zu einer Art »Surrogat-Familie« für den jungen, noch ganz erfolglosen Unternehmer (Isaacson 2011: 86).

»This continual process of recombination strengthened the region›s social and tech-nical networks: as engineers left established companies, they took with them the skills, knowhow, and experience acquired at their previous jobs, along with an ex-panding circle of professional and personal relationships. A technical culture deve-loped among the members of the region‹s predominantly highskilled engineering and scientific workforce, who saw themselves as different from the rest of American business. These engineers developed loyalties to the Industrie and the region, rather than to the individual firms where they worked.« (Axenian 1991: 43)

1 .4 .3 Die Paradoxien der Emergenz

Aus wirtschaftshistorischer Sicht sind die Paradoxien dieses para-frühkapita-listischen Booms unübersehbar: »More people became richer in Silicon Val-ley, and became richer faster, than at any time in the history of the western world (with the possible excep

Ethos, Pathos, Powerpoint 191

,he Dutch East India Company, or Venice and its merchant fleet in the 15th century)« (Shurkin 2006: 187). Statistisch gesehen sieht man indessen nur das Scheitern: Von 2000 bis 2012 waren über 90 Prozent aller Startups er-folglos, entweder gänzlich, unter Verlust aller Mittel (30%-40%) oder weil sie keinen wesentlichen Ertrag brachten (95%!) (Gage 2012). Daraus folgt, dass die Erfolgsgeschichte, die von Apple, Microsoft, Google & Co ausgeht, am Ende auf sehr wenigen, aber exorbitant erfolgreichen Unternehmungen basiert. Ohne diese eben auch zutiefst opferreiche Selbstreferentialität einer hoch volatilen und widersprüchlichen, familiarisierten und doch extrem kompetitiven, dabei aber ganz und gar durchlässig informalisierten Unter-nehmens-Strukturation der Silicon Valley Mikroelektronik Startups, wird man auch PP nicht verstehen. Als jenes kriselnde Startup der beiden Ex-Apple Employees Pohlman und Campbell mit dem vollmundigen Namen »Forethought« 1984 den absoluten Glücksgriff tat und einen Berkeley Absol-venten, studierten Informatiker und Literaturwissenschaftler (mit Industrie-erfahrung) einstellte, war dabei das Ethos der Silicon-Valley-Strukturation5 für jeden Entwickler von Software prägend und bindend, weil schon eine Generation lang eingeübt und damit selbstverständliche Umgebungsbedin-gung. Es hätte auch alles genau gut in den Abgrund stürzen können, hätte Gaskin nicht eigensinnig auf den umsatzschwachen Mac gesetzt, während es ja die IBM-MS/DOS Maschinen waren, die die Weltmärkte zu erobern begannen.

PP verdankt sich also einer janusköpfigen Epistemologie, in der topom-netisch, das heißt orts- und zeitgebunden miteinander verkoppelt sind: ri-gorose ökonomische Blindheit und moderate Klarsicht, technizistische Phantasmagorie und ingenieurslogischer Realismus, Mikroelektronik und informelle Familiarität. »Powerpoint [is] for Startups«, schreibt Gaskin rück-blickend, und gibt damit die genetische Selbstreferentialität seines Produkts unumwunden zu. Gaskin zitiert den Software-Unternehmer und Fiktion Autor Tom Evslin: »[PowerPoint] has indubitably been used to raise more money than any other tool in history. In many cases, it not only represents but substitutes for reality.« (2012, 426f.) PP ist, salopp gesagt: Wenn sich Start-ups in Silicon Valley präsentieren und dabei zu 95 Prozent scheitern…

5 Ich gebrauche den Begriff in Anschluss an Giddens. Giddens, Anthony (1985), The Con-stitution of Society: Outline of the Theory of Structuration, Cambridge.

192 Wolfgang Hagen

1 .4 .4 Pseudo-Likes und schwache Ontologie

Die »digitale Kultur« mit ihren paradoxalen Big-Data-Freundschaften, Big-Data-Likes und Big-Data-Communities, von denen so viele in den Augen der NutzerInnen so gut wie echt laufen; mit ihrer sich darin unendlich ver-breiternden Gegenwart und ihren abgeschwächten Momenten des Augen-blicks und des Jetzt (Gumbrecht 2012: 303), ‒ ist ein Ergebnis des exorbitant rasanten Prozesses der letzten vier Jahrzehnte, in denen einige fundamentale gesellschaftliche Grundbegriffe (Subjekt, Gemeinschaft etc.) neu definiert und andere (Gesellschaft, Öffentlichkeit, Sozialität) neu gewichtet werden. Es handelt sich um eine »genetische Epistemologie«, die vielleicht deshalb wie ein Positivismus nach dem Muster Piagetscher Theorien anmutet, weil es genau seine Theorien sind ‒ durch die digitale Netzwelt verstärkt ‒, die das Designprinzip des Kernmediums dieser neuen Ära darstellen. Aus der Perspektive ihrer Entstehungsgeschichte ist die mitlaufende Emergenz einer schwachen Ontologie im Digitalen unverkennbar. Denn was von Silicon Valley aus sich mit massiver technologischer Marktmacht durchsetzt, ist, philosophisch gesehen, nichts anderes als die ökonomische, technische und soziale Erschließung des ontologisch und erkenntnistheoretisch prinzipiell undarstellbaren Raums des Elektromagnetismus. Aus dieser Sicht kann man den Bogen weiter fassen: Mediengeschichtlich beginnt die ontologische Ab-drift, deren kulturelle Auswirkung wir jetzt deutlicher denn je gewahren, bereits um 1900 und schließt das Radio, das Radar, das Fernsehen und den Computer ein. Was Silicon Valley und die hier eingeübten strukturativen Verfahren der Welt(markt)erschließung betrifft, so sollte niemand über früh-kapitalistische Blindheiten in diesem Biotop verwundert sein, denn in allen ihren bisherigen Epochen kam die Erschließung des Elektromagnetismus stets umso propagandistischer und schriller daher, als sie weniger über die fragliche Sachlage des Seins des Menschen, das sie zunehmend in den Griff nahm und nimmt, Auskunft, Referenz oder Kontext geben konnte, sollte oder musste. Sie treibt, wie es Gumbrecht in Anschluss an Lyotard kom-mentiert, den neuen Chronotop einer erweiterten Gegenwart weiter voran.

Ethos, Pathos, Powerpoint 193

2. Rhetorik

Das Ethos von PP ist die exponentielle Projektion einer Gegenwart in eine Zukunft, deren absolute Kontingenz und Unbestimmbarkeit in einer ver-breiterten Gegenwartsbehauptung überblendet bleibt, die keine Störungen durch Vergangenes mehr erleiden muss und alles vermeintlich Verlorene di-gital und entropiefrei auszugleichen behauptet. Dieses Ethos ist auch für PP typisch, aber es gilt in gewisser Weise für die digitale Kultur und ihre Inter-faces insgesamt. Was allerdings PP auszeichnet, ist die rhetorische Brechung, die immer dann geschieht, wenn die Software zum Einsatz kommt.

2.1 PowerPoints rhetorische Brechung

Anders als Bravo, Word, Excel oder MacDraw – ihre zeitlichen Brüder und Schwestern – ist PP eben doch kein reines »What-You-See-Is-What-You-Get«-Programm, obwohl Gaskin das WYSIWYG gerade zur essentiellen Voraussetzung seines »Presenter« (so hieß das Programm bis kurz vor Fertig-stellung) erklärt hatte und deshalb nur und allein für Mac entwickelte. Aber die WYSIWYG-Logik ist die Logik einer operationalen Geschlossenheit und verlangt, dass stets in einem Modus, der jederzeit dem ›Endergebnis‹ gleicht, gearbeitet wird. Das aber geht mit PP nicht. Wo es am wichtigsten wäre, mitten in der Rede, mitten im Vortrag, wenn das Publikum und die Zuhö-rerschaft reagiert, zu verändern, – da geht kein WYSIWYG. Im so genann-ten »Entwicklungsmodus« aber ist das Endergebnis nur eingeschränkt zu sehen. Der Doppelmodus schmuggelt jenes Differenzobjekt wieder herein, das Alan Kay so dezidiert aus der Architektur des Mediums verbannt hatte: das Werkzeug. Und so wird PP zu einem Werkzeug in einer werkzeuglosen Welt. Diese verzwickte Paradoxie, die jeder durchmacht, der es mit PP aktiv oder passiv zu tun hat, offenbart den verräterischen Trick der neuen Zaube-reien: Nichts geht ohne Werkzeug in dieser werkzeuglosen Welt des digitalen Glanzes, nur eben nicht in ihr selbst.

PP gerät genau hierdurch in monströse Widersprüche, die paradoxer-weise erklären, warum es ebenso erfolgreich wie verrufen ist. Im Pathos ei-ner noch nie da gewesenen, werkzeuglosen, digitalen Kultur aus funktional intuitiver Emergenz soll es rhetorische Glanz-Points setzen. Alles soll gehen wie von selbst – und offenbart doch nur, dass es nicht gehen kann. Diese Faszination eines uneinlösbaren Versprechens hat der Software bislang ih-

194 Wolfgang Hagen

ren Welterfolg beschert. Jeder glaubt daran, obwohl es nie klappt. Geht die Software in den Präsentationsmodus, so beginnt nämlich, rhetorisch gese-hen, der Schwanz mit dem Hund zu wackeln, weil die Vortragende, egal wie gut er/sie die Folien vorbereitet hat, in Wahrheit sehen muss, wie er/sie im Ablauf hinterher kommt. Die PP-Logik ist eine gebrochene. Einerseits folgt sie, ist sie Teil von, entwickelte sie mit: das opake, en-aktive, ikonisch-symbolische Ethos einer neuen opaken, glänzenden digitalen Welt, das uns in eine neue Umwelt und in eine neue geschlossene Realität hineinversetzen soll. Sie soll Werkzeug sein, dort, wo es keine Handhabungen mehr gibt, die Werkzeuge erlauben. Damit gerät alles, was mit PP möglich wird, rhetorisch gesehen, tendenziell zur reinen Pathetik, ohne Ethos und ohne Logos, das heißt ohne Sinn und Verstand.

2.2 Planare Liberalität

Unter Pathos versteht die klassische Rhetorik die Verwendung aller Techni-ken und Stilmittel, die der Rede zur Verfügung steht, um den Augenblick zu erreichen, in dem die geschilderte Sache so vor Augen steht, als würde sie im Augenblick der Rede geschehen (Evidentia, Enargeia, Illustratio, Hypo-typosis) (Ueding 2003: 690, 1347). Um das zu erreichen, muss der Redner mit seiner Person im Reinen sein (Ethos), die Rede ihre Gedanken sorg-sam nach einer sorgfältig überlegten Gliederung (Dispositio) ableiten, dabei auf jede Gegebenheit des Augenblicks reagieren, in ihren Sprachbildern und Metonymien immer wieder zu sich zurückkehren (Elucutio) und die Modi der rekursiven und iterativen Entfaltung ihres logischen Aufbaus stets erneut variieren.

PP kennt keine Z-Achse und damit, im strengen Sinn, auch keinen dy-namischen WYSIWYG-Raum. So können sich zum Beispiel hierarchische oder baumartige Strukturen einer Argumentation visuell nicht vermitteln. »The software makes us think and speak in isolated blocks, instead of in co-herent context, totalities, narratives or linear reasoning« (2006: 4) hält Jens E. Kjeldsen fest und Thomas Hess fügt hinzu: »Content gets fragmented into chunks, without coherent context and global narrative« (Hess 2011: 10). Umgekehrt kann aber auch nicht einfach nur ›eine Folie‹ aufgelegt wer-den, die dann sozusagen ›on the fly‹, wie unter dem Overheadprojektor beschrieben und bebildert wird. PP ist geprägt von einer linear-flachen Se-quentialität, die mit den Mitteln der GUI gegen alle Grundsätze der GUI

Ethos, Pathos, Powerpoint 195

operiert. Definiens und Definiendum der »Grafischen User Interface« ist, dass alle Symboliken und Ikonologien sich intuitiv selbst erklären und kei-nerlei Logik der Entstehung, keine »Kommando-Zeilen« Befehle und keine Programmierung eine Rolle spielt. Tatsächlich aber ist der PP- Entwick-lungsmodus nichts anderes als eine solche Kommando-Umgebung. In den späteren Versionen (PowerPoint 2000ff) tendiert diese Umgebung immer mehr zu einer rudimentären Programmiersprache: Es sind Master- und da-raus abgeleitete Layout-Folien definierbar, die Platzhalter (Textboxen mit beliebigen Formatierungen) für aktuelle Folien bereit halten, welche jeweils einem Layout zugeordnet werden; weiterhin können auch Präsentations-Sektionen definiert werden.

Alles dies folgt den Logiken einer ‒ wenn auch dürftig ausgestatteten ‒ grafischen Programmierung. Wer›s kann, der wird sich jetzt Navigations-leisten an die Ränder eines Slides bauen, die über Master-Layout-Folien eingebracht werden und damit so etwas ähnliches wie einen stets aktuellen Kontext vermitteln ‒ nur um sich kleine rhetorische Freiheiten zu erkau-fen, die das Programm sonst gar nicht zulassen würde. So kompliziert es auch klingt (und in der Praxis auch ist), alle diese Zuordnungen bleiben softwareseitig statisch, Gliederungs- und Feldfunktionen oder Kapitelzähler, wie sie selbst in PC-Textprogrammen wie Word oder Pages üblich sind, gibt es nicht. Alles, was man an Navigations- oder Kontext-Leisten auf die Seite bringt, reduziert außerdem den Platz für Inhalte, der ohnehin nicht üppig ist, da die Bildauflösung eines Slides, wie alles, statisch und unveränderlich ist. Selbst wenn der User sich zum professionellen »Agenten« aufschwingt und ‹wirklich‹ zu programmieren beginnt (in der auf PP zugeschnittenen Sprache namens »Visual Basic for Applications«, VBA), hat er immer noch keinen Zugriff auf so genannte »Event«-Handler, die erlauben würde, auf Eingriffe während der Präsentation zu reagieren. Die gibt es in PP bis heute nicht, wohl aber in Excel oder Word. Auch unter Einschluss von VBA-Pro-grammierung bleibt PP ein Tool, das unter dem Deckmantel der GUI keine GUI-fähige Software bietet; unter dem Deckmantel des WYSIWIG-Prinzips kein WYSIWYG liefert und als Episteme einer Start-up-Strukturation in Wahrheit nur eine autoritäre Rhetorik reproduziert, wenn man am Ende, ahnungslos, wie man als GUI-Nutzer sein soll, auf die vorgefertigten Tem-plates verfällt. Steve Jobs soll PP deshalb gehasst und nie benutzt haben. Vielmehr hat er sich für seine Keynotes ein eigenes Programm schreiben lassen, das ehrlicherweise einfach »Keynote« heißt. Es wurde zunächst nicht einmal veröffentlicht und war nur für den Chef da, also für jene halbjährlich

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betörenden Grafik-Opern auf dem riesigen Bühnen-Screen hinter ihm, bei denen Jobs sehr viel mehr grafische Effekte verwendete als sie PP bis heute anbietet.

3. Ethos, Pathos, PowerPoint

Andererseits: PP verdankt seinen weltweiten Erfolg auch einer Art von Über-tünchung seiner immanenten Inkonsistenz ab Version 4.0 (und damit ohne Gaskin, der als Multi-Millionär schon ausgestiegen war). Seither werden die erwähnten ›Templates‹ mitgeliefert, das heißt hunderte von aufwändig in Farbe und Design präparierte Vorlagen für Präsentation, Berichte und Dia-gramme aller Spielarten. Damit wird PP einerseits wieder jener ›progressi-ven‹ Dynamik der Silicon-Valley-Start-up-Kultur gerecht, wie sie sich in der geschlossenen Operationalität einer abgeschotteten opaken GUI am klarsten wieder spiegelt; man fülle einfach die vorgegebenen Vorlagen aus und die Präsentation ist perfekt. Andererseits aber fungiert PP damit außerhalb von Silicon Valley de facto wie eine konservative, lineare und hierarchisierende Formularrhetorik aus dem 18ten Jahrhundert. Die Slides in PP-Templates sind in Wahrheit nichts als statische Formulare, und die Boxen, Formen, Bullpoints und Bilder, die man einpflegen kann, textuelle Elemente der im-mer gleichen Formatierung. Statt das Programm einfach nur »Presenter« zu nennen, verfiel Gaskin auf »PowerPoint« angeblich unter der Dusche (an-geblich, weil der Name »Presenter« bereits markengeschützt war). Vielleicht aber fiel Gaskin PP unter der Dusche nur ein, weil die Software damit im Namen mit Macht auf einen Punkt zeigt, der in Wahrheit ein blinder Fleck ist; und am besten mit Formularen übertüncht werden kann.

Formularrhetoriken – die Rhetorikhistoriker Knape und Roll haben dar-auf hingewiesen (2007: 56f.) ‒ findet man heute rudimentär noch im Han-dels-, Gesellschafts- und Bilanzrecht. Sie entstammen einer langen Tradition, die bis in die »Ars Dictandi« des Spätmittelalters zurückgeht, also jener for-malisierten »Briefschematik«, wo die »Betonung der Gruß- und Titelformeln am Beginn und das weitgehende Fehlen der Argumentatio wichtig« waren und es vermieden wurde, auch nur »den Anschein von Persuasion zu erwe-cken«; vielmehr war »alles auf das Huld und Gewährungsprinzip eingestellt.« (2001: 1375) Formeln wie: »Hoch-Edelgeborener, Fester und Hochansehnli-cher, Hochgebietender Herr, und Groß-geneigter Beförderer« (Geitner 1992:

Ethos, Pathos, Powerpoint 197

192) wirken durchaus bis heute in manchen brieflichen Grußformeln nach, weil sich im Pathos der suggestiven Differenz solcher Anreden oder Schluss-formeln die Anerkennung der gleichen Diskursmacht artikuliert. Der Rhe-torikhistoriker Knape verweist darauf, dass Formularrhetoriken in der Anti-ke, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit immer dann auftauchen, »wenn kommunikative Neuerungen in breitere Schichten als zuvor diffundieren« (Knape 2006: 56). Formularrhetoriken, mit einem Wort, führen neue Me-dien an soziale Schichten und Kreise der Gesellschaft heran, die damit bis-lang nichts zu tun hatten. Menschen werden in neue Diskursformationen involviert, von denen sie nichts verstehen und auch nichts verstehen sollen. Die Formularrhetorik erweist sich insofern ihrerseits als ein Symptom, das zeigt, wie gouvernamental die soziale Durchsetzung von Medien ‒ wie hier des Briefes ‒ historisch oft genug verlaufen ist. Im Fall neuer Medien geht es eben nicht nur darum, mediale Techniken zu erlernen, sondern darum, mit diesen Techniken das Medium selbst in einer neuen gouvernamentalen Praxis zu invisibilisieren. Solche Praktiken verhelfen zur Internalisierung von Herrschaftswissen und dessen Kommunikation. Nichts anderes tut PP: Sein Ziel der Internalisierung ist die Präsentationsdiskurslogik jener unternehme-rischen Kultur, der PP selbst entstammt.

Aber auch die Gegenbewegungen zur Dominanz einer Formularrheto-rik sind historisch nur zu bekannt ‒ und lehrreich auch für den neuesten Fall. Auch die Gegenbewegungen liegen jeweils an den Schnittstellen, wo ein Medium neue soziale Schichten erreicht. Der erste und berühmteste Clash dieser Art zeigt sich im frühen 14ten Jahrhundert, in der die ›schreibende Person‹ Petrarca, ein unabhängiger Bürger der neuen italienischen Stadtstaa-ten, gegen verordnete Briefschreibstile der Scholastik angeht. In Opposition zu deren Formularrhetorik schreibt Petrarca seine stilistisch freie ›Epistola posteritati‹, in der das neuzeitliche Individuum in der Figur eines ›Brief-Ichs‹ erstmals Kontur gewinnt und »sich mit voller Macht das Subjektive [erhebt]«. In diesem neuen Diskurstyp eines von jeglicher Formularrhetorik befreiten Briefeschreibers artikuliert sich, was Jacob Burkhards Petrarca-For-schungen als erste freigelegt haben: »Der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches« (1900: 127). Das ebnet dem Buchdruck tech-nologisch wie auch dem Markt des Buchdrucks ökonomisch den Weg. Doch auch Petrarcas Erfindung des neuzeitlichen Menschen als eines autonomen Ichs kommen ihrerseits nicht ohne mediale Stütze und Re-internalisierung aus. Es waren bekanntlich Cicero›s Briefe an Atticus (die weitergehend ver-schollen waren), in deren Stil Petrarca sich ‹wieder entdeckt›, und er ver-

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öffentlichte die seinen nicht, bis er Cicero‹s Originale wieder aufgefunden hatte.

Die formularrhetorischen Schwächen sind in PP Programm und auch durch Programmierung kaum zu beheben. Wer nicht auf andere Präsenta-tionsprogramme umschwenken will (die, wie »Prezi« (www.prezi.com), das sowohl Z-Achsen als auch »Live«-Interventionen erlaubt), muss auf die klas-sischen Techniken der Rhetorik zurückgreifen und mit den selbstreferenti-ellen Möglichkeiten dieser Diskursform in jeder PP-Präsentation auf deren Begrenzungen und Mängel hinweisen, das heißt eine beschränkte Bildlich-keit des Ausdrucks hinnehmen.

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