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Unverkäufliche Leseprobe 432 Seiten ISBN: 978-3-8025-8346-9 Mehr Informationen zu diesem Titel: www.egmont-lyx.de Richelle Mead Vampire Academy – Seelenruf © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.

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Unverkäufliche Leseprobe

432 Seiten ISBN: 978-3-8025-8346-9

Mehr Informationen zu diesem Titel:www.egmont-lyx.de

Richelle Mead

Vampire Academy – Seelenruf

© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.

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2Meine Prüfungen waren wie ein Nebel.

Da sie den wichtigsten Teil meiner Ausbildung in St. Vladimir darstellten, sollte man meinen, dass ich alles in perfekten, kristallenen Details im Gedächtnis behalten hätte. Doch es trat genau das ein, was mir schon vorher durch den Kopf gegangen war. Wie konnte dies an das heranreichen, was ich bereits erlebt hatte? Wie konnten sich diese gestellten Kämpfe mit einem Mob von Strigoi vergleichen lassen, die über unsere Schule herfielen? Ich hatte bei diesen Kämpfen überwältigend schlechte Chancen gehabt und nicht gewusst, ob jene, die ich liebte, noch lebten oder bereits tot waren. Und wie konnte ich, nachdem ich mit Dimitri gekämpft hatte, einen sogenannten Kampf mit einem der Lehrer der Schule fürchten? Dimitri war so gefährlich gewesen wie ein Dhampir und noch schlimmer als ein Strigoi.

Nicht dass ich vorhatte, die Prüfungen auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie waren ernst. Novizen fielen ständig durch, und ich hatte keineswegs die Absicht, einer davon zu sein. Ich wurde von allen Seiten angegriffen, von Wächtern, die für Moroi gekämpft und sie verteidigt hatten, noch bevor ich geboren worden war. Die Arena war nicht eben, was alles noch komplizierter machte. Sie hatten sie mit Gerätschaften und Hindernissen gefüllt, Balken und Stufen, die mein Gleichgewicht prüften – darunter eine Brücke, die mich schmerzhaft an jene letzte Nacht erinnerte, in der ich Dimitri gesehen hatte. Ich hatte ihn hinuntergestoßen, nachdem ich ihm einen silbernen Pflock ins Herz gerammt hatte – einen Pflock, der allerdings während seines Sturzes hinab in den Fluss aus seinem Fleisch gefallen war.

Die Brücke der Arena unterschied sich ein wenig von jener Brücke aus massivem Holz, auf der ich in Sibirien mit Dimitri gekämpft hatte. Diese war wacklig gewesen, ein schlampig errichteter Bohlenweg,

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der nur Seile als Geländer besaß. Bei jedem Schritt zitterte die ganze Brücke und schwang hin und her. Löcher in den Brettern zeigten mir, wo ehemalige Klassenkameraden (zu ihrem Pech) Schwachstellen ent-deckt hatten. Der Test, den sie auf der Brücke für mich bereithielten, war höchstwahrscheinlich der schlimmste von allen. Mein Ziel war es, einen Moroi von einer Gruppe von Strigoi, die mich verfolgte, zu ent-fernen. Mein Moroi wurde von Daniel gespielt, einem neuen Wächter, der zusammen mit anderen an die Schule gekommen war, um all jene zu ersetzen, die bei dem Angriff getötet worden waren. Ich kannte ihn noch nicht sehr gut, aber für diese Übung stellte er sich vollkommen fügsam und hilflos –  sogar ein wenig furchtsam, genauso wie jeder Moroi, den ich bewachte, hätte empfinden können.

Er leistete ein wenig Widerstand, als es darum ging, auf die Brü-cke zu treten, und ich benutzte meinen ruhigsten, schmeichelndsten Tonfall, um ihn endlich dazu zu bewegen vorauszugehen. Offenbar testeten sie ebenso unsere Fähigkeit der Menschenführung wie unsere Kampfkraft. Nicht weit hinter uns näherten sich, wie ich wusste, die Wächter, die die Strigoi spielten.

Daniel trat vor, und ich war sein Schatten und sprach weiter beruhi-gend auf ihn ein, während all meine Sinne hellwach waren. Die Brücke schwang wild hin und her, und jäh begriff ich, dass unsere Verfolger zu uns gestoßen waren. Ich schaute zurück und sah drei Strigoi hinter uns. Die Wächter, die sie spielten, machten ihre Sache bemerkenswert gut – sie bewegten sich mit ebenso großem Geschick und der gleichen Schnelligkeit, wie echte Strigoi es tun würden. Wenn wir nicht einen Zahn zulegten, würden sie uns überholen.

„Sie machen das großartig“, sagte ich zu Daniel. Es fiel mir schwer, den richtigen Tonfall beizubehalten. Wenn man einen Moroi anschrie, bekam er vielleicht einen Schock. Zu große Sanftheit würde ihn da-gegen auf den Gedanken bringen, dass die Situation nicht ernst war. „Und ich weiß, dass Sie sich schneller bewegen können. Wir müssen unseren Vorsprung halten – die Strigoi kommen näher. Ich weiß, dass Sie das schaffen können. Kommen Sie.“

Ich musste diesen überzeugenden Teil der Prüfung bestanden ha-ben, denn Daniel beschleunigte tatsächlich seinen Schritt – es genügte nicht ganz, um dem Tempo unserer Verfolger gerecht zu werden, aber

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es war immerhin ein Anfang. Wieder wackelte die Brücke wie verrückt. Daniel stieß einen überzeugenden, schrillen Schrei aus, erstarrte und hielt sich an den Seilen fest. Vor ihm sah ich einen weiteren Strigoi am gegenüberliegenden Ende der Brücke warten. Ich glaubte, sein Name lautete Randall, er war ein weiterer neuer Lehrer. Ich war zwischen ihm und der Gruppe hinter mir eingekeilt. Aber Randall blieb still stehen und wartete auf dem ersten Brett der Brücke, so dass er sie schütteln und die Überquerung für uns erschweren konnte.

„Gehen Sie weiter“, drängte ich, während sich meine Gedanken überschlugen. „Sie können es schaffen.“

„Aber da ist ein Strigoi! Wir sitzen in der Falle“, rief Daniel.„Keine Sorge. Ich werde mich um ihn kümmern. Gehen Sie ein-

fach.“Diesmal klang meine Stimme düster, und Daniel schlich weiter,

getrieben von meinem Befehl. Die nächsten Sekunden verlangten ein perfektes Timing von mir. Ich musste die Strigoi zu beiden Seiten beobachten und Daniel in Bewegung halten. Die ganze Zeit über musste ich den Überblick darüber behalten, wo auf der Brücke wir uns befanden. Als wir fast drei Viertel des Weges zurückgelegt hatten, zischte ich: „Lassen Sie sich sofort auf alle viere fallen! Schnell!“

Er gehorchte und blieb stehen. Ich kniete mich unverzüglich hin, wobei ich leise weitersprach: „Ich werde Sie jetzt gleich anschreien. Ignorieren Sie das einfach.“ Mit lauterer Stimme rief ich, damit die Strigoi hinter uns es hörten: „Was tun Sie da? Wir dürfen doch nicht stehen bleiben!“

Daniel rührte sich nicht von der Stelle, und ich sprach wieder leiser: „Gut so. Sehen Sie, wo die Seile die Bretter mit dem Geländer verbinden? Halten Sie sich daran fest. Halten Sie sich so gut fest, wie Sie können, und lassen Sie nicht los, was auch immer geschehen mag. Wenn nötig, wickeln Sie sich die Seile um die Hände. Tun Sie es jetzt!“

Er gehorchte. Die Uhr tickte, und ich verschwendete keinen wei-teren Moment. Mit einer einzigen Bewegung und ohne mich aus der Hocke aufzurichten, drehte ich mich um und sägte mit einem Messer, das man mir neben meinem Pflock noch gegeben hatte, an den Seilen. Die Klinge war scharf, Gott sei Dank. Die Wächter, die die Prüfung

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leiteten, pfuschten nicht herum. Das Messer durchtrennte die Seile nicht sofort, aber ich zerschnitt sie so schnell, dass der Strigoi auf der anderen Seite keine Zeit zum Reagieren hatte.

Die Seile rissen genau zu dem Zeitpunkt, in dem ich Daniel ein-mal mehr daran erinnerte, sich festzuhalten. Die beiden Hälften der Brücke schwangen auf ihr hölzernes Gerüst zu, gezogen von dem Gewicht der Personen, die sich darauf befanden. Nun, unsere Hälfte tat es zumindest. Daniel und ich waren vorbereitet gewesen. Die drei Verfolger hinter uns jedoch nicht. Zwei fielen. Einem gelang es mit knapper Not, sich an einem Brett festzuhalten und es ein wenig zu verschieben, bevor er seinen Griff absicherte. Die tatsächliche Fallhöhe betrug etwa einen Meter achtzig, aber man hatte mir schon erklärt, ich solle so tun, als seien es mindestens fünfzehn Meter – eine Höhe, die Daniel und mich töten würde, falls wir stürzten.

Gegen alle Wahrscheinlichkeit hielt er sich noch immer am Seil fest. Ich tat das Gleiche, und sobald das Seil und das Holz flach auf den Seiten des Gerüsts auflagen, kletterte ich wie an einer Leiter daran hinauf. Es war nicht einfach, über Daniel zu steigen, aber ich schaffte es und bekam eine weitere Chance zu sagen, dass er sich fest-halten solle. Randall, der vor uns gewartet hatte, war nicht gestürzt. Er hatte jedoch auf der Brücke gestanden, als ich sie durchgeschnitten hatte, und war überrascht genug gewesen, um das Gleichgewicht zu verlieren. Nachdem er sich schnell wieder erholt hatte, versuchte er jetzt, an den Seilen bis zum Ende der Brücke hinaufzuklettern. Er war seinem Ziel viel näher als ich, doch es gelang mir, ihn am Bein zu packen und aufzuhalten. Ich zog ihn zu mir her. Er konnte sich weiter an der Brücke festhalten, und so kämpften wir. Ich wusste, dass ich ihn wahrscheinlich nicht herunterziehen konnte, aber ich schaffte es immerhin, näher heranzukommen. Schließlich ließ ich das Messer in meiner Hand los und schaffte es, den Pflock aus meinem Gürtel zu ziehen – eine Bewegung, die mein Gleichgewicht auf die Probe stellte. Randalls unbeholfene Position verschaffte mir die freie Bahn zu seinem Herzen, und ich nutzte diese Chance.

Für die Prüfung hatten wir Pflöcke mit stumpfer Spitze, die die Haut nicht durchstechen würden, die wir jedoch mit genügend Wucht benutzen konnten, um unsere Gegner davon zu überzeugen, dass wir

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wussten, was wir taten. Mein Treffer war großartig, und Randall, der einräumte, dass es ein tödlicher Angriff gewesen wäre, löste die Hände von den Seilen und ließ sich von der Brücke fallen.

Jetzt blieb nur noch die quälende Aufgabe, Daniel zu beschwatzen hinaufzuklettern. Es dauerte lange, aber auch diesmal benahm er sich genauso, wie ein verängstigter Moroi es vielleicht täte. Ich war dafür dankbar, dass er nicht zu dem Schluss gekommen war, dass sich ein rich-tiger Moroi nicht so lange hätte festhalten können und gestürzt wäre.

Nach dieser Herausforderung kamen noch viele weitere, aber ich verlangsamte mein Tempo nicht und ließ mich auch nicht von Er-schöpfung beeinträchtigen. Ich verfiel in den Kampfmodus, konzen-trierte meine Sinne auf elementare Instinkte: kämpfen, ausweichen, töten.

Und während ich mich auf diese Dinge ausrichtete, musste ich wei-terhin erfindungsreich sein und mich nicht einlullen lassen. Andern-falls würde ich auf eine Überraschung wie die Brücke nicht reagieren können. Ich wurde mit allem fertig und mühte mich weiter, ohne an irgendetwas anderes zu denken als an die Erfüllung der vor mir liegenden Aufgaben. Ich versuchte, meine Lehrer nicht als Leute zu betrachten, die ich kannte. Ich behandelte sie wie Strigoi. Ich hielt mich nicht zurück.

Als ich endlich fertig war, hätte ich es beinahe nicht bemerkt. Ich stand einfach nur in der Mitte des Feldes und wurde nicht länger an-gegriffen. Ich war allein. Allmählich nahm ich die Einzelheiten der Welt um mich herum wieder deutlicher wahr. Die Menge auf den Tribünen, die jubelte. Einige Lehrer, die einander zunickten, während sie in den Applaus einstimmten. Das Hämmern meines eigenen Her-zens.

Erst als eine grinsende Alberta an meinem Arm zog, wurde mir klar, dass es vorüber war. Die Prüfung, auf die ich mein Leben lang gewartet hatte, vollendet in einer Zeitspanne, die sich wie ein einziger Wimpernschlag angefühlt hatte.

„Kommen Sie“, sagte sie, legte mir einen Arm um die Schultern und führte mich auf den Ausgang zu. „Sie brauchen etwas Wasser und sollten sich hinsetzen.“

Benommen ließ ich mich vom Feld führen, an dessen Rändern die

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Leute noch immer jubelten und meinen Namen riefen. Hinter uns hörte ich jemanden sagen, sie müssten eine Pause einlegen und die Brücke reparieren. Alberta brachte mich in den Wartebereich und drückte mich sanft auf eine Bank. Jemand anders setzte sich neben mich und reichte mir eine Wasserflasche. Ich schaute hinüber und sah meine Mutter. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den ich noch nie zuvor gesehen hatte: purer, strahlender Stolz.

„Das war’s also?“, fragte ich schließlich.Sie überraschte mich abermals mit einem ehrlich erheiterten Ge-

lächter. „Das war’s?“, wiederholte sie. „Rose, du warst fast eine Stunde dort draußen. Du bist mit fliegenden Fahnen durch diese Prüfung ge-rauscht – wahrscheinlich eine der besten Prüfungen, die diese Schule je gesehen hat.“

„Wirklich? Es fühlte sich nur so …“ Einfach war nicht das richtige Wort. „Es war wie ein Nebel, das ist alles.“

Meine Mom drückte mir die Hand. „Du warst umwerfend. Ich bin ja so stolz auf dich.“

Dann begriff ich erst wirklich – und spürte, dass sich ein Lächeln auf meinen eigenen Lippen ausbreitete. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich.

„Jetzt wirst du zu einer Wächterin.“

Ich war viele Male tätowiert worden, aber keins dieser Ereignisse reichte auch nur ansatzweise an das Zeremoniell und den Trubel heran, mit denen die Tätowierung meines Mals des Versprechens einherging. Bisher hatte ich Molnijas für Tötungen von Strigoi erhalten, die mir unter unerwarteten, tragischen Umständen gelungen waren: im Kampf gegen die Strigoi in Spokane, bei der Abwehr des Strigoi-Angriffs auf die Schule – Ereignisse, die Grund zur Trauer waren, nicht zum Feiern. Ich hatte so viele Strigoi zur Strecke gebracht, dass wir irgendwie den Überblick verloren hatten, und während die Tätowierungskünstler unter den Wächtern noch immer versuchten, jeden einzelnen getöteten Strigoi zu verzeichnen, hatten sie mir schließlich eine sternenförmige Tätowierung gemacht, die eine fantasievolle Art war, um zu sagen, dass ich in einer wahren Schlacht gekämpft und wir den Überblick verloren hatten.

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Das Tätowieren ist kein schneller Prozess, selbst wenn man nur eine kleine Tätowierung bekommt, und meine gesamte Abschlussklasse musste versorgt werden. Die Zeremonie fand in dem Raum statt, der für gewöhnlich der Speisesaal der Akademie war, ein Raum, den die Wächter auf bemerkenswerte Weise zu etwas so Großartigem und Kunstvollem umwandeln konnten, wie wir es am Königshof vorfanden. Zuschauer – Freunde, Verwandte, Wächter – füllten den Saal, während uns Alberta nacheinander aufrief und unsere Punktezahl verlas, wobei wir selbst auf den Tätowierer zugingen. Die Punkte waren wichtig. Sie würden öffentlich gemacht werden und hatten zusammen mit unseren allgemeinen Schulzensuren Einfluss auf unsere Zuteilungen. Moroi konnten bestimmte Zensuren für ihre Wächter erbitten. Lissa hatte natürlich um mich gebeten, aber nicht einmal die besten Punktezahlen der Welt würden wohl all die Missetaten aufwiegen können, die in meiner Akte vermerkt waren.

Es waren jedoch keine Moroi bei dieser Zeremonie zugegen, abge-sehen von den wenigen, die die frischgebackenen Absolventen einge-laden hatten. Alle anderen Anwesenden waren Dhampire: entweder etablierte Wächter oder zukünftige Wächter wie ich. Die Gäste saßen im hinteren Teil des Raums, und die ranghöchsten Wächter saßen vorn. Meine Klassenkameraden und ich standen während der ganzen Zeremonie, vielleicht als eine Art letzte Prüfung unserer Ausdauer.

Mir machte es nichts aus. Ich hatte meine zerrissenen, schmutzigen Kleider abgelegt und schlichte Baumwollhosen und einen Pullover angezogen, ein Outfit, das gleichzeitig schick und etwas feierlich schien. Es war eine gute Wahl, weil die Luft im Raum vor Anspannung zum Schneiden dick war. Alle Gesichter zeigten eine Mischung aus Freude über unseren Erfolg und Sorge, was unsere neue und tödliche Rolle in der Welt betraf. Ich sah mit leuchtenden Augen zu, wie meine Freunde aufgerufen wurden, überrascht und beeindruckt über viele der Punktezahlen.

Eddie Castile, ein enger Freund, schnitt im Personenschutz be-sonders gut ab. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, während ich beobachtete, wie der Tätowierer Eddie seine Markierung eintrug. „Ich frage mich, wie er seinen Moroi über die Brücke bekommen hat“, murmelte ich leise. Eddie war ziemlich erfinderisch.

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Neben mir stand eine andere Freundin, Meredith, die mich verwirrt ansah. „Wovon redest du?“ Sie sprach genauso leise.

„Wir wurden mit einem Moroi auf die Brücke gejagt. Meiner war Daniel.“ Sie wirkte noch immer ratlos, und ich holte zu einer genaueren Erklärung aus. „An beiden Enden der Brücke hatten sie Strigoi postiert.“

„Ich habe die Brücke überquert“, flüsterte sie, „aber ich war allein, als sie mich gejagt haben. Ich habe meinen Moroi durch ein Labyrinth geführt.“

Ein wütender Blick von einem anderen Klassenkameraden in unserer Nähe brachte uns zum Schweigen, und ich verbarg mein Stirnrunzeln. Vielleicht war ich nicht die Einzige, die die Prüfung wie in einem Nebel durchlaufen hatte. Meredith hatte da etwas durch-einandergebracht.

Als mein Name aufgerufen wurde, hörte ich einige Leute nach Luft schnappen, als Alberta meine Punktezahl verlas. Bisher hatte ich von allen am besten abgeschlossen. Und ich war irgendwie froh darüber, dass sie meine akademischen Zensuren nicht auch verlas. Sie hätten dem Rest meiner Darbietung ganz und gar den Glanz genommen. Ich hatte in meinen Kampfkursen immer gute Leistungen gebracht, aber Mathe und Geschichte … nun, da ließen die Noten ein wenig zu wünschen übrig, vor allem, da ich offenbar die halbe Zeit von der Schule abgegangen und zurückgekommen war.

Mein Haar wurde zu einem festen Knoten gesteckt und jede einzel-ne Strähne mit Haarnadeln befestigt, so dass der Tätowierer ungehin-dert arbeiten konnte. Ich beugte mich vor, um ihm einen guten Blick zu verschaffen, und hörte ihn dann überrascht aufkeuchen. Da mein Nacken bereits mit Tätowierungen bedeckt war, würde er einfallsreich sein müssen. Im Allgemeinen war ein frischgebackener Wächter ein unbeschriebenes Blatt. Dieser Bursche war jedoch ziemlich gut und schaffte es, das Mal des Versprechens doch noch in der Mitte meines Nackens anzubringen. Das Mal des Versprechens sah aus wie ein in die Länge gezogenes S mit eingerollten Enden. Er fügte es zwischen die Molnijas ein und ließ es sich wie in einer Umarmung um sie herum schlingen. Die Prozedur tat weh, aber ich behielt eine ausdruckslose Miene bei und weigerte mich zusammenzuzucken. Das endgültige

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Ergebnis zeigte er mir im Spiegel, bevor er es verband, damit es sauber heilen konnte.

Danach kehrte ich zu meinen Klassenkameraden zurück und be-obachtete, wie die Übrigen ihre Tätowierungen erhielten. Was bedeu-tete, dass wir noch einmal zwei Stunden stehen mussten. Aber mir machte es nichts aus. Mir schwirrte von all dem, was heute geschehen war, noch immer der Kopf. Ich war eine Wächterin. Eine richtige, waschechte Wächterin. Und mit diesem Gedanken kamen Fragen auf. Was würde jetzt geschehen? Würde meine Punktezahl gut genug sein, um die Minuspunkte für schlechtes Benehmen in meiner Akte auszulöschen? Würde ich Lissas Wächterin werden? Und was war mit Victor? Was war mit Dimitri?

Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen, als mir die volle Wucht der Wächterzeremonie bewusst wurde. Hier ging es nicht um Dimitri und Victor. Hier ging es um mich – um den Rest meines Lebens. Die Schule war vorüber. Es würde keine Lehrer mehr für mich geben, die jede meiner Bewegungen verfolgten oder mich korrigierten, wenn ich Fehler machte. Alle Entscheidungen würden bei mir liegen, wenn ich dort draußen war und jemanden beschützte. Moroi und jün-gere Dhampire würden mich als Autorität betrachten. Und ich würde nicht länger den Luxus haben, mich in der einen Minute im Kampf zu üben und in der nächsten in meinem Zimmer herumzulungern. Es würde keine Kurse mehr geben. Ich würde ständig im Dienst sein. Der Gedanke war erschreckend, der Druck beinahe zu groß. Ich hatte den Abschluss immer mit Freiheit gleichgesetzt. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Welche neue Form würde mein Leben annehmen? Wer würde darüber entscheiden? Und wie konnte ich Victor erreichen, wenn ich als Wächterin jemand anderem als Lissa zugeteilt wurde?

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